Säkularisierung als Ideologie. Claude Leforts alternatives Deutungsmuster der Moderne

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Säkularisierung als Ideologie Claude Leforts alternatives Deutungsmuster der Moderne von Rebekka A. Klein I. Hinführung und Fragestellung In meinem Beitrag möchte ich den Einfluss des Deutungsmusters der Säkularisierung auf die Wahrnehmung und Rezeption der politischen Philosophie Claude Leforts diskutieren. In den Texten Leforts findet sich zwar keine explizite Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthe- se, aber seine Überlegungen zur modernen Demokratie, die unter dem Schlagwort vom leeren Ort der Macht bekannt geworden sind, analysie- ren die Demokratie im Horizont ihrer Geschichtlichkeit und betonen ihr Hervorgehen aus einer anderen, nämlich der monarchischen Herr- schaftsform. Dies hat eine Rezeptionshaltung gegenüber der Philoso- phie Leforts befördert, die seine Texte der einen oder anderen Fassung der Säkularisierungsthese zuordnet. In meinem Beitrag möchte ich diese Rezeptionshaltung von verschiedenen Seiten her aufbrechen und zei- gen, dass Leforts Texte eine alternative, die Säkularisierungsthese kritisch hinterfragende Deutung der politischen Moderne anbieten. In einem ersten Schritt soll nun die Rezeption der Philosophie Leforts als einer Theorie vom Fortschritt der Moderne kritisch besprochen werden. 2. Der leere Ort der Macht als Fortschrittskategorie? Die in den Texten Leforts entwickelte Auffassung der modernen De- mokratie kann mit wenigen Worten kurz charakterisiert werden. Lefort sieht die moderne Demokratie als ein politisches Experiment mit offe- nem Ausgang an. Ihr Wagnis bestehe darin, den Ort, an dem die souverä- ne Macht sich zeigt, in festgelegten Abständen systematisch zu entleeren und ihn so dauerhaft frei zu halten von allen realen Instanzen. Auf diese Weise suche das demokratische Regime zu verhindern, dass irgendein Teil der Gesellschaft den Ort höchster Macht stellvertretend für das Gan- ze der Gesellschaft besetzen und besitzen kann. Dies zeige sich paradig-

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Säkularisierung als Ideologie

Claude Leforts alternatives Deutungsmuster der Moderne

vonRebekka A. Klein

I. Hinführung und Fragestellung

In meinem Beitrag möchte ich den Einfluss des Deutungsmusters der Säkularisierung auf die Wahrnehmung und Rezeption der politischen Philosophie Claude Leforts diskutieren. In den Texten Leforts findet sich zwar keine explizite Auseinandersetzung mit der Säkularisierungsthe-se, aber seine Überlegungen zur modernen Demokratie, die unter dem Schlagwort vom leeren Ort der Macht bekannt geworden sind, analysie-ren die Demokratie im Horizont ihrer Geschichtlichkeit und betonen ihr Hervorgehen aus einer anderen, nämlich der monarchischen Herr-schaftsform. Dies hat eine Rezeptionshaltung gegenüber der Philoso-phie Leforts befördert, die seine Texte der einen oder anderen Fassung der Säkularisierungsthese zuordnet. In meinem Beitrag möchte ich diese Rezeptionshaltung von verschiedenen Seiten her aufbrechen und zei-gen, dass Leforts Texte eine alternative, die Säkularisierungsthese kritisch hinterfragende Deutung der politischen Moderne anbieten. In einem ersten Schritt soll nun die Rezeption der Philosophie Leforts als einer Theorie vom Fortschritt der Moderne kritisch besprochen werden.

2. Der leere Ort der Macht als Fortschrittskategorie?

Die in den Texten Leforts entwickelte Auffassung der modernen De-mokratie kann mit wenigen Worten kurz charakterisiert werden. Lefort sieht die moderne Demokratie als ein politisches Experiment mit offe-nem Ausgang an. Ihr Wagnis bestehe darin, den Ort, an dem die souverä-ne Macht sich zeigt, in festgelegten Abständen systematisch zu entleeren und ihn so dauerhaft frei zu halten von allen realen Instanzen. Auf diese Weise suche das demokratische Regime zu verhindern, dass irgendein Teil der Gesellschaft den Ort höchster Macht stellvertretend für das Gan-ze der Gesellschaft besetzen und besitzen kann. Dies zeige sich paradig-

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matisch in der Wahl der Volksvertreter durch das Stimmvolk. In dieser Wahl werde die Stimme des Einzelnen als Zahl erfasst und damit von vornherein in ein fiktiv-symbolisches Register übertragen. Anschließend werde aus diesem symbolischen Akt der Zählung des Stimmvolkes eine zeitlich begrenzte Repräsentation souveräner Macht gebildet: das Par-lament. Die Demokratie gründe daher in einer fiktiven Auflösung der sozialen Wirklichkeit der Gesellschaft in ein symbolisches Register der Macht. Die Folge dieser Auflösung sei, dass die Demokratie nur über eine rein symbolische Repräsentation der Einheit und Unteilbarkeit des Gesellschaftskörpers verfüge. Auf Grund des nicht-realen, ‚unwirklichen‘ Charakters dieser Repräsentation entstehe in der demokratischen Ge-sellschaft eine nicht stillzustellende Unruhe und revolutionäre Dynamik, denn der Gesellschaftskörper sei in Wahrheit heterogen und gespalten. Diese innere Zerrissenheit, dieser Mangel an Identität könne durch die symbolische Repräsentation der Macht nicht vollständig kompensiert werden und bringe die Gefahr mit sich, dass das demokratische Disposi-tiv souveräner Macht durch eine totalitäre Ideologie ersetzt werde.

Am Beispiel der unten abgebildeten Karikatur (Abb. 1) zur politischen Krise in der Ukraine lässt sich illustrieren, worin die Aktualität dieser Thesen Leforts besteht. Die Karikatur zeigt einen Streit zwischen ver-schiedenen Vertretern des ukrainischen Volkes um den wahren ‚Ort‘ der Nation. Als symbolische Repräsentation der Einheit der Gesellschaft fungiert auf dem Bild die Flagge der Ukraine, die von einzelnen Ver-tretern des ukrainischen Volkes jeweils für sich vereinnahmt wird – und zwar nicht als eine symbolische, sondern als eine reale Instanz. Jeder der einzelnen Vertreter sieht sich selbst als den einzig wahren Vertreter der ukrainischen Nation an, während die anderen als deren Verräter wahrge-nommen werden. Dieses Ansinnen folgt jedoch der Logik, dass die ‚Na-tion‘ beziehungsweise das souveräne Volk sich auch jenseits seiner sym-bolischen Repräsentation in einem Vertreter oder einer Gruppierung des ukrainischen Volkes real verkörpert. Als Folge des Versuchs, sich der symbolischen Repräsentation der Nation auf diese Weise zu bemächti-gen, zerbricht – oder in diesem Fall zerreißt – das symbolische ‚Abbild‘, die Flagge, da ihr keine in der sozialen Wirklichkeit vorfindliche Größe korrespondiert. Das Zerreißen der Repräsentation entblößt diese jedoch, im Sinne Leforts, als symbolische Leerstelle ohne reale Substanz.

Auf Grund ihrer eingängigen Formel vom leeren Ort der Macht wird Leforts Philosophie nun gemeinhin als eine Theorie der Demokratie re-zipiert, die diese als eine fortschrittliche Gesellschaftsform im Gegenüber zur Vormoderne begreift. Dass die Rede vom leeren Ort der Macht bei Lefort selbst allerdings nicht so optimistisch und fortschrittlich gemeint ist, sollte die Einbeziehung der oben abgebildeten Karikatur bereits an-deuten. Der ‚Ruf‘ der Demokratietheorie Leforts allerdings ist ein an-derer. So liest beispielsweise Philip Manow Leforts Philosophie kritisch

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bis abwertend als eine Theorie der demokratischen Repräsentation, die sich der Illusion hingibt, dass Bilderkult und Körpermetaphysik der vor-modernen politischen Ordnung in der Moderne vollkommen durch eine aufgeklärt-rationale Ordnung der Macht ersetzt worden wären.1 Leforts Theorie verstelle damit den Blick auf unsere tatsächlich gelebte demokratische Repräsentationskultur und ihre historischen Ursprünge in der englischen Revolution. Oliver Marchart hat Leforts Theorie da-gegen jüngst als eine post-fundamentalistische, alle Versuche einer Letzt-begründung sozialer Ordnung infrage stellende Theorie des Politischen bezeichnet. In ihr werde eine negative Ontologie des Sozialen entfaltet. Dies zeige sich in Leforts Rede vom leeren Ort der Macht, der für die prinzipielle Abwesenheit aller letzten Gründe politischer Ordnung in der modernen Demokratie stehe. Lefort habe gezeigt, dass das Dispositiv der Macht in der Demokratie kein substanzielles religiöses Fundament mehr benötige und dieses stattdessen durch einen leeren Ort ersetzt habe. Der leere Ort der Macht fungiere als formaler Platzhalter für die Einheit und Unteilbarkeit der demokratischen Gesellschaft, welche vor-modern in der Person des Königs oder des Monarchen manifestiert und verkörpert wurde.

Leforts Formel vom leeren Ort der Macht in der Demokratie wird daher oft als eine Kategorie zur Deutung des Fortschritts der modernen demokratischen Herrschaft gegenüber der vormodernen monarchischen Herrschaftsform verstanden. Auf Grund dieser Wahrnehmung gibt es in jüngster Zeit auch verschiedene Versuche, Leforts Demokratietheorie auf die Diskursethik von Jürgen Habermas und dessen Säkularisierungskon-zept zu beziehen.2 Hervorgehoben werden dabei die zahlreichen struk-

1 Vgl. Philip Manow, Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokra-tischer Repräsentation, Frankfurt am Main 2008.

2 Vgl. Stefan Rummens, Deliberation interrupted: Confronting Jürgen Haber-mas with Claude Lefort. In: Philosophy & Social Criticism, 34 (2008), S. 383–408; Andreas Wagner, Recht − Macht − Öffentlichkeit. Elemente demokratischer Staat-lichkeit bei Jürgen Habermas und Claude Lefort, Stuttgart 2010; Carlo Invernizzi Accetti, Can Democracy Emancipate Itself From Political Theology? Habermas and Lefort on the Permanence of the Theologico-Political. In: Constellations, 17 (2010),

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turellen Ähnlichkeiten dieser beiden Theorien, so etwa der Ausgang von einer sprachlich-diskursiven Verfasstheit des Politischen oder die Orien-tierung an einer nach-metaphysischen Konzeption von Universalität. In dieser Weise stellen Wim Weymans und Andreas Hetzel den substanzi-ellen Universalismus der Diskurstheorie bei Habermas dem negativen Universalismus des leeren Orts der Macht bei Lefort gegenüber und erweisen letzteren als fortschrittlicher im Vergleich zu Habermas.3

Eine weitere, direkt auf die Säkularisierungstheorie bezogene Deutung der Philosophie Leforts legt Øjvind Larsen vor. Er hat die Demokratie-theorie Leforts als Ansatz zu einer tragischen Theorie der Säkularisie-rung und der politischen Moderne bezeichnet. Sie begründe mit ihrem Theorem vom leeren Ort der Macht auf einer ontologischen Ebene die fundamentale Unsicherheit aller politischen Legitimationsprozesse in der modernen Demokratie und behaupte, dass sowohl die Gefahr einer Totalisierung als auch einer Ideologisierung der Macht in ihr nicht aus-zulöschen sei. Die offene Flanke der Demokratie für totalitäre Projekte bestehe darin, dass sie keinen Ersatz für die Bilder und Figuren einer sub-stantiellen Verkörperung von gesellschaftlicher Einheit und Identität an-biete, welche im vormodernen Register der politischen Theologie den Ort der Macht konstituierten. Ursache für das wiederholte Scheitern der Demokratie im 20. und 21. Jahrhundert sei ihr im Verborgenen weiter wirksames Erbe: die politische Theologie der Vormoderne, die in den Ablösefiguren religiöser Transzendenz in der Moderne ein Nachleben4 führe. Larsen rezipiert Leforts Philosophie demnach als eine Art ‚Ergän-zung‘ zu sogenannten harmonisch-optimistischen Säkularisierungstheo-rien, welche Modernisierung mit einem Verschwinden (oder zumindest einer funktionalen Ausgliederung) von Religion aus dem öffentlichen Raum gleichsetzen und für die ‚Religion‘ den blinden Fleck des moder-nen Selbstverständnisses repräsentiert.

Durch diese und andere Lesarten ist das immer wieder anzutreffende Missverständnis entstanden, Leforts Formel vom leeren Ort der Macht beschreibe das „Normativitätsprofil einer nachmetaphysischen Repu-

S. 254–270; Øjvind Larsen, Die Versprachlichung des Sakralen. The Transformation of the Authority of the Sacred into Secular Political Deliberation in Habermas’ The-ory of Communicative Action. In: Nordicum-Mediterraneum, 6 (2011), S. 1−16; Wim Weymans/Andreas Hetzel, From Substantive to Negative Universalism: Lefort and Habermas on Legitimacy in Democratic Societies. In: Thesis Eleven, 108 (2012), S. 26–43; Hermann-Josef Große Kracht, Solide Säkularität. Diskursdemokratische Reflexionen zum Verhältnis von Religionen und Politik im Zeitalter postmetaphy-sischer Politik. In: Karl Gabriel/u.a. (Hg.), Modelle des religiösen Pluralismus. Histo-rische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven, Paderborn 2012, S. 269–289.

3 Vgl. Weymans/Hetzel, From Substantive to Negative Universalism, s. Anm. 2.4 Vgl. Martin Treml/Daniel Weidner (Hg.), Nachleben der Religionen. Kultur-

wissenschaftliche Untersuchungen zur Dialektik der Säkularisierung, München 2007.

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blik“5, in der gleichberechtigte und zu moralischer Autonomie fähige Staatsbürger ohne gemeinsam geteilte religiös-weltanschauliche Über-zeugungen sich in einem rein innerweltlich vermessenen Raum kollek-tiver Begegnungs- und Diskurspraxis selbst regieren. So ist es etwa bei Hermann-Josef Große Kracht über Lefort nachzulesen.6 Um Skepsis an einer solchen Wahrnehmung von Leforts Philosophie zu wecken, möch-te ich im Folgenden einerseits auf Leforts Deutung der Französischen Revolution und andererseits auf seine Interpretation der Schrift De Mo-narchia von Dante eingehen.

3. Kritik der Deutung der Französischen Revolution als einer Entzauberung der Monarchie

Um Leforts Auseinandersetzung mit der ‚Geburtsstunde‘ der modernen Demokratie in der Französischen Revolution zu verstehen, ist zunächst sein geschichtshermeneutischer und phänomenologischer Ansatz genau-er zu analysieren. In seinen Texten untersucht Lefort den geschichtlichen Horizont der Gesellschaftsordnung der Gegenwart, orientiert sich dabei jedoch nicht an einer teleologischen Auffassung von Geschichte. So geht es ihm bei seinem Blick in die Geschichte nicht darum, die Notwen-digkeit der Demokratie historisch herzuleiten, sondern darum, ein Ver-ständnis ihrer geschichtlichen Kontingenz zu gewinnen.7 Diese Haltung Leforts kommt darin zum Ausdruck, dass er an keiner Stelle seines Werks eine unkritische oder vorbehaltlos positive Würdigung der Demokratie anstrebt oder diese gar für eine (global gesehen) überlegene Herrschafts-form hält.8 Die Demokratie sei nicht „das Modell einer guten Herr-

5 Große Kracht, Solide Säkularität, s. Anm. 2, S. 272. 6 Vgl. Ernst Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der

Säkularisierung, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Ver-fassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 42–64, 60. Bei Böckenförde wird die Frei-heit des modernen Staates allerdings substanziell rückgebunden an die moralische Substanz des Einzelnen und die Homogenität der Gesellschaft, welche die Freiheit regulieren.

7 Vgl. Bernard Flynn, The Philosophy of Claude Lefort. Interpreting the Political, Evanston IL 2005, S. 100. In seiner Einführung in Leforts Denken betont Flynn, dass Lefort keine ideale Topografie aller möglichen Gesellschaften entwirft, sondern die konkrete geschichtliche Formation Westeuropas und ausgewählter vormoderner Gesellschaften untersucht: Darin folgt er der Kritik Merleau-Pontys an der trans-zendentalphilosophischen Wende zum Subjekt als apriorischer Bedingung der Mög-lichkeit aller Erfahrung. Die mit ihr angestrebte universelle Totalität der philosophi-schen Reflexion sei eine Illusion und daher durch eine Phänomenologie konkreter geschichtlicher Erfahrung zu ersetzen.

8 Vgl. Claude Lefort/Marcel Gauchet, Über die Demokratie. Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen. In: Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, herausgegeben von Ulrich Rödel, Frankfurt am Main 1990, S. 89–122, 93.

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schaftsordnung“9, sondern ein gesellschaftliches Experiment, das schei-tern kann wie jedes andere Experiment auch. Um diesem Realismus10 der Philosophie Leforts Rechnung zu tragen, hat Bernard Flynn sie in Anlehnung an Foucault als eine „history of the present“11 bezeichnet. In ihr werde eine Genealogie der demokratischen Herrschaft und damit eine Zerstreuung ihrer Ursprünge angestrebt und keine Geschichte der Demokratie geschrieben, welche diese auf den einen Ursprung zurück-führt und von ihm her rechtfertigt.

Flynn beugt mit dieser Analogie zum Werk Foucaults dem Missver-ständnis vor, Lefort zeichne in seiner Untersuchung verschiedener his-torischer Gesellschaftsformen stets eine direkte Fluchtlinie hin zur mo-dernen Demokratie. Er macht deutlich, dass Leforts Vorgehen besser vor dem Hintergrund der Verknüpfung seines Denkens mit der Phänome-nologie Maurice Merleau-Pontys gesehen werden muss.12 Lefort gehe es um eine phänomenologische Aufmerksamkeit für die vor-reflexive Einbettung und standortgebundene Erscheinung der Ereignisse im Stile der Merleau-Pontyschen surrefléxion.13 So formuliert Lefort in indirekter Bezugnahme auf Merleau-Ponty: „Die Illusion gleichsam einen heraus-ragenden Punkt einzunehmen, von dem die Zeiten zusammengeführt werden können, führt dazu, daß jene Verzerrung verschleiert wird, die […] unsere Stellung im Hinblick auf das Ursprüngliche bestimmt.“14

In Leforts Texten wird demnach eine Frontstellung gegen jede Form von transzendentaler Geschichtsphilosophie bezogen. Aber auch gegen-über dem Ansatz der Sozialwissenschaften grenzt er sich vehement ab: Während die politische Philosophie Gesellschaften (im Plural) als ge-schichtlich-symbolische Formationen, sogenannte régimes15 aufzufassen hat, begreife die Sozialwissenschaft die Gesellschaft (im Singular) als To-talität partikularer Wirklichkeitsbereiche (Politik, Religion, Wirtschaft etc.), deren funktionelle Relationssysteme sie untersucht. Lefort hat da-gegen mit seiner Rede von den régimes regionale politische Ontologien im Blick, deren einzigartige Form der Instituierung eines politischen

9 Ebd.10 Zu dieser Charakterisierung der Philosophie Leforts vgl. meinen Artikel: Re-

bekka A. Klein, Wider das Scheitern der Demokratie. Claude Lefort im Spiegel der neueren Forschung. In: Zeitschrift für Politische Theorie, 3 (2012), S. 205–222.

11 Flynn, The Philosophy of Claude Lefort, s. Anm. 8, S. 100.12 Claude Lefort lernte Maurice Merleau-Ponty bereits während seiner Gymna-

sialzeit kennen und war auch Herausgeber und Verwalter des Nachlasses von Mer-leau-Ponty in Paris.

13 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 32004, S. 60f., 70f.

14 Lefort/Gauchet, Über die Demokratie, s. Anm. 8, S. 95 (Hervorhebung im Ori-ginal).

15 Vgl. Claude Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, Wien 1999, S. 37. Zu Leforts Begriff des régime vgl. Flynn, The Philosophy of Claude Lefort, s. Anm. 7, S. 110f., 120f.

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Gemeinwesens er ausgehend von der Frage studiert, inwiefern sie den politischen Diskurs der Gegenwart vorbereitet und mit initiiert haben. So analysiert er die politischen régimes im Europa16 des Mittelalters, der Neuzeit und der frühen Moderne und wirft dabei die Frage auf, in wel-cher Form in ihnen das Grundproblem der modernen politischen Ord-nung – das Umkippen der Demokratie in eine totalitäre Gesellschafts-form – bereits aufscheint.

In seinem Aufsatz Fortdauer des Theologisch-Politischen? aus dem Jahre 1981 widmet sich Lefort konkret dem Phänomen der Auflösung des Ancien Regime, des absolutistischen Staates in Frankreich.17 Er würdigt die Französische Revolution und setzt sich kritisch mit der gemeinhin verbreiteten Vorstellung auseinander, diese Revolution sei die ‚Geburts-stunde‘ der modernen Demokratie gewesen. Wie ich später noch zei-gen werde, ist das Ereignis der Französischen Revolution für Lefort kei-neswegs der einzige Ursprung oder die einzige Quelle der Modernität der Demokratie. In seinem Aufsatz irritiert Lefort vielmehr diejenigen Deutungen, die in der Instituierung der Volkssouveränität eine rationa-le Überwindung autoritärer und traditionaler Herrschaftsformen sehen, und versucht deutlich zu machen, inwiefern das monarchische Dispo-sitiv der Macht von Beginn an in der modernen Politik fortlebt.18 Es geht ihm dabei ausdrücklich um die „Wiederherstellung einer Genealo-gie der demokratischen Repräsentationen“19, welche weder die Illusion eines radikalen Neuanfangs noch die Vorstellung einer ungebrochenen Kontinuität der symbolischen Formationen in der Geschichte nährt. Die moderne Demokratie stellt für ihn keinen voraussetzungslosen Neube-ginn dar, sondern ist im vormodernen politischen Diskurs verwurzelt und beerbt diesen.20 Dennoch konstituiert sie sich selbst als ein radikales Experiment, das darin besteht, die Gesellschaft zum ersten Mal in vollem Ausmaß der Unbestimmtheit und Unverfügbarkeit ihrer Herkunft und ihrer Fundamente auszusetzen. Dieses Experiment kann nach Lefort in der Gegenwart nur fortgesetzt werden, insofern es der demokratischen Gesellschaft gelingt, sich für sich selbst lesbar zu machen.21 Leforts eigene philosophische Überlegungen sind dementsprechend als Versuch einer solchen, subtil ansetzenden Lesbarmachung zu werten.

16 Lefort studierte auch vereinzelt außereuropäische Gesellschaften, dies jedoch nur auf der Basis der Forschungen von Marcel Mauss, Edward E. Evans-Pritchard, Pierre Clastres u.a. Vgl. dazu: Flynn, The Philosophy of Claude Lefort, s. Anm. 7, S. 83–98.

17 Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 67–85, sowie Jules Michelet, Histoire de France, Paris 1837–1867.

18 Vgl. insbesondere Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15.19 Ebd., S. 94.20 Vgl. ebd.21 Vgl. ebd.

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In seiner Untersuchung der politischen Vorgänge der Französischen Revolution macht Lefort beispielsweise deutlich, dass die Entmachtung des französischen Monarchen und die ‚Neuverortung‘ der Souveränität im Volk nicht als Akt der Befreiung, sondern lediglich als ideologische Umkehrung des monarchischen Dispositivs der Macht zu verstehen ist. Der Revolutionskonvent habe versucht, den Ort der Macht – den Ort, an dem Einheit und Universalität des politischen Gemeinwesens sich konstituieren – radikal zu entleeren, indem er den König abgesetzt habe und ihn später enthaupten ließ. Eine naheliegende Deutung sei es nun, diese Entkörperung des Orts der Macht als Ausdruck einer fortschrei-tenden Säkularisierung und Rationalisierung der Gesellschaft zu inter-pretieren. Denn mit der Abschaffung des absolutistischen Herrschers sei auch die mit dieser Herrschaftsform einhergehende Vorstellung einer Herrschaft von Gottes Gnaden abgeschafft und der Ort der Macht ver-weltlicht worden.

Doch Lefort zieht einen radikalen Bruch und eine vollständige Ablö-sung vormoderner Herrschaft in Zweifel. Dies kommt u. a. darin zum Ausdruck, dass er die Revolution lediglich als eine symbolische „Mutati-on“22 und nicht als eine Auflösung oder Abschaffung vormoderner Herr-schaftspraxis bezeichnet. Wie kommt er zu dieser Aussage? In dem bereits genannten Aufsatz zur Fortdauer des Theologisch-Politischen? zieht Lefort zur Interpretation der Vorgänge während der Französischen Revolution die Analyse der Verurteilung und Guillotinierung Ludwigs XVI. durch den Historiker Jules Michelet in seiner Histoire de France23 (1837–67) aus dem 19. Jahrhundert heran.24 Michelet zeige, dass der Prozess gegen den König im Verlauf der Revolution ein doppeltes Ziel verfolgt habe: zum einen die Übertragung der souveränen Macht – der Macht zur Stiftung von Einheit und Universalität des politischen Gemeinwesens – vom Kö-nig auf das Volk und zum anderen die Entzauberung der Institution der monarchischen Verkörperung von Macht als einer imaginären Fiktion.25 Letzteres, also die Zerstörung der Institution des Königtums, sei die ent-scheidende Weichenstellung im Hinblick auf die Errichtung der moder-nen Demokratie gewesen.

Michelet habe nun aber scharfsinnig erkannt, dass die Gefangennahme und Guillotinierung Ludwigs XVI. durch den Revolutionskonvent die-ses Ziel gerade verfehlt habe. Denn der leidende und später tote Körper des Königs sei durch die öffentliche Zurschaustellung nicht entzaubert, sondern vielmehr erneut zum Ort der Zuwendung und Anteilnahme seines Volkes geworden. Die Revolution habe mit der Guillotinierung entgegen ihrer eigenen Intention das für die Monarchie konstitutive

22 Ebd., S. 74.23 Vgl. Michelet, Histoire de France, s. Anm. 17.24 Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 79f.25 Vgl. ebd., S. 80.

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„[erotisch-politische] Sprachregister“26 wiederbelebt, anstatt es abzu-schaffen. Denn gerade die Liebe und Bewunderung seines Volkes (und nicht bloß ein staatsrechtliches Konstrukt) habe die natürliche Person des Königs auch schon zuvor in die Position des monarchischen Herrschers erhoben. Der natürliche, sterbliche Körper des Königs, sein Fleisch, und nicht das Attribut der göttlichen Transzendenz, sei nämlich Gegenstand einer phantasmatischen Investition des Volkes gewesen:

„Es ist das Bild des natürlichen Körpers, es ist das Bild des Gottes aus Fleisch, es ist das Bild seiner Vermählung, aber auch seiner Vaterschaft […] kurz, es sind all die Zeichen seines Menschseins, die ihre Phantasie bevölkern, ihnen die Verbundenheit von König und Volk versichern.“27

Das Phantasma von der Inkarnation wahrer Menschlichkeit im Kör-per des Monarchen und nicht die Ableitung der menschlichen von der göttlichen Monarchie habe jene Transformation des sterblichen in einen sakral-politischen Doppelkörper bewirkt, die konstitutiv für das monar-chische Dispositiv sei. Am Ort eines sterblichen Menschen sei die Un-sterblichkeit des politischen Gemeinwesens erschienen. Gerade durch die Zurschaustellung seiner Sterblichkeit und seiner Leiden und durch den Entzug seines sichtbaren Körpers im Tod konzentriere auch der ent-hauptete Monarch erneut die Blicke aller seiner Untertanen auf sich und werde zu dem einen fleischlichen Bild des vollen Menschseins:

„Der Theologie und den Juristen zufolge besitzt der unsterbliche König mit der Gabe der Ubiquität eine absolut hellseherische Gabe, aber gleichzeitig und gerade, indem er sich den Augen der Untertanen entzieht, hat er die Gabe, alle Blicke an-zuziehen und die absolute Sichtbarkeit des Menschseins auf sich zu konzentrieren: Als alleiniger Zielpunkt schafft er die Unterschiede der Blickwinkel ab und bewirkt, dass alle in einem verschmelzen.“28

Im Hintergrund von Leforts Auseinandersetzung mit Michelet steht an dieser Stelle die einflussreiche Deutung des mittelalterlichen Königtums durch den Historiker Ernst H. Kantorowicz.29 Kantorowicz zeigt in sei-nem 1957 erschienenen Buch The King’s Two Bodies,30 dass die Herr-schaftsform der Monarchen der frühen Neuzeit auf einer bereits im 11. und 12. Jahrhundert etablierten, christologisch begründeten Verdopp-lung ihres Personseins (persona mixta; gemina persona) beruht: dem chris-tuszentrierten Königtum.31 Gemäß dieser Vorstellung werde der König mit seiner Salbung zum Ebenbild Christi (rex imago Dei) und könne zugleich als sterblicher Mensch und als von Gott eingesetzter Vertreter

26 Ebd., S. 79.27 Ebd.28 Ebd.29 Vgl. ebd., S. 78.30 Vgl. Ernst Hartwig Kantorowicz, The King's Two Bodies. A Study in Mediaeval

Political Theology, Princeton N.J. 1957.31 Vgl. ebd., S. 42−86.

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Christi auf Erden erscheinen. Durch diese metaphysische Verdopplung der natürlichen Person könne der Herrscher als Mittler fungieren, der analog zur christlichen Vorstellung der Gottessohnschaft eine Vereini-gung des Irdischen mit dem Ewigen möglich mache und die Endlich-keit und Beschränktheit des irdischen Gemeinwesens auf diese Weise transzendiere. Damit sei die Doppelkörpertheorie als eine frühe Form der politischen Theologie, beziehungsweise der Sakralisierung des Politi-schen, zu begreifen.32 Erst im späten Mittelalter erhalte sie dann eine von der theologischen abgekoppelte, staatsrechtliche Begründung und werde in der frühen Neuzeit säkularisiert, indem sie den von den englischen und französischen Monarchen vertretenen Anspruch legitimiere, mit ih-rer Person die Staatsmacht zu verkörpern.

Mit Michelet, aber auch mit Machiavelli33 im Hintergrund – der eben-falls die Bedeutung der Liebe zwischen dem Fürsten und seinem Volk als zentral herausgehoben hat – zeigt Lefort nun, dass die von Kantorowicz beschriebene Macht des Königs, das Gemeinwesen in seiner Einheit und Universalität zu repräsentieren, nicht nur auf einer theologischen und staatsrechtlichen Konstruktion beruht, sondern vor allem auf einer phantasmatischen Investition des Volkes in den Körper des Monarchen. Das der Monarchie zugrunde liegende erotisch-politische Register der Macht könne deshalb mit der bloßen Abschaffung seiner theologischen oder staatsrechtlichen Legitimationsgrundlagen keineswegs zum Still-stand gebracht werden. Mit der öffentlichen Hinrichtung Ludwigs XVI. werde die phantasmatische Investition vielmehr vertieft und bestätigt. Daher sei auch die Übertragung der Souveränität vom König auf das Volk geeignet, „die Illusion, dass die Verkörperung sich in einen realen Körper einprägte“34, zumindest latent fortzusetzen. In der Moderne lebe diese Illusion in Gestalt einer imaginären Investition der Gesellschaft in ihre politischen Institutionen, Personen und Körper fort. Diese werde jedoch verdeckt, indem demokratische Begriffe wie ‚Volk‘, ‚Nation‘ und ‚Staat‘ als säkularisierte Gegenstücke zu den Begriffen religiöser Transzendenz gedeutet werden.35 Allerdings dürfe der Rekurs auf sie in der Demokratie aber auch nicht als Ausdruck eines neuen religiösen Glaubens missverstanden werden.36 ‚Volk‘, ‚Nation‘ und ‚Staat‘ würden zwar als Identitätspole für das demokratische Gemeinwesen fungieren, ihre Identität bleibe im Prozess der Herausbildung politischer Ordnung aber stets latent. Einerseits errichte die Demokratie mit diesen Begriffen also ihre eigenen Repräsentationen der Einheit und Unteilbarkeit der Gesellschaft, andererseits lasse sie diese aber nur im Modus der Latenz,

32 Vgl. ebd., S. 59.33 Vgl. Claude Lefort, Machiavelli in the Making, Evanston IL 2012.34 Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 82.35 Vgl. ebd., S. 57.36 Vgl. ebd., S. 60.

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also einer entzogenen Präsenz, eines Abwesend-Anwesenden als verbor-gene und unsichtbare Identitäten in einem symbolischen, der sozialen Wirklichkeit entzogenen Register, erscheinen.37 Die auf diese Weise in der Demokratie fortwährend inszenierte soziale Unverfügbarkeit zentra-ler politischer Figuren verführe nun dazu, die Heterogenität und innere Spaltung der Gesellschaft ideologisch aufzuheben und zu verwischen.

Dies hat Lefort insbesondere für den politischen Begriff des Volkes als souveränem Subjekt gezeigt. Der Rede vom Volkssouverän korrespon-diere in der sozialen Wirklichkeit kein realer Akteur. Dies bewirke eine konstitutive Unsicherheit aller politischen Legitimationsprozesse in der Demokratie, welche sich auf den Willen des Volkes berufen, und mache diese zugleich offen wie anfällig für eine Wiederkehr phantasmatischer Investitionen in den Ort der Macht – allerdings unter veränderten Vor-zeichen. Diese Investitionen seien in der modernen Demokratie nicht mehr metaphysisch oder religiös fundiert, sondern ideologisch. Das Um-kippen der Demokratie in eine totalitäre Ideologie geschehe insbeson-dere dort, wo die symbolische Integration der sozialen Konflikte und Differenzen misslinge und der soziale Raum drohe, sich vollständig zu fragmentieren. Um den totalen Zusammenbruch der politischen Ord-nung zu verhindern, erfolge in diesem Moment eine „unglaubliche Be-setzung derjenigen Vorstellungen, die das Indiz einer sozialen Identität und einer sozialen Einheit liefern“38. Mit einer solchen unglaublichen Besetzung meint Lefort eine Eskalation und Überschreitung des sym-bolischen Registers der Macht in das, was er das ‚Politisch-Imaginäre‘ nennt. Die symbolischen Repräsentationen der Demokratie würden dann durch imaginär-fiktive Projektionen der Einheit und Identität der Gesellschaft abgelöst. Letztere können die Illusion nähren, die Gesell-schaft sei mit einer bestimmten Repräsentation ihrer selbst identisch, und auf diese Weise Pluralität, Heterogenität und Eigenständigkeit der Gesellschaft gegenüber ihrer politischen Repräsentation auslöschen. Die „Identifikation von Repräsentant und Repräsentiertem“39 ist daher für Lefort der Grundzug jeder totalitären politischen Ideologie, welche eine partikulare Manifestation für das Ganze der Gesellschaft (pars pro toto) einstehen lässt und der Gesellschaft damit suggeriert, sie könne tatsäch-lich mit sich selbst identisch werden. Lefort denkt hier zum Beispiel an die sozialistische Einheitspartei, die sich anders als traditionelle Parteien „als Trägerin der Sehnsüchte des ganzen Volkes“40 präsentiert und jedwe-de Opposition ausschließt. Sie leugne damit die Pluralität und Fragmen-

37 Vgl. Claude Lefort, Menschenrechte und Politik. In: Ulrich Rödel (Hg.), Auto-nome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt am Main 1990, S. 239–280, 278.

38 Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 61.39 Lefort/Gauchet, Über die Demokratie, s. An. 8, S. 102.40 Claude Lefort, Die Frage der Demokratie. In: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome

Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt am Main 1990, S. 281–297, 286.

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tierung von Vergesellschaftungsprozessen und suggeriere, dass sich die Einheit des Volkes in ihrer partikularen Gestalt tatsächlich verwirkliche.

Nun besteht der größte Denkfehler nach Lefort allerdings darin, die totalitär-ideologische Schlagseite der Demokratie als eine verborgene ‚Politische Theologie‘ oder ‚Politische Metaphysik‘ zu begreifen, wie u. a. Carl Schmitt dies vorgeschlagen hat. Das Politisch-Imaginäre sei viel-mehr ein neuer, der Moderne eigener Modus, in den hinein sich das theologisch-politische Dispositiv verschoben habe. Diese Verschiebung sei allerdings nur dann als eine solche zu erfassen und nachzuzeichnen, wenn das Problem des Theologisch-Politischen, das ihr zugrunde liege, lesbar gemacht werde.

4. Das Theologisch-Politische als alternatives Deutungsmuster einer Genealogie der Moderne

Wie bereits gezeigt, geht Lefort davon aus, dass in Gestalt der imaginären Besetzung demokratischer Repräsentationen der Macht zumindest ein konstitutives Element des monarchischen Dispositivs in der modernen Gesellschaft fortwirkt. Diese Sichtweise impliziert für ihn jedoch gera-de nicht, dass die moderne Politik selbst noch ein theologisches oder religiöses Fundament hat – oder wie Carl Schmitt behauptet hat, dass ihre staatsrechtlichen Begriffe durchgängig als säkularisierte Vorstellun-gen theologischer Begriffe verstanden werden müssen.41 Die moder-ne Demokratie bezeichnet Lefort vielmehr als „Repräsentation einer Macht ohne religiöse Grundlage“42. Lefort bestreitet also nicht, dass die Trennung von Politik und Religion (in ihrer institutionellen Gestalt von Kirche und Staat) in der Gegenwart eine unumstößliche Tatsache dar-stellt.43 Er sieht diese Trennung allerdings bereits vor der Herausbildung des absolutistischen Staates und der modernen Demokratie angebahnt und philosophisch begründet, wie seine Interpretation der Werke von Niccolò Machiavelli, Étienne de la Boétie und Dante Alighieri zeigt.44 Parallel zum Prozess der Säkularisierung und Laisierung vollziehe sich bereits im 14. und 15. Jahrhundert ein „Prozess der Einverleibung der

41 Vgl. Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souve-ränität, Berlin 82004.

42 Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 48 (Hervorhebung nicht im Original).

43 Vgl. ebd., S. 34.44 Vgl. Claude Lefort, Le travail de l’œuvre Machiavel, Paris 1972; Claude Lefort,

Le nom d’Un. In: Pierre Leonhard (Hg.), Le discours de la servitude/La Boétie et la question du politique, Paris 1976, S. 247–307; Claude Lefort, La modernité de Dante, La Monarchie, traduit par Michèle Gally, Paris 1993, S. 9–91; sowie dazu Flynn, The Philosophy of Claude Lefort, s. Anm. 7, S. 20.

297Säkularisierung als Ideologie

religiösen Repräsentationen“45, in welchem den weltlichen politischen Institutionen eine mystische Bedeutung zugesprochen werde. Auf diesen Prozess einer parallel verlaufenden Säkularisierung und Sakralisierung religiöser und politischer Institutionen ist nun näher einzugehen.

Im Anschluss an Kantorowicz geht Lefort zunächst davon aus, dass das Verhältnis der Sphären des Theologischen und des Politischen nicht als Verhältnis der Verbindung und Trennung zweier autonomer Sphären zu betrachten ist. Stattdessen macht er den Vorschlag, dieses Verhältnis als ein komplexes ‚Spiel von Chiasmen‘ („jeu complexe de chiasme“46) zu be-greifen.47 Doch anders als Kantorowicz nimmt Lefort an, dass dem Spiel der Chiasmen ein dynamisches Moment zugrunde liegt:

„Was sich zudem entdecken ließe, ist ein dynamisches Schema, das sich in das kom-plexe Spiel der Chiasmen einprägt, das Ernst Kantorowicz so subtil entwirrt hat: Chiasmen, wir wiederholen es, nicht zwischen dem Theologischen und dem Politi-schen, wie seine eigenen Formulierungen manchmal anzunehmen veranlassen, son-dern […] zwischen bereits politisiertem Theologischen und bereits theologisiertem Politischen.“48

Mit seiner Rede vom Chiasmus greift Lefort erneut auf eine Figur der Phänomenologie Merleau-Pontys49 zurück, gibt ihr aber eine politische Wendung. Die rhetorische Figur des Chiasmus, also die Überkreuzung und spiegelbildliche Anordnung von Worten und Satzteilen, erlaube es, die Dynamik, die in der Bezugnahme religiöser und politischer Ordnun-gen aufeinander liege, so zu verstehen, dass diese nicht als ein Wechsel-spiel zwischen zwei klar voneinander abgrenzbaren Sphären, sondern als ein unlösbares Ineinandergreifen dieser beiden Bereiche sichtbar wird. Politisches und Theologisches seien als Chiasmus nicht aufeinander re-duzierbar, aber unlösbar miteinander verschränkt. Die chiastische Figur des Theologisch-Politischen erlaube es demnach, den Bezug des Poli-tischen und des Theologischen aufeinander nicht nur extern, sondern auch intern zu beschreiben. Die Annahme einer äußerlichen Abgren-zung der Politik von der Religion könne auf diese Weise nicht zu der Il-lusion verleiten, dass damit auch die interne Wirksamkeit des Religiösen ausgelöscht worden sei.50

Doch während Lefort in dem eben besprochenen Text zur Fortdauer des Theologisch-Politischen?51 die chiastische Verschränkung des Theologi-schen mit dem Politischen in erster Linie am Ort des 18. Jahrhunderts untersucht, verfolgt er ihre Spuren in späteren Arbeiten bis ins 14. Jahr-

45 Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 91.46 Claude Lefort, Permanence du théologico-politique?. In: Les temps de la réfle-

xion, 2 (1981), S. 13–60, 54.47 Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 86.48 Ebd.49 Vgl. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, s. Anm. 13.50 Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 87.51 Vgl. ebd.

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hundert zurück. Ein Beispiel hierfür ist Leforts Einleitung zur franzö-sischen Ausgabe von Dante Alighieris Monarchia52 aus dem Jahre 1993. Sie trägt den Titel La modernité de Dante53 und zeigt damit das Interesse Leforts an, bei Dante – einem Denker der Renaissance – Aufschluss über die Problematik der politischen Moderne zu finden. Dementsprechend präsentiert Lefort das Werk Dantes als eine bahnbrechende Neuerung im Horizont seiner Zeit. Dante habe in seinem Text eine Öffnung im theologischen Denkhorizont (une brèche dans la théologie) initiiert und die politische Gemeinschaft von der Einflussnahme durch Kirche und Re-ligion befreit.54 Im Anschluss an Kantorowicz55 und Gilson56 liest Lefort die Philosophie Dantes als die Erste, die eine auf die ganze Menschheit, die humanitas, zentrierte Konzeption des politischen Gemeinwesens ent-worfen und dieses Gemeinwesen von der geistlichen Macht der Kirche unabhängig gemacht habe.57 Der Gedanke eines universellen Gemein-wesens lasse sich zwar bereits in Aristoteles’ antiker Poliskonzeption fin-den.58 Doch erst Dante mache aus ihr eine durch und durch politische Kategorie, die nicht mehr auf der natürlichen Soziabilität des Menschen (zoon politikon), sondern auf der freiwilligen und gottgewollten Unter-werfung der Menschheit unter einen Monarchen beruhe. Während Aris-toteles’ ideale Poliskonzeption sich in der Ausführung auf ein bestimmtes Territorium begrenze und durch eine scharfe Trennung zwischen Bür-gern und Nicht-Bürgern geprägt sei, umfasse die société civile, die Dante vor Augen habe, ausdrücklich das ganze menschliche Geschlecht unge-achtet seiner Verschiedenheiten und vereine es unter der Regentschaft des einen Monarchen.59

Die universelle Autorität dieses Monarchen basiert nach Dante zudem nicht auf der Vermittlung durch eine irdische Instanz wie derjenigen des Papstes. Denn bereits Christus habe keine weltliche Macht für sich selbst beansprucht. Demnach könne dies der Papst als sein Stellvertreter, der ihm nicht einmal gleichgestellt sei, erst recht nicht tun.60 Die Macht des Kaisers sei vielmehr unmittelbar von Gott abzuleiten.61 Mit diesem Ar-

52 Vgl. Dante Alighieri, Monarchia. Lateinisch/Deutsch Studienausgabe, Stuttgart 1989.

53 Vgl. Lefort, La modernité de Dante, s. Anm. 44.54 Vgl. ebd., S. 11.55 Vgl. Kantorowicz, The King's Two Bodies, s. Anm. 30, S. 451−495, 465f.56 Vgl. Étienne Gilson, Dante et la philosophie, Paris 41986.57 Lefort markiert die Differenz zwischen einer Unterscheidung und einer auto-

nomen Koordination von geistlicher und weltlicher Macht folgendermaßen: „Dante conçoit pour la première fois deux univers, non seulement distincts, mais en quelque sorte autonomes, celui de l’humanitas et celui de la christianitas […].“ (Lefort, La modernité de Dante, s. Anm. 44, S. 44 [Hervorhebung im Original]).

58 Vgl. Flynn, The Philosophy of Claude Lefort, s. Anm. 7, S. 170.59 Vgl. Lefort, La modernité de Dante, s. Anm. 44, S. 14.60 Vgl. ebd., S. 38f.61 Vgl. ebd., S. 40.

299Säkularisierung als Ideologie

gument begründe Dante einen Machtverzicht des Papstes in weltlichen Dingen62 und ersetze das System der Unterordnung der weltlichen unter die geistliche Gewalt durch ein System der Koordination.63 Indem er den Priestern demonstrativ die Sorge um die himmlische Glückselig-keit anvertraue und den Menschen die Verantwortung für ihre irdische Glückseligkeit zurückgebe, bewahre er das irdische Leben vor der Unter-stellung, dass es durch einen unaufhaltsamen Verfall gekennzeichnet sei. Dem menschlichen Leben wohne in Dantes Konzeption eine Bestim-mung inne, welche die Bedingungen des sterblichen Lebens transzen-diere und auf ein ‚irdisches Paradies‘ (paradiso terrestre) hin überschreite.64

Die besondere Pointe von Dantes Konzeption sei nun aber, dass er – obwohl er in dieser Weise Raum für eine von der Kirche unbeeinflusste, säkulare Politik schaffe – zugleich ein fortgesetztes Ineinandergreifen von Politischem und Theologischem in der säkularen Politik beschreibe.65 Er reflektiere in seiner Schrift, dass die politische Macht eines weltlichen Souveräns durch tiefgreifende Ambivalenz gekennzeichnet ist: Sie sei stets spirituell und weltlich, unendlich und endlich zugleich verfasst. Bei Dan-te lasse sich studieren, wie das humanistische Denken der Renaissance zu einer theologisch-politischen Vision ausgeformt werde, die bis heute wirkmächtig ist. Denn er beschreibe, wie der Monarch seine Macht zur Vereinigung des Gemeinwesens errichte, indem er sich als Repräsentant der gesamten Menschheit als einer universellen Bürgerschaft verstehe.66 Mit dieser humanistischen Idee vermittle er seinem Königreich, so die These Leforts, das spirituelle Bild eines mystischen, unbegrenzten Kör-pers der Macht. In dieser Form sei die christlich-politische Idee der hu-manitas auch für die Errichtung der modernen europäischen Monarchie konstitutiv geworden. Das Territorium des modernen Staates sei zwar begrenzt, dennoch verstehe und inszeniere sich der Monarch als Re-präsentant der ganzen Menschheit, da diese Geschöpf Gottes sei. Da die Menschheit sich nach humanistischer Vorstellung aber einzig durch die Vernunft regieren lasse, verbinde sich die imperiale Macht des Kaisers stets mit der Macht des Geistes, mit der Souveränität der Vernunft.67

Die Modernität von Dante besteht nach Lefort nun darin, dass dieser erkannt habe, dass die Souveränität eine zutiefst ambivalente Figur sei, in der Theologisches und Politisches ineinander greifen. Das Phantasma ei-ner grenzenlosen Macht sei dem Diskurs der Moderne mit ihr weiterhin eingeschrieben und durch die moderne Idee der Souveränität als einer

62 Ein ähnliches Argument lässt sich auch bei Wilhelm von Ockham finden. Vgl. Kurt Röttgers, Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik, Freiburg i.Br. 1990, S. 115f.

63 Vgl. Lefort, La modernité de Dante, s. Anm. 44, S. 42, 39.64 Vgl. ebd., S. 13.65 Vgl. ebd., S. 45.66 Vgl. ebd., S. 63.67 Vgl. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen?, s. Anm. 15, S. 93.

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durch andere Mächte begrenzten Macht keineswegs überwunden. Auch mit der demokratischen Idee der Volkssouveränität werde der imperiale Traum von einer weltumspannenden Macht unter der Autorität eines Einzigen (Menschheit, Vernunft etc.) weiter genährt.

5. Fazit

Die Lektüre der Texte Leforts soll nun an dieser Stelle abgebrochen wer-den, um abschließend einen Vorschlag zu machen, wie die chiastische Figur des Theologisch-Politischen als alternatives Deutungsmuster zur Säkularisierungstheorie ins Verhältnis gesetzt werden könnte.

Zum Ersten macht Lefort mit seiner Figur des Theologisch-Politischen einen gegenüber den Konzeptionen der politischen Theologie, die auf der Säkularisierungsthese basieren, veränderten Ausgangspunkt geltend. Er setzt nicht bei der institutionellen Verfasstheit zweier klar voneinander abgrenzbarer gesellschaftlicher Sphären an, sondern deutet die moderne Ausdifferenzierung von Politik und Religion als „Anzeichen des Igno-rierens oder der Verleugnung eines geheimen Teils des sozialen Lebens, das heißt der Prozesse, die die Zustimmung der Menschen zu einem Regime bewirken […] und diesem Regime […] eine Dauerhaftigkeit in der Zeit verleihen“68. Dieses Zitat macht deutlich, dass Lefort ganz klar ein gesellschaftskritisches – und wohl auch philosophiekritisches – An-liegen mit seinen Untersuchungen zur Genealogie der demokratischen Repräsentation verbindet. Er möchte den Blick auf einen verdrängten Anteil des gesellschaftlichen Daseins in der Demokratie lenken und dessen Beharren am Ort verschiedener geschichtlicher Konstellationen sichtbar machen. In diesem Zusammenhang macht er deutlich, dass für die europäische Moderne weiterhin ein theologisch-politisches Forma-tionsprinzip prägend ist und zwar in Gestalt des ungeklärten Verhältnisses und Zusammenspiels der Symbolik der Demokratie mit dem, was er das ‚Politisch-Imaginäre‘ nennt.

Zum Zweiten zeigen seine philosophischen Untersuchungen, inwie-fern und warum es der modernen Demokratie immer wieder misslingt, sich zu sich selbst in ein ‚rechtes‘, und damit ist vor allem gemeint, in ein selbstkritisches Verhältnis, zu setzen. Neben ihrem revolutionären Element, das mit dem Entzug der politischen Repräsentationen in ein symbolisches Register der Macht die Grundlage für zivilen Ungehorsam und andere emanzipatorische politische Initiativen schafft, nähre diese Herrschaftsform auch ein ideologisches Element, das mit Isolde Charim als demokratischer ‚Glaube‘ bezeichnet werden kann. Es besteht in dem „affektiven und identitätskonstitutiven Bezug auf ein Ganzes, ein Ge-

68 Ebd., S. 34f.

301Säkularisierung als Ideologie

meinwesen“69. Dieser Bezug erschaffe immer wieder das Potential für eine imaginäre Besetzung der symbolischen Repräsentationen der De-mokratie im Rahmen einer totalitären Ideologie der Macht.

Politisch gesehen lässt sich Leforts Philosophie daher als ideologiekriti-sche Arbeit an den imaginären Bildern einer Verwirklichung und Positi-vierung der letzten Einheit des Sozialen verstehen. Diese Arbeit vollzieht sich nicht als Reflexion von einem übergeordneten kritischen Stand-punkt aus, sondern als geschichtliche Erkundung und Re-Orientierung des imaginären Horizonts der demokratischen Repräsentationen. Sie vollzieht sich damit aber selbst im Modus des Imaginären und versucht dessen Wirksamkeit nicht naiv zu bestreiten oder zu negieren.70 Dem-entsprechend realisiert Lefort mit seiner Berufung auf einen leeren Ort der Macht eine Radikalisierung des Projekts der Demokratie, die nicht mit einem ideologiekritischen Programm im aufklärerischen Sinn von Kritik verwechselt werden sollte. Es geht ihm nicht darum, die imaginäre Produktion von Bildern und Mythen des Einen durch die Bildlosigkeit der Vernunft zu überwinden, sondern vielmehr diese Produktion neu auszurichten. Daher ist unter anderem von Isolde Charim vorgeschlagen worden, Leforts Re-Orientierung des imaginären Horizonts der Demo-kratie als Schaffung eines negativen Imaginären, eines negativen Bilds der Macht – versinnbildlicht durch die Vorstellung eines leeren Orts – zu verstehen. Im Gegenüber zu dem positiven Imaginären des totalitären Staats und der totalitären Ideologie existiere das „demokratische Imagi-näre […] nicht als Überschuss, sondern als Abzug“71.

Bedeutsam ist allerdings, dass Lefort das Dispositiv der modernen De-mokratie in seinen ideologischen Anteilen nicht mit Hilfe der Säkulari-sierungsthese, sondern mit Hilfe der Figur des Theologisch-Politischen lesbar macht, d. h. indem er die Verbindung zum Dispositiv der Macht in der frühneuzeitlichen Monarchie und im christlichen Mittelalter her-stellt. Das chiastische Spiel der Verknüpfung von Theologischem und Po-litischem deutet er an verschiedenen historischen Orten als Keimzelle der sich im Übergang zur modernen Demokratie vollziehenden Ver-schiebung der politischen Repräsentation ins Register des Symbolischen und des Imaginären. Er gewinnt damit ein zwischen demokratisch-re-volutionären und demokratisch-ideologischen Entfaltungstendenzen der modernen Gesellschaft differenzierendes Beschreibungsinstrumentarium und ist nicht auf eine abstrakte Typologie wie diejenige von säkularer

69 Isolde Charim, Der demokratische Glaube. In: Jörg Huber/u.a. (Hg.), Archipele des Imaginären, Wien 2009, S. 77–84, 77.

70 Hier folge ich Isolde Charim u.a.: vgl. Charim, Der demokratische Glaube, s. Anm. 69); Felix Trautmann, Die Fortdauer des Politisch-Imaginären. Das Symboli-sche der Macht und die Phantasmen gesellschaftlicher Einheit nach Claude Lefort. In: Andreas Wagner (Hg.), Am leeren Ort der Macht. Zum Staatsverständnis Claude Leforts, Baden-Baden 2013, S. 91–116.

71 Charim, Der demokratische Glaube, s. Anm. 69, S. 80.

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Politik als Fortschritt und fundamentalistischer Religion als Rückschritt der Moderne festgelegt. Das revolutionäre Moment der Demokratie kommt bei ihm nicht einseitig als Fortschritt, sondern in seiner vollen Ambivalenz – als Chance und folgenschwere Hypothek zugleich – zu stehen.

Das Selbstverständnis der modernen Demokratie als einer säkularen Herrschaftsform ist daher mit Lefort immer auch kritisch zu betrachten. In seinen Überlegungen gibt es mehrere Hinweise, dass er der Auffas-sung ist, dass dieses Deutungsmuster zu einer Selbsttäuschung der mo-dernen Gesellschaft verführen kann. So betont er immer wieder, dass die demokratische Gesellschaft in der Orientierung an der Fragestellung der Verweltlichung und des Abschieds von religiösen Transzendenzvor-stellungen ihre ideologischen und totalitären Potentiale für sich selbst nicht lesbar machen kann, weil sie sich der Illusion hingibt, dass sie die phantasmatischen Investitionen in ihre Repräsentationsfiguren mit der Verabschiedung der christlichen Metaphysik überwunden habe. Dieser Illusion sei auch die Philosophie verfallen, wenn sie sich an der Souve-ränität der Vernunft orientiere, ohne sich der politischen Wirksamkeit und Verknüpfung dieser universellen Idee mit dem Phantasma imperialer Macht bewusst zu werden.