Der Künstler als Kritiker

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31 VINZENZ HEDIGER DER KÜNSTLER ALS KRITIKER »Manche Bücher bedürfen keiner Rezension, nur einer Ankündigung. Sie enthalten schon die Rezension mit.« Novalis »Wir sind die ersten Filmemacher, die wissen, dass Griffith gelebt hat«, 1 sagte Jean-Luc Godard in einem Interview aus dem Jahr 1962. Das klingt, wie manches, was Godard sagt, auf Anhieb überspitzt, ja anmaßend, und trifft doch präzise einen Sachverhalt. Die Regis- seure der Nouvelle vague, so behauptet Godard, waren die ersten, die sich als Erben einer Geschichte ihrer Kunst betrachteten und ihr eigenes Kino als die Fortschreibung dieser Geschichte verstanden. Man könnte auch sagen: Sie waren die ersten, die ihr Geschichts- bewusstsein zur Schau trugen und ihre Kunst als Medium der Refle- xion auch und gerade der Geschichte dieser Kunst verstanden. Als Eisenstein ganz am Ende seines Lebens eine Skizze für eine »Allge- meine Geschichte des Kinos« formulierte, entwarf er das, was man im neueren Jargon der Medienwissenschaft als eine »Medienarchäo- logie« des Kinos bezeichnen würde: Das Kino bündelt und vollendet die älteren Künste; als Kunstform eigenen Rechts aber ist das Kino neu und ohne Präzedenz. 2 Die Regisseure der Nouvelle vague hin- gegen schreiben Filmgeschichte im Modus der Paläontologie: Sie fragen nach ihren Vorfahren und rekonstruieren ihre Abstammung von den Urmenschen des Kinos. »Der Dinosaurier und der Säugling« lautet nicht von ungefähr der Titel eines Interviews, das Godard 1967

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vinzenz hediger

Der künstLer aLs kritiker

»Manche Bücher bedürfen keiner Rezension, nur einer

Ankündigung. Sie enthalten schon die Rezension mit.«

Novalis

»Wir sind die ersten Filmemacher, die wissen, dass Griffith gelebt

hat«,1 sagte Jean-Luc Godard in einem Interview aus dem Jahr 1962.

Das klingt, wie manches, was Godard sagt, auf Anhieb überspitzt,

ja anmaßend, und trifft doch präzise einen Sachverhalt. Die Regis-

seure der Nouvelle vague, so behauptet Godard, waren die ersten,

die sich als Erben einer Geschichte ihrer Kunst betrachteten und ihr

eigenes Kino als die Fortschreibung dieser Geschichte verstanden.

Man könnte auch sagen: Sie waren die ersten, die ihr Geschichts-

bewusstsein zur Schau trugen und ihre Kunst als Medium der Refle-

xion auch und gerade der Geschichte dieser Kunst verstanden. Als

Eisenstein ganz am Ende seines Lebens eine Skizze für eine »Allge-

meine Geschichte des Kinos« formulierte, entwarf er das, was man

im neueren Jargon der Medienwissenschaft als eine »Medienarchäo-

logie« des Kinos bezeichnen würde: Das Kino bündelt und vollendet

die älteren Künste; als Kunstform eigenen Rechts aber ist das Kino

neu und ohne Präzedenz.2 Die Regisseure der Nouvelle vague hin-

gegen schreiben Filmgeschichte im Modus der Paläontologie: Sie

fragen nach ihren Vorfahren und rekonstruieren ihre Abstammung

von den Urmenschen des Kinos. »Der Dinosaurier und der Säugling«

lautet nicht von ungefähr der Titel eines Interviews, das Godard 1967

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mit Fritz Lang führte und das von André S. Labarthe fürs französische

Fernsehen aufgezeichnet wurde.

Mit Stanley Cavell könnte man auch sagen, dass das Kino erst

in diesem Moment wirklich zur Kunst wird: Nicht schon in dem

Moment, in dem es im Sinne von (und mit) Eisenstein die anderen

Künste vollendet, sondern in dem Moment, in dem es seine ganz

eigene Geschichte erhält und diese zu be- und verarbeiten beginnt.

Die Frage ist nicht, ob das Kino eine Kunst sein kann, schreibt Cavell

in seinem Buch »The World Viewed« von 1974, die Frage ist viel-

mehr, wie es ihm so lange erspart bleiben konnte, eine Kunst zu wer-

den. »Kunst« in diesem Sinne setzt voraus, dass es eine Geschichte

der Kunst und ein historisches Bewusstsein als »Medium« für ihre

Entwicklung gibt. Nur in Absetzung von (und somit: Bezugnahme zu)

dem, was früher schon der Fall war, ist die Herstellung von Neuem

möglich.

Die Künstlerin oder der Künstler muss zunächst einmal Kunst-

historikerin oder Kunsthistoriker sein, oder genauer noch: Genea-

login oder Genealoge ihrer oder seiner selbst. Das klassische Holly-

wood-Kino – und vor allem der Tonfilm aus der Zeit vor 1960 – kam,

so Cavell, noch ganz ohne dieses historische Selbstbewusstsein aus.3

Zwar behauptet die klassische Kino-Werbung stets, dass jeder neue

Film alles bislang Dagewesene übertrifft. Dass ein Regisseur sich mit

originellen Einfällen von seinen Vorläufern absetzt und mit einer

eigenen Handschrift hervortut, ist nicht Gegenstand dieser Rhetorik

des Neuen.

Dass hingegen Godard zu den ersten Künstlern des Films zählt,

billigt ihm auch Cavell zu: Er macht ihn und die Nouvelle vague gera-

dezu dafür haftbar, dass der Film seinen Status als Nicht-Kunst und

(kunst-)geschichtslose Weltprojektion schließlich doch noch ein-

büßte und zum Medium der kunsthistorischen Reflexion wurde.

Das Beispiel des Films erlaubt es uns, in situ und als Anthropolo-

gen des Zeitgenössischen zu studieren, was es bedeutet, wenn das

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moderne Wissensregime der Kunst von einem neuen Medium Besitz

ergreift, oder wenn das neue Medium zum Reflexionsmedium wird.

Das Beispiel des Films ist aber auch in besonderer Weise geeignet,

als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach dem Künst-

ler-Kritiker zu dienen.4 Die Regisseure der Nouvelle vague, die ers-

ten Kunsthistoriker-Künstler des Kinos, begannen bekanntlich fast

ausnahmslos als Kritiker. Godard, Truffaut, Rohmer und später auch

noch Léos Carax oder Olivier Assayas, aber auch Harun Farocki oder

Hartmut Bitomsky schrieben für die Cahiers du cinéma oder die Film-kritik, bevor sie selbst Regisseure wurden (Godard schnitt auch noch

Trailer und arbeitete als Presseagent für die Twentieth Century Fox;

manche behaupten, dass er mit dem Trailer-Machen auch dann nicht

aufhörte, als er seine eigenen Filme zu drehen begann). Die Film-

geschichtsschreibung tendiert dazu, solche Kritiker-Phasen als eine

Art Entwicklungskrankheit des modernen Regisseurs zu behandeln,

oder bestenfalls als Verpuppungsphase, die damit enden muss, dass

aus dem Kokon der Kritik ein prachtvoller Künstler entspringt.

Wenn nun aber der Künstler nicht Künstler sein kann, ohne für

die Dauer seines Schaffens auch Historiker seines Kunst und Genea-

loge seiner selbst zu sein, dann stellt sich die Frage, ob der Künst-

ler nicht auch zwangsläufig Kritiker sein muss, d.h. ob er überhaupt

Künstler sein kann, ohne Kritiker zu sein.

Die Annahme wirkt auf Anhieb kontraintuitiv. In der Moderne

herrscht zwischen Künstler und Kritikern eine klare Arbeits teilung.

Der Künstler schafft Werke, der Kritiker beurteilt sie, idealerweise

nach inhärenten und externen Kriterien, danach, ob sie ihren selbst-

gesetzten Ansprüchen genügen, und danach, ob sie es verdient haben,

einen Platz in der Geschichte ihrer Kunst zugewiesen zu bekommen.

Kritik ist mit einem Begriff, den Schleiermacher bei F.A. Wolf ent-

lehnt, zunächst einmal immer »doktrinale Kritik«, nämlich einer-

seits »Gericht« und andererseits »Vergleichung«.5 Der Kritiker stellt,

wie Schleiermacher es nennt, eine »doppelte Beziehung« des Werks

auf seine Idee und auf andere Werke her. Er unterscheidet zuhanden

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des Publikums nach dieser doppelten Beziehung entweder die guten

Werke von den schlechten; oder, wenn er nicht nach dem ästheti-

schen Wert, sondern nach der Gesinnung fragt, die guten von den

bösen. Dabei betreibt der Kritiker immer zugleich auch praktische

Warenkunde. Er klärt die Käufer darüber auf, wofür sie ihr Geld aus-

geben werden, etwa in dem er als Filmkritiker Sterne vergibt (Gericht)

und den Film in ein Œuvre oder ein Genre einbettet (Vergleichung).

Die Kunstformen und Medien sind dabei austauschbar. In der Praxis

des Kulturbetriebs ist das Problem der Medienspezifik immer schon

gelöst: Die Spezifik der Medien begründet die Aufteilung des Kriti-

kerberufs nach Sparten; zugleich aber wird sie aufgehoben in der

Funktion einer Kritik, die medienübergreifend nach dem Prinzip der

Schleiermacher’schen doppelten Beziehung verfährt.

Künstler und Kritiker haben im modernen Kunstbetrieb klar

unterschiedene Rollen, aber sie stehen in einem komplexen und

dynamischen Verhältnis zueinander. Nicht von ungefähr wird der

Unterschied, auf dem ihre Arbeitsteilung beruht, oft mit sexuellen

Begriffen aufgeladen: Der Künstler ist für die schöpferische Rede

zuständig, der Kritiker bloß für die kritische, der Künstler zeugt, der

Kritiker empfängt bloß, er ist zeugungsunfähig, muss aber, wie Wal-

ter Benjamin in seinen 13 Thesen zur Technik des Kritikers am Bei-

spiel Literatur sagt, vernichten können. 6 Andererseits ist die Bezie-

hung von Künstler und Kritiker symbiotisch: Der Künstler ist auf den

Kritiker angewiesen und der Kritiker auf den Künstler. Ihre Symbiose

ist geknüpft an starke Gefühle, die der Erfahrung von Abhängigkeit

und Macht entspringen. Der moderne Künstler muss sich vom Pub-

likum unabhängig erklären und sucht schließlich doch die Gunst

des Publikums und des Kritikers, der Kritiker hält seinen Abstand

zu beiden (auch das eine doppelte Beziehung). Das Publikum muss

sich »immer durch den Kritiker vertreten fühlen« und doch »stets

Unrecht erhalten«, denn für Kritiker sind »seine Kollegen die höhere

Instanz«, wie Benjamin schreibt, »nicht das Publikum.« So bilden

Künstler, Kritiker und Publikum eine Struktur, in der ein komple-

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xes Hin und Her von Zuneigung und Zurückweisung seinen Ort fin-

det: Das Melodrama der modernen Kunstkritik, in welchem immer

wieder alle drei Akteurtypen als über Gebühr Befangene, wenn nicht

Gefangene erscheinen.

Als weiteres Hindernis auf dem Weg zu einer möglichen Einheit

von Kunst und Kritik enthält das System der modernen Arbeitstei-

lung im Feld der Kunst die Unterscheidung von Kulturbetrieb und

Wissenschaft, eine Unterscheidung, die im Fall des Films und mit

der gebührenden Verspätung auch im Verhältnis von Filmkritik und

Filmwissenschaft noch einmal reproduziert wurde. Für den Streit um

gegenwärtige Geltung sind die Kritiker in den Medien zuständig, für

Erkenntnisse mit langfristiger Gültigkeit die Wissenschaftler an den

Universitäten.

Diese institutionelle Unterscheidung von Kulturbetrieb und Uni-

versitäten bildet sich im 19. Jahrhundert im deutschen, aber auch im

romanischen und im angelsächsischen Sprachraum heraus. Aller-

dings bewahrt sich im englischen und französischen Sprachgebrauch

ein Bewusstsein dafür, dass das Wissen, das in den verschiedenen

Wissenschaften der Künste produziert wird, weder in dem aufgeht,

was auf Deutsch Kritik genannt wird, noch den Charakter eines wis-

senschaftlichen Wissens im Sinne der Natur- oder auch nur schon der

Sozialwissenschaften hat. »Die gelehrte Beschäftigung mit Werken

der Literatur«, ruft Peter Szondi in seinem 1962 verfassten »Traktat

über philologische Erkenntnis« in Erinnerung, »heißt auf englisch

›literary criticism‹, sie ist keine ›science‹.«7

Am Leitfaden dieses Bewusstseins eines Wissens, das sich von dem

der übrigen Wissenschaften unterscheidet, kritisiert Szondi die szien-

tistischen Anwandlungen einer Literaturwissenschaft seiner Zeit, die

etwa Hölderlin mit induktiven Verfahren zu lesen und Interpretatio-

nen mit pseudo-statistischen Argumenten abzustützen versucht. Sol-

che szientistische Tendenzen haben sich in der Literaturwissenschaft

seither eher noch stärker ausgeprägt, wenn auch in stärker reflektier-

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ter und methodisch besser abgestützter Weise.8 Gerade in eine histo-

rische Klassifikation von Wissensobjekten lässt sich aber das »andere

Wissen«, das die Erkenntnis von Kunstwerken nach Szondi bedingt

und ermöglicht, nicht auflösen. Das, worauf Szondi zielt und wofür er

seinen englisch- und französischsprachigen Kollegen ein besonderes

Sensorium zubilligt, ist ein Reflexionsraum zwischen der Kritik im

Sinne des Kulturbetriebs und einem von szientistischen Aspirationen

durchsetzten Universitätsbetrieb.

Während Szondi festhält, dass das deutsche Wort »Kritik« für

»diesen Bereich kaum mehr zu retten« sei, bezeichnet »critique« im

Französischen gerade das Ganze des Feldes, das sich zwischen den

Polen des Journalismus und der Universität aufspannt. Mehr als die

Ahnung einer Einheit von Kunst und Kritik enthält aber auch dieser

Begriff von Kritik nicht. »Aus der Universität und dem Journalismus

besteht die ganze Realität der Kritik«, schreibt Maurice Blanchot in

einem kurzen Vorwort zu seiner Doppelstudie zu Sade und Lautréa-

mont unter dem Titel »Qu’en est-il de la critique?« (Wie verhält es

sich mit der Kritik?), die 1963 erschien:

»Die Kritik ist ein Kompromiss zwischen diesen beiden Formen

von Institutionen. Das Wissen für den täglichen Gebrauch, stets

in Eile, neugierig und beiläufig, das gelehrte Wissen, dauerhaft,

gewiss, begegnen sich und vermischen sich, so gut es geht.«9

Wo Szondi den Begriff des »criticism« als Ausdruck eines Bewusst-

seins liest, dass die Erkenntnis von Kunstwerken einen eigenständi-

gen Wissenstypus bedingt und hervorbringt, bezeichnet »critique«,

wenn wir Blanchot folgen, zunächst nur ein ungelöstes Mischverhält-

nis von zwei ihre Eigenlogik bewahrenden Wissensformen:

»Die Literatur bleibt wohl der Gegenstand der Kritik, aber in

der Kritik wird die Literatur nicht manifest. Sie zählt nicht zu

den Weisen, in denen die Literatur sich äußert, sondern die

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Universität und der Journalismus kommen in ihr zur Geltung

[…].«10

Die Frage nach der Kritik ist demgemäß zunächst die Frage nach

einer Form der Kritik, in der die Literatur (oder breiter: die Kunst) sich

selbst manifestiert. Am Beispiel von Hölderlin formuliert Szondi die

Forderung, dass das hermetische Gedicht auch »in der Entschlüsse-

lung als verschlüsseltes verstanden werden« muss: Das hermetische

Gedicht »ist ein Schloss, das immer wieder zuschnappt, die Erläute-

rung darf es nicht aufbrechen wollen«.Kritik als Vollzug und Nach-

vollzug der Erkenntnis des Kunstwerks: Für Szondi gilt, dass das phi-

lologische Wissen »gerade um seines Gegenstandes willen nicht zum

Wissen gerinnen« darf. »Auch für die Literaturwissenschaft trifft

merkwürdigerweise zu,« schreibt Szondi, »was Wittgenstein zur

Kennzeichnung der Philosophie gegenüber den Naturwissenschaften

sagt«, nämlich dass sie keine Lehre, sondern eine Tätigkeit sei.11

Gegenstand dieser »Tätigkeit« ist ein »Werk«. In »La relation

critique« entwirft Szondis Freund und Weggefährte Jean Starobinski

eine Skizze möglicher Beziehungen zwischen Text und Interpret. Die

Umwidmung des Artefakts, in diesem Falle des Textes, zum Werk,

findet statt in dem Moment, in dem die »interpretierten Texte auf-

hören, Träger einer Autorität zu sein« und stattdessen »Gegenstände

des Wissens und von Vorlieben werden, ganz ohne Rücksichtnahme

auf Weihen, die sie zuvor empfangen hatten«.12 Historisch gesehen

vollzieht sich dieser Übergang in einer Phase, die Reinhart Koselleck

als »die Sattelzeit« an der Schwelle zum 19. Jahrhundert oder Fou-

cault im Anschluss an Canguilhem als epistemischen Bruch und Her-

aufkunft der modernen Wissensordnung beschreiben. Jacques Ran-

cière charakterisiert diesen Umbruch, indem er die Frage nach der

Ästhetik in Canguilhems Rede von den Wissensordnungen einträgt,

als Übergang von einem »repräsentativen« zu einem »ästhetischen

Regime der Kunst«, also als einen Übergang von einer Ordnung, in

der Kunst primär eine rhetorische Funktion hat und der Darstellung

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und Befestigung gesellschaftlicher Hierarchien und Machtverhält-

nisse dient, hin zu einer Ordnung, in der Kunst ihren Seinszweck in

sich selbst findet.13 Während Starobinski sich mit seiner Analyse auf

den literarischen Text beschränkt, bezieht Rancière auch die bildende

Kunst mit ein. Ihre Diagnose lässt sich aber auch auf die Musik aus-

dehnen, wo die Idee des Werks, wie Lydia Goehr aufzeigt, um 1800

zum regulativen Konzept wird, das die Funktion hat, die Struktur

musikalischer Praktiken festzulegen, zu stabiliseren und zu ordnen.14

Das Werkkonzept stiftet und reguliert die Tätigkeiten der Kompo-

sition, der Aufführung, der Rezeption, Analyse und Evaluation von

Musik – mehr noch: das Konzept des Werks macht Musik überhaupt

erst als Ausgangs- und Bezugspunkt dieser Aktivitäten kenntlich und

greifbar. Es markiert die Emanzipation der Musik von den außermu-

sikalischen Bedingungen ihrer Produktion. Der Ort der Musik ist nun

nicht mehr der Zusammenhang ihrer liturgischen oder politisch-

rhetorischen Verwendung, sondern das imaginäre »Museum der

Werke«, von dem Franz List in einem Text von 1835 in Analogie zum

Louvre spricht, dem Repositorium der großen Werke der bildenden

Kunst aller Epochen.15

Zur Umwidmung des Artefakts zum Werk gehört eine Verände-

rung seiner Sinnstruktur. Zumal in der Tradition der Schriftreligio-

nen, in denen sakrale Autorität sich auf eine heilige Schrift gründet,

bedurften Texte der Auslegung und der Interpretation. So entfal-

tete in der christlich-abendländischen Tradition der biblische Text

seine Funktion als Träger einer sakralen Autorität durch die Aus-

legung nach dem vierfachen Schriftsinn. Diese Lehre, die im Kate-

chismus der katholischen Kirche bis heute kodifiziert ist, legt offen,

was sich zugetragen hat (buchstäblicher Sinn), was zu glauben ist

(allegorischer bzw. theologisch-dogmatischer Sinn), was zu tun ist

(moralischer Sinn) und wonach zu streben ist (anagogischer Sinn).

Im Zuge der Reformation, die dem Leser das Wort Gottes ohne Mit-

telsmänner zugänglich machen will, wird aus der Lehre vom vier-

fachen Schriftsinn schließlich der historisch-kritische Ansatz der

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modernen Hermeneutik. Im Feld der Literatur wiederum, von dem

man auch behaupten kann, dass es durch die Umwidmung des Textes

zum Werk überhaupt erst in seinem modernen Sinn entsteht, voll-

zieht sich diese vorab durch das, was Maurice Blanchot den »Rück-

zug der Sprache aus dem Lauf der Welt« nennt.16 Literatur wird zur

»stummen Rede«, wie Rancière es durchaus im Anschluss an Blan-

chot nennt, und die Kunst verschafft sich ein Ȋsthetisches Unbe-

wusstes«: eine Sinnstruktur, die dem Werk einen Anteil an Unausge-

sprochenem, ja Unaussprechlichem einschreibt, das freizulegen die

Aufgabe der Interpretation ist, das sich aber, wie im Falle des her-

metischen Gedichts, das in diesem Sinne das paradigmatische Werk

dieser neuen Wissensordnung der Kunst ist, der vollständigen Aus-

legung stets entzieht, oder genauer: stets aufs Neue entzieht.17 Um

auf Szondi zurückzukommen: Das philologische Wissen muss eine

Tätigkeit sein und kann kein systematisches Wissen werden, weil das

Werk einen Anteil der stummen Rede einbehält: weil es von seiner

Sinnstruktur her ein Schloss ist, das immer wieder zuschnappt.

Um von der Umwidmung des Musikstücks zum Werk einen

Begriff zu geben, macht Liszt, wie erwähnt, eine Anleihe bei der bil-

denden Kunst: Er stellt sich einen Louvre der musikalischen Werke

vor. Man kann aber durchaus die Frage stellen, ob es nicht gerade die

zeitbasierte Kunst der Musik ist, und die im Zeichen des Werkbegriffs

erst etablierte Praxis der Aufführung als Interpretation, die ihrerseits

der Literatur und der Literaturwissenschaft das Modell für ein Ver-

ständnis von Kritik liefern, welche die Erkenntnis des Kunstwerks als

Vorgang in der Zeit versteht und nicht als verfügbares Wissen.

Blanchot verweist auf eine Hölderlin-Interpretation, in der Hei-

degger das Gedicht mit einer schwebenden Glocke vergleicht und

die Interpretation mit leichtem Schnee, der die Glocke zum Klingen

bringt. Kritik in diesem Sinne »vollendet sich und erreicht ihr Ziel

erst, wenn sie verschwindet«.18

Zu diesem Verständnis von Kritik gehört auch, dass sie, wie die

Interpretation eines musikalischen Werkes, zugleich ephemer und

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singulär bleibt. Sie bezieht sich auf spezifische Werke, wie Jean Sta-

robinski festhält; Verallgemeinerbarkeit, wie sie zum wissenschaftli-

chen Wissen und zur »Theorie« gehört, ist von ihr nicht zu erwarten:

»Die turbulente Unregelmäßigkeit, der Widerspruch zwischen den

Werken und innerhalb der Werke würden überdeckt durch die inva-

sive und monotone Ausbreitung der ›Theorie‹.«19

Wider die Tendenz der westlichen Kultur, so Starobinski im

Anschluss an Blanchot, alles auf die Rationalität allgemeiner Begriffe

herunterzubrechen, behauptet sich die Literatur, in dem sie sich

dem »apaisement«, der Beschwichtigung durch die Verallgemeine-

rung gerade verweigert. Es ist die Aufgabe einer Kritik, die mehr ist

als Gericht und Vergleichung, diese Weigerung zur Sprache und zur

Geltung zu bringen, dort einzuspringen, wo das »scheinbar fraglose

Selbstverständnis eines bestimmten Realitätskonzepts an der Fremd-

heit des zu interpretierenden Diskurses zuschanden wird«, wie Man-

fred Frank es formuliert.20

Statt das Kunstwerk auf allgemeine Begriffe zu bringen, schafft

eine solche Kritik einen Resonanzraum für das Werk, in welchem,

so Blanchot, »für einen Augenblick die sprachlose, unbestimmte

Realität des Werks sich in Sprache verwandelt und sich in dieser

umreißt.«21 Der Interpretation eines musikalischen Werkes ist eine

solche Kritik auch darin verwandt, dass sie selbst zu einer formen-

den Kraft wird. Die Herausbildung des Werkgedankens markiert

für Starobinski »einen Wendepunkt, an dem die Kritik nicht mehr

damit beschäftigt ist, eine bereits bestehende Autorität zu stützen,

sondern sich selbst zu einer formenden Kraft macht.«22 Die Kritik ist

mit anderen Worten nicht nur Erkenntnis des Werks der Kunst, sie

ist selbst eine schöpferische Tätigkeit.23 Die Kritik, die mehr ist als

Gericht und Vergleichung, ist, wenn man so will, ein Ins-Werk-Set-

zen des Werks. Mehr noch: Die Kritik gehört, so Blanchot, bereits zur

Realität des Werks.

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»Wenn die Kritik jener offene Raum ist, in dem sich das Gedicht

mitteilt, wenn sie danach strebt, vor diesem zu verschwinden,

damit es erscheinen kann, dann deshalb, weil dieser Raum und

diese Bewegung des Verschwindens […] schon zu der Wirklich-

keit des literarischen Werks gehören und in diesem am Werk

sind, während es sich bildet; nach außen gelangen sie gewis-

sermaßen erst in dem Moment, in dem das Werk sich voll-

endet, und damit es sich vollendet.« 24

Die Kritik als das schöpferische Ins-Werk-Setzen des Werks ist die

Vollendung des Werks: In der Bewegung des Zur-Sprache-Bringens

des Werks und des Verschwindens vor dem Werk liegt die Einheit

von Kunst und Kritik. Damit wird zugleich auch deutlich, woher sich

das von Blanchot, Starobinski und Szondi vertretene Verständnis

von Kritik speist, nämlich aus dem Kritikbegriff der Frühromantik.25

»Für die Romantiker«, schreibt Walter Benjamin in seiner Studie

zum Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, »ist Kritik

viel weniger die Beurteilung eines Werkes als die Methode seiner Vol-

lendung.«26 Als Methode der Vollendung tritt die Kritik aber nicht von

außen ans Werk heran: »Sofern Kritik Erkenntnis des Kunstwerks ist,

ist sie dessen Selbsterkenntnis, sofern sie es beurteilt, geschieht es in

dessen Selbstbeurteilung.«27 Selbsterkenntnis und Selbstbeurteilung

des Werks kann die Kritik deshalb sein, weil die Kunst nicht Mittel

des Ausdrucks oder der Repräsentation ist, sondern Reflexionsme-

dium – die Aufgabe der Kunstkritik ist die »Erkenntnis in dem Refle-

xionsmedium der Kunst«:

»Kritik ist also gleichsam ein Experiment am Kunstwerk,

durch welches dessen Reflexion wachgerufen, durch das es

zum Bewusstsein und zur Erkenntnis seiner selbst gebracht

wird.«28

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Das effektivste Verfahren dieses Experiments am Kunstwerk ist dabei

die Zerstörung der Form, wie Benjamin sie etwa in den »zerfetzten

Romanen« von Jean Paul ausmacht: »Weit entfernt, eine subjektive

Velleität des Autors dazustellen, ist [die] Zerstörung der Form die

Aufgabe der objektiven Instanz in der Kunst, der Kritik.«29 Gerade in

der Zerstörung der »bestimmten Darstellungsform des Werkes« aber

bestätigt sich die Kunst als »Universalwerk« und als Reflexionsme-

dium.

Im Experiment am Kunstwerk liegt, jenseits der Arbeitstei-

lung des modernen Kunstbetriebs und der doppelten Beziehung von

Gericht und Vergleichung, die mögliche Einheit von Kunst und Kritik.

Der Künstler wird zum Kritiker, wenn er nicht nur Genealoge seiner

selbst und seiner Kunst ist, sondern auch Experimentator am Werk.

Godard, der erste Genealoge seiner selbst im Feld des Films, hat

demnach nie aufgehört, auch Kritiker zu sein: Sein Werk ist ein fort-

gesetzter Angriff auf die bestimmte Darstellungsform des Films und

ein laufender Kommentar zum Kino selbst, ein unendlicher Roman

des Kinos – seit den frühen 1970er Jahren verfasst im Dialog mit sei-

ner Lebens- und Arbeitspartnerin Anne-Marie Miéville. In besonde-

rer Weise gilt dies für »Histoire(s) du cinéma«, die durchaus die Vol-

lendung der modernen Kunst im Kino sind, aber nicht in dem von

Colin McCabe intendierten Sinne als das lang erwartete filmische

Gegenstück zu James Joyce, sondern als Kommentar im Horizont der

Einheit von Kunst und Kritik30 und ein Ins-Werk-Setzen des Univer-

salwerks des Kinos im Modus der zerfetzten Form.

Das Experiment und die damit verbundene Interpretations-

leistung kann auch weniger als »Un-Werk« (wie bei Godard) und

mehr als Prozess, der vom Künstler nur an- oder losgestoßen wird,

verstanden werden. Ein Beispiel dafür wäre Andy Warhol. Wenn er

beispielsweise die Kamera einfach anschaltet und weggeht, also das

Werk dem filmtechnischen Automatismus der Darstellung überlässt,

übt sich Warhol in der Zerstörung der bestimmten Form durch das

Medium der Darstellung selbst, eines »cinéma sans cinéma«, wie es

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am Ende von André Bazins Aufsatz über Vittorio de Sica heißt, der

mit Zavattinis Vision eines Kinos endet, das ganz in der Darstellung

des Lebens aufgeht. Chantal Akermans »Jeanne Dielman, 23, Quai

du Commerce, 1080 Bruxelles«, wäre ein weiteres Beispiel für ein

»cinéma sans cinéma«, für eine Zerstörung der Form, in der das Uni-

versalwerk sich als Reflexionsmedium behauptet.

Schließlich wäre, an die Werbe-Virtuosität von Godard wie von

Warhol anknüpfend und radikal industrielle Formen der Kulturkom-

munikation in den Blick nehmend, der Trailer zu nennen: Eine von

Autorschaft freie Form, die systematisch die Form des Werks zer-

fetzt, um vor diesem zu verschwinden und ihm Platz zu machen. Das

Ideal der zeitgenössischen Hollywood-Produzenten ist der »critic

proof film«, der Film, dem die Kritiker, die im Modus von Gericht

und Vergleichung arbeiten, nichts anhaben können. Der Trailer, der

mehr Publikum erreicht als jeder Kritiker, besorgt die Absicherung

des Universalwerks des Kinos gegen diese Form der Kritik. Jenseits

aller subjektiven Velleität des Künstlers leistet er die Arbeit einer

objektiven Instanz der Kunst. Denn Trailer dürfen den Film zerlegen,

aber sie dürfen nicht lügen.

Die Herausforderung an die Kritik besteht demnach darin, das-

selbe Reflexionsniveau zu erreichen wie ein Godard, ein Warhol, eine

Akerman oder ein Trailer.

anmerkungen

1 Jean-Luc Godard: Jean-Luc Godard par Jean-Luc Godard, Paris 1968), S. 286.

2 Vgl. Sergei Eisensteins »Allgemeine Geschichte des Kinos«. Eingeleitet von

Antonio Somaini und Naum Klejman, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft,

No. 4, 1/2012.

3 Man kann dem entgegenhalten, dass die Avantgarden des Kinos selbstver-

ständlich ein kunsthistorisches Bewusstsein pflegten, ja zur Voraussetzung

hatten. Deren Ehrgeiz besteht allerdings darin, den Film nach dem Modell

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der Malerei und der Kunst zur abstrakten Kunst zu machen. Sie operieren

nach dem Prinzip der transmedialen Formatierung und kommen auch des-

halb ohne filmspezifische Genealogien dieser Kunst aus.

4 Zur Anthropologie des Zeitgenössischen vgl. Paul Rabinow: Marking Time.

On the Anthropology of the Contemporary, Princeton 2007.

5 Vgl. F.D.E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, herausgegeben und ein-

geleitet von Manfred Frank, Frankfurt/M. 1977, S. 241.

6 Walter Benjamin: »Einbahnstraße«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band

IV.1, Frankfurt/M. 1991, S. 109–110.

7 Peter Szondi: »Traktat über philologische Erkenntnis«, in: Ders.: Schriften,

Band 1, Berlin 2011, S. 264.

8 Die Ansätze reichen von der »empirischen Literaturwissenschaft« über

Franco Morettis neo-marxistischen Ansatz des »distant reading« und der

statistischen Durchdringung großer Literaturkorpora (vgl. Franco Moretti:

Graphs, Maps, Trees: Abstract Models for a Literary History, London 2005) bis

hin zu den vielfältigen Anstrengungen, Literatur unter wissens- statt form-

oder kunsthistorischen Gesichtspunkten zu betrachten und die Literaturge-

schichte so auf das vermeintlich sichere Terrain anzuschließen, auf dem die

Geschichte der Naturwissenschaften sich bewegt.

9 Maurice Blanchot: Lautréamont et Sade, Paris 1963, S. 9, Übers. VH

10 Ebd., Übers. VH.

11 Szondi: »Traktat über philologische Erkenntnis«, a.a.O., S. 266.

12 Vgl. Jean Starobinski: La relation critique, Paris 1970, S. 27.

13 Vgl. dazu Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006.

14 Lydia Goehr: The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philoso-

phy of Music, New York/Oxford 2007, S. 102–103.

15 Ebd., S. 205.

16 Maurice Blanchot, L’espace littéraire, Paris 1955, S. 21 und S. 25.

17 Jacques Rancière: Das ästhetische Unbewusste, Berlin/Zürich 2005; Ders.:

Die stumme Sprache. Essay über die Widersprüche der Literatur, Berlin/Zürich

2010.

18 Blanchot: Lautréamont et Sade, a.a.O., S. 10. Übersetzung VH.

19 Starobinski: La relation critique, a.a.O., S. 49, Übersetzung VH.

45

20 Manfred Frank, Einleitung, in: Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik,

a.a.O., S. 20.

21 Blanchot: Lautréamont et Sade, a.a.O., S. 12.

22 Starobinski: La relation critique, a.a.O., S. 27, Übersetzung VH.

23 Ebd., S. 28, Übersetzung VH.

24 Blanchot: Lautréamont et Sade, a.a.O., S. 12, Übersetzung VH.

25 Der philologischen Vollständigkeit halber sei daran erinnert, dass Blanchot

sich in »L’entretien infini« (Paris, 1971) ausführlich mit Novalis, den Gebrü-

dern Schlegel und dem Kritikbegriff der Romantik befasst. Seine Rezeption

der deutschen Frühromantik geht derjenigen von Lacoue-Labarthe, Nancy

und Rancière voraus und bereitet ihr den Weg.

26 Walter Benjamin: »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«,

in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I.1, Frankfurt/M. 1991, S. 68.

27 Ebd., S. 66.

28 Ebd., S. 65.

29 Ebd., S. 65.

30 Ich greife hier einen Gedanken von Philipp Stadelmaier auf, der eine

Doktorarbeit zu Godard und Daney vorbereitet.