Book Review: "Migrations- und Integrationspolitik im europäischen Vergleich". In: PVS 2015(1),...

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PVS-Literatur 130 BESPRECHUNGEN PVS, 56. Jg., 1/2015, S. 130-154 POLITISCHE THEORIE UND IDEENGESCHICHTE Herzog, Lisa. Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory. Oxford. Oxford University Press 2013. 184 Seiten. 50,00 £. Lisa Herzog, bis September 2014 Mit- arbeiterin am Frankfurter Institut für Sozialforschung und am Exzellenzclus- ter zu „Herausbildung normativer Ordnungen“, ist Postdoc-Forscherin am „Center for Ethics in Society“ in Stanford. Ihre Oxforder Dissertation ist eine Plauderei mit Vergangenheit. Es geht um nicht weniger als um eine neue Herangehensweise, wie „wir“ über Individuen und deren soziale Kontextbeziehungen denken sollen. Das weckt Interesse. In diesem Sinne soll die historische Erfindung und die zukunftsorientierte Neukonzeption von Märkten bedacht werden. Es soll erneut Dynamik in ein geronnenes Ver- stehen gebracht werden, indem A. Smith (1723-90) mit G. W. F. Hegel (1770-1831) in einen Dialog gebracht wird (13). Herzogs Ziel ist es, das Bild der Märkte der Güter, Gelder und Ide- en neu zu öffnen (158ff.), indem es mit frühen Konzepten, nämlich mit Smiths Wohlstand und näherungsweiser Gleichverteilung für die Gattung sowie mit Hegels vernünftigem Staat als Ins- titution umfassender Sittlichkeit (158), konfrontiert wird. Markt kann mehr sein, als neoliberale Makroökonomen meinen (161); mit Smith und Hegel verbindet Herzog „today’s markets“ (161) wieder mit emanzipatorischen Potentialen. An diesem Punkt begreift Herzog ihre Arbeit als ersten Schritt (162) und endet in weitgreifenden Fra- gen: Man sollte über andere Bilder nachdenken (161), über einen Markt nur einfacher Güter und nicht solcher, die das Leben beherrschen, weil kom- plexe Lebensbereiche – Erziehung, Ste- ckenpferde, Liebe, Beachtung – nach Marktkriterien bedacht werden, über einen Markt für Finanzdienstleistun- gen ohne Krisen und Druck auf Politik, über einen Markt, der Zeit für Privates und für Objekte des „absoluten Geis- tes“ wie Künste, Religion, Philosophie lässt. Das Studium mündet an neural- gischen Punkten in Fragen. „Warum gibt es keine Erinnerung, dass die, die die Bilder des Markts erfunden haben, […] keine entwurzelte, allumfassende Wirklichkeit im Sinn hatten, die Ge- fahr läuft, den Boden unter den Füßen aller Institutionen, Prinzipien und Ide- en, die nicht ihren Befehlen folgen, zu entfernen?“ (161). Die Frage ergibt sich aus dem vage umschriebenen Bild heutiger Märkte und der Erinnerung an emanzipatorische Möglichkeiten, die immanent-kritisch ökonomisch und politisch-staatlich mit Smith und Hegel verbunden werden (160). Von Smith zieht Herzog besonders „Wohlstand der Nationen“ (1776) und die Vorlesungen zur Rechtswissen- schaft (1762/63), von Hegel die Rechtsphilosophie (1820) heran. Markt und Staat sind diejenigen weltli- chen Institutionen, die für Smith und Hegel letztlich nicht intentional, son- dern deistisch und idealistisch einge- bunden die bürgerliche Gesellschaft zur „beinahe […] gleiche[n] Verteilung der zum Leben notwendigen Güter“ (Smith) oder zur „Versöhnung“ von Person, Familie, Gesellschaft und Staat in Sittlichkeit (Hegel) führen. Die

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BESPRECHUNGEN

PVS, 56. Jg., 1/2015, S. 130-154

POLITISCHE THEORIE UND IDEENGESCHICHTE

Herzog, Lisa. Inventing the Market. Smith, Hegel, and Political Theory. Oxford. Oxford University Press 2013. 184 Seiten. 50,00 £.

Lisa Herzog, bis September 2014 Mit-arbeiterin am Frankfurter Institut für Sozialforschung und am Exzellenzclus-ter zu „Herausbildung normativer Ordnungen“, ist Postdoc-Forscherin am „Center for Ethics in Society“ in Stanford. Ihre Oxforder Dissertation ist eine Plauderei mit Vergangenheit. Es geht um nicht weniger als um eine neue Herangehensweise, wie „wir“ über Individuen und deren soziale Kontextbeziehungen denken sollen. Das weckt Interesse. In diesem Sinne soll die historische Erfindung und die zukunftsorientierte Neukonzeption von Märkten bedacht werden. Es soll erneut Dynamik in ein geronnenes Ver-stehen gebracht werden, indem A. Smith (1723-90) mit G. W. F. Hegel (1770-1831) in einen Dialog gebracht wird (13). Herzogs Ziel ist es, das Bild der Märkte der Güter, Gelder und Ide-en neu zu öffnen (158ff.), indem es mit frühen Konzepten, nämlich mit Smiths Wohlstand und näherungsweiser Gleichverteilung für die Gattung sowie mit Hegels vernünftigem Staat als Ins-titution umfassender Sittlichkeit (158), konfrontiert wird. Markt kann mehr sein, als neoliberale Makroökonomen meinen (161); mit Smith und Hegel verbindet Herzog „today’s markets“ (161) wieder mit emanzipatorischen

Potentialen. An diesem Punkt begreift Herzog ihre Arbeit als ersten Schritt (162) und endet in weitgreifenden Fra-gen: Man sollte über andere Bilder nachdenken (161), über einen Markt nur einfacher Güter und nicht solcher, die das Leben beherrschen, weil kom-plexe Lebensbereiche – Erziehung, Ste-ckenpferde, Liebe, Beachtung – nach Marktkriterien bedacht werden, über einen Markt für Finanzdienstleistun-gen ohne Krisen und Druck auf Politik, über einen Markt, der Zeit für Privates und für Objekte des „absoluten Geis-tes“ wie Künste, Religion, Philosophie lässt. Das Studium mündet an neural-gischen Punkten in Fragen. „Warum gibt es keine Erinnerung, dass die, die die Bilder des Markts erfunden haben, […] keine entwurzelte, allumfassende Wirklichkeit im Sinn hatten, die Ge-fahr läuft, den Boden unter den Füßen aller Institutionen, Prinzipien und Ide-en, die nicht ihren Befehlen folgen, zu entfernen?“ (161). Die Frage ergibt sich aus dem vage umschriebenen Bild heutiger Märkte und der Erinnerung an emanzipatorische Möglichkeiten, die immanent-kritisch ökonomisch und politisch-staatlich mit Smith und Hegel verbunden werden (160).Von Smith zieht Herzog besonders „Wohlstand der Nationen“ (1776) und die Vorlesungen zur Rechtswissen-schaft (1762/63), von Hegel die Rechtsphilosophie (1820) heran. Markt und Staat sind diejenigen weltli-chen Institutionen, die für Smith und Hegel letztlich nicht intentional, son-dern deistisch und idealistisch einge-bunden die bürgerliche Gesellschaft zur „beinahe […] gleiche[n] Verteilung der zum Leben notwendigen Güter“ (Smith) oder zur „Versöhnung“ von Person, Familie, Gesellschaft und Staat in Sittlichkeit (Hegel) führen. Die

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strukturellen Ungleichheiten der bür-gerlichen Gesellschaft – Armut ist eine „quälende“ Frage (Hegel) – überlässt keiner dem Markt. Herzogs „subject matter“ (11) ist der Markt, um Person, Gerechtigkeit und Freiheit zu betrach-ten (14ff.). Smith (28ff.) und Hegel (51ff.) werden als Prototypen (158) vorgestellt, um den Markt optimis-tisch, ausgleichend (Smith 35 f.) oder instabil, ungleich und kontingent (He-gel 54, 59) auszumalen. In keinem Fall – auch nicht von Smith (36) – werden Gesellschaft und Politik dem Markt überantwortet. Es gibt öffentliche Gü-ter, die weder individuell, noch vom Markt geregelt werden können. An diesem Punkt transzendiert Herzog im-manent die Marktgegenwart. Methodisch wählt Herzog einen Zu-griff (11ff., 155ff.), der sich von Skin-ners Sicht auf Ideengeschichte ab-grenzt. Dies begründet die Stärke, sich nicht in Details zu verlieren (158), aber auch die offenen Fragen zum Schluss sowie die kontextfreie und sich philo-logisch nicht in Texten verlierende Mo-dellierung der Klassiker. Herzog legt keine Sekundäranalyse vor. Deutlich wird dies vor allem, wenn sie Hegels bürgerliche Gesellschaft über ein wei-tes Verständnis politischer Philosophie (52 f., 56 f.) mit dem Markt verbindet. Hegels bürgerliche Gesellschaft ist kei-ne Marktgesellschaft, sie ist dem Staat überantwortet (43) und Teil der Sitt-lichkeit (51). Markt wird als Wort von Hegel über alle Werke selten ge-braucht, der ökonomische Begriff des freien Marktes spielt keine Rolle. Her-zog erarbeitet über Smith und Hegel bedenkenswerte philosophische Ideen zum Markt, um Grundprobleme politi-scher Theorie beim Umgang mit öf-fentlichen Gütern und Werten darzu-stellen. Sie möchte sich von Klischees

über Smith (17ff.) und Hegel (41, 43ff., 58) lösen, um – ohne eine Per-spektive Marx‘–politische Ökonomie oder ökonomische Politik als Grundty-pen eines intentionalen Umgangs mit Markt und bürgerlicher Gesellschaft hervortreten zu lassen. Ein normativer Zugang über die Gegenwart (13) mit seiner thematischen Chance (12f.) ver-mittelt das Ziel: „Inventing the Mar-ket“ bei Smith und Hegel, um eine Per-spektive für eine soziale Zukunft jenseits des Marktes, wie „wir“ ihn heute sehen, zu finden.

Eike Hennig

Barfuss, Thomas und Peter Jehle. Anto-nio Gramsci zur Einführung. Hamburg. Junius 2014. 191 Seiten. 13,90 €.

Mit dem vorliegenden Band schließen Thomas Barfuss und Peter Jehle die letzte größere Lücke im deutschsprachi-gen Raum zum Thema Antonio Grams-ci und legen die erste, dezidiert als sol-che auch konzipierte Einführung in sein Denken und Werk vor. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist gut gewählt: Antonio Gramscis Hauptwerk, die Ge-fängnishefte, liegt im Deutschen voll-ständig vor und ist unlängst auch in ei-ner günstigeren Taschenbuchausgabe erschienen. Ferner gibt es drei thema-tische Auswahlbände und die 2014 veröffentlichte, empfehlenswerte Text-zusammenstellung Gramsci lesen. Ein-stiege in die Gefängnishefte, mit den wichtigsten Passagen aus seinem Werk. Und auch die von Guiseppe Fiori ver-fasste, noch immer maßgebliche Bio-grafie, ist seit kurzem wieder erhältlich. Es fehlt nur noch eine vollständige Zu-sammenstellung seiner journalistischen Arbeiten.

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Gramsci, 1891 auf Sizilien geboren, war „Journalist, Theaterkritiker, Sozia-list“, stand zu Beginn der 1920er Jahre an der Spitze der Turiner Rätebewe-gung, gehörte zu den „Mitbegründer[n] der Kommunistischen Partei“ Italiens, vertrat diese in der Dritten Internatio-nale und wurde schließlich in das Parlament in Rom gewählt (9). 1926 erfolgte seine Verhaftung durch die Fa-schisten (ebd.). Seine Haftzeit war geprägt von „Schlaflosigkeit, körper-liche[n] Zusammenbrüche[n], kaum Kontakt zur Außenwelt“ (11). Im Ker-ker entstanden mit den Gefängnishef-ten und Gefängnisbriefen seine wich-tigsten Werke, allerdings war ihm erst ab 1929 erlaubt, überhaupt zu schrei-ben (87). Gramsci verstarb am 27. Ap-ril 1937 an den Folgen seiner Kerker-haft, die „bevorstehende Freilassung“ wurde ihm wenige Tage zuvor „ange-kündigt“ (11). Treffend schreiben die Autoren, „Gramsci ist ein Klassiker, der kein ge-schlossenes Werk, sondern eine offene Werkstatt hinterlassen hat“ (15). Seine Gefängnishefte sind Notizen, ein „viel-schichtiges work in progress“, ebenso „unabgeschlossen[…]“ wie „unab-schließbar[…]“ (16). Barfuss und Jehle machen in der Vielfalt der Aufschriften Gramscis drei größere „Materialblö-cke“ aus: „das Projekt einer ‚Geschichte der italienischen Intellektuellen‘ – ihrer Entwicklung, ihres Selbstverständnisses und ihrer Denkweisen“, die Analyse der russischen Oktoberrevolution und die Frage, warum es im Westen keine er-folgreiche Revolution gab sowie „Ame-rikanismus und Fordismus“, mit dem Fokus auf der „industrielle[n] Entwick-lung in den USA“ und der „sich […] am Horizont abzeichnende[n] Neuformie-rung kapitalistischer Vergesellschaf-tung“ (17). Außerdem entwickelt

Gramsci mit der „Philosophie der Pra-xis“, die er zunächst wohl auch als Tarnbezeichnung für den Marxismus verwendet, um der faschistischen Zen-sur zu entgehen, das Projekt seiner eige-nen „Marx-Interpretation“, in dem er sich auf Marx’ Feuerbachthesen besinnt (19f.).Hegemonie wird als Schlüsselbegriff bei Gramsci erachtet und stellt daher den eigentlichen Kern der vorliegenden Einführung dar. Da Hegemonie bei Gramsci nicht auf eine einzige, allge-meingültige Definition heruntergebro-chen werden kann, nehmen Barfuss und Jehle in den folgenden Kapiteln mit den „Intellektuelle[n], Stellungs-krieg, Zivilgesellschaft, passive Revolu-tion“ diejenigen Begriffe in den Blick, denen „im Zuge der Entfaltung des Hegemoniebegriffs“ (35) eine wichtige Rolle und Position zukommt. Dabei ist Hegemonie nicht im Sinne einer blo-ßen Vormachtstellung zu verstehen, sondern umfasst in seiner Komplexität vor allem die Bereiche Politik, Kultur und Wirtschaft. Es geht Gramsci dar-um zu erfassen, wie sich die bestimm-ten (politischen) Ideen, Gedanken und Konzepte der gesellschaftlichen Orga-nisation usw. bestimmter gesellschaftli-cher Akteure dermaßen verallgemei-nern, dass sie allgemein anerkannt, aktiv zustimmend oder passiv akzep-tiert werden, mitunter als natürlich und damit unhinterfragbar, gar als al-ternativlos erscheinen, wahrgenommen und vertreten werden. Laut Gramsci muss jedes „eingreifen-des Verändern“ am Alltagsverstand an-setzen, wenn es denn in der Gesell-schaft verankert werden möchte (38). Barfuss und Jehle nehmen daher Gramscis kritische Betrachtungen des Alltagsverstandes als ersten Ausgangs-punkt ihrer Einführung und stellen im

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Anschluss seine Überlegungen zur Fra-ge der Intellektuellen vor. Für Gramsci bedeutet, intellektuell zu sein, „eine or-ganisierende Funktion im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse aus-zuüben“ (66), die nicht per se mit einer spezifischen „Berufsgruppe“ verknüpft ist (ebd.). Für Gramsci vermitteln Intel-lektuelle bestimmte Ideen, Theorien und Vorstellungen in die breitere Ge-sellschaft hinein und stärken damit die Akzeptanz herrschender Ideen, Grup-pen und Klassen. In seinem Werk ver-bindet sich die Analyse der bestehen-den gesellschaftlichen Ordnung stets mit dem Ziel, diese im Sinne emanzipa-torisch-sozialistischer, marxistischer Ideen zu überwinden. Gramsci erweist sich als ein marxistischer Denker, dem es um „die Selbstbefreiung aus Subal-ternität und Unmündigkeit“ ging (83). Mit dieser Position wurde er – promi-nent aufgegriffen durch den 2014 ver-storbenen Theoretiker Stuart Hall – zum „Kristallisationskern“ (95) für die Cultural Studies und den Subaltern Studies (94-103). Gramscis Begriff der Subalternen bezieht sich nicht allein auf die Klassenfrage, sondern erlaubt es, „sehr unterschiedliche Formen von Unterdrückung und Marginalisierung sichtbar zu machen“ (101). Wohl am bekanntesten sind Gramscis Überlegungen zum Staat, in denen sei-ne Begrifflichkeiten zentral zusammen-geführt werden. Ausgangspunkt ist die Frage, warum die Oktoberrevolution in Russland (zunächst) erfolgreich war, die Revolutionsbemühungen im Wes-ten hingegen scheiterten. Die Antwort findet er in der Zivilgesellschaft. Diese, in Gramscis Worten „robuste Struk-tur“‘ erwies sich seiner Auffassung nach als „‚Schützengraben“‘, der eine tiefergehende Krise und damit den Kollaps der kriselnden Staaten verhin-

derte (108f.). Für die marxistische Staatstheorie erwies sich auch Grams-cis folgende Definition als überaus fruchtbar: Staat = politische Gesell-schaft + Zivilgesellschaft, das heißt, Hegemonie gepanzert mit Zwang. Zentral ist hierbei das Verhältnis von Konsens und Zwang (109). Gramsci reduziert den Staat nicht allein auf die Fragen von Regierung und Verwaltung, sondern vertritt ein erweitertes Staats-verständnis. Er entwickelt die Vorstel-lung, dass es gerade die Zivilgesell-schaft mit den in ihr „‚enthaltenen“‘ wirtschaftlichen Zusammenhängen sei, über die Herrschaft organisiert werde und sich Gruppen, Schichten, Klassen und Parteien mit ihren (weltanschauli-chen) Überzeugungen verallgemeinern könnten (109f.). In der Zivilgesell-schaft kommt es zur Hegemoniebil-dung, die über die Stabilität einer Ge-sellschaft bestimmt und, abhängig von Grad ihres Gelingens, dafür sorgt, dass beispielsweise ökonomische Krisen nicht sofort und von sich aus in politi-sche und gesellschaftliche Krisen um-schlagen. In den Worten von Barfuss und Jehle erweist sich bei Gramsci die Zivilgesellschaft somit als „ein der for-mellen Politik vorgelagertes Feld des Vergesellschaftungshandelns, auf dem sich Überzeugungen, Gewohnheiten, Anhängerschaften bilden“ (117).Barfuss und Jehle haben eine sprachlich gut zugängliche, didaktisch wohl über-legte Einführung vorgelegt, die dem Werk Gramscis gerecht wird und viele Anknüpfungspunkte für die weitere, eigenständige Arbeit mit Gramsci auf-weist. Sie bieten keine bloße Zitaten-sammlung und legen auch keine Nacherzählung vor, sondern lassen Gramsci selbst im Zusammenhang zu Wort kommen. Das Buch ist hervorra-gend geeignet, um sich mit Gramsci

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vertraut zu machen. Es ist als Grundla-ge und Ausgangspunkt für Bildungsver-anstaltungen, egal ob im akademischen Raum oder in anderen Zusammenhän-gen, uneingeschränkt zu empfehlen. Gramsci ist zweifellos ein Klassiker – wie die Einführung überzeugend dar-legt, jedoch keiner, der bereits ange-staubt ist und nur noch als historisch interessant gelten kann. Barfuss und Jehle reduzieren Gramsci nicht auf ei-nen Stichwortgeber, sondern lassen sein Denken aus dem Zusammenhang her-aus entfalten und binden dieses zu-gleich immer auch an die Analyse der unsrigen gegenwärtigen Welt zurück. Und das Gramsci lebendig ist, zeigen nicht zuletzt die von den Autoren kurz vorgestellten Fortentwicklungen in den Disziplinen der Cultural Studies und der Internationalen Politischen Ökono-mie respektive des Neogramscianismus.

Sebastian Klauke

VERGLEICH POLITISCHER SYSTEME

Hunger, Uwe/Pioch, Roswitha und Stefan Rother (Hrsg.). Migrations- und Integrationspolitik im europäischen Vergleich. Jahrbuch Migration 2012/ 13. Berlin. LIT Verlag 2014. 362 Seiten, 39,90 €.

Im Format eines klassischen Jahrbu-ches gibt dieser Sammelband einen schlaglichtartigen Überblick über aktu-elle Debatten der Migrations- und In-tegrationspolitik in Europa. Herausge-geben von den Sprecher_innen des Arbeitskreises Migrationspolitik in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), setzen sich die insgesamt 14 Beiträge trotz ihrer Hete-

rogenität in Bezug auf den theoreti-schen Zugang und ihr Abstraktions-niveau in der Summe zu einem lesenswerten Buch zusammen.Besonders erwähnenswert sind die Bei-träge zu temporärer Migration: Katja Lindner zeigt anhand von qualitativen Interviews mit Unternehmen und Mig-rant_innen im südspanischen Agrar-sektor eindrücklich die negativen Kon-sequenzen nationalstaatlicher, bzw. europäischer Steuerungsversuche von Saisonarbeit auf (19). Entgegen des vielzitierten triple-win-Potentials zir-kulärer Migration stellt sie eindrück-lich dar, wie die Maxime der sicheren Rückkehr (mittlerweile werden bevor-zugt Frauen mit Kindern in Nicht- EU-Staaten angeworben) zu Wettbe-werbsnachteilen für Unternehmen so-wie verstärkten Abhängigkeiten der Arbeitsmigrant_innen führt (47). Ei-nen ähnlich kritischen Ton schlägt Till Kathmann in seinem Vergleich des ak-tuellen Konzeptes der „zirkulären Mi-gration“ mit der Gastarbeiterpolitik der 1960er Jahre an. Er argumentiert, dass sich zahlreiche Kontinuitäten in Bezug auf die asymmetrische Verhand-lungsmacht und die Integrationsver-weigerung gegenüber Migrant_innen identifizieren ließen und es sich folg-lich um eine „im Kern repressive Ein-wanderungspolitik“ handele, „die mit einem humanitären Anstrich verse-hen“ sei (176). Kathmanns Argumen-tation würde allerdings noch mehr überzeugen, wenn das empirische Ma-terial seiner Analyse umfangreicher in den Beitrag eingeflossen wäre.Ebenfalls äußerst lesenswert sind die Beiträge zum Komplex Asyl-Flucht-Migration: In der Tradition kritischer Sicherheits- und Migrationsforschung analysiert Ilker Ataç am Beispiel Öster-reichs, wie die Art der Thematisierung des Politikfeldes Asyl in offiziellen Re-

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gierungsdokumenten (als „Problem“ mit besonderer Akzentuierung von „Asylmissbrauch“) eine Kontrollnot-wendigkeit suggeriert, die sich in ge-setzlichen Regelungen niederschlägt (113). Ataç erweitert damit die vielfach beschriebene Dynamik, nach welcher rechtspopulistische Parteien und Medi-en einen Diskurs prägen, der daraufhin wiederum Eingang in die Politik findet. Versicherheitlichende Diskurse gehen demnach ebenso von der Mitte der Ge-sellschaft aus. Ulrike Hoffmann wiede-rum untersucht in ihrem Beitrag die Frage, welchen Einfluss Pro-Migrant_innen-NGOs auf die Asyl- und Migra-tionspolitik der EU haben (185). Ihre inhaltlich wenig überraschenden, aber gut dokumentierten Ergebnisse zeigen, dass ressourcenstarke NGOs in erster Linie beim Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission auf offene Türen stoßen würden, da diese Institutionen – anders als beispielswei-se der Rat der EU – auf externes Fach-wissen angewiesen seien. Die Antwort auf die Frage, welche konkreten Emp-fehlungen sich aus diesem Befund für pro-migrantische Lobbyarbeit auf EU-Ebene ableiten lassen, gerät in Hoffmans Ausführung allerdings etwas kurz. Eine große Stärke des Sammel-bandes wird darin deutlich, dass die explizit migrantische Perspektive, die Hoffman in ihrem Beitrag ausspart, dafür an anderer Stelle im Zentrum steht. Marion Noack zeigt auf der Ba-sis einer beeindruckenden Datengrund-lage, dass die Einflussmöglichkeiten migrantischer Frauen im Rahmen des Europäischen Integrationsforums äu-ßerst begrenzt sind, was sich auf man-gelnde finanzielle Ressourcen und eine exkludierende Rhetorik gegenüber Mi-grant_innen durch EU-Gremien zu-rückführen lässt (299).

Heraus sticht der Beitrag von Jan Schneider zur „Politik der Rückkehr-unterstützung“ (131). Während im ge-samten übrigen Sammelband von „ir-regulärer Migration“ die Rede ist, verwendet Schneider den Begriff „il-legal“. Diese Wortwahl deckt sich mit dem überraschend unkritischen Grundton, den der Autor gegenüber „freiwilliger“ oder erzwungener Rück-kehr anschlägt. Der Befund Schneiders einer ausbleibenden europäischen Har-monisierung im Bereich der „freiwilli-gen Rückkehrunterstützung“ legt mög-licherweise die zentrale Funktion einer Betonung von „Freiwilligkeit“ offen; als rhetorisches Komplementär zum ei-gentlichen Ziel erzwungener Abschie-bungen, um eine im Kern repressive Migrationspolitik humanitärer erschei-nen zu lassen. Dieser exponierte Bei-trag kann zugleich als Ausdruck einer begrüßenswerten Offenheit der Her-ausgeber_innen verstanden werden, unterschiedliche Positionen in einem Band zu vereinen.Der abschließende Beitrag von Ursula Birsl und Bettina Westle liefert Anre-gungen für eine dringend notwendige, interessanterweise jedoch erst seit kur-zem geführte Debatte über die vielfälti-gen Verbindungen zwischen Demokra-tie und Migration (321). Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Herausgeber_in-nen in ihrer Einleitung bereits das Leit-thema Demokratie und Migration als ersten Sammelband in ihrer Reihe Stu-dien zur Migrations- und Integrations-politik bei Springer VS ankündigen.Über die im einzelnen besprochenen Beiträge hinaus finden sich in diesem Sammelband Fallstudien zu Migration und Bildung (Désirée Kleiner-Liebau), zum Umgang mit kultureller Vielfalt (Sebastian Ennigkeit), zu Gründungs-motiven türkisch geprägter Fußballver-eine (Stefan Metzger et al.) zur Arbeits-

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PVS-Literatur

marktintegration junger Migrant_innen (Magdalena Ziólek-Skrzypczak), zur Arbeitnehmer_innenfreizügigkeit für MOE-Staaten (Fessum Ghirmazion) und zu den Grenzen der autonomen Migrationssteuerung kleiner EU-Staa-ten (Claudia Hartmann-Hirsch). Wie bereits angeklungen, bietet dieser Sammelband mit wenigen Ausnahmen sehr fundierte und wichtige Einblicke in die aktuelle Migrationsforschung. Allerdings muss kritisch angemerkt werden, dass das Buch noch einmal deutlich hinzugewonnen hätte, wenn die Einleitung der Herausgeber_innen über die Kurzzusammenfassung der einzelnen Beiträge hinausginge. Warum Migrationspolitik und Integrationspoli-tik sprachlich und in der Zweiteilung des Bandes so deutlich unterschieden werden, überrascht ebenfalls, zumal in den meisten Beiträgen eine Position jen-seits von top-down-Migration-Gover-nance und Container-Konzeptionen von Staatlichkeit eingenommen wird. Ein abschließendes Kapitel beispiels-weise hätte die doch sehr heterogenen Beiträge stärker verknüpfen können. So bleibt das Buch eine lesenswerte Kolla-ge, bei der die Verbindungen zwischen den einzelnen Kapiteln aber vom Le-senden selbst gezogen werden müssen.

Elias Steinhilper

POLITIKFELDANALYSE

Piketty, Thomas: Capital in the Twenty-First Century. Cambridge. Harvard Univ. Press 2014. 696 Seiten. 29,95 ₤.

Normalerweise rezensiere ich Bücher, die außer mir nur wenige Menschen, allenfalls ein kleines Fachpublikum le-sen. In solchen Fällen besteht höchs-

tens das Problem, dass man dem Leser der Rezension trotz aller Kritik nahele-gen will, das Buch zu lesen. Wozu sonst schriebe man die Rezension? Bei „Capital in the 21st Century” ist das anders. Das Buch ist ein voluminö-ser Bestseller, ein Gassenhauer, dessen Rezensionen zusammengenommen für mehrere Bücher reichten. Als Rezensent muss ich daher nicht nur das Buch son-dern auch die Kritik daran kritisieren. Noch dazu, wo eigentlich doch schon alles gesagt ist. Meine einzige Hoffnung besteht darin, dass erstens nicht all die-jenigen das Buch gelesen haben, die dies behaupten, und dass zweitens un-ter Politologen einiges Interesse besteht, obwohl das Buch auch ein gewisses Ab-schreckungspotential besitzt.In der Tat, die Mächtigkeit (fast 600 Seiten) und streckenweise Langatmig-keit des Werkes erweckt Zweifel, ob das Buch in Wirklichkeit nicht so et-was wie das ökonomische Pendant zu Günther Grass der Butt oder der Bibel ist: beide müssen in jedem gutbürgerli-chen Haushalt stehen, aber gelesen ha-ben sie die wenigsten. Das Wall Street Journal berichtet denn auch, dass die meisten Leser bereits nach ca. 26 Sei-ten aufgeben. Trotzdem können und sollten auch Nichtökonomen das Buch lesen. Es ist ein gewaltiges und beeindruckendes Werk. Es strotzt vor interessanten ori-ginären Statistiken, die große Streifzü-ge über Hunderte von Jahren und über ganze Kontinente erlauben. Einge-sprenkelt in die Litaneien der empiri-schen und theoretischen Wirtschafts-forschung findet der Leser immer wieder anekdotische Evidenzen aus Geschichte und Literatur, von A wie (Jane) Austen bis Z wie (Emile) Zola. Pikettys Buch ist auch so klar geschrie-ben, dass es sich teilweise sogar als

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Pflichtlektüre im Grundstudium eignet. Auch dem Fachpublikum ist das Buch zu empfehlen, gerade weil es auf Öko-nometrie oder sonstige Techniken ver-zichtet, die häufig eher der Blendung als der Erhellung dienen. Schließlich scheut Piketty keineswegs die Provoka-tion. Als Politökonom bin ich ja immer wieder dankbar für die teilweise präzis gesetzten Treffer, die Piketty gegen sei-ne eigene Zunft landet. Das mag teil-weise erklären, warum eine Riposte nicht lang auf sich warten ließ. Ich denke, dass sowohl das Buch als gera-de auch die Kritik daran tiefgehende Probleme in der positiven und norma-tiven Theorie der Ökonomie aufzeigen. Probleme, die für andere Sozialwissen-schaftler offensichtlicher und dennoch sehr lehrreich sind.Das Buch untergliedert sich in vier gro-ße Abschnitte: Die einleitenden Kapitel enthalten eine Kurzversion der Haupt-thesen (für eilige Leser) sowie einige grundsätzliche Definitionen, welche Nichtökonomen den Zugang erleich-tern. Der zweite Abschnitt diskutiert die funktionale Aufteilung des Volks-einkommen zwischen Kapital(besit-zern) und Arbeitnehmern. Es behandelt vor allem die Entwicklung des Ver-hältnisses von Kapitalvermögen und Volkseinkommen, nach Piketty ein Schlüsselindiz für die zugrundeliegen-den Triebkräfte ökonomischer Un-gleichheit. Der dritte Abschnitt disku-tiert die Entwicklung der Ungleichheit zwischen Personen. Piketty konzent-riert sich dabei vor allem auf drei Län-der (Frankreich, England und die USA), macht jedoch immer wieder Re-ferenzen zu anderen Industrieländern, die sich in seiner Datenbasis befinden. Der vierte Abschnitt diskutiert erstens aktuelle Entwicklungen – insbesondere die globale Finanzkrise. Zweitens

spricht sich Piketty für die Einführung einer globalen (oder regionalen) Steuer auf Kapital (und Vermögen) aus.Die größte Leistung Pikettys und seiner Kollegen ist die systematische Be-standsaufnahme der Entwicklung öko-nomischer Ungleichheit über mehr als zwei Hundert Jahre in mehr als einem Dutzend OECD Ländern. Über Jahre haben sie Daten aus Archiven der öf-fentlichen Steuerstatistiken gesammelt.Obwohl die Daten vielfältig sind, hat es besonders die Grafik der langfristigen Entwicklung der Einkommensungleich-heit in den letzten hundert Jahren in die öffentlichen Debatten geschafft. In vie-len der untersuchten Länder folgt die Kurve einem U. Innerhalb der letzten 100 Jahre sank die Ungleichheit nach den beiden Weltkriegen bis Ende der 70er Jahre. In den letzten Jahrzehnten hat sie jedoch wiederum deutlich zuge-nommen und tastet sich vor allem in angelsächsischen Ländern wieder bis an das Niveau von 1914 heran. Piketty selbst gibt zu, dass die Daten weit davon entfernt sind, perfekt zu sein. Dennoch macht er glaubhaft, dass sie das wahre Ausmaß der Ungleichheit eher noch unterschätzen, weil offizielle Steuerstatistiken keine Schlüsse über nicht berichtetes Einkommen zulassen. Ein derzeit diskutierter Schätzwert ist, dass fast 10 Prozent des Bruttosozial-produktes reicher Industriestaaten in Steueroasen liegen.Was sind die Triebkräfte dieser Ent-wicklung und wie sind sie zu bewerten? Piketty fasst sein Argument in seiner berühmt-berüchtigten Formel zusam-men, die es bereits in US-amerikanische Talkshows geschafft hat: r>g. r steht dabei für die Kapitalrendite, beispiels-weise Zinsen auf Geldanlagen. g ist die Wachstumsrate der gesamten Volks-wirtschaft. Nach Piketty steigt Un-

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gleichheit, wenn r>g, und dieser Fall ist für Piketty die Regel. Wenn Kapitalan-lagen mehr Rendite erzeugen, als das Wirtschaftswachstum den Produktions-faktoren und vor allem den Arbeitneh-mern zulassen kann, wächst zunächst die Ungleichheit des Volkseinkommens und langfristig auch die Konzentration des Volksvermögens. Deswegen steigt dann auch das Verhältnis von Kapital-vermögen und Volkseinkommen. Daher wird ein immer größerer Anteil des Volksvermögens vererbt. Es kommt also zu einem Rückkoppelungsprozess: Steigende Ungleichheit erzeugt immer größere Ausmaße an Ungleichheit. Piketty deutet diesen Rückkopplungs-prozess in Anlehnung an Marx als Grundwiderspruch eines voll funkti-onstüchtigen Kapitalismus. Man könn-te auch neutraler formulieren: Er deu-tet ihn als eine Grundspannung: Außer in Zeiten großen Wirtschaftswachs-tums dominiert Kapitalbesitz andere Formen der Einkommenserzielung. Die Gesellschaft wird zu einer Rentierge-sellschaft, in der die Masse nur unzu-reichende Chancen auf sozialen Auf-stieg besitzt und eine kleine Elite von den Renditen ihres Vermögens lebt. Das ist die Pikettysche Dystopia. Geld-adel vermehrt Vermögen, ein Kapitalis-mus ohne meritokratisches Rückgrat. Durch die empirischen Untersuchun-gen weiß Piketty , dass es keinen linea-ren Prozess zu immer weiter steigender Einkommens- und Vermögenskonzent-ration gibt. Was erklärt also die Aus-nahmen von der Regel? Für ihn sind vor allem die beiden Weltkriege (und die damit einhergehende Vernichtung des physischen und monetären Wertes von Kapital) schuld. Hinzu kommt je-doch die Ausweitung progressiver Steuern auf Einkommen und Vermö-gen (einschließlich der Erbschaften).

Erst als seit den 70er Jahren die füh-renden Industrienationen damit began-nen, progressive Steuern abzubauen, nahm die Ungleichheit wieder sprung-haft zu. Die Folge ist eine Renaissance der Rentiergesellschaft, welche das Ge-sellschaftsbild des 21. Jahrhunderts prägen könnte.So ist denn auch eine Steuer die zentra-le Politikempfehlung Pikettys, die Glo-bal Capital Tax. Die Steuer sollte mög-lichst global erhoben werden und progressiv gestaffelt sein. Piketty ist sich durchaus bewusst, dass diese For-derung utopisch klingt. Jedoch hält er sie für einen begrenzten Raum wie die OECD oder die EU durchaus für mach-bar.In der Rezeption des Buches bildeten sich rasch verschiedene Lager: Enthusi-asten, gemischt Gestimmte, und solche, die das Werk beziehungsweise dessen Thesen überwiegend ablehnen. Ich will mich auf vier größere Kritikpunkte be-schränken: Messfehler, die Definition von Kapital, das Gesetz (r>g), und die zugrundeliegende Ethik.Im Fahrwasser des Reinhart-Rogoff Skandals versuchte die Financial Times, Piketty grobe Messfehler und arbiträre Annahmen in der Konstruktion seiner langen historischen Reihen vorzuwer-fen. In der Tat ist Pikettys Ansatz nicht in jeglicher Hinsicht ideal. Jedoch ist die Transparenz in der Datenerzeugung beispielhaft, und die substantiellen Er-gebnisse sind wohl nicht zu leugnen. Diese Kritik ist denn auch relativ schnell wieder verflogen.Komplizierter liegt der Fall beim Kapi-talbegriff. Die Hauptkritik dabei ist, dass Piketty Humankapital aus seinen Berechnungen ausschließt. Er muss dies tun, weil eine historische Erfas-sung von Humankapital kaum möglich wäre. Noch nicht mal in der Gegen-

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wart herrscht unter Ökonomen Einig-keit, wie Humankapital operationali-siert werden kann. Dennoch ist die Kritik in dem Sinne valide, dass sich das Bild verändern könnte, wenn man – durchaus plausibel – annimmt, dass die Bedeutung von Bildung im Zeitver-lauf zunimmt. In gewisser Hinsicht ist die Kritik aber auch kleinlich, weil Pi-ketty sehr wohl immer wieder auf Hu-mankapital Bezug nimmt, wenn auch weniger systematisch.Für die meisten Ökonomen ist r>g und die zugrunde liegende Annahme der au-tomatischen Vermögenskonzentration die wirkliche Achillesferse. Die kon-trafaktische Überlegung dabei ist, dass es erklärungsbedürftig bleibt, warum die Nachkommen der Rockefellers (oder warum nicht: Fuggers) nicht auch noch heute die Reichsten in der Gesell-schaft sind. Viele Ökonomen führen dementsprechend ihr klassisches Instru-mentarium ins Feld, um Pikettys Hauptthese zu entkräften: sinkende Skalenerträge für Kapitalbesitz, zu ge-ringe Elastizität zwischen Arbeit und Kapital, ungeklärte Definitionen von Abschreibungen, unberücksichtigte Ri-sikokomponente der Rendite, Dynasti-en mit begrenzter Lebensdauer, ver-nachlässigte Dynamiken im Bereich der Innovation und Imitation... Die Liste der Unterlassungen ist also lange. Das mag Ökonomen interessieren und ist auch für Politikökonomen nicht irrele-vant. Selbst wenn aber die Bedeutung vererbter Vermögenskonzentration we-niger wichtig sein sollte, als Piketty be-hauptet, so wird sie kaum als trivial zu bezeichnen sein. Und generell besteht die Ungleichheitsproblematik an sich jedoch weiter, egal woher sie kommt. Es ist daher wohl die größte Leistung Pikettys, das Ungleichheitsthema neu entfacht zu haben.

Die grundlegendste und meines Erach-tens in der Psychologie vieler Ökono-men am festesten sitzende Kritik ist eine ethische. Sie lässt sich nach Deidre McCloskey mit „So What?“ zusam-menfassen: Warum ist Ungleichheit wichtig? Für die meisten Ökonomen ist Gleichheit kein Wert an sich, son-dern allenfalls relevant im Hinblick auf etwas anderes, zum Beispiel auf dro-hende Effizienzverluste. Wenn aber die ethische Grundlage für Pikettys Rat-schläge falsch ist, dann ist eine Global Capital Tax gleichbedeutend mit glo-bal capital punishment.Die politische Empfehlung der global capital tax wirkt in der Tat etwas ein-seitig. Für Politikwissenschaftler ist es relativ klar, dass eine Vielzahl wohl-fahrtsstaatlicher Arrangements dazu beitragen, Ungleichheit zu reduzieren. Im internationalen Vergleich scheint es auch eher die Höhe sozialstaatlicher Ausgaben zu sein, die Ungleichheit re-duziert, als unmittelbar die Progression der Steuer. Die politische Diskussion der Entwicklung von Ungleichheit kommt daher auch insgesamt ein wenig zu kurz, denn es gibt nach wie vor gro-ße Unterschiede zwischen den Ländern.Was die Kritik an Pikettys ökonomi-sche Theorie anbetrifft, so ist Piketty sicherlich selbst schuld. Er bauscht sein Grundgesetz des r>g auf und pro-voziert damit. Innerhalb des Buches ist jedoch sein Ansatz vielseitiger, als es scheint. Beispielsweise diskutiert er durchaus die Ungleichheit unter Ange-stellten und vor allem die galoppieren-den Entlohnung von Spitzenmanagern. Was die kritische Auseinandersetzung zwischen Piketty und anderen jedoch zeigt, ist, wie wenig trennscharf einer der Grundbegriffe der modernen Öko-nomie ist: das Kapital. Die moderne Wirtschaftslehre hat diese Kindheits-

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krankheit keineswegs auskuriert, son-dern allenfalls übertüncht, und diese Probleme – beispielsweise die Cam-bridge (USA) vs. Cambridge (GB) Kontroverse – scheinen in aktuellen Diskussionen immer wieder durch. Ökonomie kumuliert keineswegs im-mer so gesichertes Wissen, wie es die führenden Vertreter gerne wollten.Viel eklatanter scheint mir jedoch zu sein, dass Ökonomen eine Art einstu-dierte Ungleichheitsaversions-Aversion haben. Verteilung ist entweder kein Problem, oder eben ein nachrangiges. Dieser Tendenz kann sich auch Piketty selbst nicht wirklich entziehen. Erstens, und nicht untypisch für Ökonomen, widmet er der normativen Theorie – warum sollten wir Ungleichheit fürch-ten? – sehr wenig Raum. Zum anderen misst auch er der Ungleichheit bezie-hungsweise der Gleichheit eher einen instrumentellen Wert zu. Das heißt, Un-gleichheit wird zum Problem, weil sie dazu führt, dass Rentiers mehr Geld verdienen als Unternehmer und Inno-vateure. Dies erzeugt ein von Ökono-men so gefürchtetes Anreizproblem. Abgesehen davon, dass dieses Argu-ment sehr wackelig ist (wenn jemand kein Kapital hat, ist seine einzige Chan-ce sozial aufzusteigen, zu arbeiten und innovativ zu werden), führt es zu einem klassischen Problem: Sobald jemand zeigen kann, dass die Konsequenz der Ungleichheit für Effizienz nicht so schlimm ist, entfällt die Sorge um Un-gleichheit – und das Buch wird, so hat es McCloskey auf den Punkt gebracht, wertlos. Diese Kritik ist jedoch in zweierlei Hinsicht überzogen. Erstens bemessen Ökonomen den instrumentellen Wert von Gleichheit zumeist in Effizienzver-lust. Wenn Ungleichheit Wirtschafts-wachstum gefährdet, dann ist die Sorge

berechtigt, andernfalls nicht. In jüngs-ter Zeit scheint das Pendel in die Rich-tung von Piketty zu schwenken, jedoch kann sich der Wind hier schnell dre-hen. Dann wäre Ungleichheit auch kein Problem mehr.Allerdings hat Ungleichheit auch er-hebliche Konsequenzen, die allenfalls indirekt ökonomisch wirksam werden. So ist beispielsweise eine der wenigen robusten einfachen Makro-Korrelatio-nen im internationalen Vergleich dieje-nige zwischen der Gewalttätigkeit ei-ner Gesellschaft und deren Ausmaß an ökonomischer Ungleichheit. Auch ein demokratischer Prozess in ökonomisch extrem ungleichen Gesellschaften ist schwer vorstellbar.Wenn man also eine instrumentelle Strategie gegen die Sorge von Ungleich-heit ins Feld führt, muss man die Kon-sequenzen von Ungleichheit in allen wesentlichen sozialen Dimensionen ab-bilden. Dann wird es schon wesentlich schwieriger, mit dem Achsel zucken.Eine weitere ethische Strategie ist je-doch, der Gleichheit auch einen intrin-sischen Wert an sich zukommen zu las-sen und damit neben andere Werten wie Prosperität gleichberechtigt zu stel-len. Dafür kann es viele gute Gründe geben. Menschen zeigen häufig eine außerordentlich starke Aversion gegen Ungleichheit, und das nicht, weil sie über deren Konsequenzen besorgt sind, sondern weil sie Gleichheit als Zustand an sich schätzen. Es gibt also eine de-ontische Strategie zur Verteidigung der Ungleichheit, die von Ökonomen regel-mäßig gering geschätzt wird, bezie-hungsweise als Sozialneid abgetan wird. Das ist umso merkwürdiger, weil Ökonomen gleichzeitig die menschli-che Gier im Sinne der kapitalistischen Innovation instrumentalisieren wollen. Wenn aber eine schlechte Charakterei-

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POLITIKFELDANALYSE | Besprechungen

genschaft positive Effizienzwirkung entfalten kann, warum soll dann nicht der Sozialneid positive Reaktionen im Sinne der Entwicklung von Sozialstaat-lichkeit befördern? Die Ökonomie misst hier immer noch mit zweierlei Maß, und das Übersehen dieser Tatsa-che erzeugt unter anderen Sozialwis-senschaftlern und Verhaltensforschern denn auch regelmäßiges Kopfschütteln.Es ist also inkonsequent, die entschei-dende normative Frage abzutun, die da lautet: Ab welchem Niveau wird Un-gleichheit zum Problem an sich? Diese Frage kann nicht mit letzter wissen-schaftlicher Autorität quantitativ ge-schätzt, sondern allerdings demokra-tisch ermittelt werden. Dennoch ist genau sie das normative Grundprob-lem von Piketty: Ab wann wird Un-gleichheit zu einem solch gravierenden Problem, eine solch gravierende Verlet-zung der sozialer Solidarität, dass In-tervention geboten ist, selbst wenn sie auf Kosten anderer Werte ginge? Piket-ty liefert darauf eine interessante, wenn auch nicht immer konsequente Ant-wort. Der Frage hat jedoch Piketty enormen Auftrieb verschafft.

Achim Kemmerling

Oppelland, Torsten und Hendrik Träger. Die Linke. Willensbildung in einer ideologisch zerstrittenen Partei. Baden-Baden. Nomos 2014. 263 Seiten. 19,90 €.

Auf keine deutsche Partei lässt sich der Ausspruch „Totgesagte leben länger“ treffender anwenden als auf die Links-partei. Seitdem ihr Vorgänger, die PDS, aus der vormaligen Staatspartei der DDR hervorgegangen ist, wird die heu-tige Linkspartei von Abgesängen aus Politik, Publizistik und nicht zuletzt

der Politikwissenschaft begleitet. Zu-letzt war dies im Vorfeld des Göttinger Parteitages im Juni 2012 der Fall. Die Linkspartei, so der Tenor aller ex-ante-Nachrufe, sei ideologisch schlichtweg zu zerstritten, um sich dauerhaft im Parteiensystem der Bundesrepublik etablieren zu können. Dennoch, ähn-lich wie einst bei Mark Twain, sind Nachrichten über den Tod der Links-partei bislang stets stark übertrieben gewesen. Aus der neuen Monographie von Torsten Oppelland und Hendrik Träger lassen sich einige Hinweise zur Beantwortung der Frage entnehmen, warum dies der Fall sein könnte.Das anzuzeigende Buch ist Teil der von Karl-Rudolf Korte herausgegebenen Reihe „Die politischen Parteien der Bundesrepublik Deutschland“, in der das „innovative Forschungszentrum“ jedes Bandes auf der „Frage nach der formellen und informellen Organisati-on der Entscheidungsprozesse und Machtzentren“ (6) der jeweils behan-delten Partei liegt. Darüber hinaus werden aber auch die historische und programmatische Entwicklung sowie die Wählerpotenziale und strategischen Optionen der Linkspartei thematisiert. Im Ergebnis ihrer material- und kennt-nisreichen Studie machen Oppelland und Träger drei Formen der Willensbil-dung innerhalb der Linkspartei aus: erstens von den charismatischen Füh-rungspersönlichkeiten wie Gysi, Bisky und Lafontaine herbeigeführte Ausglei-che sowie – in Abwesenheit dieser Füh-rungspersönlichkeiten – zweitens Kom-promisse der innerparteilichen Flügel und drittens offene Konflikte (181).Angesichts der Tatsache, dass Oppel-land und Träger der Linkspartei nach-vollziehbar zugestehen, im Stile einer single-issue Partei mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit verbunden zu

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sein (87), verwundert es eigentlich umso mehr, warum die Akteure der Linkspartei Beobachtern immer wieder Anlass bieten, ihr das Totenglöcklein zu läuten. In ihrer Abgrenzung der drei wichtigsten Strömungen Reformer, Or-thodoxe und emanzipatorische Linke geben die beiden Autoren eine zu-nächst überraschende, bei näherem Hinsehen aber durchaus überzeugende Antwort: Zwar bestehen insbesondere zwischen Reformern und Orthodoxen tiefe Gräben hinsichtlich der Frage, ob man strategisch allein auf die parla-mentarische Logik setzen soll (Refor-mer) oder stärker auf außerparlamen-tarische Bewegungen (Orthodoxe), letztlich eint die Antagonisten aber dasselbe Ziel, nämlich der demokrati-sche Sozialismus (134). Noch bemer-kenswerter ist allerdings das strategi-sche „Muster“, das Oppelland und Träger herausarbeiten und „das nicht nur die PDS, sondern bis heute die Lin-ke prägt“, nämlich „verbale Bekennt-nisse zur Opposition, faktisch aber im-mer die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien sich als links der CDU begreifenden Parteien, sofern diese dazu bereit waren“ (147). Für dieses Muster spricht, dass die Links-partei selbst da, wo sie am stärksten von Orthodoxen dominiert wird, in Hessen und Nordrhein-Westfalen, für (Tolerierungs-)Bündnisse mit der SPD und den Grünen offen war. Aus diesem Befund von Oppelland und Träger ließe sich also folgern, dass es nicht nur keinen fundamentalen ideologischen, sondern auch keinen strategischen Dissens in der Partei gibt. Die immer wieder auftretenden Kon-flikte wären dann vielmehr persönlich oder habituell motiviert. In der Tat ar-beiten die Autoren die „Kultur des Misstrauens“ (133) innerhalb der

Linkspartei sehr pointiert heraus. In diesem Lichte wäre dann die zuneh-mende Professionalisierung und die ha-bituelle Anpassung der Reformer an das parteipolitische Establishment der Bundesrepublik der wesentliche Stein des innerparteilichen Anstoßes in der Linkspartei. Hier sei aber betont, dass Oppelland und Träger dieses Erklä-rungsmuster zwar anlegen, aber nicht systematisch verfolgen. Trotz der be-tonten strategischen und ideologischen Schnittmengen bezeichnen sie die Linkspartei im Abschnitt zur program-matischen Entwicklung wiederum als „ideologisch zerstritten“, wie es schon der Untertitel des Buches andeutet. Kurzum, es fehlt der Darstellung an ei-ner integrierenden Fragestellung und an einer übergreifenden Kernthese, wie sie der Analyse der CDU durch Franz Walter, Christian Werwath und Oliver D‘Antonio zugrunde liegt, in der die dauerhafte Dominanz der CDU im deutschen Parteiensystem trotz Fluktu-ation der Wählerbasis mit dem integra-tiven Gründungsmythos der Partei er-klärt wurde. Oppelland und Träger bieten im Vergleich eher eine Werk-schau auf hohem Niveau, in der aller-dings widersprüchliche Urteile letztlich unverbunden nebeneinander stehen. Vielleicht haben sich die Autoren in dieser Hinsicht schlichtweg ihrem For-schungsobjekt angepasst.Allerdings ließe sich auch argumentie-ren, dass ein gewisser analytischer bias bereits im Charakter der Reihe ange-legt ist: Der Rezensent hegt ernstliche Zweifel, inwiefern die Entwicklung ei-ner Partei und selbst deren interne Ent-scheidungsprozesse ohne systematische Verweise auf deren Interaktion mit an-deren Parteien und den institutionellen Kontext analysierbar sind. Am interes-santesten ist das vorliegende Buch

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denn auch immer dann, wenn die Bin-nenperspektive durchbrochen wird und Oppelland und Träger die Links-partei im Zusammenspiel mit anderen Parteien untersuchen. Beispielsweise betonen die Autoren im Hinblick auf die innerparteilichen Auseinanderset-zungen die Parallelen zu den Grünen (133), stellen aber leider nicht die Fra-ge, unter welchen Bedingungen denn ein linkes Neumünster, also eine Tren-nung vom orthodoxen Flügel, denkbar wäre. Wären die ideologischen Diffe-renzen innerhalb der Linkspartei in der Tat unüberbrückbar, käme dieser Frage eine zentrale Bedeutung zu. Sehr gelun-gen fällt die Analyse des Verhältnisses zu SPD und Grünen im Hinblick auf Regierungsbündnisse aus. Hier kom-men die Autoren auch zu einem pro-noncierten Urteil, indem sie solchen Bündnissen auf Bundesebene eine nur geringe Wahrscheinlichkeit prognosti-zieren (223–8). So legen Oppelland und Träger eine insgesamt sehr gelun-gene Überblicksdarstellung vor, der manchmal etwas mehr Mut zu über-greifenden Systematisierungen und Thesen zu wünschen gewesen wäre.

Michael Koß

INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN

Slutsch, Sergej und Carola Tischler (Hrsg.): Deutschland und die Sowjet-union 1933-1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Bd. 1: 1933/1934, 2 Teilbände. München. De Gruyter / Oldenbourg 2014. 1536 Seiten. 198,00 €.

Mit dem ersten Band der Dokumentati-on Deutschland und die Sowjetunion

1933-1941 hat die Gemeinsame Kom-mission zur Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Be-ziehungen ein zentrales Werk zur Ana-lyse der nationalsozialistischen Außen-politik vorgelegt. Für das Deutsche Reich bedeutete das Jahr 1933 eine doppelte Zäsur. Ende 1932 hatten die Entente-Mächte auf der Genfer Abrüs-tungskonferenz Deutschland prinzipiel-le Gleichberechtigung auf dem Rüs-tungssektor zugestanden. In der Folge entspannten sich daher die Beziehungen Berlins zu den Westmächten, während die Kooperation mit der Sowjetunion an Bedeutung verlor. Einem Gezeiten-wechsel glich dann die Machtergrei-fung Adolf Hitlers im Januar 1933. Die Tragweite dieses Schrittes wurde zu-nächst weder im Westen, noch in der UdSSR erkannt; so sah zum Beispiel Stalin in der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zunächst nur eine vorü-bergehende Episode in der langen Liste deutscher Reichskanzler. Wie reagierte nun die sowjetische Seite auf den Wechsel in Berlin? Entwicklung und Durchführung außenpolitischer Entscheidungen oblagen in Moskau dem Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten („Narkomindel“), das Grundsatzfragen jedoch mit Stalin – der „Instanz“, wie es in den sowjeti-schen Texten heißt – abstimmte. Noch im Unklaren über die Richtung der neuen deutschen Politik, beschränkte sich die sowjetische Seite 1933-1934 zunächst auf ein pragmatisches und un-dogmatisches Lavieren voller Wider-sprüche. In den von Hitler bereits weni-ge Tage nach der Machtergreifung in einer Rede vor der Reichswehrführung abgesteckten Grundlinien seiner künfti-gen Politik wurde eine Abkehr vom Multilateralismus der Weimarer Repu-blik angekündigt und deren bevorste-

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PVS-Literatur

hende nationale Ausrichtung betont. Noch versuchten aber Außenminister Konstantin Freiherr von Neurath und Diplomaten der Wilhelmstrasse, dem damaligen Sitz des Auswärtigen Amtes, die bisherigen Kernmaximen liberaler Außenpolitik zu erhalten.Die größte von Hitler dekretierte Ver-änderung – die in Moskau zu großer Beunruhigung führte – war die deut-sche Annäherung an den Westen und die damit einhergehende Lockerung der bislang engen Verbindung zur Sow-jetunion. Diese Verschlechterung wur-de sichtbar, als die Reichsregierung zwei sowjetischen Journalisten eine Zulassung als Beobachter beim Reichs-brandprozess im Leipziger Reichsge-richt verweigerte. Angesichts der schwachen sowjetischen Reaktion – ebenso bei anderen Anlässen – gewinnt der Leser der Dokumente den Ein-druck, dass für Moskau die Aufrecht-erhaltung guter sowjetisch-deutscher Beziehungen wichtiger war als für Ber-lin. So versicherte die sowjetische Seite ihren deutschen Gesprächspartnern mehrfach, dass sie zwischen der Be-kämpfung der KPD im Innern und der Einstellung zur Sowjetunion einen Un-terschied machte. Nachdem die West-mächte Deutschland eine annähernde Gleichberechtigung auf dem Rüstungs-sektor zugestanden hatten, verlor auch die Fortführung der geheimen deut-schen Aufrüstung auf sowjetischem Territorium an Bedeutung; sie wurde im Mai 1933 beendet. Die Initiative ging dabei von der Sowjetunion aus, welche diese mit ihren hohen Kosten begründete. Künftig lag der Schwer-punkt der deutsch-sowjetischen Bezie-hungen auf dem Wirtschaftssektor. Im Mittelpunkt standen die Einfuhr von sowjetischem Erdöl und Erdölproduk-ten. Deutschland exportierte dafür In-

dustriegüter, die der Modernisierung der sowjetischen Infrastruktur dienen sollten. Als Anfang 1934 die deutsche Seite auf eine Bezahlung in Dollar drang, sorgte dies für Irritationen; erst recht, als Berlin diese Regelung nach dem Verfall des Dollarkurses wieder rückgängig machen wollte. Eine erhebliche Belastung der deutsch-sowjetischen Beziehungen trat ein, als die sowjetische Seite verschiedene Plä-ne zur europäischen Sicherheit entwi-ckelte, zum Beispiel den „Baltenpakt“, der eine Nichtangriffsvereinbarung zwischen der Sowjetunion, Polen, Deutschland und den Baltischen Staa-ten vorsah. Mit noch mehr Skepsis und Aversion wurde in Berlin das zusam-men mit Frankreich im Sinne eines „Ost-Locarnos“ konzipierte Projekt eines „Ostpaktes“ betrachtet, mit dem der Versuch einer Einbindung Deutsch-lands unternommen wurde. In gewisser Weise war das vom Auswärtigen Amt vehement abgelehnte „deutsch-franzö-sische Komplott“ eine Reaktion auf die im Hugenberg-Memorandum nie-dergelegten Ziele nationalsozialisti-scher Weltpolitik. Die Forderung nach Siedlungsraum für deutsche Bauern auf dem Territorium der zur Sowjetunion gehörenden Ukraine ließ in Moskau die Alarmglocken schrillen. In der Fol-ge reduzierten sich die zwischenstaatli-chen Beziehungen auf Kultur-, Wissen-schafts- und Wirtschaftsbeziehungen. Die Lektüre der sorgfältig redigierten Dokumente (eine Ausnahme ist das Sachverzeichnis, in dem nicht alle Sei-tenzahlen korrekt sind) vermittelt ein faszinierendes Bild des allmählichen Umschwungs von engen und freund-schaftlichen Beziehungen zur ideologi-schen und politischen Entfremdung zwischen beiden Staaten. Die weiteren Bände der bis 1941 projektierten Do-

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INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN | Besprechungen

kumentenreihe dürften diesen Trend noch sichtbarer machen. Für die Ana-lyse der deutsch-sowjetischen Bezie-hungen in der Vorkriegszeit sind diese Bände jedenfalls unverzichtbar.

Helga Haftendorn

Krotz, Ulrich und Joachim Schild. Shaping Europe. France, Germany, and Embedded Bilateralism from the Elysée Treaty to Twenty-First Century Politics. Oxford. Oxford University Press 2013. 340 Seiten. 58,00 £.

Unter den Buchpublikationen, die zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages von 1963 erschienen sind, konzentriert sich die von Krotz/Schild auf die enge Verflechtung des deutsch-französischen Bilateralismus mit dem europäischen Multilateralis-mus. Mit Hilfe des von ihnen entwi-ckelten Konzepts des „embedded bila-teralism“ gehen sie der Frage nach, weshalb Deutschland und Frankreich trotz tiefgreifender sozio-politischer Unterschiede in den vergangenen fünf-zig Jahren unter sich ständig wandeln-den internen und externen Hand-lungsbedingungen im europäischen Einigungsprozess eng zusammengear-beitet haben und so diesen entschei-dend vorantreiben konnten. Die Zu-sammenarbeit beider Länder und ihre Rolle in Europa betrachten sie dabei als die beiden Seiten einer Medaille. Unter „embedded bilateralism“ verste-hen sie die bilateralen Beziehungen beider Länder in Hinblick auf den multilateralen europäischen Prozess. Entsprechend diesem Verständnis ist die Arbeit gegliedert. Nach einer aus-führlichen Erläuterung des methodo-logischen Zugangs folgt die Untersu-chung der deutsch-französischen

Beziehungen auf der zwischenstaatli-chen, der symbolischen und der gesell-schaftlichen Ebene. Daran schließt sich die Darstellung der europäischen Ko-operation beider Partner auf den Ge-bieten der Normen und Institutionen sowie zentraler Politikfelder an. Ab-schließend werden dann die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst. Eine um-fangreiche Bibliographie erleichtert die eigene Forschung. Methodologisch be-ruht die Arbeit auf einem bilateralen Ansatz. Sie begrenzt sich dabei nicht auf die zwischenstaatliche Ebene, son-dern bezieht die symbolische und ge-sellschaftliche Ebene mit ein. Dadurch unterscheidet sie sich grundlegend von den dominierenden, multilateralen in-tergouvernementalen, funktionalen oder Mehrebenen-Governance-Ansät-zen der europäischen Integrationsfor-schung. Allerdings werden diese nicht völlig ausgeklammert, sondern in die Untersuchung integriert, wenn dies den Autoren notwendig erscheint. Ausgangspunkt der Untersuchung bil-det der auf dem Elysée-Vertrag sowie auf dessen Folge- und Nebenverträgen beruhende „regularized bilateral in-tergovernmentalism“. Dieser habe sich zu einem engen Konsultations- und Ko-operationssystem entwickelt, das inner-halb der EU einzigartig sei. Beteiligten sich an den halbjährlichen Regierungs-treffen zunächst nur die Spitzenpoliti-ker beider Länder, so kooperieren heute auf der Arbeitsebene ein ganzes Heer deutscher und französischer Beamter. So war es beiden Regierungen häufig möglich, Interessengegensätze und Konflikte zu überwinden und gemein-same Haltungen in strittigen Europaf-ragen zu finden. Gestärkt worden seien die zwischenstaatlichen Beziehungen durch eine symbolische Politik, die dem beiderseitigen Verhältnis einen histori-

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schen Sinn verliehen habe. Zu ihr ge-hört zum Beispiel die gemeinsame Ge-denkfeier von Kohl und Mitterrand auf dem Schlachtfeld von Verdun. Der deutsch-französische Bilateralismus er-scheint so nicht als ein kurzfristiges Zweckbündnis, sondern als ein lang-fristig angelegtes Projekt, das Teil der jeweilige Staatsraison sei. Allerdings hätte sich das deutsch-französische Ein-vernehmen nicht über einen so langen Zeitraum trotz aller Gegensätze und Konflikte behaupten können, wenn es nicht auf einer breiten gesellschaftliche Basis beruht hätte. Diese sei vor allem durch transnationale Aktivitäten wie Wissenschafts-, Jugend- und Kulturaus-tausch, Städtepartnerschaften etc. ent-standen. Wenngleich diese weite Kreise beider Gesellschaften erfasst hätten, so sei doch der deutsch-französische. Bila-teralismus weiterhin eine Angelegenheit der Eliten geblieben. Durch ihre enge europapolitische Ko-operation vermochten Frankreich und Deutschland sowohl die Regeln, Nor-men und Institutionen der europä-ischen Konstruktion, als auch die euro-päische Politik auf wichtigen Feldern erheblich zu prägen. Ihre führende Rolle war häufig das Ergebnis von Kompromissen, die erst nach zähen Verhandlungen gefunden werden konnten, die aber auch für die übrigen Gemeinschaftsmitglieder annehmbar waren, da sie auch deren Interessen be-rücksichtigten (compromise by proxy). Allerdings war der deutsch-französi-sche Einfluss auf den einzelnen Politik-feldern sehr unterschiedlich stark aus-geprägt. Verantwortlich dafür waren vor allem variierende normativen Vor-stellungen, unterschiedliche Interessen und wechselnde Konstellationen. So vertraten zum Beispiel beide Partner zunächst völlig entgegengesetzte insti-

tutionelle Positionen: Frankreich inter-gouvernementale, die Bundesrepublik dagegen supranationale. Eine Überbrü-ckung dieses Gegensatzes wurde erst ab 1974 unter Giscard und Schmidt durch einen pragmatischen Kompro-miss möglich. Die Bundesrepublik ak-zeptierte den französischen Wunsch nach regelmäßigen Gipfeltreffen der EWG-Staats- und Regierungschefs und unterstützte damit das französische Be-streben, die zentrale Entscheidungsge-walt bei den nationalen Regierungen zu belassen, Frankreich stimmte als Gegenleistung der Direktwahl des Eu-ropäischen Parlaments zu, wodurch dessen demokratische Legitimation er-höht und damit dessen Position ge-stärkt wurde. Auch bei den weiteren institutionellen Debatten von der Ein-heitlichen Europäische Akte (1987) bis zum Vertrag von Lissabon (2009) folgte die Kompromissfindung einem ähnlichen Muster. In der Erweiterungs-politik gelang es bei den verschiedenen Erweiterungsrunden jedoch nicht, ge-meinsame Positionen zu finden. Deutschland und Frankreich traten da-her im Rat nicht als Tandem, sondern nur als einzelne Führungsmächte auf. In der Wirtschaftspolitik bestanden zu-nächst ebenfalls grundlegende Differen-zen. Dies führte Mitte der sechziger Jah-re zum Konflikt in der Agrarpolitik. De Gaulle betrachtete den gemeinsamen Agrarmarkt als ein zentrales Element der französischen EWG-Mitgliedschaft und zeigte sich deshalb in Agrarfragen kompromisslos, wenn französische Inte-ressen auf dem Spiele standen. Als die Europäische Kommission die Mehr-heitsentscheidung einführen wollte, wi-dersetzte er sich dieser im Juni 1965 mit der Politik des „leeren Stuhls“, dasheißt durch einen Boykott der Kommissions-sitzungen, um nicht überstimmt zu wer-

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den. Damit legte er die Kommissionsar-beit weitgehend lahm. Der Konflikt konnte erst durch den Luxemburger Kompromiss überwunden werden, der allen EWG-Mitgliedern und so auch Frankreich ein Veto in vitalen Fragen einräumte. Frankreich und die Bundes-republik reagierten auf die Krise, indem sie eine enge Kooperation zwischen ih-ren Agraradministrationen installierten. Strittige Agrarfragen konnten so im Vorfeld geklärt werden, ehe sie zu ei-nem Gemeinschaftsproblem wurden. Beide Partner stärken dadurch ihren Einfluss auf die Gestaltung der gemein-samen Agrarpolitik, verhinderten je-doch in der Folgezeit deren dringend notwendige Reform. Auch auf monetärem Gebiet bedurfte es langer Anstrengungen, um gemeinsame Positionen zu finden. Die Währungsuni-on war lange vor der deutschen Wieder-vereinigung geplant, wurde jedoch durch diese beschleunigt. In der interna-tionalen Finanzkrise 2008 und der an-schließenden Staatsschuldenkrise des Euroraums arbeiteten nach anfängli-chem Zögern beide Partner eng zusam-men. In außen- und sicherheitspoliti-schen Fragen konnten sie sich dagegen nur in Ausnahmefällen auf gemeinsame Positionen einigen, so im zweiten ameri-kanischen Irakkrieg. Frankreich verfolg-te auch nach de Gaulle seinen Son-derkurs innerhalb des Westens, die Bundesrepublik hielt dagegen am Pri-mat der atlantischen Beziehungen fest. Die Aufstellung der deutsch-französi-schen Brigade und des Eurocorps blie-ben daher symbolische Handlungen, die nicht zu einer gemeinsamen Sicherheits-politik im europäischen Rahmen führ-ten. Aber trotz aller Gegensätze und Konflikte, so das Fazit der Autoren, hielten beider Länder inmitten grundle-gender internationaler Veränderungen

an ihrer engen Partnerschaft fest. Diese bilde daher einer der zentralen Faktoren der europäischen Politik. Krotz und Schild bieten eine kompakte Darstellung des deutsch-französischen Bilateralismus seit 1963 und dessen prä-genden Einflusses auf den europäischen Integrationsprozess. Sie leisten damit ei-nen wichtigen Beitrag sowohl zur Erfor-schung der deutsch-franzö sischen Bezie-hungen, als auch der europäischen Integration. Durch die Einbeziehung der symbolischen und gesellschaftlichen Di-mension der deutsch-französischen Be-ziehungen in ihre Untersuchung machen sie deutlich, dass es sich bei diesen kei-neswegs nur um eine politische Veran-staltung, sondern um ein allumfassendes Projekt handelt. Überzeugend vermögen sie nachzuweisen, dass dessen Dauerhaf-tigkeit und dessen Erfolg vor allem auf der Bereitschaft und Fähigkeit beider Partner zum Kompromiss in europä-ischen Fragen beruhen. Eine nähere Er-klärung dafür geben sie jedoch nicht. Die Konzentration auf die europäische Wirkungsmacht des deutsch-französi-schen Bilateralismus blendet notgedrun-gen dessen nicht-europäischen Aspekte aus, so die Ost- und Entwicklungspoli-tik. Man sollte daher die Arbeit nicht als eine Geschichte der deutsch-französi-schen Beziehungen seit Abschluss des Elysée-Vertrages missverstehen.

Roland Höhne

Wolff, Jonas / Spanger, Hans-Joachim und Hans-Jürgen Puhle (Hrsg.). Zwischen Normen und Interessen. Demokratieförderung als internationa-le Politik. Baden-Baden. Nomos 2012. 345 Seiten. 59,00 €.

Das Spannungsfeld zwischen den nor-mativen Zielen der Außenpolitik de-

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PVS-Literatur

mokratischer Staaten und deren Abwä-gungen gegenüber anderen, „harten“, Interessen in einem anarchischen Staa-tensystem ist für die Politik ein wieder-kehrendes Problem. Auch für die For-schung ist dies längst keine neue Frage mehr, wenngleich sie keineswegs an Relevanz verloren hat. Mit der wach-senden Institutionalisierung und Be-deutung der Demokratieförderung als Teil westlicher Außen- und Entwick-lungspolitik hat dieses spezifische Un-tersuchungsfeld weiter an Brisanz ge-wonnen. Denn zum einen kann Demokratisierung – vor allem kurz-fristig – vermeintlich pragmatischen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen entgegenlaufen, während eine so kon-krete öffentliche Zielsetzung auch Er-wartungen gegenüber Regierungen demokratischer Staaten sowohl inner-halb als auch außerhalb ihrer Grenzen schafft. Wie ernst ist es also Demokra-tieförderern mit ihrem Projekt, wenn dieses im Konflikt mit anderen Zielen steht?Der vorliegende Sammelband, Ergebnis einer Kooperation zwischen der Hessi-schen Stiftung Friedens- und Konflikt-forschung und des Politikwissenschaft-lichen Instituts der Goethe-Universität Frankfurt, geht unter anderem dieser Frage nach. Insgesamt geht es den Au-toren darum, den Motiven demokratie-fördernder Akteure – hier die USA und Deutschland als Nationalstaaten –, ih-ren konkreten Handlungen und den Bestimmungsfaktoren für gewählte Art der Demokratieförderung auf den Grund zu gehen. Dass Letztere im Zweifel harten Interessen im Wege steht und ihnen Platz machen muss, ist für Jonas Wolff „fast schon eine Bin-senweisheit“ (324). Während deren partielle Bestätigung zu den Haupter-gebnissen auch dieser Studie gehört,

erweitert das Buch diesen Befund je-doch um wertvolle Nuancen. In den drei Kapiteln des ersten Teils setzen Jonas Wolff, Hans-Joachim Spanger, Annika E. Poppe, Bentje Woitschach und Daniel Schewe die Parameter der theoriegeleiteten, kom-parativen Studie, die einen eklektizisti-schen Ansatz verfolgt. Ziel ist nicht die „Etablierung schlanker Theorien mit umfassendem Erklärungsanspruch, sondern die Entwicklung komplexer kausaler Erklärungen“ (29). Die Auto-ren nehmen an, dass die Ergebnisse am aussagekräftigsten sind, wenn konkrete Zielkonflikte die Demokratieförderer zur Abwägung zwischen ihren norma-tiven Präferenzen und pragmatischen Interessen zwingen. Über die offen-sichtlichen Konflikte mit Eigeninteres-sen der „Geber“-Länder („extrinsische Zielkonflikte“) hinaus untersuchen die Autoren sinnvoll auch „intrinsische Zielkonflikte“, wo also Subziele der Demokratieförderung konkurrieren; zum Beispiel politische Stabilität oder die Aufrechterhaltung liberaler Grund-rechte, mit dem Anspruch, ein politi-sches System der Volkssouveränität zu fördern. Von den USA und Deutsch-land mit ihren stark differierenden außen- und demokratiepolitischen Traditionen werden entsprechend un-terschiedliche Ansätze und Verhaltens-weisen erwartet. Dem politisch-zurück-haltenden Stil der „Zivilmacht“ Deutschlands, der auf Einbindung und graduelle Entwicklung setzt, steht dem-nach ein politisch-offensiver Stil des „Freiheitskämpfers“ USA gegenüber, der die Ziele der Demokratieförderung von Anfang in die Nähe „harter“ Si-cherheits- und Wirtschaftsinteressen rückt. Sechs Bestimmungsfaktoren werden theoretisch hergeleitet: Relati-ve Macht, Sicherheits-, Wirtschafts-

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INTERNATIONALE BEZIEHUNGEN | Besprechungen

und Partikularinteressen sowie die po-litische Kultur des „Geber“-Landes und gemeinsame internationale Nor-men mit dem „Nehmer“-Land. Für die Fallstudien des zweiten Teils wurden sechs Zielländer mit unter-schiedlichen innen- und außenpoliti-schen Profilen gewählt, die Demokra-tieförderer mit einer ganzen Reihe von typischen, also auch anderswo zu er-wartenden Zielkonflikten konfrontie-ren. Es werden empirisch gründlich und theoretisch fundiert die Reaktio-nen der USA und Deutschlands auf ver-schiedene Dynamiken untersucht, bei-spielsweise auf die durch Wahlen initiierte Abkehr von liberal-demokrati-schen Prinzipien (Bolivien, Ecuador, Türkei), auf politische Repression bei alliierten Kooperationspartnern in Si-cherheitsfragen (Türkei, Pakistan, Russ-land), bis hin zum Verhalten gegenüber geopolitisch und ideologisch gegensätz-lichen Regimen (Belarus, Russland). In klar strukturierter und verständlicher Form gelingt den Autoren hier Schwie-riges. Schließlich wäre die Untersu-chung jedes einzelnen der sechs Bestim-mungsfaktoren in jedem einzelnen der zwölf Staatenpaare der Buchform wür-dig. In den sechs empirischen Kapiteln geben sie je präzise Auskunft über die Transformationsprozesse der sechs „Nehmer“-Länder, über das Profil au-ßenpolitischer Beziehungen mit den „Geber“-Ländern, über deren Demo-kratieförderpolitik und Perzeption der „Nehmer“-Seite sowie über die demo-kratiepolitischen Reaktionen der USA und Deutschlands. Wie schon die weit gefasste Konzepti-on von Demokratieförderung, die im ersten Teil des Buches eingeführt wird, erahnen lässt, kann dieser Politikbe-reich im Ergebnis „nicht in dichoto-men (Demokratieförderung: Ja/Nein)

oder linearen (mehr oder weniger De-mokratieförderung) Skalen“ abgebildet werden (298). Schließlich erstreckt er sich über die Felder internationale Be-obachtung (zum Beispiel von Wahlen), Entwicklungspolitik, Diplomatie, inter-nationale Kooperation bis hin zum Mi-litäreinsatz (37). Die intensive Diskus-sion der Fallstudien bietet daher eine angemessene und zugleich informative Form der Analyse der komplexen Ma-terie. Deren Ergebnisse werden im dritten Teil von Jonas Wolff kompetent zu-sammengefasst, analysiert und theore-tisch eingeordnet. Dabei steht der selbst unter der Bush Jr.-Administrati-on begrenzte Wille der USA, ihre politi-sche Macht über rhetorische Unterstüt-zung hinaus für normative Zwecke einzusetzen, für den weitgehend prag-matisch-zurückhaltenden Ansatz bei-der Länder. Dass beide Länder in extrinsischen Zielkonflikten außenpoli-tische Interessen privilegieren, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Regierungen selbst dann dem demokratischen Diskurs Rechnung tra-gen und versuchen, „ihre Politik auch als normativ angemessen darzustellen“ (296). Darüber hinaus wird „Realpoli-tik“ auch durch innenpolitischen Druck erschwert. Die USA und Deutschland zeigen sich kooperativer mit demokratisch legitimierten, wenn-gleich unbequemen, Regierungen. Letz-teres spiegelt sich unter anderem im relativ entgegenkommenden Verhalten bei intrinsischen Zielkonflikten wider. Dies ist denn auch Teil des vielleicht überraschendsten Ergebnisses bei den sechs Bestimmungsfaktoren. Selbst ein hohes Machtgefälle zwischen „Geber“- und „Nehmer“-Land auf der interna-tionalen Ebene hat erstaunlich wenig Einfluss auf die Fähigkeit der Demo-

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PVS-Literatur

kratieförderer, lokale Geschehnisse ef-fektiv zu beeinflussen. Auch spielen ge-meinsame Normen in den bilateralen Beziehungen eine recht geringe Rolle.Insgesamt zeigt der Band, dass die Ab-wägungen innerhalb der Demokratie-förderung aus wesentlich komplexeren Prozessen bestehen als nur aus einer Abwägung zwischen Normen und In-teressen. Der relative Einfluss der ver-schiedenen Bestimmungsfaktoren ist an vielen Stellen des Buches festgestellt worden und spiegelt so auch deren zu-tiefst politische Natur wider. Das Buch liefert damit einen interessanten Bei-trag zur Debatte um Quellen und Ziele der Demokratieförderung. Eingebettet in einen durchdachten theoretischen Rahmen bieten die empirischen Analy-sen darüber hinaus eine wertvolle Quelle für Leser, die mehr über die Strategien und Vorgehensweisen der USA und Deutschlands in diesem wich-tigen Feld erfahren möchten.

Fabian Stroetges

EUROPÄISCHE INTEGRATION

Loth, Winfried, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt/Main. Campus Verlag 2014. 512 Seiten. 39,90 €.

Seit Jahrzehnten ist auf einen Historiker Verlass, wenn es um grundsolide, kennt-nisreiche, aus den Quellen und einem weitgespannten Fundus von Sekundärli-teratur erarbeitete Beiträge zur Darstel-lung des Weges der europäischen Eini-gung geht. Mit der respektgebietenden Kombination von aufgeklärter Sachlich-keit und nie versiegender Empathie be-gleitet Wilfried Loth Weg und Werk der

europäischen Einigungsgeschichte. Nun legt er gleichsam eine Bilanz seiner bis-herigen zeitgeschichtlichen Arbeiten und Quelleneditionen vor, die doch zu-gleich wieder nur eine „unvollendete Geschichte“ sein kann, sein soll und sein will. Denn geradezu im Mo-natstempo, so haben uns die letzten Kri-senjahre gelehrt, geht der Weg Europas weiter – mal sich im Kreise drehend, mal voranschreitend, mal vertiefend, mal zu tiefer Sorge Anlass gebend. In diesem Feld emotional aufgeladener Unsicherheiten ist allein auf eine Sicht der Dinge Verlass: die historische Ein-ordnung des Weges, der sich in der Eu-ropäischen Union – um Antonio Machado zu zitieren, einen der klügsten spanischen Lyriker des 20.Jahrhunderts – beim Gehen macht. Wilfried Loths neues Buch hilft dabei und gehört in jede anständige Bibliothek. Unmittelbar eindrucksvoll ist der „Pro-log“, den Loth pointiert mit „Chur-chills Kongress“ überschreibt und bei dem es um den Haager Europakon-gress des Jahres 1948 geht. Wie in ei-nem Brennglas, so stellt Loth es dar, bündelten sich in der Vorbereitung, während der Durchführung und in der Nacharbeit zu diesem ersten großen Europakongress nach dem Zweiten Weltkrieg die ganz unterschiedlichen Sichtweisen, Charaktere und Ziel-setzungen hinsichtlich der weiteren Möglichkeiten und faktischen Wei-chenstellungen in und für ein sich ver-einigendes Europa. Loth bleibt seiner wohl bekannten, in diversen Studien zum Kalten Krieg variierten Linie treu, dass es in besonderer Weise um Europa als „dritte Kraft“ zwischen den USA und der Sowjetunion ging und seine Sympathie für die sozialdemokrati-schen Europakonzeptionen auch jener frühen Jahre ist spürbar. Dies so zu

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EUROPÄISCHE INTEGRATION | Besprechungen

nennen wie es ist, ist zugleich ein Argu-ment für den Wert von „mehr Ge-schichte“, die uns immer wieder neue Zugriffe auf bekanntes Faktenwissen eröffnet; denn alle Geschichten, ein-schließlich derjenigen der europäischen Einigung, sind Darstellungen und Deu-tungen aus der Feder engagierter und mithin subjektiv positionierter Auto-ren. Loths Stimme ist gewichtig in die-sem Chor, der unterdessen viele euro-päische Solisten kennt und künftig im Zusammenhang mit der Eröffnung des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel eine ganz eigentümliche Ver-lebendigung erster Ordnung erfahren wird. Dessen spiritus rector, der frühe-re christdemokratische Präsident des Europäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, hat übrigens mit seinen 2014 erschienenen Erinnerungen eine weitere Quelle für künftige europäi-sche Zeitgeschichtsforschung vorge-legt, die es nicht mehr geschafft hat, in Loths monumentalem Werk Eingang zu finden. Winfried Loth führt seine Leser durch die zentralen Phasen der bisherigen eu-ropäischen Einigungsgeschichte, so wie er sie tituliert: Gründerjahre 1948-1957; Aufbaujahre 1958-1963; Krisen der Sechsergemeinschaft 1963-1969; Erweiterung und neue Perspektiven 1969-1975; Jahre der Konsolidierung 1976-1984; Jahre des Ausbaus 1984-1992; Von Maastricht nach Nizza 1992-2001; Verfassungsstreit und „Eu-ro-Krise“ 2001-2012. Quellengestützt und wohlbelesen, auf Basis einer impo-santen Kenntnis aller Fakten und vieler noch so kleiner Details, wird der Weg rekonstruiert, den Europa bisher zu-rückgelegt hat. Loth ist nicht nur Er-zähler, sondern auch Analytiker. Er dringt hinein in den thematischen Grund der unendlichen Vielzahl von

Fragen, denen die politischen Akteure Europas sich seit Beginn der Euro-päischen Wirtschaftsgemeinschaft ge-genüber gesehen haben. Wer die Einzelheiten jeder nur denkbaren euro-papolitischen Wendung dieser Jahr-zehnte haarklein nacherzählt haben möchte, kann an einer Lektüre von Loths Buch nicht vorbeigehen. Er wird optimal bedient, so wie im deutsch-sprachigen Raum nur noch mit den einführenden Überblickdarstellun-gen des Hildesheimer Zeithistorikers Michael Gehler. Mit ihm hat Winfried Loth die Liebe zum akribischen Detail gemeinsam, die immer wieder neue Ge-schichten zur gelebten und aufgehobe-nen Geschichte werden lässt.Wie sehr dieses zum Zweck der Selbst-vergewisserung in stets neuen Anläufen nötig ist, kann jeder Student der Euro-päischen Union erfahren, der versucht, sich durch die auf Bibliotheksstärke angewachsene politikwissenschaftliche Literatur zum europäischen Einigungs-prozess und seinen vielen Einzelaspek-ten zu wühlen. Wo soll man anfangen, wo aufhören? Bei der Integrationstheo-rie, bei den akteurszentrierten Politik-feldanalysen oder bei systematischen Strukturanalysen zur Europäischen Union und ihren Wirkungen? Bei so-ziologischen Studien über das Problem der Legitimität oder der europäischen Öffentlichkeit, bei rechtswissenschaftli-chen Arbeiten zur europäischen Regu-lierung, bei wirtschaftswissenschaftli-chen Beiträgen zur Deutung von Binnenmarkt und Eurozone oder bei kulturwissenschaftlich angelegten Stu-dien zur europäischen Identität – in-mitten der seit einer guten Reihe von Jahren zu beobachtenden Neubegrün-dung des Einigungsprozesses im Zeital-ter der Globalisierung ist es schwer, Überblick und Übersicht zu bewahren.

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PVS-Literatur

Kaum eines der vielen auf den Bil-dungsmarkt drängenden Bücher kann angesichts dieser Umstände allein die ganze Komplexität des europäischen Einigungsprozesses erfassen. Es ist das Verdienst der neuen Veröffentlichung von Winfried Loth, eine Brücke über all jene Flüsse und Bäche (gelegentlich ist es auch nur ein Rinnsal) zu span-nen, aus denen unterdessen die europa-wissenschaftliche Literatur anschwillt zu einem großen, aber oft undurch-dringlichen Literatur-See.Erfreulich ist die durchgängig „europä-ische“ Sicht der Studie. Nicht immer frei von soupcons bleiben die Einlas-sungen Loths zum europäisch-ameri-kanischen Verhältnis. Dabei gehört die amerikanische Unterstützung zum Gründungprozess der EWG ebenso wie der Beitrag der USA zur Befreiung Europas von Hitlers Barbarei. Und das nächste Kapitel der europäischen Eini-gung dürfte die Frage nach der Zu-kunftsfähigkeit der Atlantischen Zivili-sation, von der die EU die eine Säule ist, auf ganz neue Weise behandeln: TTIP-Verhandlungen im Schatten des Putinismus – so könnte schon bald ein weiteres Kapitel in einer wünschens-werten erweiterten Neuauflage von Wilfrieds Loths Meisterwerk über-schrieben sein.

Ludger Kühnhardt

POLITISCHE BILDUNG

Fritz Borinski: The German Volkshoch-schule. An Experiment in Democratic Adult Education under the Weimar Republic. Herausgegeben, eingeleitet und mit Annotationen und einem prosopographischen Anhang versehen

von Martha Friedenthal-Haase, (Beiträge zur internationalen, interkul-turellen und historischen Erwachse-nenbildung) Bad Heilbronn: Julius Klinkhardt 2014, 285 S., 18,90 €.

Die Gründungsphase unseres Faches nach 1945 zeichnete sich durch eine vielfältige Verbindung zwischen der akademischen Wissenschaft von der Politik und der praktischen politischen Bildungsarbeit aus. Ganz allgemein verstand sich das Fach als eine Demo-kratiewissenschaft, die sich durch ihren zentralen Beitrag zum Aufbau einer staatsbürgerlichen Kultur im neuen Deutschland legitimierte. Im Besonde-ren fanden viele Studierenden der Poli-tikwissenschaft ihren Beruf in der Er-wachsenenbildung. Das trifft vor allem auf die Absolventen der Westberliner Deutschen Hochschule für Politik und ihrer Nachfolgeinstitution an der Frei-en Universität, des Otto-Suhr-Instituts, zu. Und schließlich verdankte die junge Disziplin ihre spektakuläre Expansion und dauerhafte Etablierung der Veran-kerung in der Lehrerausbildung für das neue Schulfach der Gemeinschafts- oder Sozialkunde, das ab dem Ende der 1950er Jahre an den bundesdeut-schen Schulen eingeführt wurde.Diese Symbiose von Politikwissen-schaft und politischer Bildung, insbe-sondere der Erwachsenenbildung, hat schon Hermann Heller verkörpert, eine zentrale, wenn auch zu früh (1933) verstorbene Gründungsfigur der bun-desdeutschen Politikwissenschaft. Die-ser prominente sozialdemokratische Staatsrechtslehrer der Weimarer Repu-blik hatte in seinen letzten Lebensjah-ren eine „Staatslehre“ verfasst, die nach ihrer posthumen Publikation im Jahr 1935 und zahlreichen Neuaufla-gen in der jungen Bundesrepublik zum

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POLITISCHE BILDUNG | Besprechungen

programmatischen Grundlagenwerk der deutschen Politikwissenschaft wur-de. Gleichzeitig war Heller, vor allem während seiner Zeit Anfang der 1920er Jahre an der Leipziger Univer-sität, Protagonist der demokratischen Volkshochschulbewegung und insbe-sondere der Bemühungen auf dem Ge-biet der Arbeiterbildung.Wie kein anderer hat der Heller-Schü-ler Fritz Borinski (1903-1988) diese Verknüpfung von akademischem Fach und politischer Bildungsarbeit reprä-sentiert. Dieser protestantische Spross aus einer Familie des assimilierten Ber-liner Judentums hat sein juristisches Hauptstudium 1927 mit einer Disser-tation über „Joseph Görres und die deutsche Parteienbildung“ abgeschlos-sen, nach heutigen Kriterien eine poli-tikwissenschaftliche Arbeit. Schon während des Studiums fand Borinski seinen Beruf in der Erwachsenbildung, übernahm schließlich 1931 als Assis-tent des Philosophen und Pädagogen Theodor Litt die Leitung des „Semi-nars für freies Volksbildungswesen“ an der Leipziger Universität. 1934 aus dieser Stellung aus politischen und ras-sistischen Gründen entlassen, emigrier-te Borinski nach England. Auf Ermunterung des an der London School of Economics lehrenden Soziolo-gen Karl Mannheim verfasste Borinski 1944/45 ein Manuskript über die deut-sche Volkshochschulbewegung in der Weimarer Republik, ihre historische Entwicklung, ihre gesellschaftlichen, po-litischen und pädagogischen Herausfor-derungen und nicht zuletzt über die Lehren für den Aufbau einer zweiten, stabileren deutschen Demokratie. Die-ser Text ist nun nach langen Jahrzehn-ten von Martha Friedenthal-Haase, ei-ner emeritierten Jenenser Professorin der Erwachsenenbildung, veröffentlicht

worden. Er ist ein weiteres überzeugen-des Beispiel dafür, dass die in der Zeit der Emigration verfassten Texte eine geistige Brücke zwischen der ersten und der zweiten deutschen Demokratie bil-den – eine Einsicht, die in unserem Fach bereits durch die Arbeiten von Alfons Söllner eröffnet worden ist.Im Mittelpunkt des Buches steht die Darstellung der Organisation, der In-halte und der Probleme der unter-schiedlichen Institutionen der Volks-hochschulbewegung zur Zeit der Weimarer Republik, mit den Abend-volkshochschulen und den Heimvolks-hochschulen an der Spitze. Es wird deutlich, dass die Initiativen zu dieser Bewegung nach dem Ersten Weltkrieg von den Bemühungen zu einer Demo-kratiereform ausgingen, darin nicht un-ähnlich dem zeitgeschichtlichen Hinter-grund der 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Politik. Auf der ande-ren Seite führte die 1929 einsetzende wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Krise der Weimarer Demo-kratie auch zum Untergang der freien Volkshochschulbewegung.Doch Borinski beließ es nicht bei die-sem vom persönlichen Miterleben ge-prägten historischen Bericht, er formu-lierte in seinem abschließenden Kapitel auch die Zukunftsaufgaben der Volks-hochschulbewegung und allgemein der politischen Bildungsarbeit beim zwei-ten Anlauf einer Demokratiegründung in Deutschland, der aus dem Scheitern des ersten Versuchs lernen konnte. Dazu gehörte für ihn an erster Stelle die Einsicht, dass eine demokratische Ordnung sich nicht auf die formalen Strukturen der staatlichen Ordnung beschränken soll, sondern auf einer politische Kultur der staatsbürgerli-chen Verantwortung und einer Gesell-

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PVS-Literatur

schaftspolitik der „integralen Demo-kratie“ aufzubauen hat.Fritz Borinski hat dieses in seiner Exil-zeit entwickelte Programm eines Neu-anfangs der politischen Bildung nach seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1947 persönlich umgesetzt. Er war zunächst Leiter einer niedersächsischen Heimvolkshochschule und dann der großen Bremer Volkshochschule. Nach-dem er 1954 in einem programmati-schen Buch über den „Weg zum Mit-bürger“ die „politische Aufgabe der freien Erwachsenenbildung in Deutsch-land“ – so der Untertitel – konzipiert hatte, wurde Borinski zwei Jahre später auf einen Lehrstuhl an der Freien Uni-versität in Berlin berufen. Dort hat er in den 15 Jahren bis zu seiner Emeritie-rung nicht nur das pädagogische Teilge-biet der Erwachsenenbildung in Lehre und Forschung aufgebaut, sondern ein ganzes Spektrum von Initiativen zur politischen Bildungsarbeit der Universi-tät entwickelt, oft in Kooperation mit Professorenkollegen am Otto-Suhr- Institut, noch mehr unter Einbeziehung von jungen Studenten und Doktoran-den der Politikwissenschaft wie dem Verfasser dieser Rezension.Die durch die Studentenbewegung aus-gelöste Vertrauenskrise hat auch die Arbeit dieses Pioniers der deutschen Erwachsenenbildung in Mitleiden-schaft gezogen. Doch seine Maxime, dass eine stabile Demokratie die politi-sche Bildungsarbeit benötige wie um-gekehrt eine staatsbürgerliche Erzie-hung nur in der Demokratie möglich sei, gilt auch heute noch. Umso bedau-erlicher erscheint es, dass heute in der deutschen Politikwissenschaft deren Verbindungen zu Praxis und Theorie der politischen Bildung, von Ausnah-men angesehen, weitgehend verblasst sind. Die Lektüre dieser von der Her-

ausgeberin hervorragend edierten Exil-schrift aus dem Jahre 1944/45 ist wie-der einmal ein Beispiel dafür, welche Schätze noch für unsere Gegenwarts-bestimmung und Zukunftsorientierung aus der Vergangenheit zu heben sind.

Wilhelm Bleek

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AUTORENVERZEICHNIS

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AUTORENVERZEICHNIS

Bleek, Wilhelm, em. Prof. Dr., 136 Centre Street West, Richmond Hill, L4C3P7 Kanada.

Haftendorn, Helga, em. Prof. Dr., Arbeitsstelle Transnationale Außen- und Sicher-heitspolitik, Freie Universität Berlin, Ihnestr. 22, 14195 Berlin.

Hennig, Eike, em. Prof. Dr., Universität des 3. Lebensalters, Universität Frankfurt, [email protected].

Höhne, Roland, em. Prof. Dr., Am Vogelsang 3, 34305 Niedenstein, ro-hoehne@ t-online.de.

Kemmerling, Achim, Associate Professor, Departmen of Public Policy, CEU Buda-pest, Nador Utca 9, 1077 Budapest, Ungarn, [email protected].

Klauke, Sebastian, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Institut für Sozial-wissenschaften – Arbeitsbereich für Internationale Politische Soziologie, [email protected]

Koß, Michael, Dr., Ludwig-Maximilians-University München, Geschwister-Scholl-Institut, Oettingenstr. 67, 80538 München, [email protected].

Kühnhardt, Ludger, Prof. Dr., Direktor am Zentrum für Europäische Integra-tionsforschung (ZEI) und Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn, [email protected]

Steinhilper, Elias, Universität Freiburg, Seminar für Wissenschaftliche Politik, Rempartstr. 15, 79085 Freiburg, [email protected].

Stroetges, Fabian, Durham University, School of Government and International Affairs, The Al-Qasimi Building, Elvet Hill Road, Durham DH1 3TU, Groß-britannien, [email protected].