"Auf der Suche nach Trüffelschweinen. Oder: Übersetzen als Entdecken", 2014

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DILEK DIZDAR Auf der Suche nach Trüffelschweinen oder: Übersetzen als Entdecken Archimedes lag in der Badewanne und sah, wie sein Körper das Wasser verdrängte, das aus der Wanne floss. Heureka! (Ich habe es gefunden!) soll er vor Freude geschrien haben. Er hatte erkannt, dass er anhand der Menge des verdrängten Wassers die Dichte eines Körpers bestimmen konnte. Die Anekdote ist vermutlich erfunden, wie viele andere, die dazu beitragen, Entdeckungen und dem Entdeckungsgedanken an sich eine mystische Aura zu verleihen. Archimedes könnte sich verkühlt haben, als er nass und nackt aus der Wanne stieg und freudig hin und her rannte, und Newton hat sich vielleicht von dem Apfel, der ihm so plötzlich auf den Kopf fiel, eine Beule zugezogen, zumindest muss er erschrocken gewesen sein. Das sind aber noch die harmloseren Begleiterscheinungen von Entdeckungen – der Freude, etwas gefunden zu haben. Und zwar nicht etwas, das man zuvor verloren hat, und auch nicht etwas, wonach man gezielt gesucht hat, sondern etwas Unerwartetes, Unbekanntes. Es geht beim Entdecken schließlich nicht um ein Wieder-finden oder Auf-finden, nicht um ein Vor-finden, auch nicht um ein Er-finden, auch wenn Entdeckung doch auch von all dem etwas hat, vor allem mit ‚erfinden‘ verwandt ist. Aber man geht davon aus, dass es die Schwerkraft gab, bevor Newton sie ‚entdeckt’ hat, man kannte sie nur nicht, wusste nicht von ihrer Existenz. Das heißt also, dass, damit etwas entdeckt wird, es zuvor existent aber verborgen gewesen sein muss. Allen, einer Gruppe oder einem Einzelnen verborgen. Man muss auch nicht immer gesucht haben, um zu finden und findet manchmal auch etwas anderes als das, was man gesucht hat. Gesucht hat Archimedes nach einer Lösung für die Aufgabe, festzustellen, ob die Krone des Königs aus purem Gold sei, und Newton hat sich vor dem berühmten Apfelfall lange Zeit mit dem Thema Gravitation beschäftigt. Nur in der Badewanne oder beim Dösen unter einem Apfelbaum hätten die beiden sicher am allerwenigsten mit der Lösung ihres Problems gerechnet. Die Vorstellung eines unerwartet eintretenden, im Nachhinein aber recht genau zu bestimmenden Moments scheint ganz wesentlich zum Entdeckungsgedanken zu gehören, wenn die Perspektive der/des entdeckenden Subjekts eingenommen wird. Man entdeckt etwas nicht über eine lange Zeit, sondern an einem bestimmten Moment. Und dieser Moment

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DILEK DIZDAR

Auf der Suche nach Trüffelschweinen oder: Übersetzen als

Entdecken

Archimedes lag in der Badewanne und sah, wie sein Körper das Wasser verdrängte, das aus der Wanne floss. Heureka! (Ich habe es gefunden!) soll er vor Freude geschrien haben. Er hatte erkannt, dass er anhand der Menge des verdrängten Wassers die Dichte eines Körpers bestimmen konnte.

Die Anekdote ist vermutlich erfunden, wie viele andere, die dazu beitragen, Entdeckungen und dem Entdeckungsgedanken an sich eine mystische Aura zu verleihen. Archimedes könnte sich verkühlt haben, als er nass und nackt aus der Wanne stieg und freudig hin und her rannte, und Newton hat sich vielleicht von dem Apfel, der ihm so plötzlich auf den Kopf fiel, eine Beule zugezogen, zumindest muss er erschrocken gewesen sein. Das sind aber noch die harmloseren Begleiterscheinungen von Entdeckungen – der Freude, etwas gefunden zu haben. Und zwar nicht etwas, das man zuvor verloren hat, und auch nicht etwas, wonach man gezielt gesucht hat, sondern etwas Unerwartetes, Unbekanntes. Es geht beim Entdecken schließlich nicht um ein Wieder-finden oder Auf-finden, nicht um ein Vor-finden, auch nicht um ein Er-finden, auch wenn Entdeckung doch auch von all dem etwas hat, vor allem mit ‚erfinden‘ verwandt ist. Aber man geht davon aus, dass es die Schwerkraft gab, bevor Newton sie ‚entdeckt’ hat, man kannte sie nur nicht, wusste nicht von ihrer Existenz. Das heißt also, dass, damit etwas entdeckt wird, es zuvor existent aber verborgen gewesen sein muss. Allen, einer Gruppe oder einem Einzelnen verborgen. Man muss auch nicht immer gesucht haben, um zu finden und findet manchmal auch etwas anderes als das, was man gesucht hat. Gesucht hat Archimedes nach einer Lösung für die Aufgabe, festzustellen, ob die Krone des Königs aus purem Gold sei, und Newton hat sich vor dem berühmten Apfelfall lange Zeit mit dem Thema Gravitation beschäftigt. Nur in der Badewanne oder beim Dösen unter einem Apfelbaum hätten die beiden sicher am allerwenigsten mit der Lösung ihres Problems gerechnet.

Die Vorstellung eines unerwartet eintretenden, im Nachhinein aber recht genau zu bestimmenden Moments scheint ganz wesentlich zum Entdeckungsgedanken zu gehören, wenn die Perspektive der/des entdeckenden Subjekts eingenommen wird. Man entdeckt etwas nicht über eine lange Zeit, sondern an einem bestimmten Moment. Und dieser Moment

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ist einer, der einen Unterschied herbeiführt. Es gibt ein Vorher und Nachher der Entdeckung, die Entdeckung setzt eine Zäsur. Sie geht durch die Zeit. Entdeckungen teilen die Geschichte ein, sie verändern die Wissenschaft, Gesellschaften, die Welt. Sie haben etwas Ereignishaftes.

Die Struktur der Entdeckung erfordert also, dass etwas zuvor Unbekanntes – Neues, Originelles – in Erscheinung tritt: gesehen, wahrgenommen und begriffen (erklärbar, vorstellbar, greifbar gemacht) wird, und es haftet ihr eine Momentanität an: Entdeckungen haben Überraschungscharakter, daher auch etwas Irritierendes. Für Thomas Kuhn, der sich dem Entdeckungsbegriff aus wissenschaftshistorischer Perspektive nähert, gehören sie in den Bereich der Anomalie. Sie erschüttern zuvor Geglaubtes, im Extremfall ein ganzes Weltbild. Obgleich Kuhn die Verwendung des Wortes als legitim betrachtet, haftet für ihn dem Entdeckungsbegriff, gerade aufgrund der beschriebenen Aspekte, etwas Problematisches an. Der Satz „Sauerstoff wurde entdeckt“ zum Beispiel könne einerseits einen entscheidenden Moment in der Wissenschaftsgeschichte beschreiben, sei andererseits aber irreführend, da er glauben mache, dass es sich hier um einen einfachen, einzelnen Akt des Sehens handle, der meist von einer einzelnen Person – einem Entdecker/einer Entdeckerin – durchgeführt würde� (die Bedeutung der Sinne für das Entdecken würde in einem Buch über das Entdecken sicher ein großes Kapitel verdienen). Nach Kuhn müsste man auch die Vorstellung eines Entdeckungsmoments ablehnen; ein Historiker könne weder mit Sicherheit feststellen, wer etwas entdeckt hat, noch wann es entdeckt wurde. Nimmt man also die historische Perspektive ein, wird es schwierig, den Entdeckungsmoment ausfindig zu machen.

Das Subjekt und die Zeit/der Moment der Entdeckung stellen sich tatsächlich als Probleme heraus, wie wir auch im Versuch einer Bestimmung von ÜbersetzerInnen als EntdeckerInnen sehen werden. In Anlehnung an die Fragen, die Kuhn für die Wissenschaftsgeschichte stellt, können wir ebenso nach den Kriterien fragen, die anzusetzen sind, um eine Entdeckung überhaupt als Entdeckung zu bezeichnen. Wie ist der Zeitpunkt einer Entdeckung zu ermitteln, und wer bestimmt diesen eigentlich? Hängt die Bestimmung mit der Perspektive der Entdeckerin /des Entdeckers zusammen, d. h. muss sie/er sich zum Zeitpunkt der Entdeckung bewusst gewesen sein, dass sie/er etwas entdeckt (hat)? Ist also das Heureka-Kriterium anzusetzen oder kann man einzelnen Akten in der Geschichte im Nachhinein Entdeckungscharakter zuschreiben? Welche Rolle spielt hier die

� Thomas Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions. Chicago: University of Chica-

go Press 1962, S. 55.

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Wahrnehmung und Anerkennung einer Entdeckung durch Andere (wen?), ihre Dissemination und Wirkung?

Möchte man all diese Aspekte berücksichtigen, wird es in der Tat schwierig, die Struktur der Heureka-Entdeckung, die mit der Erzählung des Entdeckergenies verwoben ist, aufrecht zu erhalten. Müsste man, wenn man die Komplexität dieses Prozesses berücksichtigen möchte, umgekehrt nicht die Begriffe Entdeckung und Entdecker ganz aufgeben? Kuhn war dazu nicht bereit. Indem er versuchte, die Definition der Entdeckung an den Anomaliebegriff zu knüpfen, verschob er das Problem lediglich.� Außerdem hielt er offensichtlich an der Erzählung der großen Entdecker fest, sonst wäre von ihm, der er die Idee der Wissenschaftsgemeinschaft stark macht und den kollektiven Konsens betont, zu erwarten gewesen, dass das individuelle Genie keine so große Rolle mehr übernimmt.

Was aber wäre eine Entdeckung ohne einen Entdecker (in der Geschichte sind es tatsächlich fast ausschließlich Männer)? Die Struktur des Entdeckungsbegriffs erfordert, zumindest in den Sprachen, in denen die großen Erzählungen von den Entdeckern entstanden sind, eine Subjekt-Objekt Beziehung. Sie impliziert ein passives Objekt der Entdeckung, das quasi auf ihre Entdeckung untätig wartet, und einen Entdecker als handelndes Subjekt: Wer entdeckt was oder wen?� Lichtenberg bringt das Problem auf den Punkt: „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung.“� Der Sarkasmus dieser Formulierung entsteht aus der Umkehrung der Agensstruktur, deren Perspektive für Europäer eindeutig ist: Kolumbus ist der Entdecker, nicht die indigenen Menschen, die ihn und die seinen ebenfalls zum ersten Mal sahen.

Die Entdeckungsreisen des Kolumbus waren von einer christlich begründeten Ideologie gestützt, die bezeichnenderweise unter dem Namen „Doktrin der Entdeckung“ zusammengefasst wird. Sie geht auf die Bullen von Papst Nikolaus V. zurück, die er 1452 und 1455 erließ. Darin wird die Eroberung und Besitznahme von entdecktem Land, sowie die Unterwerfung und Ermordung indigener Völker legitimiert, sofern diese als Feinde des Christentums zu betrachten waren. Im Jahr 2012 veröffentlichte der ökumenische Rat der Kirchen eine Erklärung, in der er sich von der Doktrin

� Vgl. Darin Hayton: Discovery in Kuhn’s Structure. ‹http://dhayton.haverford.edu/blog/

2012/11/15/discovery-in-kuhns-structure/› (26. Juli 2014). � Nicht alle Sprachen unterscheiden exakt zwischen aktiver Handlung und passiv-medi-

aler Behandlung. Siehe Hans Vermeer: Translation. Grenzen abschreiten. Erweiterte vorläufige Vorlesungsmanuskripte der Germersheimer Vorlesung (2008/2009), Teil 1, S. 33ff. ‹http://www.fb06.uni-mainz.de/vermeer/Dateien/Vorlesung_Teil_1.pdf› (26. Juli 2014).

� Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, Heft G (183). Schriften und Briefe, Bd. 1. München, Wien: Carl Hanser Verlag �1991, S. 166.

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der Entdeckung distanziert, diese als Menschenrechtsverletzung verurteilt und ihre Kirchen dazu aufruft, sich mit der Geschichte ihrer Länder auseinanderzusetzen.� Um sich die Aktualität und andauernde Brisanz der Entdeckungsdoktrin vor Augen zu führen, genügt es aber auch schon, sich die Situation der indigenen Völker, ihre Territorialrechte und die völkerrechtlichen Diskussionen darüber zu vergegenwärtigen, die Probleme der Machtverteilung eher aktualisieren als lösen.

Das Kolumbus-Beispiel wirkt geradezu prototypisch für die Entdeckungserzählungen. Auch die historische Überlieferung darüber, dass Kolumbus ja Indien gesucht habe, als er Amerika entdeckte, ist in diesem Zusammenhang interessant, da es uns glauben macht, dass es ein Amerika zu entdecken gegeben habe, d. h. dass eine Entdeckung bedeute, dass man etwas sähe, wie es ist, man muss sozusagen nur die Decke, die über dem zu Entdeckenden liegt, wegziehen. Die Konstruktion ‚Amerikas‘ durch die Eroberer wird hier nicht mitgedacht, dass also eine Entdeckung doch auch immer eine Erfindung ist.

Es ist bemerkenswert, dass sich die positiven Konnotationen, die dem Entdeckungsbegriff in europäischen Sprachen anhaften und die mitunter auf die heilsgeschichtlichen Deutungen der Kolumbus-Entdeckungen und das in der Aufklärung geförderte Kolumbus-Bild zurückzuführen sind, offensichtlich gehalten haben. Die Annahme, Entdeckung sei notwendig etwas Gutes, ist jedenfalls mit großer Vorsicht zu genießen. Das gilt auch für den wissenschaftlichen Bereich, in dem der (ebenfalls nicht unproblematische) Fortschrittsgedanke mit dem der Entdeckung verbunden ist und wo man sich hin und wieder wünscht, das eine oder andere wäre besser unentdeckt geblieben. Und das könnte auch für Übersetzer/Übersetzungen gelten. Eine Dichterin sagte mir einmal, sie würde

� „ÖRK verurteilt ‚Doktrin der Entdeckung’ indigener Völker“; Pressemeldung des

Ökumenischen Rats der Kirchen vom 29. Februar 2012. � Siehe Lindsay Gordon Robertson: Conquest by law: how the discovery of America

dispossessed indigenous peoples of their lands. Oxford u. a.: Oxford University Press 2005.

Delgado beschreibt mit Verweis auf Briesemeister die Epen der Aufklärung, die Ko-lumbus als Helden glorifizieren: er wird „weise, bescheiden, gerecht, gottesfürchtig, ohne Falsch, edel tugendhaft, großmütig, mutig und standhaft genannt. Als ‹grand homme› feiert ihn [...] auch die Encyclopédie“. Dietrich Briesemeister: Columbus als „Apostel und Eroberer“ im französischen Epos des 18. Jahrhunderts. In: Titus Hey-denreich (Hg.): Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertun-gen aus fünf Jahrhunderten, Bd. 1 (Lateinamerika-Studien 30), Frankfurt/M. 1992, hier S. 322, zitiert nach Mariano Delgado: „Columbus noster est“. Der Wandel des Kolumbusbildes und der Entdeckung Amerikas. In: Schweizerische Zeitschrift für Re-ligions- und Kulturgeschichte 100 (2006), S. 59–78; hier S. 64.

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lieber in einer Sprache unübersetzt (also unentdeckt) bleiben, als über eine ‚schlechte‘ Übersetzung bekannt zu werden.

Aber wie ist das mit den ÜbersetzerInnen als EntdeckerInnen hier eigentlich gemeint?

Übersetzen soll, so heißt es im Text der Einladung zum Symposium, als „innovatives translatorisches Handeln im weitesten Sinne verstanden werden“. Als ein entdeckerisches translatorisches Handeln gelte etwa „die Erschließung eines in der Zielsprache zuvor nicht beachteten Werks, eines Autors oder gar einer ganzen Literatur, der Import bzw. Export literarischer Formen durch die Übersetzung, aber auch Initiativen zur Verbreitung fremdsprachiger Literatur in Zusammenarbeit mit Verlagen oder anderen Institutionen.“ Richtet sich die Erläuterung auf das Attribut „entdeckerisch“ oder „translatorisch“? oder überschneiden sich die beiden Begriffe, Übersetzung und Entdeckung, vielleicht? Steht nicht in den meisten Übersetzungen oder beim Übersetzen im literarischen Feld insgesamt mindestens einer der genannten Aspekte im Vordergrund? Könnte der Satz ‚Übersetzen ist Entdecken‘ nicht sogar tautologisch sein? Die Frage ist also: Was unterscheidet eine entdeckerische Übersetzung von einer nicht-entdeckerischen? Jede Übersetzung führt doch Neues ein, keine Übersetzung, auch keine Wiederübersetzung eines zuvor übersetzten Werks, wiederholt etwas. Im Gegenteil, Neuübersetzungen werden zumeist angefertigt, um für die Zielkultur neue Aspekte des Werks hervorzuheben, eine neue Interpretation davon vorzulegen usw. Die Auflistung in der Konferenzbeschreibung könnte also eine Liste der Motivationen für literarisches Übersetzen insgesamt sein. Einige Ansatzpunkte für einen Umriss von „entdeckerischem translatorischen Handeln“ enthält sie dennoch. Ich möchte versuchen, daran anzuknüpfen.

Translation bezeichnet Prozesse des Übersetzens und/oder Dolmetschens, und translatorisches Handeln� wird als der weitere Rahmen verstanden, in dem kommunikative Handlung über Sprachgrenzen hinweg stattfindet. Wenn jemand von Informationen in der einen Sprache ausgeht, um dann einen Klappentext in der anderen Sprache zu schreiben, wäre das ein Beispiel für translatorisches Handeln. LiteraturübersetzerInnen handeln oft in diesem weiten Sinn translatorisch; sie sind als DolmetscherInnen tätig; vermitteln zwischen VerlegerInnen und AutorInnen, begleiten die AutorInnen auf Preisverleihungen, führen sie durch Lesungen und Interviews usw. Es ist naheliegend, dass sie eine zentrale Rolle für „Entdeckungen“ spielen. Methodologisch scheint es für die Zwecke des Projekts jedoch wenig � Siehe Justa Holz-Mänttäri: Translatorisches Handeln. Theorie und Methode (Annales

Academiae Scientiarum Fennicae B. 226). Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia 1984; Hans J. Vermeer: Texttheorie und Translatorisches Handeln. In: Target 2 (1990) H. 2, S. 219–242.

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fruchtbar, sich gänzlich auf die Perspektive des Handelnden zu konzentrieren, um das Entdeckungsmoment zu bestimmen. Dennoch hilft der Ansatz des translatorischen Handelns, das Feld über einen eng gefassten Übersetzungsbegriff hinaus zu erweitern. Das macht es erst möglich, die TranslatorInnen in einem Netz von Akteuren, Texten, Institutionen usw. in den Blick zu nehmen – das erscheint mir ganz allgemein für eine Fokussierung auf die Rolle von Translation in literarischen Systemen wichtig.� Die Skopostheorie macht zudem deutlich, dass etwa ein(e) VerlegerIn nicht immer dasselbe Ziel verfolgt wie die/der ÜbersetzerIn, dass sich auch die Motivation der Ausgangstextautorin/ des Ausgangstextautors (so sie/er noch lebt) nicht immer mit den Zielen der translatorisch handelnden Akteure (dazu können auch LiteraturagentInnen, VerlegerInnen usw. gehören) deckt etc. Ein weiterer Vorteil, der aus der funktionalen Translationstheorie zu gewinnen wäre, folgt aus der Unterscheidung, die Vermeer zwischen dem intendierten Skopos einer Translation und dem von den Rezipienten wahrgenommenen Skopos, also der Funktion eines Translats in der aufnehmenden Kultur vornimmt. Ich betrachte diese Unterscheidung als eine Öffnung des Translationsprozesses durch Einbezug der Rezeptionspespektive. Man könnte sogar sagen, dass auch die RezipientInnen gewissermaßen translatorisch handeln. Wenn sie einen untertitelten oder synchronisierten Film sehen, aber auch wenn sie übersetzte Romane lesen, bringen sie ihr Vorwissen über Translation und translatorische Strategien ein, vergleichen ihr Wissen über die andere Literatur und Kultur mit dem, was sich ihnen durch die Lektüre erschließt; und wenn sie einen solchen Vergleich nicht anstellen, sondern den Film sehen, wie wenn er ein einheimischer wäre, setzen sie ihr Wissen über Translation erst recht ein. Ich nenne es translatorische Toleranz, wenn uns z. B. nicht mehr auffällt, dass die Lippenbewegungen nicht passen, oder wir es einfach ganz normal finden, dass die Chinesen in China sich auf der Straße alle in perfektem Deutsch unterhalten. Alle, die Translate rezipieren, entwickeln besondere (d. h. translationsbezogene) Fähigkeiten. Diese gehören zum Alltag, werden in der Sozialisation erworben und können in Kulturen ganz unterschiedlich sein (in Ländern, in denen Filme eher synchronisiert werden, können die Menschen nicht so gut Untertitel lesen wie in Untertitelungsländern usw.). Das Handeln mit Translation und Translaten ist in diesem Sinne als eine Kulturtechnik zu verstehen.

Weiten wir das Feld des translatorischen Handelns und des Translationsprozesses auf diese Weise aus, beziehen sich die Begriffe zum einen also nicht mehr allein auf die konkrete Arbeit am Text selbst, sondern

� Die Akteur-Netzwerk-Theorie könnte hier methodologische Anregungen bieten, siehe

Bruno Latour: Reassembling The Social. Oxford u. a: University Press 2005.

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zugleich auf eine Vielfalt anderer Tätigkeiten im Umfeld des Übersetzens; und der Prozess erstreckt sich von dem Vorschlag, diesen oder jenen Text zu übersetzen, bis hin zur Rezeption und dem (Nach)Wirken (der „Funktion“) der Texte. Das Entdeckungsmoment könnte an verschiedenen Stellen des Translationsprozesses auffindbar sein: angefangen von/vom (der) umtriebigen VerlegerIn oder der/dem BeraterIn, über die/den ÜbersetzerIn bis hin zur Leserschaft oder der/dem einzelnen LeserIn, die/der auch Jahre oder Jahrhunderte nach Erscheinen der Übersetzung etwas Neues durch sie/an ihr entdeckt.

Denkt man an das Netz der Akteure, die bei der Entstehung und Rezeption von Übersetzungen eine Rolle spielen, erscheint es sinnvoll, ganz im Sinne der Idee des kollektiven Entdeckens bei Kuhn und dem Konzept des translatorischen Handelns folgend den Blickwinkel zu erweitern und die Szene einer „Entdeckung“ zu betrachten. In anderen Worten: Es erscheint methodologisch sinnvoller, zunächst zu versuchen, eine Entdeckung auszumachen, als nach einer/einem EntdeckerIn zu suchen. Die/den kann man dann im Nachhinein, der Entdeckung (vielleicht) zuordnen, frei nach Nietzsche, der in seiner Kritik des Subjektbegriffs davon spricht, man setze zu jedem Tun einen Täter.�� Mein Vorschlag wäre zu versuchen, ein Entdeckungsereignis zu bestimmen. Die Entdeckung als Ereignis zu figurieren impliziert, dass ihr ein performativer Charakter eigen ist; die Szene der Entdeckung bezeichnet einen Schauplatz, in denen sprachlich-literarische Performanz, d. h. individuelle Praktiken des Schreibens, Übersetzens, Herausgebens usw. mit anderen Praktiken und dem ‚Vorgefundenen‘ interagieren.

Szenen realisieren sich nicht als Aktualisierung von Rollen oder als Verkörperung eines vorgeschriebenen Skripts; vielmehr erweisen sie sich als Ereignis der spezifischen Konfiguration ihrer Momente.��

Ein Ereignis ist im strikten Sinne nicht vorhersehbar, man kann es nicht planen, es ist nicht kalkulierbar. Dieser Aspekt erscheint mir wichtig, um bei allen Regeln der Marktwirtschaft, die die Buchproduktion regulieren, Raum für den Überraschungseffekt, die Momente des Unerwarteten und Unverhofften zu lassen, ohne die der Entdeckungsbegriff hohl wäre. Zugleich impliziert die Einführung von ‚Szene‘ und ‚Ereignis‘, dass der Entdeckung

�� Friedrich Nietzsche: Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte.

Ausgewählt und geordnet von Peter Gast unter Mitwirkung von Elisabeth Förster Nietzsche, mit einem Nachwort von Walter Gebhard. Stuttgart: Kröner ��1996, S. 338.

�� Dieter Mersch: Struktur und Ereignis. Überlegungen zur Revision des Performanz-Konzepts der Sprache. In: J. Fohmann (Hg.): Rhetorik: Figuration und Performanz (Schriftenreihe Germanistische Symposien, Berichtband 25). Stuttgart 2004, S. 502–535, hier zit. nach ‹www.galerie-inter.de/kimmerle/ATT00006.rtf›, S. 6, (27. Juli 2014).

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etwas Emergentes innewohnt, d. h. dass sie sich nicht ohne Weiteres auf ein einzelnes Subjekt zurückführen lässt. Dass ein Übersetzer einen Autor entdeckt und ihn übersetzt, ist für den Entdecker sicher eine Entdeckung, für unsere Zwecke erscheint dieser Entdeckungsbegriff jedoch nicht tauglich zu sein, da es in dem Projekt schließlich darum geht, eine Entdeckung für die aufnehmende Literatur gemacht zu haben, nicht für die eigene Schreibtischschublade. So betrachtet, kann nur im Nachhinein und unter Berücksichtigung des Wirkungsfeldes behauptet werden, dass eine Entdeckung stattgefunden hat. Sicherlich kann man sich auch vorstellen, dass eine Schriftstellerin einen ausländischen Autor für sich entdeckt, sein Werk oder Teile davon für sich übersetzt, sich davon inspirieren lässt und diese Inspiration wiederum eine nachhaltige Wirkung in der jeweiligen Literatur hat. Derartige Situationen in den Blick zu nehmen, würde zwar der weiteren Dekonstruktion des Entdeckungsbegriffs dienen, nicht aber dem Versuch, praktikable Maßstäbe zur Ermittlung und Beschreibung von translatorischen Entdeckungen zu entwickeln. Die Aussage, ein Werk werde für die aufnehmende Literatur entdeckt, soll dennoch nicht wie selbstverständlich da stehen. Einige der Probleme, die sie aufwerfen kann, werden weiter unten besprochen.

Die in dem eingeführten Szenenbegriff eingeschriebene Kontingenz und Ereignishaftigkeit, die sich aus einem nicht kalkulierbaren Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure ergibt, soll deutlich machen, dass ein Akt nicht einfach als intentional und teleologisch determiniert zu verstehen ist. Wenn wir das Entdecken entdecken möchten, sollten wir daher die Aufmerksamkeit nicht nur oder nicht vorrangig auf die nach ‚innen‘ gewandte Seite von translatorischen Handlungen lenken, d. h. es geht hier nicht in erster Linie um Gründe, Motive, Anlässe oder Absichten, sondern auch oder vor allem um die ‚Außenseite‘, d. h. die Beziehung dieser Handlungen zu Wirksamkeit und Präsenz.��

Hierfür wäre als erstes die Faktizität des Aktes, die Seite des Vollzugs in den Blick zu nehmen. Hier geht es um die Vollbringung einer Arbeit und die ‚Vorführung einer Praxis‘��. Die Faktizität des Aktes liegt in der Tatsache, dass eine Übersetzung vorgelegt wird. Mit der Veröffentlichung der Übersetzung wird eine Setzung im doppelten Sinn vorgenommen: Erstens wird eine ‚Äquivalenz‘ gesetzt, d. h. die Übersetzung vertritt den Originaltext in dessen Abwesenheit,�� und zweitens wird ein Werk in Szene gesetzt, in eine bestimmte Szene, d. h. es wird kontextualisiert, meist in einem Umfeld, in �� Vgl. ebd., S. 7. �� Ebd. �� Vgl. Theo Hermans: The conference of the tongues. Manchester: St Jerome 2007,

S. 6; Dilek Dizdar: Translational transitions: “Translation proper” and translation stu-dies in the Humanities. In: Translation Studies 1/2009, S. 89–102, hier S. 97.

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dem es bisher noch keinen Platz hatte. Die Übersetzung muss ihren Platz entdecken, könnte man sagen. Das also wäre der erste und der am einfachsten festzumachende Aspekt der translatorischen Entdeckung: liegen Übersetzungen eines Autors/Werks, einer Literatur vor? Und die Frage, inwiefern sich die Übersetzung ihren Platz erst schaffen muss, könnte vielleicht ein erster Anhaltspunkt für die entdeckerische Qualität einer Übersetzung sein. Je minoritärer die Übersetzung, könnte man sagen, desto größer ihr Entdeckungspotenzial. Die Übersetzung eines neuen Bands von Harry Potter wäre ein gutes Gegenbeispiel: Der Platz steht bereit, lange bevor die Übersetzung ankommt.

Der Aspekt der Dissemination und der Wirksamkeit wäre wohl als nächstes in den Blick zu nehmen, wie bereits im Zusammenhang des Kuhn’schen Begriffs erwogen wurde. Wie aber wäre Dissemination und Wirksamkeit festzustellen? Auch hier scheint die einfachste Lösung die Betrachtung des Faktischen zu sein. Man könnte zum Beispiel die Verkaufszahlen für übersetzte Literatur ermitteln. Es müsste eine kritische Masse an Rezipienten angesetzt werden, die die Einführung eines Werks / einer Autorin, eines Autors zum Ereignis werden lassen. Diese kritische Masse erscheint besonders für die Entdeckung einer ‚ganzen Literatur‘, die auch auf der Liste in der Einladung zur Tagung steht, besonders wichtig: Wieviel von einer Literatur muss in Übersetzung vorliegen, damit von ihrer Entdeckung gesprochen werden kann?

Um zu behaupten, eine AutorIn wurde von der deutschen Literatur entdeckt, könnte man zum Beispiel fragen: Hat die Übersetzung eines Werks zu einem Bedarf nach mehr Übersetzungen von dieser Autorin/diesem Autor geführt? Auch könnte man versuchen festzustellen, ob und wie häufig und wo Bezüge zu einer Übersetzung hergestellt werden. Besprechungen in den Feuilletons und Literaturzeitschriften, also die Aufnahme durch Literaturkritiker, könnte ein Parameter für die Ermittlung von Wirksamkeit sein, und weitere wären etwa die Aufnahme von in der Übersetzung eingeführten Themen, literarischen Formen, einem Genre usw. durch einheimische Autoren oder der Einbezug der Originaltextautorin / des -Originaltextautors in die literarische Diskussion in der Zielsprache. Das Kriterium der Quantität könnte hier in der Tat eine Rolle spielen, wobei Genre-spezifische und auch sprachen- bzw. länderspezifische Unterschiede und damit verbundene Asymmetrien zwischen literarischen Systemen, Überlegungen zur Patronage, die wirtschaftliche, ideologische und Status-bezogene Aspekte in den Vordergrund rücken��, berücksichtigt werden müssten.

�� Siehe André Lefevere: Translation, Rewriting & the Manipulation of Literary Fame.

London, New York: Routledge 1992.

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Ich möchte im Folgenden anhand von einigen Beispielen die Komplexität der Bestimmung einer Entdeckung und einer/eines Entdeckerin/Entdeckers weiter zur Diskussion stellen. Die Frage, wie haltbar begriffliche Figurationen sind, lässt sich am besten anhand komplexer, weniger offensichtlicher Fälle beantworten. Nicht zuletzt daher führe ich Beispiele aus der Literatur einer Sprache / eines Landes an, die jenseits des großen europäischen Kanons liegt, der „die Literaturen und Sprachen Europas und der restlichen Welt in eine klare Hierarchie rückt, in einen kaum aufzubrechenden Konsens darüber, was der kulturell Ambitionierte an wichtigen Texten im Laufe seines Lebens zur Kenntnis nehmen sollte.“� Die Herausgeber mögen es mir verzeihen, dass ich mehr Fragen aufwerfe als ich beantworten kann.

Der türkische Dichter Nazım Hikmet wird den meisten LeserInnen ein Begriff sein, d. h. sie werden zumindest seinen Namen kennen. Es liegen deutsche Übersetzungen von Hikmet-Gedichten vor, das Kriterium des faktischen Vorhandenseins wäre also erfüllt. Es müsste aber festgehalten werden, dass, obgleich er als ein international anerkannter ‚großer‘ Dichter gilt, sein Werk nur partiell in deutscher Übersetzung vorliegt. Die oben gestellte Frage, ob im aufnehmenden Literaturbetrieb ein hinreichendes Bedürfnis nach mehr Übersetzung entstanden ist, wäre weitgehend zu verneinen. Betrachtet man den Zeitpunkt der Entdeckung aus faktischer Perspektive, wäre es das Einfachste, die Erstübersetzung als Anhaltspunkt zu nehmen. Die jeweiligen ÜbersetzerInnen, HerausgeberInnen und VerlegerInnen, die zur Publikation dieser ersten Übersetzung beigetragen haben, könnte man dann zu EntdeckerInnen küren. Doch auch da müsste man sich überlegen, ob man beim ersten Gedicht in einer Zeitschrift, der ersten Erscheinung in einer Anthologie, oder dem ersten eigenständig publizierten Buch ansetzt.

Der erste Hikmet-Gedichtband in deutscher Übersetzung erschien 1956 in der DDR bei Volk und die Welt. Man könnte hier natürlich auch noch fragen, ob jemand, der in der DDR entdeckt wurde, auch als im Westen entdeckt gelten kann (wo beginnt und wo endet ein literarisches System/Feld?). Die sehr zögerliche Aufnahme von Hikmets in der DDR publiziertem Werk in Westdeutschland, vor und nach der Wende, spräche dagegen. Peter Hamm, der 1964, im Jahr nach Hikmets Tod, einen langen Artikel publizierte, der den Titel Schickt mir Bücher, die glücklich enden! trägt, beklagt die Nachlässigkeit in

�� Andreas Kelletat: Kleine Länder – kleine Sprachen – kleine Kulturen. Übersetzer- und

Dolmetscherausbildung für das „Gemeinsame Haus Europa“. Schlussvortrag auf dem zweiten internationalen Symposium zu Fragen der übersetzerischen Kompetenz (13. November 1995). In: Ders.: Reden ist Silber. Zur Ausbildung im Übersetzen und Dolmetschen. Vaasa, Germersheim: Saxa 2004, S. 33–40; S. 34.

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Deutschland, was die Übersetzung von Hikmets Werk angeht.� Es sei symptomatisch für sein Land, dass ein Dichter wie Hikmet, der ein Mammutwerk geschaffen habe, ausgerechnet mit einem seiner Nebenprodukte vorgestellt werde. Dabei, heißt es weiter, „wäre es so leicht gewesen, zunächst eine einigermaßen repräsentative Lyrik-Auswahl vorzulegen“��, schließlich war bereits 1956 in Ostberlin eine von Brecht geförderte erste kleine Hikmet-Ausgabe erschienen, die den Titel „Türkische Telegramme“ trug. 1959 kam „eine vorbildlich edierte umfangreiche“ Hikmet-Ausgabe heraus (die mit 142 Seiten so umfangreich nicht war)��. Die hätte man, so Hamm, in Lizenz und ganz ohne politische und ästhetische Hemmungen übernehmen können. Wichtige Autoren wie der Wiener Essayist Ernst Fischer, der westdeutsche Dramatiker Heinar Kipphardt und die DDR-Lyriker Stephan Hermlin und Paul Wiens seien schließlich an der Übertragung beteiligt gewesen. „Oder scheute man sich [...] doch vor dem aggressiven Pathos und seinem sozialistischen Optimismus?“��, fragt sich Hamm.

Bei dem ‚Nebenprodukt’, von dem die Rede ist, handelt es sich übrigens um den 1963 erschienen Band „In jenem Jahr 1941“, übersetzt von Wilfried Horst Brands und erschienen im Verlag Luchterhand. Über die Bedeutung von Quantität müsste man in der Tat noch einmal nachdenken. Gäbe es das Gesamtwerk Hikmets in Übersetzung und gäbe es mehrere Übersetzungen eines Werks von verschiedenen ÜbesetzerInnen, erübrigten sich Diskussionen über die richtige Auswahl. Die Vielfalt würde verschiedene Facetten des Werks aufzeigen, und unterschiedliche Interpretationen würden den Rezipienten auch die Möglichkeit bieten, ihre translatorischen Vorlieben und einen geschärften Blick für die Ästhetik des Übersetzens zu bekommen, ähnlich der Umsetzung einer Partitur durch unterschiedliche Interpreten – so wünscht es sich Hans Vermeer für Übersetzungen.�� Das geschieht wohl bei Shakespeare, nicht aber bei Hikmet. Dass es nicht geschieht, ist

� Peter Hamm: Hamm Schickt mir Bücher, die glücklich enden! Der türkische Dichter

Nazim Hikmet wurde zu lange ignoriert. In: Die Zeit, 12. Juni 1964, hier zitiert nach Zeit Online: ‹http://www.zeit.de/1964/24/schickt-mir-buecher-die-gluecklich-enden› (27. Juli 2014).

�� Ebd. �� Die türkische Gesamtausgabe des lyrischen Werks von Hikmet umfasst über 2000

Seiten, die 2008 erschienene, bisher umfassendste deutsche Übersetzung (in Form einer Auswahl/Anthologie) bringt es auf keine 300, von dem Prosawerk ganz zu schweigen.

�� Ebd. �� Siehe Hans J. Vermeers Beitrag Naseweise Bemerkungen zum literarischen Übersetzen in die-

sem Band, S. ##–##, hier die letzte Seite. Zuerst erschienen in: TEXTconTEXT Nr. 3 (1986), S. 145–150.

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symptomatisch und und muss wohl im weiteren Kontext der Translationspolitik gesehen werden.

Im Laufe der Zeit haben sich wiederholt Hikmet-Begeisterte, meist türkischer Herkunft, um die Weiterübersetzung und Rezeption seines Werks bemüht. Einer von ihnen war Necati Mert, der berichtet, wie er sich in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit seinen Übersetzungen von Hikmet-Gedichten an verschiedene Verlage wandte, um einen Band zu veröffentlichen und die Antwort bekam, von unbekannten ausländischen Autoren mache man keine Bücher.�� Das ist dann doch ein klarer Hinweis für eine Nichtentdeckung. Hikmet wurde in der BRD in der Tat sehr zögerlich aufgenommen, was paradoxerweise mitunter an einem staatlichen Abkommen zum deutsch-türkischen Kulturaustausch, der in den 70er Jahren geschlossen wurde, zusammenzuhängen scheint. Die Bücher Hikmets waren in seinem Herkunftsland verboten, er selbst starb im Exil in Moskau, wie sollte man da erwarten, dass der Staat die Übersetzung seines Werkes fördert? Diese Beobachtung zur Übersetzungspolitik zeigt, dass man bei aller Fokussierung der aufnehmenden Literatur für die Beschreibung von Übersetzungsphänomenen die Rolle der Ausgangskultur nicht übersehen sollte. Gerade im Fall ausländischer Literaturen, für die das Interesse in der aufnehmenden Literatur nicht groß ist, spielen kulturpolitische Maßnahmen, über die die Ausgangsländer Übersetzungen fördern, zuweilen eine große Rolle.

Die Rezeption des Werks von Hikmet bleibt im deutschsprachigen Raum metonymisch: Kleine Teile, die für das Ganze stehen sollen. Metonymisch für Hikmet, für die türkische Lyrik und auch für die türkische Literatur. Der türkischen Prosa geht es übrigens nicht anders. Der große Autor der türkischen Moderne, Ahmet Hamdi Tanpınar (1901–1962), blieb dem deutschen Publikum bis 2008 unbekannt. Der Seelenfrieden erschien in der Übersetzung von Christoph Neumann im Unionsverlag, 2010 folgte das Uhrenstellinstitut in der Übersetzung von Gerhard Meier beim Fischer Verlag. „Einen türkischen Zauberberg“ nennt Stefan Weidner Den Seelenfrieden in seiner Rezension in der Zeit und schließt sich Orhan Pamuk an, für den das Buch der bedeutendste Roman sei, der je über Istanbul geschrieben wurde. Seinen Vergleichsmaßstab fände Tanpınar nur an Proust, Musil oder Thomas Mann.��

�� Necati Mert: Nazım Hikmet – der Klassiker und Heutiger der Lyrik. Redebeitrag zum

Frühlingsmeeting 2005 – „Kosmopolitania SaarLorLux“. In: Die Brücke. Forum für antirassistische Politik und Kultur ‹http://www.bruecke-saarbruecken.de/hikmet1.htm› (27. Juli 2014).

�� Vgl. „Ahmet Hamdi Tanpinar“. In: Kulturmagazin Perlentaucher ‹http://www.perlentaucher.de/buch/30431.html› (27. Juli 2014).

Übersetzen als Entdecken

Die Tanpınar-Übersetzungen als Entdeckungen zu bezeichnen, würde irritieren. Umgekehrt scheint ihre verzögerte Ankunft in der deutschsprachigen Literaturszene vielmehr auf die fehlende Entdeckung der türkischen Literatur als solche hinzuweisen.�� So, wie wenn man eben von einer deutschen Literatur nicht sprechen könnte, ohne Musil oder Mann zu kennen, und von einer französischen ohne Proust. Hinzu kommt, dass wenn man die Szene betrachtet, mit der wir es hier zu tun haben, nicht ein genuin literarisches Interesse bzw. ein aus dem Literaturbetrieb selbst hervorgegangener Bedarf im Vordergrund steht. Die Buchreihe „Türkische Bibliothek“ des Unionsverlags wurde im Vorfeld des Ehrengastauftritts der Türkei auf der Frankfurter Buchmesse initiiert und von der Robert-Bosch-Stiftung gefördert. Sicherlich, jemand wird Tanpınar empfohlen haben – die ÜbersetzerInnen/BeraterInnen? Aber ist das eine Entdeckung? Und kann man im Falle eines für die Herkunftsliteratur so kanonischen Autors überhaupt vom „Entdecken“ sprechen? Man kann es sicher aus der Perspektive der/des individuellen Leserin/Lesers. Aber aus der Sicht der ÜbersetzerInnen oder VerlegerInnen erscheint das schwieriger, denn der Überraschungsmoment, das Motiv des Aufspürens fiele weg; die entdeckerische Leistung bestünde lediglich darin, den richtigen Moment abzupassen und strategisches Geschick für die Unterbringung des Werks in einem Verlag zu zeigen. Das waren nicht die Dinge, die den Entdeckungsbegriff ausmachten. Der Fokus läge hier eher auf dem Wissen

�� Das bedeutet nicht, dass es keine in Deutschland bekannten und viel rezipierten tür-

kischsprachigen AutorInnen gibt. Yaşar Kemal wurde 1997 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels geehrt. Die Übersetzung von İnce Memed (Memed mein Falke) von Cornelius Bischoff wurde auf dem deutschen Buchmarkt bis 2004 immerhin über 600.000 Mal verkauft. Siehe „Yaşar Kemal im Gespräch mit seinem Übersetzer und interessiertem Publikum im deutschen Generalkonsulat am 22. Januar 2004“, hg. von Reiner Möckelmann, Generalkonsulat Istanbul ‹http://www.istanbul.diplo.de/contentblob/4092914/Daten/41656/YasarKemal_Bischoff_DD.pdf› (27. Juli 2014). Der derzeit in Deutschland bekannteste türkischsprachige Autor ist Orhan Pamuk, dessen Popularität stieg, nachdem er 2006 den Literatur-Nobelpreis bekam. Gerade wurde bekannt, dass einer seiner Übersetzer, Gerhard Meier, den Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzungen ins Deutsche erhält. Siehe „Orhan Pamuk brilliant ins Deutsche übersetzt“. In: börsenblatt.net 25. Juli 2014 ‹http://www.boersenblatt.net/808372/› (27. Juli 2014). Wie Gerhard Meier in dem Vortrag, den er jüngst in Ger-mersheim hielt, selbst sagte, wirken sich vor allem Preise, mit denen die Ausgangstext-autorInnen geehrt werden, im materiellen und symbolischen Sinne auf ihre Übersetze-rInnen aus. Erst so wird man meist auf ihre Leistungen aufmerksam, die für Anerken-nung des Werks schließlich eine ausschlaggebende Rolle spielen (Gerhard Meier: Was ich als literarischer Übersetzer gerne gefragt würde – und was nicht. Gastvortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihen getürkt! und Grenzüberschreibungen am 1. Juli 2014 im Theaterkeller des Fachbereichs Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft in Ger-mersheim).

Dilek Dizdar

über die aufnehmende Literatur als auf der Fähigkeit einzelner Akteure, Neues, Unbekanntes, vielleicht für die meisten Unscheinbares, in der Ausgangsliteratur aufzuspüren. Der Umstand, dass es sich bei einer übersetzerischen Entdeckung immer um ein „Entdecken-für“ handelt, verdient hier mehr Aufmerksamkeit. Nur wenn das „Entdecken-von“ stark an das „Entdecken-für“ gekoppelt wird, kann man etwa von einer gestandenen Turkologin behaupten, sie hätte als Übersetzerin oder Verlegerin Hikmet oder Tanpınar entdeckt, wie wenn man von einem Germanisten sagen würde, er habe einen Dichter namens Goethe entdeckt. Unsere Turkologin kann aber auch neue, selbst in der Ausgangsliteratur noch kaum bekannte AutorInnen aufspüren und ihnen zu internationalem Durchbruch verhelfen, was sich wiederum auf deren Status in der Ausgangskultur auswirken würde. In diesem Fall stünde das ‚Entdecken-von‘ stärker im Vordergrund, für das man vermutlich stärkere literarisch-entdeckerische Fähigkeiten benötigt als für das ‚Entdecken-für‘.

Aber nehmen wir an, man könne die Kernfigur der türkischen Moderne für das deutsche Publikum entdeckt haben. Wie bereits erwähnt, wurde die erste Tanpınar-Übersetzung durch die Unterstützung eines Sonderprogramms einer Stiftung ermöglicht. Nachdem im Falle Tanpınars kein Entdecken-von behauptet werden kann, erscheint es hier auch schwierig, eine besondere Leistung eines Akteurs in Sinne des Entdeckens-für auszumachen, es sei denn wir begnügen uns mit dem rein faktischen Vorhandensein der ersten Übersetzung (ehrenwert ist es allemal, Tanpınar zu übersetzen und zu publizieren). Je geplanter und strukturierter der Rahmen, in dem die Übersetzung erscheint, desto geringer die entdeckerische Leistung, die einer einzelnen Person zugeschrieben werden kann. Nun könnte man auch auf der Seite des Entdeckens-für genauer nachsehen, inwiefern einzelne Titel und AutorInnen, die überraschend auftauchen und Aufmerksamkeit bekommen, einer entdeckerischen Leistung entspringen. Gerade wenn die Verlage keine LektorInnen haben, die die Sprachen der Literaturen beherrschen, in denen es sinnigerweise noch einiges zu entdecken gäbe, wird oft bei den Nachbarn in England oder Frankreich gespickt, was die wohl so entdeckt haben (und umgekehrt schauen die Nachbarn den Verlagen hierzulande über die Schulter). Das minimiert sozusagen das Risiko einer Entdeckung. Wenn ein Roman in England und Frankreich bei den großen Verlagen erschienen ist und auch bei den LeserInnen ankommt, ist das zu entdeckende Land kein wirklich unbekanntes mehr. Dennoch kann es freilich für die deutsche Literatur mitentdeckt werden.

Es widerspräche dem hier angeführten Gedanken des Ereignishaften, wenn die Bestimmung einer Übersetzung als Entdeckung an die planmäßige Einführung bestimmter Werke und AutorInnen gekoppelt würde, wie sie zum Beispiel bei der Literatur der Gastländer von großen Buchmessen geschieht.

Übersetzen als Entdecken

Die durch wirtschaftliche und politische Interessen motivierte Übersetzung und Rezeption ausländischer Literatur, gesteuert durch Sonderprogramme und Marketingmaßnahmen und begleitet von Kulturevents und Presseresonanz, die in einem rauschartigen Effekt (und durch die plötzliche Schaufensterpräsenz) suggerieren, dass ganz neue literarische Felder erschlossen – ‚entdeckt‘ – würden, wären kein hinreichendes Kriterium, auch wenn sie die nötige Faktizität schaffen, ohne die eine Entdeckung nicht möglich ist.

Wenn ein Ereignis mitunter an der Wirksamkeit gemessen werden soll, müsste man weiter versuchen, die Bedingungen für ‚Wirksamkeit‘ zu formulieren. Ein Anhaltspunkt könnten die Anschlüsse sein, die auf die Übersetzung zurückgehen, mit ihr in Verbindung stehen. Ein solcher Anschluss wäre etwa der Wunsch nach ‚mehr‘, der Wunsch also, mehr von diesem Autor, dieser Literatur zu lesen. Hans Peter Neureuter erwähnte in seinem Vortrag, August Wilhelm Schlegel habe über die Shakespeare-Übersetzung Wielands gesagt: „[S]o viel mussten wir auch haben, um noch mehr begehren zu können.“�� Wielands Übersetzung wäre also nicht allein aufgrund der Tatsache, dass sie die erste ist, sondern vor allem weil sie andere Handlungen im literarischen Feld angestoßen hat (und das muss nicht notwendig eine weitere Übersetzung sein), ein Ereignis, eine Entdeckung. Denn was nützt eine ‚Entdeckung‘, wenn sie außer der/dem ‚EntdeckerIn‘ niemand wahrnimmt? Aber auch festzustellen, wo Anschlusshandlungen vorliegen, ist nicht immer einfach. Was ist mit den kleinen Verlagen für türkische Literatur, die seit Jahren am Rande des Literaturbetriebs Pionierarbeit leisten und die einige Werke von Nazım Hikmet lange vor den großen Verlagshäusern, DTV, Unionsverlag, Fischer und Ammann herausbrachten? Teilweise haben die VerlegerInnen, von denen die meisten türkischer Herkunft sind, die Werke selbst übersetzt. Der zuvor erwähnte Necati Mert sagt über sie: „[O]hne die freiwillige Arbeit von wenigen Türken hätte der Bekanntheitsgrad Nazım Hikmets nicht den heutigen Stand erreicht“.� Merkwürdig, von TürkInnen, den in der Ausgangsliteratur Einheimischen, die dem Fremden das Ihrige schmackhaft machen möchten, als EntdeckerInnen Hikmets zu sprechen. Wenn sie es in der aufnehmenden Literatur tun, nehmen sie aber doch irgendwie am Entdeckungsgeschehen teil.

Eine noch merkwürdigere Konstellation ergäbe sich übrigens, wollte man von SelbstübersetzerInnen als EntdeckerInnen sprechen. Wenn die Perspektive des aufnehmenden Literaturbetriebs eingenommen wird und man sich das Zusammenspiel der Akteure in einer Szene vorstellt, wie ich

�� Siehe den Beitrag von Hans Peter Neureuter in diesem Sammelband, S. ###. �� Necati Mert: Nazım Hikmet.

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vorgeschlagen habe, können jedoch auch SelbstübersetzerInnen Akteure der Entdeckung werden.� Auch das macht natürlich nur Sinn, wenn man sich vor allem auf das Entdecken-für konzentriert, sich also von der Heureka-Entdeckung, der Idee des Aufspürens, dem Überraschungseffekt aus Sicht der/des Handelnden entfernt. Man kann sich eine(n) AutorIn vorstellen, die/der die Literatur und das Umfeld, in das sie/er übersetzt, sehr gut kennt und dort den richtigen Moment ‚entdeckt‘, um ihre/seine Übersetzung einzubringen, oder dass die Art und Weise, wie sie/er übersetzt, eine Besonderheit für die aufnehmende Literatur aufweist usw. Sind wir hier schon zu weit gegangen? Folgen wir dem Gedanken der Szene konsequent und sehen von der Überbewertung der ‚inneren Motivation‘ ab, müsste es möglich sein, z. B. von Beckett als Akteur der Entdeckung seines Werkes in den USA zu sprechen. Seine Selbstübersetzung von Warten auf Godot hat wesentlich zu seinem nachhaltigem Erfolg in den USA beigetragen, Beckett selbst war aber ein einziges Mal in den USA (was freilich nicht ausschließt, dass er die Literatur gut kannte). Ausfindig gemacht und dort eingeführt hat ihn der Verleger Barney Rosset; in der Entdeckungsszene wäre vor allem diesem eine wichtige Rolle zuzusprechen: die des Trüffelschweins.

Zurück zu den kleinen Verlagshäusern, die türkische Literatur publizieren. Eines von ihnen, der literaturca Verlag (geführt von Beatrix und Mesut Caner) behauptet in einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau vom Oktober 2008 selbstbewusst, es setze Trends. Der Autor des Artikels, Martin Zähringer, vergleicht diese Verlage mit Trüffelschweinen – „sie entdecken mit feiner Nase neue Autoren, Themen und Tendenzen, dann kommen die Marktgrößen und schnappen sie weg.“�� Auch sind ihre Bücher wegen der Sparsamkeit bei den Produktionskosten, für die sie ins osteuropäische

� Selbstübersetzungen verdienen sicherlich mehr Aufmerksamkeit als ihnen in diesem

Beitrag zukommt. Sie haben häufig experimentellen Charakter und ignorieren Transla-tionsnormen. In diesem Sinne bergen sie interessantes entdeckerisches Potential so-wohl für die/den AutorIn-ÜbersetzerIn als auch für die übersetzende Spra-che/Literatur. Dieter Lamping beschreibt Selbstübersetzungen als Sprachübung oder Fortschreibung. Die Diversität der Selbstübersetzungspraktiken macht es seiner An-sicht nach unmöglich, sie in systemtheoretischen Begriffen zu fassen; ihre Geschichte liefe eher „auf das nicht teleologische, nicht prognostizierbare, eben freie Durchspie-len der diversen zu Gebote stehenden Möglichkeiten [hinaus].“ Dieter Lamping: Die literarische Übersetzung als de-zentrale Struktur: Das Paradigma der Selbstüberset-zung. In: Harald Kittel (Hg.): Geschichte, System, Literarische Übersetzung / Histo-ries, Systems, Literary Translations. Berlin: Erich Schmidt 1992, S. 212–227, hier S. 225.

�� Martin Zähringer: Angst haben gilt nicht. Drei deutsche Kleinverlage engagieren sich für die türkische Literatur. In: Frankfurter Rundschau 4. Oktober 2008, ‹http://www.fr-online.de/kultur/tuerkische-literatur-angst-haben-gilt-nicht,1472786,3300406.html› (27. Juli 2014).

Übersetzen als Entdecken

Ausland gehen, nicht unbedingt die attraktivsten. Aber Trüffelschweine – das sind doch die wichtigen Akteure auf der Entdeckungsszene! Dass die in Deutschland ansässigen Türken die Aufgabe der Vermittlung türkischer Literatur zunächst übernommen haben, steht im Zusammenhang der Repräsentationsfunktion und der metonymischen Rezeption der wenig übersetzten Literaturen, die bereits angesprochen wurde. Die türkischstämmigen VerlegerInnen gelten sozusagen als die InformantInnen für türkische Literatur. Das unterstützt das Nischendasein der betroffenen AutorInnen und Werke häufig. Es dort hinaus zu schaffen, Zugang zu den großen Literaturverlagen zu bekommen, ist ein Sprung, der für das Werk und die AutorInnen ereignishaft sein kann, für die kleinen Verlage häufig ein eher trauriges Ereignis ist. Paradoxerweise werden aber in dem hier vorgeschlagenen Modell der Ereignisszene die kleinen Verlagshäuser und die InformantInnen-ÜbersetzerInnen erst dadurch, dass sie die AutorInnen wieder verlieren, zu AkteurInnen der Entdeckung; die Übernahme durch große Verlage ist ein Zeichen der Wirksamkeit und Dissemination.

Neben der faktischen Feststellung, dass ein(e) AutorIn durch Übersetzung eingeführt wurde und auch eine gewisse Wirksamkeit in der aufnehmenden Literatur nachzuweisen ist, stellt sich im Bezug auf den entdeckerischen Gestus auch die noch komplexere Frage nach dem Wie der Übersetzung. Inwiefern sollte auch sie als ein Kriterium der Entdeckung gelten?

Über die Übersetzungen der besagten Trüffelschweine sagt Mert: „Das sind aber Übersetzungen, die sich auf Schuldeutsch stützen.“�� Ist das eine schlechte Art des Entdeckens? Gibt es denn eine gute und weniger gute Art des Entdeckens? Die oben erwähnte Dichterin würde sagen, ja, natürlich gibt es eine schlechte Art des Entdeckens, der viele ein Nichtentdecken vorziehen würden. Wenn wir die Sache in Hinsicht auf Wirksamkeit betrachten, stellt sie sich allerdings anders dar. ‚Trotz‘ Schuldeutsch könnten LeserInnen einen Zugang zu dem Text finden, und dieser könnte als Grundlage für eine Entdeckung dienen. Es kann sogar sein, dass ein Verlag wie der oben erwähnte unter den größeren Verlagen, die sich für türkische Literatur interessieren, als Trüffelschwein bekannt ist und als Ideenstifter genutzt wird. Dafür müssen die Übersetzungen nicht einmal immer gelesen werden; deren Erscheinen, die Begleittexte usw. könnten potenziell genügen, um die Aufmerksamkeit auf einen Namen zu lenken, den man dann auch in anderen Sprachen lesen kann, wenn man Glück hat.

Man geriete freilich in gefährliche Nähe essentialistischer Fallstricke, wollte man eine richtige von einer falschen Lektüre/Übersetzung unterscheiden. Hier geht es aber vor allem und erneut um die Verwandtschaft von ‚Entdecken‘ und ‚Erobern‘/‚Aneignen‘. Wenn es um die Entdeckung einer

�� Necati Mert: Nazım Hikmet.

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Autorin / eines Autors, eines Werk oder einer neuen Form geht, sprechen wir, wie wir festgestellt haben, meist (lediglich) von einer Entdeckung für, d. h. es wird der Kontext der Zielkultur in den Blick genommen. Die Zielkultur hat ein Bild von der Ausgangskultur/-sprache/-literatur usw, und (auch) übersetzerische Entdeckungen sind selten unschuldig. Als Fitzgerald Khayyams Werk vorstellt, das er selbst übersetzt bzw. ‚entdeckt‘ hat, sagt er, er habe ihn ‚verbessern‘ müssen, um wahre Poesie aus den Versen zu basteln, da die Perser nicht wirklich dichten könnten.��

Dem Anderen als anders zu begegnen ist schwierig genug, und das Übersetzen zwischen Sprachen und Literaturen, die in einem ungleichen Machtverhältnis zueinander stehen, erscheint wie eine Gratwanderung zwischen exotisierendem und assimilierendem Übersetzen. Je weniger die jeweilige Kultur und Literatur bekannt ist, desto heikler die Wanderung. Für die Frage nach dem Wie einer entdeckerischen Übersetzung könnte das Risiko stärker auf die andere Seite verlagert werden: „Wie wird man in der eigenen Sprache Nomade, Fremder, Zigeuner?“�� Kafkas Antwort darauf: „Indem man das Kind aus der Wiege stiehlt, indem man auf einem Seil tanzt.“�� Der Gedanke, dass das Ereignishafte für eine Übersetzung eher behauptet werden kann, wenn sie sich erst einen Platz schafft, könnte in diesem Sinne vielleicht weiter ausgebaut werden. Übersetzungen sind, nicht unähnlich der Beschreibung von Kafkas Vorstellung einer kleinen Literatur bei Deleuze und Guattari, von einer Deterritorialisierung geprägt. Entdeckerische translatorische Strategien wären mitunter durch den Fokus auf den Umgang der ÜbersetzerInnen mit dem Thema Deterritorialisierung auszumachen. Um die eingangs eingeführten Gedanken in Anlehnung an Kuhn wieder aufzugreifen, müsste jenseits der Dichotomie von Aneignung und Entfremdung nach Überraschungsmomenten, Irritation und Anomalie gesucht werden, um zu sehen, ob und inwiefern die Übersetzung aus ästhetischer sowie politischer Sicht entdeckerische Strategien entfaltet. Ähnliches gilt für die Untersuchung des literaturkritischen Diskurses über eine bestimmte Übersetzung. Ob die translatorische Eigenschaft des Textes

�� „It is an amusement for me to take what Liberties I like with these Persians who (as I

think) are not Poets enough to frighten one from such excursions, and who really do want a little Art to shape them“ Edward Fitzgerald, zit. nach André Lefevere: Transla-tion, Rewriting & the Manipulation of Literary Fame, S. 75.

�� Gilles Deleuze, Félix Guattari, übersetzt von Burkhart Kroeber: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M.: Suhrkamp �2012, S. 29.

�� Ebd., S. 28. Für die Juden, die der deutschsprachigen Minderheit in Prag angehörten und zugleich von dieser ausgeschlossen waren, war es die einzige Möglichkeit, in einer „künstlichen“, „papiernen“ Sprache zu schreiben, die das Schreiben zugleich zu einer Unmöglichkeit machte. Sie seien wie Zigeuner gewesen, „die das Kind aus der Wiege gestohlen haben.“ (ebd., S. 24).

Übersetzen als Entdecken

explizit thematisiert wird oder nicht, ist dabei in diesem Zusammenhang zunächst zweitrangig. Wo wird der Text eingeordnet, welche Vergleiche werden angestellt, welche Stereotypen treten bei den Besprechungen auf den Plan usw.?

Translationswissenschaftliche Anknüpfungspunkte an das Risiko des Seiltänzers und die darin eingeschriebene Ambivalenz, bezogen auf Strategien des Schreibens und der Lektüre, wären zum Beispiel in der Forderung Derridas nach einer (ver)antwortenden Lektüre- und Übersetzungspraxis�� zu finden, die in der Translationswissenschaft in der Maxime einer „Untreue“ gegenüber der aufnehmenden Sprache�� oder der „minorisierenden Übersetzung“ ihr Pendant findet.��

Kann man denn nun sagen, die deutsche Literatur habe Tanpınar entdeckt? Tanpınars ‚Auftritt‘ auf der Frankfurter Buchmesse hat offensichtlich Übersetzungen der genannten Werke in andere Sprachen motiviert; es sind parallel und umittelbar im Anschluss an die deutschen Übersetzungen auf englisch, französisch, spanisch, serbisch, mazedonisch... erschienen. Auch im literaturkritischen Diskurs ist eine gewisse Präsenz des Werks zu beobachten, wobei die mangelnde Kreativität der Rezensenten wiederum stutzig macht. Auch in anderen Sprachen wird Tanpınar mit den großen europäischen Meistern der Romankunst verglichen: „A Mind at Peace is a magnum opus, a Turkish Ulysses“ schreibt der Literaturkritiker Scott Esposito über Erdağ Göknars englische Übersetzung von Huzur.� Den Kritikern kann man den Mangel an Erfindergeist jedoch kaum vorwerfen – woran sollten sie sich orientieren, wenn nicht an den ihnen bekannten Werken und AutorInnen? Für einen Vergleich innerhalb der türkischen Literatur, die nötigen intertextuellen Bezüge usw. fehlt ihnen die türkische Literatur in Übersetzung. Womit wir wieder bei dem Problem der Metonymie wären. Richard Eder, Pulitzer-Preisträger für Literaturkritik, kritisiert den wiederholt auftretenden Vergleich von A Mind at Peace mit Joyce’ Ulysses. Sicherlich, man könne Ähnlichkeiten feststellen, die jedoch oberflächlich seien. Er selbst bemüht dafür als Vergleichsgrundlage das osmanische Erbe, das Tanpınar mit Kavafis teile: „If "A Mind at Peace" has a parallel, it is in the

�� Siehe z. B. Jacques Derrida: Qu‘est-ce qu‘une traduction ‚relevante‘? In: Quinzièmes

Assises de la Traduction Littéraire (Arles 1998). Arles: Atlas – Actes Sud 1998, S. 21–48; vgl. Dizdar: Translational Transitions, S. 98f.

�� Michael Cronin: Across the Lines. Travel, Language, Translation. Cork: Cork Univer-sity Press 2000, S. 101.

�� Lawrence Venuti: The Scandals of Translation. Towards an ethics of difference. Lon-don, New York: Routledge 1998, S. 11, vgl. Dilek Dizdar: Translation. Um- und Irr-wege. Berlin: Frank und Timme 2006, S. 277f.

�� ‹http://conversationalreading.com/new-book-a-mind-at-peace-by-ahmet-hamdi-tanpinar/› (25. Juli 2014).

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infinitely suggestive, distant and fading world of the great Greco-Alexandrian poet Constantine Cavafy, whose civilization likewise bore the imprints, though far more distant and faded, of an Ottoman heritage with universal inklings.“�

Die Entdeckung Tanpınars wird sich vielleicht ereignet haben. Die Übernahme der Werke durch die angesehenen und größeren Verlagshäuser, Übersetzungen in andere Sprachen, eine internationale Resonanz, die es auch LiteraturkritikerInnen unterschiedlicher Herkunft ermöglicht, sich über Den Seelenfrieden oder Das Uhrenstellinstitut zu unterhalten, über die Angemessenheit der Vergleiche zu streiten usw. sind immerhin Voraussetzungen für das, was hier als Wirksamkeit und Präsenz beschrieben wurde. Die Frage der Relevanz von Übersetzungs- und Lektürestrategien für die Entdeckungsfrage muss offen bleiben. Sie wird für jeden einzelnen Entdeckungsfall individuell zu entscheiden sein und hängt von der politischen wie poetischen Haltung der ÜbersetzerInnen und der KritikerInnen/BeobachterInnen ab. Das translationspolitische Moment, das sowohl die Faktizität als auch die Frage der Strategie betrifft, spielt für die Entdeckungsfrage letztlich eine wichtige Rolle. Den politischen/ethischen Aspekt hat der Entdeckungsbegriff, bei dem wir nun angekommen sind, noch mit dem zu Beginn vorgestellten gemeinsam. Auch wird deutlich, dass ihm ein Konstruktionscharakter innewohnt: Der deutsche Tanpınar ist auch ein erfundener, und nicht einfach ein entdeckter. Die Frage der Anomalie und Irritation wurde in der Besprechung des Kuhn’schen Entdeckungsgedankens mit einer Zäsur in Verbindung gebracht. Übersetzungen, deren Rolle in der Konstruktion von Epochengrenzen, der Einführung von Genres und ähnlich markanten Ereignissen (sofern man sagen kann, es sei klar, was ein markantes Ereignis in der Literatur ist) deutlich ist, lassen sich vielleicht unter das Stichwort ‚prototypische‘ oder ‚klar zu ermittelnde‘ Entdeckungen einordnen.�� Eine

� Richard Eder: „A Mind at Peace” by Ahmet Hamdi Tanpinar [sic!]. In: Los Angeles

Times 1. März 2009; ‹http://www.latimes.com/entertainment/la-ca-ahmet-hamdi-tanpinar1-2009mar01-story.html› (25. Juli 2014).

�� Andreas Kelletat vermutet, dass es eine direkte Beziehung zwischen „Importschüben“ und „jenen Zäsuren [gibt], mit denen deutsche Literaturgeschichten Epochengrenzen beschreiben“, d. h., dass Übersetzungen eine wichtige Rolle in den Wendepunkten der deutschen Literatur gespielt hätten, die bisher unterschätzt wurde. Andreas Kelletat: Wie deutsch ist die deutsche Literatur? Anmerkungen zur Interkulturellen Germanis-tik in Germersheim (Antrittsvorlesung, 8. Dezember 1994). In: Ders.: Reden ist Silber. Zur Ausbildung im Überstetzen und Dolmetschen. Vaasa, Germersheim: Saxa (Bei-heft 5) 2004, S. 13-32, hier S. 21. Aus literaturhistorischer Perspektive könnte man an diesen Wendepunkten ansetzen, um ErfinderInnen ausfindig zu machen; das Problem wäre hier allerdings, dass man vorhandene Strukturierungen bestätigt, und dass das, was nicht auf den groben Linien liegt, aus dem Blick fallen könnte. Ein ähnlicher Vor-wurf wird der Polysystem-Theorie gemacht, die für viele translationshistorische Stu-

Übersetzen als Entdecken

solche Zäsur wird man aber ansonsten schwerlich für alle Werke und ÜbersetzerInnen bestimmen können, die man vielleicht doch auch in einer Entdeckungsszene sehen möchte; das zeigen die hier besprochenen Beispiele aus den Übersetzungen türkischer Literatur ins Deutsche.

dien als Bezugsrahmen verwendet wurde. Ein stärkerer Fokus auf Übersetzungen könnte jedoch auch als kritisches Mittel gegen die selbstbestätigende Funktion von Geschichtsschreibung dienen. Die Aufmerksamkeit wäre hier vor allem auf das revo-lutionäre Potenzial des Minoritären im Sinne Deleuze und Guattaris zu richten.