ABSCHIED UND ANKUNFT. Zur Wirklichkeitskonstruktion in Wolfgang Hildesheimers "Tynset" und...

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ABSCHIED UND ANKUNFT. Zur Wirklichkeitskonstruktion in Wolfgang Hildesheimers Tynset und Masante. Hausarbeit zur Erlangung des Magistergrades (M.A.) am Fachbereich Historisch-Philologische Wissenschaften der Universität Göttingen vorgelegt von Annette Bächstädt. Göttingen, Juni 1994. 1

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ABSCHIED UND ANKUNFT.

Zur Wirklichkeitskonstruktion inWolfgang Hildesheimers Tynset und Masante.

Hausarbeitzur Erlangung des Magistergrades (M.A.)

am FachbereichHistorisch-Philologische Wissenschaften der

Universität Göttingen

vorgelegtvon

Annette Bächstädt.

Göttingen, Juni 1994.

1

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 1 -

3

I. ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND MÖGLICHKEIT

I.1. Die erfundene Wirklichkeit 5 -

9

I.2. Hildesheimers Ich-Erzähler 10 -

23

I.2.1 Das Ich als Möglichkeit 14 -

16

I.2.2. Das Ich als Erzählfunktion 17 -

20

I.2.3. Abschied vom Ich 21 -

23

II. WIRKLICHKEITSKONSTRUKTIONEN

II.1. Abschied und Ankunft 26 -

32

II.2. Monolog - Sprachwelten 33 -

50

II.2.1. Die Sprachwelt in "Tynset" und

"Masante" 35 -

37

II.2.2. Denken als Selbstgespräch - "laute

Gedanken" 38 -

40

2

II.2.3. Fragen und Schweigen 41 -

44

II.2.4. Sprache als Wirklichkeitskonstruktion

45 -

50

II.3. Collagen und Bilder 51 -

71

II.3.1. Collagetechnik - Konstruktion und

Destruktion 54 -

60

II.3.2. Der Blick und die Bilder 61 -

71

3.2. a. Sichtbarmachen - die Gleichzeitigkeit

im Bild 64 -

66

3.2. b. Sehen lernen 67 -

71

III. ABSCHIEDE - SCHEITERN UND ENDEN

III.1. Das Altern - Abschied von der Wirklichkeit

74 -

79

III.2. Leicht-werden - Abschied von den Bildern

80 -

83

III.3. Das Scheitern - "Mißlingen als Form" 84 -

87

3

IV. DAS ENDE DER FIKTIONEN 88 -

95

IV.1. "Das Ende der Fiktionen" 90 -

93

IV.2. Das Ende im Anfang 94 -

95

LITERATURVERZEICHNIS

1. Wolfgang Hildesheimers Werke 96

2. Interviews und Gespräche mit Wolfgang Hildesheimer 97

3. Rezensionen 97

4. Sekundärliteratur zu Wolfgang Hildesheimer 98 - 100

5. Allgemeine Literatur 101 - 105

ERKLÄRUNG

Hiermit versichere ich eidesstattlich, daß ich dieHausarbeit selbständig verfaßt und keine anderen Quellen und Hilfsmittel als die angegebenen

4

benutzt habe. Ich versichere, daß ich alle wörtlich oder sinngemäß den Schriften anderer entnommenen Stellen unter Angabe der Quellen kenntlich gemacht habe.

DANK

Ich danke Dr. Volker Jehle für seine freundliche Unterstützung bei der Materialsammlung für meine Magisterarbeit in dem von ihm betreuten Hildesheimer-Archiv in Reutlingen. Außerdem danke ich Dr. Mathias Baum und ganz besonders Romana Weiershausen für das Lesen dieser Arbeit.

"Heute weiß ich natürlich, [...] daß »Schriftsteller« überhaupt

kein Beruf ist, sondern lebensfüllendeSelbstdokumentation

und immer wiederkehrender Ausdrucks- undDarstellungszwang,

also Beschäftigungstherapie."Wolfgang Hildesheimer

"Die Kunst, gegen die Tatsachen zu existieren,sagt Oehler,

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ist die Kunst, die die schwierigste ist. Gegendie Tatsachen existieren, heißt, gegen dasUnerträgliche und gegen das Entsetzliche

existieren, sagt Oehler."Thomas Bernhard, Gehen.

"Ich sage: „Ich sehe den Mond.“ Die„Wissenden“ sagen: »Da ist der Mond.« Was istnun, wenn's eine ferne Laterne ist, die durchden Wald leuchtet WIE der Mond? Tja, dann habeICH mich geirrt. Die ICH-Vermeider bastelndagegen heimlich an der Möglichkeit, daß

der Mond sich geirrt haben könnte."Horst Janssen

EINLEITUNG

"Ich verunsichere mich immer wieder aufs neue,und damit verunsichere ich andere,

in gezielter Absicht, aber nur leicht."Wolfgang Hildesheimer

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Wolfgang Hildesheimers Prosamonologe1 "Tynset" (1965) und "Masante" (1973) sind Text-Collagen, die Imagination und Wirklichkeit vereinen. Seine Prosamonologe, über die der Autor sagt: "Ich betrachte heute "Tynset" und "Masante" eigentlich alseine Art Geständnis, als Bekennungsliteratur",2 sind jedoch nicht nur Ausdruck eines von der Wirklichkeit irritierten Ich-Erzählers, der ihr durch Erfindung einer neuen Wirklichkeit zu entkommen versucht. "Tynset" und "Masante" sind auch Zeugnisse einer aktiven Phantasie und eines Spiels mit der Sprache als Material für Wirklichkeitskonstruktionen. Der Klang der Worte wie "Tynset" und "Meona", die suggestiven Namen der erfundenen Figuren - besonders die Namen der Nazimörder -, die Gegenstände der Wirklichkeit, sogar die Figur des Ich-Erzählers, das alles wird Hildesheimer zum Spielmaterial. Wirklichkeit und Sprache liefern die Materialien, dieseinem Ich-Erzähler der Prosamonologe zum Spiel mit ihren künstlerischen Möglichkeiten werden:

"Hier sind sie, meine Karten, meine Namen. Ein Stoß, den ich wohl kaum noch verteilen werde, die Sammlung um einiges reduziert: ich habe auf der Reise hierher großzügig ausgestreut und damit versucht, Fäden zwischen Unbekannten zu spinnen; ein Gewebe von Ahnungen, deren Zeuge ich natürlich nicht werden konnte. Meist fallen die Namen ja auch nicht an Leute, die sich von meinem Spiel anstecken lassen. Die letzten liegen nun hier. Ich könnte sie nach einem System einordnen, aber nach welchem? Ich könntesie auch im Wind entflattern lassen, eine wirbelnde Handvoll Namen, Schicksale, zum großen Teil wohl erfüllt, oder vielmehr vorbei." (MAS 145)3

1 Zum Begriff "Prosamonologe" vgl. Kapitel II.2. dieser Arbeit. 2 W.Hildesheimer, Ich werde nun schweigen. Gespräch mit H.H.Hillrichs. Hg. Ingo Hermann. Göttingen 1993, S.79.

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Hier eröffnet sich der Blick auf Hildesheimers literarische Technik. Der Ich-Erzähler aus "Masante",der Visitenkarten sammelt, die Fremde ihm geben, und willkürlich wieder an andere Fremde verteilt, »fälscht« die Wirklichkeit und verwandelt in seiner Phantasie ihre Requisiten in Bausteine einer neuen, fingierten Wirklichkeit. Dort liegt die Verwandtschaft dieses Ich-Erzählers zu seinem Autor. Hildesheimers Wirklichkeitskonstruktionen "Tynset" und "Masante" vereinen in einem Entwurf Wirklichkeit und Möglichkeit.Hildesheimer hat in seinem Ich-Erzähler der Prosamonologe die "visuelle Deutung" (MAR 203)4 der Wirklichkeit in Worte gefaßt. Seine Phantasie ist Vorstellungs-, nicht Einbildungskraft, seine Wirklichkeitskonstruktion ist Wahrnehmungskonstruktion. Die Phantasie des Ich-Erzählers projiziert im Inneren gebildete Bilder nachaußen, er stellt sie sich vor, stellt sie vor sich, schweift ab in die Bereiche der Wahrnehmung, in Assoziationen, die von Gegenständen ausgehen, er weicht aus in ein Spiel mit dem Gegebenen.

"Tynset" und "Masante" entstammen, so Volker Jehle, "demselben Komplex, derselben Stoffsammlung, haben denselben Reflekteur als Ich-Erzähler und umkreisen dasselbe Thema in derselben sprachlich glänzenden Reflektierhaltung, allerdings in unterschiedlicher

3 Hildesheimers Texte "Tynset" und "Masante" werden zitiert nach den Taschenbuch-Einzelausgabenim Suhrkamp-Verlag als TYN ="Tynset" (1992) und MAS = "Masante" (1988). In der Gesamtausgabe sind sie in Bd.II "Monologische Prosa" vereinigt. Siehedazu das Literaturverzeichnis am Ende dieser Arbeit.4 MAR 203 = Wolfgang Hildesheimer, Marbot. Eine Biographie. Frankfurt 1984, S.203. "Marbot" ist zuerst 1981 erschienen.

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Ausarbeitung."5 Dafür spricht die Technik des "Zettelkastens",6 in dem Hildesheimer Gedanken und Ideen sammelt und aus dem er seit Anfang der 60er Jahre auch Stoff für seine Prosa bezieht. Der entstehungsgeschichtliche Zusammenhang von "Tynset" und "Masante" ist also formal durch jene beiden Werken eigene Technik gegeben.7 1965 erscheint "Tynset", Teile dieses Buches sind in vier Vorabdrucken ab 1963 präsent. In dieser Zeit entstehen auch die thematisch verwandten Hörspiele "Monolog" (1964) und "Es ist alles entdeckt" (1965).8 Eine erste Fassung von "Masante" ist erstmals 1968 unter dem Titel "Meona" nachweisbar9, die bereits 1969erscheinen sollte. Aus diesem Textkonvolut wurden vor der endgültigen Veröffentlichung von "Masante" jene Fragmente herausgelöst, die 1971 unter dem Titel"Zeiten in Cornwall" erscheinen. Die Ursprünge der Prosamonologe "Tynset" und "Masante" und des

5 Volker Jehle, Wolfgang Hildesheimer Werkgeschichte. Frankfurt 1990, S.107.6 W.Hildesheimer, Vorwort, S.10. In: W.Hildesheimer, Nachlese. Frankfurt 1987, S.7-11.7 Zur Literatur über "Tynset" und "Masante" bis 1984 siehe Volker Jehle, Wolfgang Hildesheimer. Eine Bibliographie. Frankfurt 1984, S.172-190. Ausführlich und kommentierend zur bis 1993 erschienenen Literatur zu "Tynset" und "Masante" Patricia Haas Stanley, Wolfgang Hildesheimer and his critics. Columbia 1993, S.18-43.8 z Ausführlich zur Entstehungsgeschichte von "Tynset" und "Masante" Volker Jehle, Wolfgang Hildesheimer Werkgeschichte. Frankfurt 1990, S.601, Anm.62 und S.321.9 Volker Jehle, W.Hildesheimer Werkgeschichte, a.a.O., S.601, Anm.61; S.109; S.117 und S.321. Siehe auch Heinz Puknus, W.Hildesheimer. München 1978, S.98 f. Dort S.98: "Schon 1967 erwähnte Hildesheimer in einem Gespräch mit Geno Hartlaub sein »nächstes« Buch, das »Tynset« auf seine Weisefortsetzen sollte."

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autobiographischen Textes "Zeiten in Cornwall" liegendamit alle in Hildesheimers Schaffensperiode der 60erJahre. Vielseitigkeit kennzeichnet Hildesheimers literarisches Schaffen. Sein schriftstellerisches Werk ist weitgespannt und umfaßt Prosa, Hörspiele, Theaterstücke, Gedichte, Biographie, Essays, Reden und Rezensionen. Dazu kommen Hildesheimers handwerkliche und bildkünstlerische Ausbildung. Zeichnungen und Bild-Collagen werden seit Mitte der 80er Jahre schließlich Hildesheimers künstlerische Hauptbeschäftigung. 1970 gibt Wolfgang Hildesheimer das Schreiben von Theaterstücken, 1977 das Schreiben von Hörspielen auf, und 1984 schließlich erklärt er seine Tätigkeit als Schriftsteller für beendet.10 Hildesheimers Konsequenz im Beenden der verschiedenen kreativen Möglichkeiten enthält eben jene im folgenden zu erläuternde Ankunft-Abschied-Struktur, die auch in seinen Prosamonologen "Tynset" und "Masante" zum Ausdruck kommt. Tynset" und "Masante" balancieren zwischen dem Anfang und dem Ende des Erzählens. Es ist der Versuch dieser Arbeit, die spezifische Wirklichkeitskonstruktion in Hildesheimers Prosamonologen "Tynset" und "Masante" aufzuzeigen undihre Ankunft-Abschied-Struktur anhand der Texte zu erklären. Denn jene Struktur ist als Stilmittel - undhier wird Hugh Kenners Satz über Samuel Becketts "Molloy" auch für Hildesheimer anwendbar - identisch "mit den ungewissen Denkbewegungen einer Hauptfigur",11

mit den Denkbewegungen des Ich-Erzählers aus "Tynset"und "Masante". Es ist der Ich-Erzähler und seine

10 "Der Mensch wird die Erde verlassen." Gespräch W.Hildesheimer mit Tilman Jens. In: Stern Nr.16 vom 12.4.1984, S.58-60.11 Hugh Kenner, Die Trilogie, S.87. In: Samuel Beckett. Hg. Hartmut Engelhardt. Frankfurt 1984, S.84-109.

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Doppelstruktur als einem "Erzähler/Erzählten",12 wie Samuel Beckett seine Figur Molloy nannte, der primär Ursache der Ankunft-Abschied-Struktur ist. Auch die Wirklichkeitskonstruktion in Hildesheimers Prosamonologen ist jener in Becketts "Molloy" ähnlich, wie Hugh Kenner sie beschreibt:

"[...] er [»Erzähler/Erzählter«] läßt gleichzeitig den Mann mit dem Bleistift entstehen, wie er sozusagen versucht, sich selbst zu erschaffen, indem er sich an seine eigene Vergangenheit erinnert oder seine eigene Gegenwart beschreibt."13

Hildesheimers Technik der gezielten Verunsicherung, seine Infragestellungen der Inhalte scheinbar bekannter Begriffe basiert auf einer klaren, präzisenund genauen Sprache, die überall dort Fragen stellt, wo Antworten erwartet werden. "Tynset" und "Masante" sind genau konstruierte, gezielte Verunsicherungen.Die Wirklichkeitskonstruktion der Prosamonologe, der Ich-Erzähler, die Sprache, die Text-Bilder, die Ankunft-Abschied-Struktur und das Thema des Abschieds- sie sollen in dieser Arbeit beleuchtet werden.

12 Samuel Beckett in einem Brief. Zitiert nach: Hugh Kenner, Die Trilogie, a.a.O., S.86.13 Hugh Kenner, Die Trilogie, a.a.o., S,86.

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I. ZWISCHEN WIRKLICHKEIT UND MÖGLICHKEIT

"Soll ich diese Worte wieder löschen, oder gäbeihnen gerade das Löschen erst Bedeutung und Pathos?

Gelöschte Worte!"(MAS 219)

"Tynset" beginnt: "Ich liege im Bett, in meinem Winterbett. Es ist Schlafenszeit. Aber wann wäre es das nicht?" (TYN 7) - und "Masante": "Am Rand einer Wüste, einem Punkt des Zufalls, fern von Masante - nein, so nicht" (MAS 7). Erzählen und Infragestellen,Aufbauen und Auslöschen - schon zu Beginn wird die Struktur der Prosamonologe klar. Sie verdeutlicht dasZweifeln eines verunsicherten Ich-Erzählers an seinereigenen Tätigkeit, sein Zögern, mit dem Erzählen überhaupt anzufangen. Er ist sich seiner Sache nicht sicher, wechselt zwischen Beschreibung und Imagination von Wirklichkeit hin und her, springt vonThema zu Thema, von Einfall zu Einfall, von Bild zu Bild.Auslöser dieser Bewegung ist dabei der Zufall. In "Tynset" ist es der Klang des zufällig beim Lesen im Kursbuch der norwegischen Staatsbahnen gefundenen Namens Tynset, der zum Titel einer Erfindung werden könnte: "Tynset. Das klingt nach.[...] ich habe Lust,irgend etwas so zu nennen" (TYN 25). Der Name Tynset wird langsam zum Anhaltspunkt der Gedanken des Ich-Erzählers, der ja eigentlich Schlaf finden wollte: "Indessen, wenn ich es mir recht überlege - richte ich mich ein in diesen Überlegungen -" (TYN 27). Das Erzählen kommt »in Gang«, ausgelöst durch die Klangphantasien des Ich-Erzählers. Ein Stoff zum Erzählen scheint gefunden.In "Masante" ist es der vom Ich-Erzähler zufällig gewählte Ort Meona, der zum Ausgangspunkt des Monologs wird: "[...] ein Punkt am Rand der Wüste, anden einer wie ich nur zufällig gelangt, das entspricht genau meiner Ordnung, so hatte ich es mir

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vorgestellt, so weit so gut. Ein blinder Strich mit dem Bleistift auf die Landkarte: Meona" (MAS 19). Wortklänge und zufällig gewählte Orte werden zu Auslösern von Wirklichkeitskonstruktionen, und diese konstruierte Wirklichkeit ist ein Mischung aus realerund möglicher Wirklichkeit. Es ist Hildesheimers Ich-Erzähler, der durch die Vermischung verschiedener Elemente die Wirklichkeit der Prosamonologe "Tynset" und "Masante" schafft.

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I.1. DIE ERFUNDENE WIRKLICHKEIT

"Zwischen Wirklichkeit und Imaginationwird hier ein dritter Weg beschritten,

der beides vereint und sich als Synthesedem Nacherleben anbietet."

Wolfgang Hildesheimer, Marbot

"Wirklichkeit schließt die Möglichkeit in sich ein [...]. Wirklichkeit schließt die Realität in sich einund ist daher etwas größer."14 Wolfgang Hildesheimers Wirklichkeitsbegriff provoziert die unterschiedlichsten Deutungen oder strikte Zurückhaltung, und das von ihm 1975 an irischen Universitäten in einer Rede erklärte "Ende der Fiktionen"15 hat auch die Kritik von Schriftstellerkollegen und Wissenschaftlern hervorgerufen.16 An Hildesheimers Wirklichkeitsbegriff 14 Wolfgang Hildesheimer, Ich werde nun schweigen, a.a.O., S. 74.15 Wolfgang Hildesheimer, The End of Fiction. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. VII, S.125-140. Dort Hildesheimers eigene Übersetzung Das Ende derFiktionen, S.141-158.16 Vgl. zum Fiktionsbegriff Uwe Japp, Das Ende der Kunst des Schreibens, S.214 f: "weil Hildesheimer weder einen sonderlich elaborierten Fiktionsbegriff exponiert noch zwischen Fiktion und Literatur sonderlich streng unterschieden hat." In: Hans Bungert (Hg.), Hauptwerke der Literatur. Regensburg 1990, S.211-226. Ausweichendzum Wirklichkeits-begriff vgl. Dietmar Goll-Bickmann, Aspekte der Melancholie in der frühen und mittleren Prosa W.Hildesheimers. Münster 1989,S.350 (in Klammern): "Auf den hier deutlich werdenden problematischen Wirklichkeitsbegriff soll nicht weiter eingegangen werden." Weniger hilfreich Kerstin Behrens, Wirklichkeit bei Wolfgang Hildesheimer. Augsburg Magisterarbeit (masch.) 1992. Kritisch zum "Ende der Fiktionen" u.a. Silvio Blatter, Die Welt mit Kunst erfassen,

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wird jedoch deutlich, daß für ihn »Wirklichkeit« mehrist als »Realität«: Das Wort Wirklichkeit schließt Realität und Fiktion gleichermaßen ein. Peter Horst Neumann schreibt in seinem Aufsatz "Voreingenommene Bemerkungen" über den Ich-Erzähler aus "Masante" : "Nie werden Wirklichkeit, Erinnerungen und Wissen anders als unter dem Gesichtspunkt ihrer Fiktionalität gesehen."17 Nach Neumann ist die Wirklichkeit für den Ich-Erzähler eine Fiktion, wie sie auch der Ich-Erzähler der "Vergeblichen Aufzeichnungen" beschreibt: "Was ist denn die Wirklichkeit anderes als eine irreführende Erfindung?"18 Reinhard Baumgart dagegen nennt den AutorHildesheimer einen "Erfinder von Realität", der "als Erzähler, strenggenommen, nie fiktive Modelle errichtet und ausgebaut" habe.19 Walter Jens schließlich meint: "Hildesheimer ist, als Schriftsteller so wenig wie als bildender Künstler, ein Freund des Erfindens", er habe "das Finden für artistisch ergiebiger als das Erfinden erachtet".20 Finden, Fiktion, Erfindung, Realität und Wirklichkeit- die verwirrende Begriffsvielfalt weist darauf hin, daß Hildesheimer in diesem Bereich die Verunsicherung

S.23. In: Literaturmagazin Bd.19. Warum sie schreiben und wie sie schreiben. Hg. M.Lüdke u.D.Schmidt. Reinbek b.Hamburg 1987, S.23-31.17 Peter Horst Neumann, Voreingenommene Bemerkungen, S. 266. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1990, S.264-268.18 Wolfgang Hildesheimer, Vergebliche Aufzeichnungen, S.298. In. W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. I, S.273-302.19 Reinhard Baumgart, Heimisch im Absurden, S.341. In:Volker Jehle (Hg.), W.Hildesheimer. Frankfurt 1989, S. 339-343.20 Walter Jens, Wolfgang Hildesheimer: ein bildender Künstler, S.1-2. In: Wolfgang Hildesheimer. Text und Kritik 89/90, (1986), Hg. H.L. Arnold, S.1-7.

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scheinbar feststehender Wortinhalte gelungen ist. Hier kann es nicht mehr um Definitionen gehen. Hildesheimers Wirklichkeitskonstruktion, wie sie in den Prosamonologen deutlich wird, führt über die Auflösung der Begriffe Fiktion und Wirklichkeit zur Konstruktion einer fingierten Wirklichkeit:

"Um zu demonstrieren, wie irreal die Realität ist, vermische ich Realität und Irrealität und stelle es dem Leser anheim herauszufinden - wenn er das Bedürfnis verspürt - was ist eigentlich wirklich und was nicht."21

Hildesheimer nennt diese Technik in einem 1977 mit Dorothea Frauenhuber geführten Gespräch sein "Stilmittel".22 Es ist die Konstruktion einer fingierten Wirklichkeit, die weder reine Fiktion, noch realistische Wirklichkeitsschilderung, sondern eine Mischung aus beidem ist. Käte Hamburgers "Begriff der fingierten Wirklichkeitsaussage", mit dem der "logische Ort der Ich-Erzählung" bestimmt ist,23 trifft für Hildesheimers Prosamonologe nur bedingt zu. Denn der Ich-Erzähler konstruiert Wirklichkeit in jener Weise, wie die Trinkerin Maxineaus "Masante" die Wirklichkeit erfindet. Dazu sagt der Ich-Erzähler:

"Aber in mir hat sie [Maxine] ihr Publikum gefunden, ihre Berichte sind getränkt von jener Wirklichkeit,

21 W.Hildesheimer im Gespräch mit Dorothea Frauenhuber, S.248. In: D.Frauenhuber, Die Prosa Wolfgang Hildesheimers. Salzburg Phil.diss. (masch.), S.244-249. An dieser Stelle wird deutlich, daß Hildesheimer nicht immer genau zwischen den Worten »Wirklichkeit« und »Realität« unterscheidet.22 W.Hildesheimer im Gespräch mit D.Frauenhuber, a.a.O., S.248.23 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung. München 1987, S.275.

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die das Mögliche in sich einschließt und mit dem Geschehen vermischt. Alles wird ihr wahr." (MAS 188)

Hildesheimers Prosamonologe sind also einerseits Fiktionen als Vortäuschung von Realität, wie Carlos Rincon über Jorge Luis Borges Erzählkunst schreibt: "Borges zielt dabei mit seiner Problemstellung nicht auf die Frage, wie die Literatur Wirklichkeit abbilde, sondern wie sie den Leser glauben macht, daßsie Realität unmittelbar darstellt."24 Sie sind aber auch Fiktion im Sinne der Definition Karl Maurers, der behauptet, Fiktion sei "[...] gerade jener Teil einer in ihrer Formensprache - ob "gegenständlich" oder nicht - stets autonomen Kunst und Literatur, derdie "Wirklichkeit" hereinzubringen scheint."25 Die Erfindung der Wirklichkeit ist ein Mittel, um Wirklichkeit zu verstehen. Hildesheimer schreibt im seinem kunstästhetischen Aufsatz "Watteaus »Gilles« und Marbot" über die Funktion der reinen Erfindung: "Ohne ihren kontrapunktischen Einbezug läßt sich für mich keine Wahrheit eruieren und erst recht nicht mitteilen."26 Der Begriff der "Wahrheit" meint hier diesubjektive Erkenntnis von Wirklichkeit. Der "Wirklichkeitssinn"27 eines Künstlers, wie Hildesheimer24 Zitiert nach: Fritz Rudolf Fries, Die aufgehobene Zeit oder der Leser als Autor, S.85. In: Borges lesen. Hg. Gisbert Haefs und Fritz Arnold. Frankfurt 1991, S.75-89.25 Karl Maurer,Für einen neuen Fiktionsbegriff, S.542. In: Erzählforschung. Ein Symposion. Hg. E.Lämmert. Stuttgart 1982, S.527-551.26 W.Hildesheimer, Watteaus »Gilles« und Marbot (1988), S.252. In: Wolfgang Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd. VII, S.252-269.27 W.Hildesheimer, Marbot. Eine Biographie. Frankfurt 1984, S.53: "Doch Andrew [...] versuchte, das Potentielle der Psyche zu erfassen,der ein Werk entstammte, um dann den Vergleich mitder Wirklichkeit anzustellen und den Wirklichkeitssinn des Autors zu erfassen." Mit

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es nennt, ist ihm Maßstab für die Beurteilung von Kunst. Horst Janssens tagebuchartige Aufzeichnungen zu seinen Bildern und Zeichnungen sind für Hildesheimer "Mitteilungen direkten Erlebens, deren Register äußerer und innerer Sichten und deren deskriptive Genauigkeit die meiste Literatur der Berufsschriftsteller verblassen macht. Ein von Janssen dargestelltes Gewitter ist so gut wie ein echtes."28 Hildesheimer geht es aber nicht um Realismus, sondern um Stimmigkeit in Produktion und Rezeption von Kunst. Stimmmigkeit gilt sowohl für diekünstlerische Darstellung von Wirklichkeit, als auch für die Erfindung von fiktiven Figuren. Werden sie als stimmig erlebt - und zwar vom Künstler, wie vom Rezipienten -, sind sie für Wolfgang Hildesheimer wirklich: "Daß aber Molloy oder Josef K. oder die Figuren aus Ilse Aichingers Dialogen existieren, das weiß ich. Sie sind so real wie der Hintergrund, vor dem sie agieren."29 Deswegen schreibt Hildesheimer überseine erfundene Figur Andrew Marbot: "Marbot wäre möglich gewesen", denn Marbot, so Hildesheimer weiter, "hätte gelebt haben können, und ich hätte ihnnicht geschrieben, wenn er für mich nicht Wirklichkeit bekommen hätte."30

diesem Maßstab interpretiert Hildesheimer die Werke Ezra Pounds und T.S.Eliots. Vgl. W.Hildesheimer, Die Wirklichkeit der Reaktionäre. In: Wolfgang Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd.VII, S.61-82.28 Wolfgang Hildesheimer, Horst Janssens Landschaft, S.388. In: W.Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd. VII, S.387-389. 29 W.Hildesheimer, Empirische Betrachtungen zu meinem Theater, S.821. In: W.Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd. VI, S.820-823.30 W.Hildesheimer und Hanjo Kesting, "Mozart" und "Marbot" - Spiegelbücher?, S.85. In: W.Hildesheimer Text und Kritik 89/90. Hg. H.L.Arnold. München 1986, S.83-89.

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Hildesheimers fingierte Wirklichkeit verwischt die Grenzen zwischen Erfindung und Wirklichkeit. Sie spiegelt damit jenen Prozeß wider, der in der Romantik - besonders im Werk E.T.A.Hoffmannns - begann und den Bernhard Waldenfels so beschreibt: "Die Subordination von Wirklichkeit und Fiktion weicht einer Verschränkung beider Momente: dem sog. Wirklichen sind fiktive Momente beigemengt - das Fiktive ist selber wirklichkeitsträchtig."31 Die Unterschiede zwischen Wirklichkeit und Fiktion sind undeutlich geworden, die Maßstäbe für eine klare Unterscheidung verschwimmen. Henry A.Lea will einen quantitativen Unterschied bemerken: "Tynset und Masantesind eine einzigartige Mischung von Wirklichkeit und Fiktionalität, wobei die Wirklichkeit überwiegt."32 Diese Behauptung kann nicht bestehen - es ist nicht mehr möglich, Erfundenes und Wirkliches zu trennen. Odo Marquards These von der Kunst als Antifiktion, als der Beschreibung von Wirklichkeit als "Fiktur"33 und der Kunst als deren Gegenteil - eine These, der Hildesheimers Wirklichkeitsbegriff nur teilweise entspricht - versucht erneut, zwei Bereiche zu trennen, deren Zusammenhang schon in Giambattista Vicos Gedanken, daß das Wahre und das Gemachte konvertibel sei, deutlich wurde.34

31 Bernhard Waldenfels, Fiktion und Realität, S.99.In: Kolloquium Kunst und Philosophie 2, Ästhetischer Schein. Hg. W.Oelmüller. Paderborn 1982, S.94-102.32 Henry A.Lea, Hildesheimers Weg zum Ende der Fiktionen, S.53. In: Volker Jehle (Hg.), W.Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.45-57.33 Odo Marquard, Kunst als Antifiktion, S.53. In: Funktionen des Fiktiven. Hg. Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München 1983, S.35-54.34 Vgl. dazu Stephan Otto, Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie. Stuttgart u.a. 1989,S.19 ff. Hildesheimer kannte Vicos Philosophie: siehe "Masante" S.8: "Wie mißt man hier das

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Hildesheimer fingiert gezielt Wirklichkeit, wenn er sein Buch "Marbot" (1981) im Untertitel "Eine Biographie" nennt.35 Er überschreitet die Grenze zwischen Fiktion und Realität und kennzeichnet seine erfundene Biographie nicht als Fiktion. Nur so kann jedoch eine Vortäuschung von Wirklichkeit gelingen, wie Jean-Marie Schaeffer betont: "Marbot simule à la perfection une biographie réelle. Or, en elle-même une simulation n'indique pas qu'elle est une simulation.Ce n'est qu'à ce prix qu'un feinte sérieuse est possible: elle n'est efficace que pour autant qu'elle est ignorée."36 Uwe Japp nennt dies die "paradoxe Absicht einer Entfiktionalisierung der Fiktion: mit fiktionalen und nichtfiktionalen Mitteln."37 Auch mit seinen Bild-Collagen verfolgt Hildesheimer das Ziel der Täuschung. Der Begleittext zur Collage "Deus ex machina" aus seinem letztem Collageband "Landschaft mit Phoenix" (1991) lautet: "Viele, beinah alle meine Korrekturen gelten der Verundeutlichung, der Auflösung dessen, was man »Realität« oder, anspruchsvoller noch, »Wirklichkeit«nennt."38 Dieser Gedanke der Auflösung ist prägend für

Verstreichen und gleichzeitig die dauernde Wiederkehr der Zeit, deren Zyklen ja niemals überzeugend gemessen wurden, auch bei Vico nicht."35 Wolfgang Hildesheimer, Marbot. Eine Biographie. Frankfurt/Main 1981. 1969 schreibt Hildesheimer eine Rezension über ein Buch "Erasmus" von Walter Jens, das Hildesheimer erfunden und ihm angedichtet hat. Vgl. W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.VII, S.517-519.36 Jean-Marie Schaeffer, Loup, si on jouait au loup?, S.119. In: Autrement dire 6, (1989), S.111-123.37 Uwe Japp, Das Ende der Kunst des Schreibens, S.218. In: Hans Bungert (Hg.), Hauptwerke der Literatur. Regensburg 1990, S. 211-226.38 W.Hildesheimer, Collage Nr. 19 "Deus ex machina"(1990). In: W.Hildesheimer, Landschaft mit Phoenix. Frankfurt 1991. Ohne Seitenangaben.

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Hildesheimers schriftstellerische Tätigkeit der 60er Jahre. Der Inhalt, die Zusammenhänge und die Wirklichkeit werden verundeutlicht. Hildesheimer sagt1973 in einem Interview mit Matthias Prangel dazu:

"Es handelt sich in den Aufzeichnungen ["Vergebliche Aufzeichnungen"] bei dem, was mir nicht einfällt, mehr um etwas Thematisches,um einen Stoff und nicht um die Form. Es geht darum - man kann es ja auch satirisch betrachten -, daß mir keine Konstruktion einer Fabel mehr einfällt, die mir übrigens nie ein-gefallen ist. Daß ich jedoch diesen Mangel in Worte kleiden könnte, wollte ich in den Vergeblichen Aufzeichnungen beweisen. [...] Und das Prinzip - und deshalb finde ich, daß die Vergeblichen Aufzeichnungen nicht nur in Cornwall ["Zeiten in Cornwall"], sondern auch in Tynset und Masante eine Fortsetzung finden - ist das Prinzip des Gegenüberstellens absurder Tatbestände, die ich erfinde, und der Wirklichkeit."39

In Wolfgang Hildesheimers Prosamonologen ist der Ich-Erzähler der Schöpfer der Wirklichkeitskonstruktion. Melancholie und Entfremdung, so Thomas Koebner über Hildesheimers Figuren, machen ihm die Welt zum Spielmaterial: "Die Welt wird dem Gelangweilten zum Spielzeug".40 Der Spiel-Begriff, zentral in Hildesheimers Werk, weist wieder auf die Rolle des Zufalls. Zu seine Collagen schreibt Hildesheimer: "Nutzung des Zufalls ist eine essentielle Regel meines Spieles, das ich denn auch öfters verliere alsgewinne."41 Es wird sich zeigen, daß dies auch für die

39 Matthias Prangel, Interview mit W.Hildesheimer, S.2. In: Deutsche Bücher. Hg. Ferdinand van Ingen u.a. Amsterdam 1974, S.1-10.40 Thomas Koebner, Entfremdung und Melancholie, S.46. In: Über Wolfgang Hildesheimer, Hg. Dierk Rodewald. Frankfurt 1971, S.32-59. Dort auch S.53.41 Wolfgang Hildesheimer, Die Ästhetik der Collage,S.14. In: W.Hildesheimer, Endlich allein. Collagen. Frankfurt 1985.

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Prosamonologe "Tynset" und "Masante" zutrifft, da sich auch für den Ich-Erzähler seine Geschichten nur zufällig ergeben.In "Masante" denkt der Ich-Erzähler an ein Haus in Urbino "mit Aussicht auf eine herrliche Stadt, auf Geschichte nicht als Deutung, sondern als Material" (MAS 130). In den Prosamonologen werden Materialien der Wirklichkeit gefunden und abgeklopft, und auch die Sprache wird Hildesheimers Ich-Figur zum Material, zum Spielmaterial seiner Kreativität. "Der Zustand des Nicht-mehr und Noch-nicht scheint der eigentliche Lebensbereich des Erzählers zu sein"42: DerPotentialis wird Hildesheimers Ich-Erzähler, wie Koebner es andeutet, zur ersten Kategorie.

42 Thomas Koebner, Entfremdung und Melancholie, a.a.O., S.44.

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I.2. HILDESHEIMERS ICH-ERZÄHLER

"Was er [Hamlets Vater] sagt, wird von seinerUmgebung

willig verstanden, aber mir - was sage ich?mir? - ich meine: seinem Sohn, Hamlet,

bleibt das Gesagte fern [...]."(TYN 158/159)

Die Wirklichkeit in "Tynset" und "Masante" ist die Weltsicht des Ich-Erzählers. Der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges schreibt: "[...] undalles, was wirklich geschieht, geschieht mir...".43 Indiesem Sinn nimmt Max Frisch Martin Walsers Begriff des "Bewußtseins-Theaters" auf. Dieses sei, so Max Frisch, "Darstellung nicht der Welt, sondern unseres Bewußtseins von ihr."44 Die Wirklichkeit ist nicht, siewird im Bewußtsein des Subjekts erst hergestellt. Sprechen und Schreiben ist Herstellen oder Fingieren von Wirklichkeit. Der Ich-Erzähler aus "Tynset" und jener aus "Masante" sprechen dabei als Verwandte von Shakespeares Hamlet. Hildesheimer verfaßt jedoch mit seinem Werk keine "groß angelegte [...] Hamlet-Paraphrase",45 wie Franz Loquai behauptet, sondern er schreibt in der Schaffensperiode vom Romanfragment "Hamlet" (1961) bis "Masante" (1973) mögliche Monologe eines modernen Hamlet. Iwan Turgenjew charakterisiert die Hamlet-Figur, als schriebe er

43 Jorge Luis Borges zitiert nach: Italo Calvino, Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. München/Wien 1991, S.160.44 Max Frisch, Die Tagebücher. 1946-1949. 1966-1971. Frankfurt 1983, S.482.45 Franz Loquai, Flucht aus der Geschichte in die Geheimnisse der Kunst. W.Hildesheimer und Hamlet, S.214. In: ders., Hamlet und Deutschland. Zur literarischen Shakespeare-Rezeption im 20.Jh. Stuttgart/Weimar 1993, S.192-214..

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über Hildesheimers Ich-Figuren aus "Tynset" und "Masante":

"Er ist die verkörperte Analyse und darum auch der Unglaube. Er lebt ganz für sich selbst, er ist ein Egoist. [...] Doch dieses Ich, an das er nicht glaubt, ist dem Hamlet teuer. Das ist der Ausgangspunkt, zu dem er immer wieder zurückkehrt, denn er findet nichts in der ganzen Welt, woran er sein Herz hängen könnte. Er ist Skeptiker [...] Er ist beständig nicht mit seiner Pflicht, sondern mit seiner Lage beschäftigt. Da er an allem zweifelt, schont er natürlich auch sich selbst nicht; [...] er weiß nicht, was er will und wozu er lebt - und hängt am Leben!"46

Turgenjew sieht in Hamlet einen Analytiker, und auch Hildesheimers Ich-Erzähler der Prosamonologe analysieren fortwährend das Erfundene und Erlebte. Sie sind Ungläubige und Skeptiker, Feinde und Liebhaber ihres eigenen »Ego«. Besonders aber ähnelt dieser Hamlet Hildesheimers Ich-Erzähler in seiner Ankunft-Abschied-Bewegung. Vom Ich wird Abschied genommen, zum Ich wird schließlich wieder zurückgekehrt. Beide haben ein gebrochenes Verhältniszur Wirklichkeit, und beide kehren immer wieder auf den Ausgangspunkt zurück: dieser Ausgangspunkt ist das eigene Ich. Der Ich-Erzähler ist das dynamische Moment der Prosamonologe und als Zauderer oder - wie Hildesheimer Hamlet nennt - als "Cunctator"47 der

46 Iwan Turgenjew, Als Vorrede: Hamlet und Don Quijote, S.7. In: Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quijote von der Mancha, a.a.O., S.5-18. KursivVerfasserin.47 W.Hildesheimer sagt dazu im Gespräch mit H.H.Hillrichs: "An Hamlet fasziniert mich vor allen Dingen sein Verhältnis zur Realität, sein sehr stark gebrochenes Verhältnis zur Realität, und sein Zögern, das Zaudern - Hamlet ist eben doch für mich der Prototyp des Cunctators." In:

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Ursprung einer unablässigen Bewegung der Vorstellungskraft. Der Ich-Erzähler selbst bleibt jedoch als der Verursacher der Geschehens unbeweglich, wie Walter Jens für "Tynset" bemerkt: "Ich denke, das Faszinierende des Tynset-Berichts liegt im Wechselspiel zwischen der Ruhe im Zentrum [...] und dem wirbelnden Tanz ringsum."48

In "Tynset" und "Masante" spielt Hildesheimer in seinen Ich-Figuren die Möglichkeiten eines modernen Hamlet-Monologs durch, bevor der Ich-Erzähler aus "Masante" am Ende die Identifikationsfigur Hamlet ablegen kann: "Hamlet. Der kam immer wieder, lange hat er mich nicht losgelassen. Den lege ich hiermit endgültig ab, ihn schicke ich in die Wüste" (MAS 219). Erst in "Masante" nimmt der Ich-Erzähler von Hamlet Abschied und »findet zu sich selbst«, um dann gleichermaßen in der Wüste zu verschwinden. Hamlet ist das Vorbild für Hildesheimers Ich-Erzähler aus "Tynset" und "Masante", denn auch Hamlet vermengt dasWirkliche und das Erfundene:

"Da für ihn alles unwirklich ist, gibt er Vermutungenals Tatsachen aus, verwirrt seine Mitwelt.[...] unterseinen Inventionen gibt es wilde Dinge, die sich plötzlich als Fakten entlarven, man weiß nicht, woranman ist mit ihm." (MAS 220)

Hamlets Technik der Verwirrung, die der Ich-Erzähler aus "Masante" hier schildert, ist auch seine eigene und die seines Autors Hildesheimer. Wirklichkeit und Möglichkeit bestehen parallel in "Tynset" und "Masante". Mitten in der Nacht findet der Ich-Erzähler aus "Tynset" in der Küche seine betrunkene Haushälterin

W.Hildesheimer, Ich werde nun schweigen, a.a.O., S.47.48 Walter Jens, Wolfgang Hildesheimer - Tynset, S.7. Einlage in: Wolfgang Hildesheimer, Tynset. Stuttgart (Bibliothek des 20.Jh.s.s) 1993, S.5-11.

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Celestina, die ihn nur anstarrt, und er sagt: "[I]ch kann diesen Blick noch nicht deuten, die Szene ist noch nicht klar" (TYN 219). Das ist die fingierte Wirklichkeit, in der sich der fingierte Ich-Erzähler befindet. In dieser Wirklichkeit ist Gesagtes gesagt,kann nicht ungeschehen gemacht werden: "[...] aber esist zu spät, das zu sagen, ich kann, was ich gesagt habe, nicht zurücknehmen" (TYN 224). Das Geschehen wird aufgebaut, und das erfundene Ich, hineingestelltin die fingierte Wirklichkeit, »reagiert« auf das, was es sieht und was geschieht. Zu spät bemerkt es, daß es an diesem scheinbaren »Film« teilhat. Die Erkenntnis, nicht Zuschauer, sondern Teilnehmer einesaußerhalb seiner Kontrolle ablaufenden Geschehens zu sein, stürzt es in Verwirrung. Denn die betrunkene Celestina verlangt plötzlich von ihm, sie zu segnen. Eine Wirklichkeit stößt auf eine andere. Der Ich-Erzähler war es gewohnt, Wirklichkeit zu erfinden, denn ein erfundenes Leben ist beherrschbar. Der Ich-Erzähler spart in seinen Erfindungen nicht mit Hinweisen auf das konstruierende Bewußtsein:

"Während oben, noch nicht beleuchtet vom steigenden Mond, der Mönch den Bettbelag über sich legt und die Hände zwischen dem Rosenkranz faltet, zu einem letzten, ich sage letzten, Gebet - inzwischen weiß ich, auf was ich hinaus will - " (TYN 193).

Der Ich-Erzähler beherrscht die erfundene Wirklichkeit. "Seltsam, wie sehr das Leben einem selbst gehört, wenn man es erfunden hat",49 sagt der Doktor O'Connor aus Djuna Barnes' "Nachtgewächs". Erfundene Geschichten werden zu Objekten und Materialien, zu Experimenten und Versuchen: "Nein, Maxine, den baue ich dir besser!" (MAS 28). Der Ich-Erzähler aus "Masante" nimmt Maxine ihre Version derGeschichte eines Pianospielers nicht ab, sie 49 Djuna Barnes, Nachtgewächs. Frankfurt 1991, S.132.

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erscheint ihm nicht wahrscheinlich genug. Die Wirklichkeit in Geschichten ist manipulierbar. Wenn aber das "Tynset"-Ich plötzlich innehält im Sprechen,hängengeblieben an einem seiner erfundenen Sätze, undfragt: "Und was hält mich auf dieser Erde?" (TYN 205), nach einer weiteren Pause hektisch anfügt: "Weiter, weiter, Transposition, neues Thema" (TYN 205), so wird das Verhältnis zwischen Erfindung und Wirklichkeit in den Prosamonologen deutlich. Der Ich-Erzähler benutzt seine Geschichten, um Wirklichkeit zu verdrängen, sie sind ihm Mittel, nicht Ziel. Da aber keine der Geschichten fortgeführt werden kann -denn auch die Geschichten enthalten ja Wirklichkeit, also das Schreckliche -, der Ich-Erzähler der Wirklichkeit aber zu entfliehen versucht, muß er zwischen den beiden Möglichkeiten von Wirklichkeit unentschieden hin- und herspringen, immer zweifelnd, immer unzufrieden. "Auf was lasse ich mich hier ein?"(TYN 223), fragt der Ich-Erzähler voller Angst - hierist seine erlebte Wirklichkeit gemeint. Seine panikartigen Reaktionen auf die Evokation historischer Wirklichkeit werden in Ausrufen wie "-- genug, genug!" (TYN 106) deutlich. Hildesheimer präfiguriert hier die Konfrontation von "Kunst und Leben", so der Titel der Ausgabe von Andrew Marbots Schriften und gleichzeitig Beschreibung seiner Existenz. Die Wirklichkeit des Ich-Erzählers steht seinen Fiktionen gegenüber. "Weg von hier!" (TYN 230), heißt der einzige Gedanke des Ich-Erzählers, wenn er mit der Wirklichkeit in Gestalt der betrunkenen Celestina konfrontiert wird, die gesegnetwerden will. Der Konfrontation mit der Wirklichkeit ist der Ich-Erzähler nicht gewachsen, seine Fiktionenhelfen ihm nicht, die Wirklichkeit zu bewältigen. "Weg von hier!", das ist die Reaktion des "Masante"-Ichs auf die Provokationen Alains und Maxines in der Bar von Meona. Auch den Fiktionen hält der Ich-Erzähler nicht stand, und Maxine wirft ihm vor: "»Nur

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ihre Geschichte ist nicht so gut wie die der anderen,es ist nur eine halbe Geschichte.«" (MAS 285). "Masante" weist auf das "Ende der Fiktionen".50

Hildesheimer vermischt aber nicht nur in der Wirklichkeitskonstruktion der Prosamonologe Wirklichkeit und Fiktion und verwischt die Unterschiede, auch in der Figur des Ich-Erzählers übertritt Hildesheimer Grenzen. Der Ich-Erzähler wirdihm zum Gegenstand eines Spiels mit seinen möglichen Funktionen. Manfred Durzak versucht, die Komplexität dieses Ich-Erzählers folgendermaßen zu erklären: "Aber in der Regel ist es so, daß eigentlich das Erzähl-Ich, das der Mittelpunkt des Monologischen ist, vorgezeigt wird von einem andern Erzähler, der sich dahinter verbirgt."51 Dieser scheinbare Riß aber, die Spaltung des Ichs in ein erzählendes und ein erlebendes Ich52 wird durch den dynamischen Charakter der hildesheimerschen Prosa als einer Vervielfachung der Ich-Funktionen erklärbar. "Das Ich muß immer drinsein," antwortet Hildesheimer auf Durzaks These des doppelten Ich-Erzählers, "das potentielle Ich, das gewöhnliche fiktive des Ich-Erzählers und auch das persönliche."53 Hildesheimers »Ich« wird damit zu einereigenen Wirklichkeitskonstruktion. Es ist gleichzeitig erlebendes, fiktives, fingiertes Ich undsogar persönliches Ich des Autors. Nicht nur die Wirklichkeit ist eine Mischung, auch die Figur des Ich-Erzählers vereint Möglichkeit und Wirklichkeit.

50 Siehe zu diesem Thema besonders Kapitel IV. dieser Arbeit.51 Manfred Durzak/ W.Hildesheimer, Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentiellesIch, S. 277. In: Manfred Durzak, Gespräche über den Roman. Frankfurt 1976, S.271-295.52 So Patricia Haas Stanley, Wolfgang Hildesheimer "Tynset". Meisenheim 1978, S.86 f.53 Manfred Durzak, Gespräche über den Roman, a.a.O,S.289.

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Hildesheimer sagt 1989: "Man kann nicht über eine Sache schreiben. Da gilt das Wort von Ezra Pound: Wernicht über sich selbst schreibt, sondern über eine Sache, der ist verdammt."54 Es geht in den Prosa-monologen um das »Ich« und um die kreative Nutzung seiner Möglichkeiten.

54 W.Hildesheimer, Ich werde nun schweigen, a.a.O.,S.87.

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I.2.1. Das Ich als Möglichkeit

"Das erfundene Ich ist nicht.Es wird erst."

Gerhard Köpf, Komm stirb mit mir ein Stück

Das Ich in der Literatur der Moderne, schreibt Ingeborg Bachmann, hält sich nicht mehr in der Geschichte auf, sondern es ist "die Geschichte im Ich."55 Die Erinnerungen eines Ich bilden die Geschichte von Marcel Prousts "Auf der Suche nach derverlorenen Zeit". Hildesheimer geht einen Schritt weiter. Die Geschichte ist nicht mehr im Ich, das Ichwird die Geschichte. Das Ich wird zur Wirklich-keitskonstruktion und damit in das Spiel der Möglichkeiten einbezogen. Das Ich ist nun, wie Gottfried Benn 1919 schreibt, "Anfang und Ende".56 Milan Kunderas Figuren werden ihm zum "experimentellen Ego",57 während bei Hildesheimer das Ich ein "potentielles Ich"58 des Autors ist. Diese Potentialität des modernen Ich macht es gleichzeitig zur Identifikationsfigur und zum Experiment. Das Ich ist eine "Abspaltung" seines Autors, und im Text werden die vom fingierten Ich erfundenen Figuren wiederum zu "Abspaltungen" jenes Ichs. Hermann Broch 55 Ingeborg Bachmann, Das schreibende Ich, S.230. In: Ingeborg Bachmann, Werke, Bd.IV. Hg. ChristineKoschel u.a. München (5.Auflage) 1993, S.217-237.56 Gottfried Benn, Das moderne Ich, S.105. In: Gottfried Benn, Sämtliche Werke, Bd.III. Prosa 1. Hg.Gerhard Schuster. Stuttgart 1987, S.94-107.57 Milan Kundera, Gespräch über die Kunst des Romans, S.39. In: Milan Kundera, Die Kunst des Romans. Frankfurt 1989, S.31-53.58 W.Hildesheimer, Ich werde nun schweigen. Göttingen 1993, über TYN und MAS, S. 40 f.: "es sind Monologe, in denen das Ich zwar mein potentielles Ich ist, aber natürlich sind die Erfahrungen, die dieses Ich macht, nicht meine eigenen Erfahrungen."

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bezeichnet mit dem Wort "Abspaltungen" den inneren Zusammenhang der Figuren aus Joyces "Ulysses", die eralle als Abspaltungen der Hauptfigur Bloom beschreibt.59 Es gibt keinen Erzähler mehr, der das Geschehen ordnet, nur noch einen "Erzähler als Idee",wie Broch die Technik Joyces' bezeichnet, und der "Erzähler als Idee" und die Sprache als Dar-stellungsmedium werden nun in die Darstellung mit hineingenommen.60 In ähnlicher Weise konstruiert Hildesheimer sein "potentielles Ich". Hildesheimer nimmt das Ich mit in die Darstellung hinein. Dort wird das Ich in eine Vielfalt der Ich-Möglichkeiten aufgefächert. In Hildesheimers Prosamonologen ist dasIch eine "Abspaltung" Hildesheimers, die Figuren in den Monologen sind "Abspaltungen" dieses Ichs, und damit wird das Ich zum Stoff der Geschichte. Die Frauenfiguren Celestina aus "Tynset" und Maxine aus "Masante" sind als seine "Abspaltungen" Gegen- und gleichzeitig Identifikationsfiguren des Ich-Erzählers, und das Ich selbst wiederum ist nicht nur erzählendes, sondern auch ein erzähltes Ich, ein fingiertes Ich und ein "potentielles Ich" seines Autors Wolfgang Hildesheimer.Hildesheimers Konstruktion eines Ich-Erzählers als scheinbar autobiographische Größe und Identifikationssangebot an den Leser weist in die Richtung Franz Kafkas. Kafka täuscht seinen Lesern inscheinbar autobiographischen Mitteilungen eine "realistische Abschrift seines Bewußtseins"61 vor. Aber sein »Ich« ist nicht autobiographisch, und sogarKafkas Selbstbeschreibungen, wie Frank Schirrmacher in seinem Aufsatz "Ich bin Ende oder Anfang" darlegt,sind "eine Erfindung, eine Konstruktion, ein 59 Hermann Broch, James Joyce und die Gegenwart. Frankfurt 1972, S.39.60 Hermann Broch, James Joyce, a.a.O., S.47.61 Frank Schirrmacher, "Ich bin Ende oder Anfang", S.1. In: FAZ vom 11.Dezember 1990, Literaturbeilage, S.1-2.

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Experiment und haben mit dem 'Leben', von dem er immer wieder redet, nichts zu tun."62 Kafkas »wirkliches Ich« ist erfunden, und Hildesheimers Ich-Konstruktionen sind diesem Spiel Kafkas mit dem Ich und mit dem Leser nahe verwandt. Das Identifikationsangebot an den Leser wird, da das Ich - wie bei Kafka - fast mit jeder Identität füllbar erscheint, zur Strategie der Verunsicherung, denn eigentlich erfährt man nichts weiter als die Funktionsweise eines Bewußtseins, seiner Phantasie und seiner Gedanken. Identität erhält das Ich nur durch die Art und Weise seines Denkens oder Sprechens. Das Wirklichkeit konstruierende Ich der Prosamonologe ist eine Art personifizierte »Sprachproduktionsstätte« und deshalb ständig präsent. Niemals läßt der Ich-Erzähler Zweifel darüber aufkommen, daß die Geschichten von ihm vermittelt, von ihm erinnert und erfunden werden.63 Seine Erfindungen, ja Lügen sollen das Überleben in der Wirklichkeit sichern, wie es das "Masante"-Ich inMeona auf die Fragen Alains deutlich ausspricht: "Geist der Erfindung, steh mir bei! Ich habe mich hier zu behaupten" (MAS 253).Hildesheimers »Ich« ist also auf einer ersten Ebene ein potentielles Ich des Autors, das als ein immer zuwiederholender Versuch konstruiert wird, als ein nie abzuschließendes Experiment. Auf einer zweiten Ebene erfindet dieses erfundene Ich wiederum seine Wirklichkeit, und es "erdichtet sich selbst",64 wie Patricia Haas Stanley schreibt. In einer Vorarbeit zu62 Frank Schirrmacher, "Ich bin Ende oder Anfang", a.a.O., S.1.63 Das gezielte Aufmerksam-Machen auf Fiktionalitätist ein Grundzug der Literatur in der 2.Hälfte des20.Jh.s. Vgl. dazu Patricia Waugh, Metafiction. London/New York 1984 und Jochen Vogt, Fiktion. In:Literatur Lexikon (Hg. W.Killy) Bd.13. Begriffe, Realien, Methoden, Hg. Volker Meid. München 1992, S.304-306.

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Hildesheimers Theaterstück "Die Verspätung" sagt der Professor: "Ich stecke voller Experimente. Ich bin ein Experiment. Der Mensch sollte sich als Experimentbetrachten".65 Hildesheimers potentielles Ich ist ebenfalls ein Experiment, und seine Potentialität gestattet es dem Autor, mit ihm zu spielen, sich zu identifizieren oder auch zu distanzieren. Für Hildesheimer wird der Ich-Erzähler zur Spielmöglichkeit, das Ich ist das Thema der Geschichte, es ist die Geschichte. Das potentielle Ich ist Spiel, und Hildesheimer verdeutlicht seine Distanz zu jeder Art von Einordnungsversuch mit der ihm eigenen Selbstironie: "Ich habe meine Identität verloren und mache mich auf die Suche nach meinem Ich. Schließlich finde ich einen ganzen Haufen von Ichs. Welches aber ist das meine? Mir dämmert Furchtbares: ICH BIN NICHT EINMALIG !"66 Die Mischung zwischen Ernst und Spiel, zwischen Ironie und Melancholie charakterisiert Hildesheimers schriftstellerisches Werk. Der Ich-Erzähler, der in "Masante" in der Wüste verweht und dessen Verschwinden Hildesheimer selbst immer wieder kommentierte,67 wird zum Spiel mit den Möglichkeiten 64 Patricia Haas Stanley, Wolfgang Hildesheimers "Tynset", a.a.o., S.91. Stanley versucht allerdings, im Hinblick auf den Ich-Erzähler mit Stanzels Begriffen des "erlebenden Ich" und "erzählenden Ich" zu operieren, gerät in Subjekt-Objekt-Schwierigkeiten und kommt zu Aussagen wie "Der Erzähler ist [...] skrupellos objektiv", S.89; dies widerspricht jedoch Hildesheimers Konzeption der Prosamonologe. 65 W.Hildesheimer, Vorarbeit zu "Die Verspätung", S.825. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.IV, S.824-825.66 W.Hildesheimer, Zettel, Karteikarten, Notizbücher, Disparata (1980-1989), S.517. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.I, S.508 ff.67 Siehe W.Hildesheimer, Die Subjektivität des Biographen. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.III,

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von Sprache, Literatur und Rezeption. "Tynset" und "Masante" sind nicht nur Ich-Geschichten, sie sind auch die Geschichte eines Spiels des Autors mit seinem potentiellen Ich, das im Schreiben erst entsteht:

"Das erfundene Ich ist nicht. Es wird erst. Nicht aufdie Verschriftlichung der Erfahrung kommt es an, [..]sondern darauf, sich und seine Welt erzählend selbst erst herzustellen. Statt die Welt abzubilden und sie wie die Medien noch einmal zu verdoppeln, muß der Erzähler sein Ich, seine Welt und die Zeiten verwandeln. Verwandeln heißt [..] sie kraft poetischer Vorstellung und Phantasie überhaupt neu schaffen."68

Gerhard Köpf ist mit den Gedanken der "Herstellung der Welt" und ihrer Verwandlung oder "Transposition" denen Günter Eichs und Wolfgang Hildesheimers nahe69 -

S.463-475. Dort S.464-465: "Nun also hatte ich kein Ich mehr. Dadurch war denn auch mein Erzählenam Ende. Denn als Erzähler konnte und könnte ich niemals objektiv sein, weshalb es sich denn auch für mich verboten hat, etwa einen wirklichen Romanzu schreiben, in dem ich nicht als Hauptfigur und als Auslöser allen Geschehens vorkomme. Ich habe mich niemals für einen Romancier gehalten."68 Gerhard Köpf, Komm, stirb mit mir ein Stück, S.69. In: Literaturmagazin Bd.19. Warum sie schreiben und wie sie schreiben. Hg. Martin Lüdke u. Delf Schmidt. Reinbek b.Hamburg, S.64-71.69 Vgl. W.Hildesheimer, Die Wirklichkeit des Absurden, S.43-61, die erste seiner Frankfurter Poetik-Vorlesungen. In: W.Hildesheimer, Ges.Werke Bd. VII, S.43-99. Dort S.48 zitiert Hildesheimer Günter Eichs Text "Der Schriftsteller vor der Realität": "Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erstherstellen."

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es ist der Vorgangscharakter der Kunst, der die Potentialität des Ichs bestimmt.

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I.2.2. Das Ich als Erzählfunktion

Käte Hamburger vertritt in "Die Logik der Dichtung" die These, im Ich-Roman könnten die "entscheidend fiktionalisierenden Darstellungsformen, die Verben der inneren Vorgänge", also Monolog und erlebte Rede,nicht vorkommen, "und zwar weder in Bezug auf dritte Personen, noch auf den Ich-Erzähler selbst, der als Erzählender sich selbst damit aufheben und zur Erzählfunktion machen würde."70 Nun ist in "Tynset" und"Masante" der Erzähler aber ein Ich, und dieses Ich kennt sogar die Gedanken anderer Personen. In Hildesheimers Prosamonologen kann das Ich auch seinenStandpunkt verändern, was einem Ich-Roman im Sinne Hamburgers widerspräche. Das Ich wird - wie Broch es bereits mit dem Wort "Erzähler-Idee" ansprach - zur Erzählfunktion.Das Ich reflektiert über sich selbst als potentielles Ich seines Schöpfers, es wendet sich gleichsam aus dem Text heraus an den Leser, und es spricht über seinen und zu seinem Schöpfer. Das Ich spricht seinen Monolog als Selbstreflexion:

"Ich bin oft gestorben, jetzt allerdings sterbe ich seltener, aber einmal muß es das letzte Mal sein. Ichschiebe das Ereignis hinaus, kein Tod von denen, die sich mir genähert haben, hat mich überzeugt, nie wußte ich, ob nicht ein besserer komme. Ich lebe nur einmal und diene damit als Versuch, aber ich sterbe oft, denn es gibt verschiedene Möglichkeiten der Auswertung dieses Versuchs. Möglichkeiten: ich meine nicht für mich, sondern für die Instanz, die mich leben läßt, mich beobachtet und nicht ohne Spannung darauf wartet, welchen Tod ich schließlich wähle." (TYN 78)

70 Käte Hamburger, Die Logik der Dichtung. München 1987, S.276.

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Hier spricht ein Ich aus dem Text über das Sein im Text. Es ist ein fingierter "Erfahrungsbericht" einererfundenen Existenz in der Welt des Textes. Die ge-nannte "Instanz" ist der Schöpfer dieses potentiellenIchs und seiner Wirklichkeit. Das Ich spricht über sein Erfundensein, eine literarische Gestalt reflektiert über Literatur. Hier spricht Fiktion überFiktion, es entsteht "Meta-Fiktion".71 Das Ich lebt nur einmal, denn es ist ein Autor, der 'Ich' schreibt, es kann aber oft sterben, so oft, wiees der Autor sterben läßt. In Franz Kafkas Erzählung "Der Geier" stirbt der Ich-Erzähler am Ende der Geschichte,72 könnte also die Geschichte gar nicht mitteilen - es sei denn, unmittelbar im Erleben. Es gibt also noch ein anderes Ich, das den Tod, seinen Tod, später berichten kann. Auch Hildesheimers Ich aus "Masante" verschwindet am Ende in der Wüste, und auch dieses Ich kann die Geschichte entweder nur unmittelbar, also authentisch im Erleben, erzählen - dies gemäß Hildesheimers Definition von absurder Prosa73 - oder es ist noch ein zweites Ich vorhanden, daß über jenes erste, sterbende Ich berichtet. Und dieses zweite Ich ist ebenfalls ein Ich des Autors.Die "Instanz", die das Ich beobachtet und "nicht ohneSpannung darauf wartet, welchen Tod" es schließlich wählen wird, ist der Autor selbst. Hildesheimer spielt ein Verwirrspiel zwischen den Polen Distanz

71 Vgl. zum Thema Patricia Waugh, Metafiction. London/New York 1984.72 Franz Kafka, Der Geier, S.318-319. In: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/Main 1970.Vgl. dazu den wichtigen Aufsatz von Klaus Weimar, Kafkas Wahrheit. In: Merkur 39, H.11, (1985), S. 949-960.73 W.Hildesheimer, Das absurde Ich. In: W. Hildesheimer, Ges.Werke Bd. VII, S. 82-99. Dort S.83: "Absurde Prosa aber ist unmittelbare Aussage,Mitteilung der Erfahrung, oft noch im Prozeß des Erfahrens."

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und Identifikation. "Mit Spannung folge ich beim Schreiben der Entwicklung",74 schreibt er über die Entstehung seiner Theaterstücke. Das beim Schreiben entstehende Ich, so suggeriert Hildesheimer, hat ein Eigenleben - es verändert sich. Damit ist es in gewisser Weise seinem Autor unbekannt, die eigenen Figuren werden ihrem Schöpfer fremd. Der amerikanische Schriftsteller Paul Auster unterstreicht die Tatsache, daß die Personen in Fiktionen keine manipulierbaren Marionetten sind, denn die Beziehung zwischen dem Autor und seinen Figuren ist viel subtiler.75

Schon in Hildesheimers "Lieblosen Legenden" klingt das Thema der Fremdheit der Figuren an, die ihre eigenen Wege gehen. In der dort enthaltenen Geschichte "Die Suche nach der Wahrheit" behauptet der Erzähler auf die fiktive Leserfrage nach der Wahrheit der Geschichte hin, die Unmöglichkeit ihrer Vermittlung sei seines "Helden Schuld, der auf der Suche nach ihr zuerst auf Abwege geraten und schließlich verlorengegangen ist"76 - und zwar in der Wüste, wie später das Ich aus "Masante".77 Wie so oft im Werk Hildesheimers klingen Grundtöne durch das gesamte schriftstellerische Werk: eine Figur verschwindet schließlich in der Wüste, und sein Autor

74 W.Hildesheimer, Empirische Betrachtungen zu meinem Theater, S.821. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.VI, S. 820-823.75 Cécile Wajsbrot, L'invention de l'écriture. Interview mit Paul Auster, S.81. In: Magazine Littéraire 308, (1993), S.79-82.76 W.Hildesheimer, Die Suche nach der Wahrheit, S.27. In. W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.I, S.26-27.77 Dieser Gedanke zuerst bei D.Frauenhuber, Die Prosa W.Hildesheimers. Diss. Salzburg (masch.) 1979, S.245, in einer dort angefügten Gesprächsaufzeichnung mit Hildesheimer.

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nimmt das Verschwinden seines Ich-Erzählers zur Kenntnis. Hildesheimers Prosamonologe als Konstruktionen einer immediaten Mitteilung - also Mitteilung einer direkten Erfahrung des Ichs -, ist der Versuch, einerseits die Unmittelbarkeit des Erlebens darzustellen, andererseits aber auch Hinweisauf eine gewisse Machtlosigkeit des Autors gegenüber seiner Schöpfung. Auch der Autor weiß nicht immer, was beim Erfinden seiner Figuren geschehen wird - siesind zwar auch "Abspaltungen" seines eigenen Ichs, verselbständigen sich aber im Laufe des kreativen Prozesses.Hildesheimer spricht nicht von sich selbst, wenn er in "Tynset" und "Masante" "Ich" schreibt, und er tut es doch. Das Ich ist nicht autonom, wie es manchmal den Anschein haben könnte - es entscheidet sich natürlich nicht selbst für die Wüste. Es ist Kunstfigur und Identifikationsfigur in einem, es ist ein fingiertes Ich, und gerade weil es immer ein anderes Ich ist als das Ich Hildesheimers, weil es eine Möglichkeit von vielen ist, kann es gleichzeitigin die Wüste gehen, hineingeschickt werden und darauswieder auftauchen. Das ist die von Günter Blamberger angesprochene "Variabilität des Ich-Erzählers".78 Hildesheimer wechselt innerhalb seiner Ich-Figur die Rolle, und sein potentielles Ich spielt ebenfalls mitsolchen Identifikationen. Besonders in "Tynset" wird das Ich als Erzählfunktion oder formaler Platzhalter möglicher Ich-Figuren deutlich. Das "Tynset"-Ich stellt sich die Vergangenheit seines"Winterbettes" vor: Der Fürst Gesualdo ermordete in diesem Bett seine Frau und ihren Liebhaber, und er selbst lag in diesem Bett und starb darin (TYN 129-133 und 237-241). Die vorgestellte Vergangenheit wird

78 Günter Blamberger, Der Rest ist Schweigen. Hildesheimers Literatur des Absurden, S.40. In: W.Hildesheimer Text und Kritik 89/90, (1986), S.33-44.

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Gegenwart, das Ich verschmilzt mit Gesualdo und ist doch nicht er, denn Gesualdo, so erzählt es, sieht "diesen Schädel unter dem hölzernen Himmel, den ich nicht sehe, denn er ist verschwunden, verblichen wahrscheinlich", und Gesualdo sieht, so erzählt das Ich weiter, "ein irres Flackern, das nicht da ist, denn es ist in ihm" (TYN 240). Das Ich wird zu einem Erzähler, der Dinge sieht, die nicht mehr zu sehen sind, und er erkennt als eine Art auktorialer Erzähler das Innere des Fürsten Gesualdo. Die Einführung der Pluralität der Perspektiven macht Hildesheimers Ich zur Erzähl-Funktion. Da gleichzeitig auch alle Personen im Text "Abspaltungen" des Ich sind, sind sie zwar dem Ich verwandt, dennoch nicht mit ihm identisch. Das »Ich« als Erzählfunktion erlaubt es dem Autor, in ihm verschiedene Perspektiven und Erzählhaltungen einzunehmen, und dem Ich-Erzähler, sich innerhalb derGeschichte in andere, von ihm erfundene Personen aufzuspalten. Die Figuren als "Abspaltungen" verlieren damit an Identität, sie werden manipulierbar, sie werden zu Variationen des Themas "Ich". Hildesheimers formales Kompositionsprinzip beschreibt Marco Guetg anhand der Personen der "Bett-Fuge" (TYN 189-211), die der Ich-Erzähler erfunden hat: "Die Figuren werden rein funktional gebraucht, als Typen ohne jede Individualität, denn schließlich geht es Hildesheimer nicht um Schicksale, sondern allein um die Konstruktion einer Geschichte mit starker formaler Anlehnung an die Fuge."79 Wenn diese These auch etwas überspitzt erscheint, so trifft sie durchaus die Rolle des Ich als Erzählfunktion. Es geht nicht um ein Individuum, dessen Leben beschrieben wird, sondern um das Erzählen von Geschichten.

79 Marco Guetg, Wolfgang Hildesheimer Tynset. Eine Kompositionsanalyse. Freiburg (CH) Lizentiatsarbeit arbeit (masch.) 1977, S.89.

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Das »Ich« ist der Grundton der Prosamonologe, es schafft dem Leser einen Leitfaden und Kontinuität. Inden autobiographischen Schriften des Zeichners und Schriftstellers Horst Janssen ist es das "EGO", das, pausenlos redend, aber immer wieder ansetzend und neubeginnend, den Text heruntererzählt und-schreibt. Weil der Leser diese Bezugsgröße "EGO" hat, die er als den Produzenten der disparaten Folge von Eruptionen identifizieren kann, betten sich ihm die Impulse und Fragmente ein in den Text "Autobiographie Horst Janssen". Und auch in "Tynset" und "Masante" ist es das Ich, ein EGO, das spricht und mitteilt, was es wahrnimmt und denkt und damit einen festen Bezugspunkt bildet. Der Ich-Erzähler ist jedoch kein verläßlicher Erzähler mehr. Seine Zuverlässigkeit wird auch von ihm selbst in Frage gestellt, denn er ist ja Erzählerund Erzählter gleichzeitig. Im traditionellen Roman war die Reflexion des Erzählers über seine Figuren, so Theodor W.Adorno, "moralisch: Parteinahme für odergegen Romanfiguren. Die neue ist Parteinahme gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den Erzähler selbst, der als überwacher Kommentator der Vorgänge seinen unvermeidlichen Ansatz zu berichtigentrachtet."80 Dieser "überwache Kommentator" ist auch der Ich-Erzähler aus "Tynset" und "Masante", der seine eigenen Erfindungen und seine gesamte Tätigkeit permanent mit Fragen unterhöhlt. Hildesheimer sagt dazu: "Er leidet eigentlich unter seiner eigenen Inkompetenz".81 Der Ich-Erzähler stellt seine Kompetenz, er stellt sich selbst in Frage. Joachim 80 Theodor W.Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S.45. In: Th.W.Adorno, Noten zur Literatur. Ges. Schriften, Bd. 2. Frankfurt 1974, S.41-48.81 Dieter E.Zimmer, Rückzug aus dem Leben. Gesprächmit W.Hildesheimer. In: Die Zeit Nr.16, 28.Jg. vom13.April 1973.

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Kaiser kritisiert aus diesem Grund Hildesheimers Ich-Erzähler aus "Masante": "da sollen keine fabelhaften geschlossenen Geschichten vorgetragen werden [...]. Ich will ja gar nicht in Schwung kommen - bedeutet uns dieses Ich."82 Der Ich-Erzähler in "Tynset" scheitert daran, die Wirklichkeit durch Fiktionen auszulöschen. In "Masante" schließlich will er gar keine Geschichten mehr erzählen, denn auch denFiktionen ist er nicht gewachsen. Der Ich-Erzähler aus "Masante" verabschiedet die Geschichten und damitsich selbst.

82 Joachim Kaiser, Stilleben mit Häschern. Plauderton und Verzweiflung. W.Hildesheimers "Masante". In: Süddeutsche Zeitung vom 14./15. April 1973.

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I.2.3. Abschied vom Ich

Hildesheimer führt in "Tynset" einen Sprechenden in seiner Unfähigkeit vor, sich in der Wirklichkeit einzurichten. Noch ist dieses Ich dem Ich Günter Eichs aus den "Maulwürfen" ähnlich, von dem Hildesheimer schreibt: "Das Ich des Erzählers führt seine Hilflosigkeit vor, es bleibt ihm nichts mehr, als die Distanz zu suchen, damit es nicht unter den Mitläufern untergehe."83 Der Ich-Erzähler aus "Tynset" zieht sich in sein Haus in den Bergen zurück, bricht die Kontakte zur Außenwelt ab und bleibt am Ende im Bett liegen. Es ist das Motiv der Handlungsverweigerung aus Angst, sich schuldig zu machen.Hildesheimers »Ich« ist jedoch nicht nur Erzähler, sondern auch abstraktes Erzählmedium, das zum Vehikelder Übermittlung von Geschehen wird. Weil der Ich-Erzähler sich aber nirgends wirklich einrichtet, weder in seinen Erinnerungen, noch in seinen Geschichten, noch in seiner Wirklichkeit, dennoch in allem partiell enthalten ist, transformiert er sich in einen atmosphäreschaffenden Geschichts- und Wirklichkeitsproduzenten. Damit verschwimmen Subjekt und Objekt der Geschichte, und Hildesheimers Prosamonologe rücken in ihrer Wirkung in die Nähe vonmodernen Videoinstallationen. Weil das potentielle Ich des Künstlers in allem steckt, nirgends aber vollständig, hat es atmosphärische Wirkung: "Die entmaterialisierte Anwesenheit des Künstlers in seinem Werk steigert die atmosphärische Wirkung: Die Installationen von Bill Viola seit 1975 vermitteln den Eindruck einer stark sinnlichen Präsenz einer Person, die physisch jedoch abwesend ist."84 In den Videoinstallationen Bill Violas werden Bilder von

83 W.Hildesheimer, Günter Eich und sein Schulterreiter, S.329. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. VII, S.327-330.

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Menschen übermittelt, die nicht anwesend sind, deren Präsenz jedoch intensiv erlebt wird, denn es ist der Künstler, der sie in seinem Medium formt. Beim Lesen von "Tynset" und "Masante" entsteht der gleiche paradoxe Eindruck von abwesender Anwesenheit. Das Ichaus "Tynset" bleibt als Figur ungreifbar, man weiß nichts von ihr. In "Tynset" sind Hausschuhe und Nachthemd die einzigen Hinweise auf sein Aussehen; allein daß ein alternder Mann spricht, ist deutlich. Dennoch spürt der Leser eine starke sinnliche Präsenzdieser Figur in den Prosamonologen, und wie beim Lesen von Samuel Becketts Trilogie "Molloy", "Malone stirbt" und "Der Namenlose" kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Autor als Sprechender überall präsent ist und nicht hinter den Figuren des Textes verschwindet - wie auch Hildesheimer selbst nie ganz hinter seiner Ich-Figur zu verschwinden scheint. Darauf weist auch Hildesheimers Begriff des "potentiellen Ich" hin. DieIch-Figur verliert dadurch an fiktiver Individualitätund gewinnt »Wirklichkeit«. Das Ich ist in allem und nirgends, es wird als Erzählfunktion zum Medium des Autors, es ist ein potentielles Ich Wolfgang Hildesheimers und als Träger der Fiktionen ihr Repräsentant."Masante" zeigt nun, daß das "Ende der Fiktionen" unddas Ende des Ich-Erzählers zusammenhängen. Dennoch erstaunt Hildesheimers Konsequenz im Abschiednehmen vom Ich-Erzähler und den Fiktionen, wie sie die Prosamonologe darstellen, wenn man folgenden Satz Peter Strassers über das moderne Subjekt mit Blick auf das »Ich« der Prosamonologe liest:

"Dieses selber muß als Trugbild, als Scheinexistenz entlarvt werden - so, wie es schon Schopenhauer tat. Es ist ja dieses Subjekt mit seinem unausrottbaren 84 Friedeman Malsch, Das Verschwinden des Künstlers?, S.27. In: Videoskulptur. Hg. W.Herzogenrath u. E.Decker. Köln 1989, S.25-34.

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Hang, die Welt als sinnvolles Ganzes zu konstituieren, welches schließlich die Welt dafür verachtet, gar haßt, daß sie sich der humanistischen Illusion entzieht."85

Die Wirklichkeitserfahrung, daß die Welt kein Ganzes ist, widerspricht dem Bestreben des Subjekts, sie alsein sinnvolles Ganzes zu konstruieren. Hier wird ein Grund dafür deutlich, daß Hildesheimer seinen Ich-Erzähler in "Masante" schließlich in die Wüste schickt und sich von der Monologprosa verabschiedet. In "Masante" wird der Abschied vom Ich-Erzähler entwickelt. Das Ich sucht nach Zusammenhängen, nach Vollkommenem und scheitert daran. Das Subjekt kann nicht anders, als "die Welt als sinnvolles Ganzes zu konstituieren" - da das aber nicht mehr möglich ist, muß von diesem scheiternden Subjekt Abschied genommenwerden. Hildesheimer braucht die Erfahrung mit dem Ich-Erzähler, um diesen Aspekt seines "potentiellen Ich" dann in die Wüste zu schicken - zumindest der Versuch sollte gemacht werden, und er wurde gemacht. Am Ende steht die Erkenntnis Albert Camus':

"Und ich weiß außerdem: diese beiden Gewißheiten - mein Verlangen nach Absolutem und nach Einheit und das Unvermögen, diese Welt auf ein rationales, vernunftgemäßes Prinzip zurückzuführen - kann ich nicht miteinander vereinigen."86

Als Erkenntnismittel des Autors hat dieses Ich gleichsam stellvertretend die Erfahrung des Scheiterns gemacht, und Hildesheimer kann diesen Aspekt seiner Ich-Figur als einen gescheiterten Versuch und gemachte Erfahrung schließlich abstreifen. Wegen der Vielheit der Ich-Abspaltungen

85 Peter Strasser, Philosophie der Wirklichkeitssuche. Frankfurt 1989, S.227.86 Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos.Hamburg 1959, S.47.

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ist es aber auch möglich, daß eine andere Seite der Ich-Figur in "Masante" sagen kann: "gelöst und bereit, früheres abzustreifen, aus der Hülle geschlüpft, tauche ich hervor in dünne Atmosphäre einer unbekannten Zukunft, der meinen, nicht der Meonas" (MAS 36). Hildesheimers »Ich« ist nicht Individuum, ist keine Einheit. Es gibt mehrere »Ichs«in seinen Prosamonologen. Sie sind die unterschiedlichen Facetten und Möglichkeiten des Ichs, und sie untergraben die Annahme des Lesers, es handele sich um eine Person - dabei ist es ein Verwirrspiel Hildesheimers mit dem Wort »Ich«. Ein potentielles Ich geht in der Wüste, ein anderes nimmt Abschied von den Fiktionen: Hildesheimer collagiert nicht nur seine Texte, er collagiert sogardas Subjekt, er baut es aus Teilen, aus Ich-Möglichkeiten zusammen. Das Ich aus "Masante" nimmt Abschied und tauscht die Ermüdung, die Sehnsucht nach Schlaf, wie es "Tynset" zeigte, ein in eine wache Aufmerksamkeit. Der Wüstenort Meona hat keine Zukunft mehr, es ist der Sprechende, der sich lösen muß von der Vergangenheit.So gilt für den Zusammenhang der beiden Prosamonologeund die Veränderung der Ich-Figur von "Tynset" zu "Masante" Volker Jehles Satz: "In Tynset geht es ums Einschlafen, in Masante ums Aufwachen."87

87 Volker Jehle, W.Hildesheimer Werkgeschichte, a.a.O., S.602, Anm. 63.

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II. WIRKLICHKEITSKONSTRUKTIONEN

"Maxine schweigt. Sie hat an einem Punkt abgesetzt,der weit von ihr selbst entfernt ist, sie ist im

Abrollendes Lebenslaufes einer Nebenfigur zum Endegelangt und überlegt einen neuen Anfang."

(MAS 102)

Hildesheimer sagt 1989 in einem Interview, er habe "in »Tynset« und »Masante« Bücher konstruiert, in denen viel Erzählmaterial unterzubringen war, indem sie beide sozusagen eine Rondo-Form haben: Der Ich-Erzähler ist das Zentrum und schweift immer ab und erzählt diese Geschichte."88 Die Struktur "Tynsets" und"Masantes" als die literarische Entsprechung einer musikalischen Partitur und ihre Fugen- oder Rondoform, die besonders "Tynset" betrifft, ist bereits hervorgehoben worden.89 Diese musikalische Struktur ähnelt der dynamischen Bewegung des Ich-Erzählers aus "Tynset" und "Masante", der sich vom Grundthema des Schrecklichen verabschiedet und immer wieder bei ihm ankommt. Das Schreckliche dringt in das Bewußtsein, dringt auch in die Geschichten, in das Geschehen ein, und der Sprechende flieht, nimmt Abschied, wie Hildesheimer selbst es beschreibt: "Undimmer wenn dieses Thema, wenn die furchtbare Gegenwart oder die furchtbare Vergangenheit näher heranrücken, transportiert durch das erzählende Element, werden sie wieder abgestoßen, und er erzählt

88 W. Hildesheimer, Ich werde nun schweigen, a.a.O., S.42. 89 So W.Hildesheimer selbst in zahlreichen Äußerungen, Vgl. oben Anm.88. In der Literatur zuerst Marco Guetg, Wolfgang Hildesheimer Tynset. Eine Kompositionsanalyse. Freiburg (CH) Lizentiatsarbeit (masch.) 1977, später Patricia Haas Stanley, Wolfgang Hildesheimers "Tynset". Meisenheim 1978.

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sich eine neue Geschichte."90 Das ist die Struktur der Prosamonologe: das Abbrechen der ins Bewußtsein des Ich-Erzählers dringenden Wirklichkeit durch eine Geschichte, das Abbrechen der sich ins Schreckliche verwandelnden Geschichte durch eine neue Geschichte. Die Ankunft-Abschied-Struktur beschreibt eine dialektische Bewegung, die zwischen zwei Punkten entsteht, ohne sie in einer Synthese zu vereinigen. Dieser Wechsel zwischen einem Punkt "Hier" und einem Punkt "Dort" begründet unter anderem, was Mathias Baum für "Masante" die "hochartifizielle Komplexität dieses Romans" nennt.91 "Tynset" und "Masante" beruhen auf einem Erzählen zwischen zwei Punkten, und diesem Erzählen eignet eine Polarität, die im Wechsel von einem Punkt zum anderen überwunden wird. Dieses Strukturprinzip des Wechsels findet sich auch bei demvon Hildesheimer hochgeschätzten Zeichner und Schriftsteller Horst Janssen, der über sich selbst schreibt: "Vielmehr ist die Wirbelei von Wechsel zu Wechsel - von Verwandlung zu Verwandlung - oder von Abschied zu Abschied die Statik meines Lebens."92

Die Bewegungen des Ich-Erzählers in "Tynset" und "Masante" sind Gedankensprünge. Sie enthalten dadurcheine Dualität von Zustand und Bewegung. Über Jürgen Beckers Bücher "Ränder" und "Felder" schreibt Hildesheimer 1968: "Hier springt das registrierende Bewußtsein von Feld zu Feld"93, und weiter: "das sprechende Subjekt gleitet von Gegenstand zu Gegenstand".94 Der Text von Jürgen Becker besitzt jene Denkbewegung von Punkt zu Punkt, wie sie "Tynset", 90 W.Hildesheimer, Ich werde nun schweigen, a.a.O.,S.42.91 Mathias Baum, Bildfindung im Spannungsfeld von Existentialität und Sensualität. Zur Poetologie Robert Walsers. Frankfurt/Main u.a. 1993, S.45.92 Horst Janssen, Hinkepott. Gifkendorf (3.Auflage)1988, S.214.93 W. Hildesheimer, Jürgen Becker "Ränder", S.322. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. VII, S.321-326.

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"Masante" und auch der autobiographische Text "Zeitenin Cornwall" haben.95 Nicht Entwicklungen, sondern Sprünge einer Ich-Existenz werden abgebildet. Deswegen ist die Kategorie der "Entfernung" von einemPunkt so wichtig, die räumliche Entfernung vom Punkt der eigenen Befindlichkeit. So heißt es in "Tynset": "Es ist mir auch weniger um die Zeiten zu tun als um die Orte und ihre Entfernungen untereinander und von mir, der ich jetzt im Bett liege" (TYN 10). Die Unterbrechung des Erzählten als Ausdruck des Zögerns und Scheiterns, ebenfalls ein Element der Ankunft-Abschied-Struktur, ist auch jene Grundstruktur von "Tynset" und "Masante" als Ausdruckdes immer neuen Versuchs des Ich-Erzählers, eine Wirklichkeit zu schaffen, die die Wirklichkeit abschafft. Die Wirklichkeitskonstruktion der Prosamonologe "Tynset" und "Masante" entsteht in den Denkbewegungendes Ich-Erzählers. Dieses Denken hat die bereits angesprochene Ankunft-Abschied-Struktur, die nun anhand der Texte nachgewiesen werden soll.

94 Wolfgang Hildesheimer, Jürgen Becker, a.a.O., S.324.95 Zu "Zeiten in Cornwall" siehe Mathias Baum, Bildfindung, a.a.O., S.47, Anm.17.

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II.1. Abschied und Ankunft

"Ich mußte mich in diese Orte einleben, um von diesen Punkten aus [...]

über andere Punkte zu reflektieren."Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald

Christiaan L.Hart Nibbrig schreibt über C.F.Meyers Gedicht "Möwenflug": "Schon der Titel enthält die Frage nach dem Standpunkt. Davon hängt ab, ob die Möwen im Gleitflug vorzustellen sind oder ob ihr Fliegen optisch, gleichsam photographisch als Momentaufnahme [...] stillgelegt wird. Nur in Bezug auf einen festen Punkt wäre Bewegung in actu wahrnehmbar. Dieser Punkt als Kontrapunkt und motivische Objektivation des Ich [...] ist der Fels."96

In "Tynset" ist das Sommerbett, so erzählt der Ich-Erzähler, "Ausgangspunkt meiner sommernächtlichen Gänge" (TYN 21). Solche Ausgangspunkte sind aber nicht nur konkrete Orte, sondern auch Namen und Gegenstände. Zu Beginn von "Tynset" schweifen die Gedanken des Sprechenden ab, um Schlaf zu finden, keineswegs etwa eine Geschichte. Das Schweifen der Gedanken wird durch einen Namen angehalten, den der Ich-Erzähler zufällig im Kursbuch findet: "Tynset, daran bin ich im Vorbeigehen haften geblieben, diesesWort umkreisen meine Gedanken, sie kreisen es ein" (TYN 26). Das Denken als »Vorbeigehen« bleibt an einem Namen hängen, dieser wird zum Ankunftspunkt derGedanken, und der Name "Tynset" wird zum Hintergrund des Geschehens.Flucht oder Abschweifen ist nur möglich, wenn es einen Punkt gibt, vor dem man fliehen kann, und einen Punkt, an dem man "landen" kann, um erneut Orientierung zu finden. "Tynset. Da liegt es, eineSaat zwischen die Gedanken gestreut" (TYN 133) - 96 Christiaan L.Hart Nibbrig, Spiegelschrift. Spekulationen über Malerei und Literatur. Frankfurt/Main 1987, S.141.

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"Da liege ich" (TYN 72) - "in diesem Bett" (TYN 269) - "und an diesem Punkt, da bin nun auch ich" (MAS 21) - ähnliche Sätze finden sich oft in "Tynset" und "Masante". Der deiktische Charakter der Worte "da" und "dieses" verweisen auf den Standpunkt, von dem aus der Blick auf einen vorgestellten Punkt oder ein Geschehen gerichtet werden kann. Die Vorstellungskraft hat Zielpunkte bekommen, ein Abschied vom Standpunkt der eigenen Befindlichkeit ist möglich geworden, es geschieht eine Ankunft im "Dort". Der Punkt "Dort"wird damitin den Standpunkt Hier verwandelt. So werden alle Punkte, die der erlebten Wirklichkeit und die der Vorstellungskraft, je nach Perspektive des Ich-Erzählers zu Ankunfts- oder Abschiedspunkten. Verbunden werden sie durch die dynamische Bewegungder Ankunft-Abschied-Struktur, die Entfernungen festlegt und die Wahrnehmung von Bewegung erst ermöglicht. Jürgen Beckers Ich aus "Felder" erkennt dies genau: "und der Ort, wo ich immer anwesend bin, ist der Ort, von dem ich mich immer entferne."97

Die Struktur von "Tynset" und "Masante" ist - gleich einem Netzwerk - zwischen zwei Punkte oder Zustände gespannt, zwischen dem vorgestellten odererinnerten und dem tatsächlichen Standpunkt. In "Masante" sind die Orte Meona und Masante, in "Tynset" das Haus in den Bergen und der Name Tynset in spiegelbildlicher Anordnung Ankunfts- und Abschieds-Punkte, also Hier und Dort. Das Hierkann nicht bestehen ohne ein Dort, wie Befreiung nicht erfahrbar ist ohne deren Gegenteil, die Erfahrung des Eingeschlossenseins: "Der Punkt hier, der sich Meona nennt, wird für mich einzig bestimmt durch seine Entfernung von Masante. Nur in Beziehung zu Masante gewinnt er Sinn und Gültigkeit" (MAS 61). In "Masante" wird die

97 Jürgen Becker, Felder. Frankfurt 1988, S.140.

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Gleichzeitigkeit des Hier und Dort zur Erweiterungder Wahrnehmung: "Jetzt dort drüben stehen! Ich sehe mich, weit dort hinten, vor den Hügeln, allein, und alles ist still, kein Laut - da stehe ich" (MAS 90). Der Standpunkt in der Vorstel-lungskraft kann ein Ort der Ankunft, aber auch erneut einer des Abschieds werden. In "Tynset" istder Mond ein solcher Ankunfts-Abschieds-Punkt. DieAnkunft auf dem Mond geschieht in der Vorstel-lungskraft: "Wenn der Mond scheint, so stelle ich das Rohr auf ihn ein und beobachte dieses Ding, betrachte es zuerst von außen, ich nähere mich allmählich; sanft wie der Flug des Engels auf einer Verkündigung lande ich dann auf seiner Ober-fläche, ich stehe auf ihr" (TYN 178) - dann der Abschied: "Der Mond ist nur der Ort meines Absprungs, ich will auf anderes hinaus und komme auch auf anderes, weiter Entferntes" (TYN 180). Die Ankunft-Abschied-Struktur zeigt sich als Fortschreiten von Punkt zu Punkt, um einen Punkt zu finden, von dem ein endgültiger Abschied möglich ist.Diese Punkte sind aber nicht nur topographische oder ästhetische, sondern auch existentielle Orte. Denn esläßt sich nicht bestimmen, wo ein träumender, phan-tasierender, sich erinnernder Mensch ist. Michel Leiris beschreibt in einer Prosaarbeit die Erfahrung eines Traumes, der ihn in eine parallele Welt eintreten ließ, in der sich ein imaginäres Pariser Viertel mit einem realen vermischt: "Ein Viertel also, das demnach in gewisser Weise existent ist und das ganz einfach einer anderen Topographie angehört als der meines realen Alltagslebens."98 Die Räume des Bewußtseins liegen in einer anderen Dimension als dieexistierenden Räume. In "Tynset" heißt es: "nicht Sizilien, auch nicht Lissabon, diese Orte gibt es,

98 Michel Leiris, Das Band am Hals der Olympia. Hg.Hans-Jürgen Weinrichs. Frankfurt 1989, S.87.

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von dem Punkt in der Nacht aus gesehen, an dem ich jetzt bin, nicht. Ich bin jetzt außerhalb allem, in einer anderen Dimension" (TYN 249). Wenn dieser Punkteiner "anderen Dimension" aber verlassen wird, dann hört er auf zu existieren. Er hat sich verbraucht. Der magische Name Tynset hat am Morgen für den Ich-Erzähler keine Bedeutung mehr. Er ist wieder in eineranderen Topographie, in einer anderen Wirklichkeit, und dort ist Tynset irgendein Ort in Norwegen. Der Existenz-Ort Tynset ist aber ebensowenig vergeblich, wie die "Vergeblichen Aufzeichnungen" als Aufzeichnungen vergeblich sind. Tynset war in der durchwachten Nacht lebensnotwendig, ein Bezugspunkt, ein Raum-Zeit-Punkt der Zuflucht, ein Ziel in der Reisezwischen den Dimensionen, ein Anker der schweifenden Gedanken. Die am Ende von "Masante" erinnerte Frage "Wohin denkst du?" ist eine Frage nach dem Ort Wohin.Aber dieser Ort ist nicht bestimmbar, er ist ein Ort der Weite: er ist Dorthin. Die bestimmbaren Dinge sind dann auch zu Beginn von "Masante" schnell aufgezählt. Ort und Zeit: Meona, der erste Juli in Meona - sogar der Ort, wo der Ich-Erzähler nicht ist,wird genannt: Masante. Und das ist alles. Dann kommendie Fragen. In "Tynset" sucht der Ich-Erzähler, so sagt er, nach dem " Einziehen des Ankers, dem Beginn meiner langsamen, zuerst nicht wahrgenommenen Entfremdung, dem Verlust der Gesichtspunkte" (TYN 87), nach denen die Elemente des Gegebenen geordnet werden können, neuen Halt, und für eine Nacht wird das Wort Tynset zum Anker, zugleich aber auch zum Hindernis, wie allefesten Punkte gleichzeitig Setzungen - also Hindernis im Suchen von Weite - und Orientierung sind. Punkte sind die Orte, von denen aus wahrgenommen wird. Meona ist ein künstlicher "Nullpunkt der

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Räumlichkeit",99 es ist der Ort, von dem aus die Blickemöglich werden. Da aber Sein wesenhaft "In-der-Welt-Sein"100 und also In-Raum-und Zeit-Sein bedeutet, kann die Vorstellung von einem Nullpunkt nur Hilfsmittel sein. Die Fiktion eines Nullpunktes der Räumlichkeit nennt Maurice Merleau-Ponty, um schließlich Raum als Daseinsbedingung hervorzuheben: "Ich sehe ihn nicht nach seiner äußeren Hülle, ich erlebe ihn von innen, bin in ihm eingefangen. Schließlich ist die Welt um mich herum, nicht vor mir."101 Eine Beobachtung von irgendeinem Außenstandpunkt gibt es nicht. Ebenso istder Begriff "Zeit-Punkt" eine Erfindung der Sprache: die Zeit hat keine Punkte, sie vergeht kontinuierlich. Deshalb sind Hildesheimers Punkte topographisch beschreibbare Orte im Raum als der sichtbar gemachten Zeit. Sie werden zu Zuständen in der Raum-Zeit als festgestellte Befindlichkeiten. Dietopographischen Orte Masante und Meona sind daher sowohl Orte im Raum, als auch existentielle Befindlichkeiten: "und an diesem Punkt, da bin nun auch ich, an meinem südlichsten und östlichsten Fluchtpunkt und Kontrapunkt zu Masante, dieser Kontrapunkt ist sein Zweck für mich und damit sein einziger Wert: kein Thema, eine Verfassung" (MAS 21).Diese Erfahrung eines Raum-Punktes als Verfassung meint der Sprechende aus "Masante", wenn er von Meonasagt: "und da liegt es jetzt, und ich bin drinnen" (MAS 59). Der Ankunft in der Wüste und dieser "Verfassung Meona" werden Pluspunkte abgerungen, denneine Verfassung ist kein gewählter Ort: "Zähle ich 99 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, a.a.O., S. 31.100 Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen (16.Auflage) 1986, S. 53. "Diese Seinsbestimmungendes Daseins müssen nun aber a priori auf dem Grunde der Seinsverfassung gesehen und verstanden werden, die wir das In-der-Welt-Sein nennen."101 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, a.a.O., S.31.

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die Pluspunkte!" (MAS 26). Das Ende von "Masante" zeigt den Ich-Erzähler an "eine[r] neue[n] Art von Morgen" (MAS 363) immer noch mit dem Sammeln von Plus- und Minuspunkten beschäftigt: "Ich werde die Punkte zu addieren haben, die mich hierhalten und siegegen jene setzen, die mich forttreiben" (MAS 364). Hildesheimers Ankunft-Abschieds-Punkte sind, weil sieRaum-Zeit-Punkte sind, auch Orte der Absenz und beschreiben, was nicht ist oder nicht mehr ist. Am Beginn von "Masante" definiert der Sprechende seine Befindlichkeit in diesem Sinne: "Dann erst die Orte, an denen ich nicht bin und ihre Zeiträume" (MAS 7). Der Ort, an dem der Ich-Erzähler nicht ist, ist sein Haus in Masante, ist der Rückbezugspunkt und das Dort, das dem Ort Meona am Rande der Wüste als dem Hier seinen Bezugspunkt liefert. So ein Nicht-Ort wiedas Haus Masante ist auch Tynset, ein Ort, der noch nicht ist - oder nicht mehr. Auch diese Punkte werdenzu Orientierungshilfen.Der Name "Tynset" als Orientierungspunkt einer nächtlichen Gedankenreise wird schließlich abgelegt, er war ein Ankunft-Abschieds-Punkt. Hier liegt die Verbindung der Prosamonologe "Tynset" und "Masante". Der Name Tynset ist für den Ich-Erzähler eine Chiffrefür Geheimnis und Rätsel. Als Begriff scheint er zunächst ein brauchbarer Zielpunkt zu sein, mit Inhalt füllbar; am Ende wird er jedoch als leerer Begriff verabschiedet. Die Leere des Namens Tynset bietet damit einen Fluchtpunkt aus der Wirklichkeit. Die Wüste dagegen ist für den Ich-Erzähler aus "Masante" nur die Vortäuschung von Distanz und Leere:

"Wo also beginnen? Hier bin ich nun, hierher bin ich geraten, unter dem ewigen Vorwand des Suchens nach bestimmten Dimensionen der Distanz, und jetzt wird mir klar, daß es bessere Orte gegeben hätte, ohne eine Maxine und ohne eine Wüste, die lockt und droht." (MAS 110/111)

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Tynset ist ein erfundener Ort der Vorstellungskraft geblieben. Die Wüste aber ist zur Verfassung, sie istwirklich geworden, und deshalb ist sie ein Ende.Geheimnisse dagegen sind Quellen immer neuer Anfänge,immer neuer Möglichkeiten. Erzählen heißt aufdecken, also auch vernichten der Rätsel. So wird Tynset schließlich verabschiedet, aber es bleibt ein Geheimnis, wie es Rainer Malkowski in seinem Gedicht "Vom Rätsel ein Stück" erfaßt:

"Wenn es dich streift,bleibt es für immer.Und flog doch vorbeiund ließ nichts zurück.

Es ist nicht, was es ist.Es ist das, was ihm nachsinnt.Es ist ein Drittes, das beidesunaufhörlich erdenkt.

So dunkeln die Jahre."102

Tynset als wirklicher Ort hat für den Ich-Erzähler keine Bedeutung, er bleibt der Name eines unbekanntenDorfes in Norwegen. "Das,was ihm nachsinnt" aber ist der Ich-Erzähler. Er macht Tynset zu einem Teil seines Selbst, weil es in seinem Bewußtsein lebendig ist. Tynset war am Anfang noch Geschichten wert. Schließlich wird Tynset zur Chiffre für das Geheimnisund für das "Ende der Fiktionen": "Zu Tynset jedoch -das wird mir zunehmend klar- fällt mir nichts ein, nichts und niemand, außer Hamlet, aber er fällt mir oft ein" (TYN 244). Tynset, auf einen Block geschrieben, ist eine Überschrift und "nichts dahinter als weißes Papier" (TYN 245). Über die Wüsteaus "Masante" sagt der Ich-Erzähler: "hier ist es

102 Rainer Malkowski, Vom Rätsel ein Stück. In: Rainer Malkowski, Gedichte. Eine Auswahl. Frankfurt/Main 1989, S.63.

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warm und weiß" (MAS 14). Wieder wird der Zusammenhangzwischen "Tynset" und "Masante" deutlich. In "Masante" ist der Ich-Erzähler aus "Tynset" in einem anderen Tynset, ist im Dort angekommen und erprobt, was der Wechsel der Perspektive bringen könnte. Er hat sich verdoppelt und steht im Hier und im Dort. Hildesheimer lotet die Möglichkeiten von Literatur aus. In "Tynset" ist der Standpunkt das Hier, die Projektion richtet sich auf das Dort. In "Masante" dreht sich diese Konstellation um. Der Sprechende befindet sich im Dort, und vom Dort wird auf das Hierzurückgeblickt. Wieder stehen Ankunft und Abschied und die Frage des Standpunktes im Zentrum, wieder istes die Beziehung zwischen Hier und Dort, zwischen zwei gleichzeitigen Befindlichkeiten, die die Reflexionen des Ich-Erzählers bestimmt.In "Tynset" und "Masante" ist oft die Rede von Pfählen. In "Tynset" heißt es über die Personen, die der Ich-Erzähler nachts angerufen hatte, "daß es Männer waren, die sich überall zurechtfinden, an jedem Ort ihre Pfähle einschlagen und eine neue Existenz aufbauen" (TYN 40). Pfähle stecken Gebiete ab, sie leiten in der Wüste und im Schnee. Es gibt in"Masante" wenige, in Großbuchstaben gedruckte Worte, und sie erinnern an Horst Janssens Eigenart, wichtigeWorte wie "EGO" groß zu schreiben. Am häufigsten ist der Satz "CHI TOCCA MUORE", der Satz auf einem Eisenschild:103

"CHI TOCCA MUORE! Diese Eisenplatte, gut gegossen, die Buchstaben erhaben geprägt, [...]. Ich habe das Schild von einem Hochspannungsmast abgeschraubt und seine Rundung geradegehämmert, jetzt liegt es fest

103 Vgl. MAS.18,208, 209, 295, 299, 372, 376. Vgl. auch "TOCCA", MAS 372; "TOCCARE", MAS 373; "TOCCATA" MAS 329. Großgeschrieben ist "HERR LÜDIGWAR HIER!" und "ICH WAR HIER, HERR LÜDIG!", MAS 74; "ZEIT", MAS 108; "ZEIT", MAS 110; "FUCK", MAS 109; "JOH.CHRST.PRAESENT WWE", MAS 297.

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und schwer auf den Zetteln, auch auf den kleinen, aufden Fahrkarten, Billets, Miniaturnotizen." (MAS 208)

Einen Großbuchstaben hat das Wort für die Häscher: "die Beiden".104 Auch das Wort "PFAHL" (MAS 374) ist einmal in Majuskeln geschrieben. Diesen Pfahl gilt esam Ende vom Ich-Erzähler aus"Masante" zu berühren, der Pfahl wird zum Ziel. Damit gehört auch er zu jenem Satz: "CHI TOCCA MUORE: Wer berührt, stirbt! Fertig! Kein Wort zuviel, ein klarer Satz" (MAS 209).Der Ich-Erzähler ist in die Wüste gegangen, und er sucht im wehenden Sand nach Halt: "Also: nicht ziellos sandeinwärts von Pfahl zu Pfahl" (MAS 372). Zum ersten Mal hat er ein festes Ziel: "Den Pfahl noch berühren, ja, - TOCCARE - bevor der Sand ihn vormir verwischt" (MAS 373). Der Irrende kommt an: "Das muß er sein, der PFAHL, den ich berühren will" (MAS 374), bleibt aber auch in der Wüste noch der Analytiker der Dinge: "Aus welchem Holz ist dieser Pfahl?" (MAS 375). Wolfgang Hildesheimer kehrt mit "Masante" an den Anfang zurück, zu seinen Prosaerzählungen "Hamlet" (1961) und "Der Ruf in der Wüste" (1963). Der Ich-Erzähler aus "Masante" findet am Ende einen Teil des Skeletts, an dem der Ich-104 Vgl. Fritz Nies, Kleinigkeiten wie Großbuchstaben. In: Imago Linguae. Festschrift Fritz Paepcke. Hg. K.-H.Bender u.a. München 1977, S.425-441, der auf die Bedeutung der Majuskeln in Charles Baudelaires "Fleurs du Mal" hinweist. Für Nies werden diese Wörter zu neuen Allegorien und Verrätselungen des Bekannten, vgl. S.439 und 441. Hildesheimers Majuskel in "die Beiden" deutet vielleicht auf Ähnliches hin. Alain und der Ire aus "Masante" heißen auch "die Beiden" (MAS 355), was Peter Hanenberg zu dem Schluß verleitet: "Der Erzähler wird von Alain und dem irischen Polizisten in die Wüste getrieben, d.h. diese »Beiden« erfüllen an ihm [...] die Bedrohung der Häscher." In: Peter Hanenberg, Geschichte im Werk W.Hildesheimers. Frankfurt 1989, S.160 u. Anm.17.

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Erzähler aus "Hamlet" (1961) bereits baute: "Da saß ich, in der Nacht, in meinem Schlafzimmer, zwischen den Schenkelknochen meines Riesen, ich legte sie zusammen wie ein Rätselspiel".105 Knochen, ein Skelett findet auch der Ich-Erzähler aus "Der Ruf in der Wüste" an einem Pfahl im Sand: "Und dann, an einem Pfahl [...] lag, lang ausgestreckt, als ergebe es sich der Sonne zu hemmungslosem Genuß, ein menschliches Skelett."106 Das Ende kommt wieder im Anfang an, der Anfang war bereits das Ende. Eine Ankunft-Abschied-Struktur verbindet diese monologische Prosa der 60er Jahre bis zu ihrem definitiven Ende, dem Prosamonolog "Masante".In "Masante" hat der Ich-Erzähler seinen Standpunkt gefunden, den der Ich-Erzähler in "Tynset" noch suchte. In Hildesheimers Prosaband "Mitteilungen an Max" taucht wieder ein Ich-Erzähler auf, und dieses »Ich« affirmiert seinen Standpunkt: "Sonst aber ist mein Standpunkt klar und fest und entschieden, läßt nicht oder ungern an sich rütteln" (MAX 37)107. Aber nicht nur der Standpunkt, auch die Sehnsucht nach Weite, das Grundthema aus "Tynset", hat ihre Erfüllung gefunden. Der Ich-Erzähler aus den "Mitteilungen an Max" kann dort ruhig von sich sagen:"Ja, lieber Max, ich habe, weiß Gott, lange genug dasWeite gesucht, aber ohne jemandem zu nahe treten zu wollen, was, wie Du weißt, ohnehin nicht meine Art ist, darf ich von mir sagen: ich habe es gefunden" (MAX 30).

105 W.Hildesheimer, Hamlet, S.261. In: W.Hildesheimer, Ges.Werke Bd.1, S.259-272.106 Wolfgang Hildesheimer, Der Ruf in der Wüste, S.371. In: Wolfgang Hildesheimer, Gesammelte WerkeBd.II, S.369-380.107 MAX 37 = Wolfgang Hildesheimer, Mitteilungen anMax über den Stand der Dinge und anderes. Frankfurt 1986, S.37.

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II.2. MONOLOG - SPRACHWELTEN

"Tynset" und "Masante" bezeichnet ihr Autor als "Monolog",108 nicht als Ich-Erzählung oder Roman. Es geht um das Denken und Sprechen als Ursache der Erfindung von Wirklichkeit. Bernd Scheffer schreibt zu Hildesheimers Hörspiel "Unter der Erde": "Kein übergeordnetes Thema bestimmt die Abfolge im Dialog, sondern der Fortgang des Sprechens ergibt sich aus den Möglichkeiten der Sätze selbst."109 Dies gilt auch für die Prosamonologe: Wirklichkeit entsteht durch Sprechen, sie entsteht im Denken und Sprechen des Ich-Erzählers.Die Bezeichnung »Prosamonologe« für "Tynset" und "Masante" bezieht sich auf HildesheimersBegriff des "Monologs". Prosatexte als Monologe, alsoals Selbstgespräche zu bezeichnen, ist ungewöhnlich, handelt es sich doch nicht um Reden oder Theatersequenzen, sondern um geschriebene Prosa. Die Bezeichnung "Monolog" weist auf einige Besonderheitender Texte hin, die für sie konstitutiv sind. Der Ich-Erzähler in "Tynset" spricht überwiegend mit sich selbst, nur die kurze Celestina-Szene hat rudimentäreAnsätze zum Dialog. "Masante" dagegen enthält Dialog,der überwiegend zwischen dem Ich-Erzähler und dem Wirt Alain stattfindet, während der "Dialog" zwischenMaxine und dem Ich-Erzähler monologische Züge trägt. Die Bezeichnung "Monolog" meint aber auch weniger denInhalt, als vielmehr die Struktur der Prosa als die eines potentiellen Selbstgespräches in Gedanken. In der"Rede an die Jugend" von 1991 sagt Wolfgang Hildesheimer:

108 W.Hildesheimer, Die Subjektivität des Biographen, S.463. In: Wolfgang Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd.III, S.463-475. 109 Bernd Scheffer, Transposition und sprachlich erzeugte Situation, S.19. In: Über Wolfgang Hildesheimer. Hg. Dierk Rodewald. Frankfurt 1971, S.17-31.

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"Mit »denken« meine ich nicht »an etwas denken« oder »über etwas nachdenken« oder »etwas bedenken«, sondern ich verstehe es als fortwährendes kontra-punktisches Selbstgespräch, als aktiven Vollzug, eineessentielle Stimme in der Partitur unseres Lebens, daher unaufhörliche Kontrolle all unseres Tuns und Lassens. Denken und Fühlen sollten in uns untrennbar durch einander bedingt sein. Die Frage »Warum tue ichdas, was ich tue?« begleite uns immer."110

Der unaufhörliche Rechenschaftsbericht vor sich selbst, die Infragestellung allen Tuns und Lassens imgedachten Selbstgespräch, das ist gemeint mit der Bezeichnung "Prosamonolog". Diese Technik in "Tynset"und "Masante" als Bewußtseins- oder Gedankenstrom zu bezeichnen,111 muß falsche Vorstellungen wecken, denn hier strömen keine Gedanken. Hier denkt einer in gesprochenen, klaren, konstruierten Sätzen. Hildesheimers Prosamonologe sind der geschriebene Ausdruck gedachter Selbstgespräche, ein gedachter Monolog im Kopf. Scheffers These von der "Sprechkonstellation als der eigentlichen Trans-positionskraft",112 die er für Hildesheimers Theaterstück "Der schiefe Turm von Pisa" aufstellt, zeigt Hildesheimers Technik der "Transposition" als die Herstellung einer eigenen Wirklichkeit, der

110 W.Hildesheimer, Rede an die Jugend. Frankfurt 1991, S.13-14. Diese Rede, gehalten im März 1991 anläßlich der Verleihung des Weilheimer Literaturpreises, ist in den Gesammelten Werken insieben Bänden nicht enthalten.111 "Gedankenstrom" bei Maria Chiara Ninatti, Der Pessimismus in Hildesheimers Prosa. Mailand Liz.arbeit (masch.) 1986/87, S.87. "Bewußtseinsstrom" u.a. bei B.Dücker, W.Hildesheimer und die dt.Literatur des Absurden. Bensberg 1976, S.83 u. 84.112 Bernd Scheffer, Transposition, S.20.In: Über W.Hildesheimer, a.a.O.

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Wirklichkeit der Sprache: "In der Transposition findet eine [...] Eigenbewegung der Sprache statt".113

Die Bezeichnung "Monolog" birgt außerdem ein Element des Scheiterns in sich. Ein Monolog ist vergebliches Erzählen oder ein "Sich-selber-Erzählen"114, wie es Peter Horst Neumann nennt, denn es gibt kein Gegenüber. Die Geschichten-Wettbewerbe, die Maxine und der Sprechende in "Masante" austragen, sind ein deutliches Beispiel für gescheiterte Kommunikation und für die unbegrenzten Möglichkeiten des Geschichtenerfindens. So wird die Form des Monologs eine Form der Wirklichkeitskonstruktion, die das Fragen ohne Antwort und das Sprechen ohne Gegenüber thematisiert.

113 Burckhard Dücker, W.Hildesheimer und die dt. Literatur des Absurden, a.a.O., S.42.114 Peter Horst Neumann, Voreingenommene Bemerkungen, S.266. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.264-268.

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II.2.1. Die Sprachwelt in "Tynset" und "Masante"

"Aber Maxines Vater sehe ich nicht.Ich sehe nur Maxine, wie sie ihn sieht."

Wolfgang Hildesheimer, Maxine.

Die Figur Hamlet ist wiederum Vorbild der Prosamonologe, weil sein Sprechen die Art der Wirklichkeitskonstruktion in "Tynset" und "Masante" präfiguriert. Die erste Szene des 5.Aktes aus Shakespeares "Hamlet" könnte der Ausgangspunkt der Schaffensperiode Hildesheimers gewesen sein, die sichvon Hildesheimers Romanfragment "Hamlet" und den "Vergeblichen Aufzeichnungen" bis hin zu "Masante" erstreckt. Als in Shakespeares "Hamlet" der Totengräber einen Schädel aus dem ausgehobenen Grab wirft, hebt ihn der Dänenprinz Hamlet auf und sagt zuseinem Freund Horatio:

"Hamlet: [...] This might be the pate of a politicianwhich this ass now o'er- offices, one that would circumvent God, might it not?Horatio: It might, my lord.Hamlet: Or of a courtier, which could say, »Good morrow, sweet lord [...].« This might be my Lord Such-a-one [...], might it not?Horatio: Ay, my lord."115

Hamlet zeigt sich hier nicht nur als Vorbild der Figuren aus Hildesheimers Monologprosa, die die Möglichkeiten eines Gegenstandes und dann die Wahrscheinlichkeit der erfundenen Geschichten erwägen. Hier erweist sich Hamlet auch als Vorbild der Konstruktion von Sprachwelten. 115 William Shakespeare, Hamlet. Hg. Harold Jenkins, a.a.O., S.380-381. Vgl. zum Thema Franz Loquai, Flucht aus der Geschichte in die Geheimnisse der Kunst. W.Hildesheimer und Hamlet. In: ders., Hamlet und Deutschland, a.a.O., S.192-214.

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Hildesheimer versuche sich weniger als ein Erzähler von Fiktionen, schreibt Reinhard Baumgart, sondern "als ein Erfinder von Realität, als ein Dokumentar-phantast sozusagen [...], auch in »Tynset« und »Masante«, in denen sich eher Redewelten als Erzählwirklichkeiten entfalten."116 Baumgarts Begriff der "Redewelten" charakterisiert die Prosamonologe als gesprochene Texte. Ihr Sprechcharakter macht sie zu Fiktionen im ältesten Sinne des Wortes:

"Zu Sprechen, sei es zu sich selbst oder zu jemand anderem, heißt zu erfinden, im nacktesten, strengstenSinn dieser unergründlichen Banalität, heißt, das Sein und die Welt wiederzuerfinden. Ausgesprochene Wahrheit ist ontologisch und logisch »wahre Fiktion«,wobei uns die Etymologie des Wortes »Fiktion« un-mittelbar auf das »Machen« verweist."117

George Steiners Satz trifft Hildesheimers Prosamonologe genau, und in seinem Sinne sind "Tynset" und "Masante" Fiktionen als Sprachwelten oder jene "Redewelten", von denen Baumgart spricht. Sprechen konstruiert Wirklichkeit. In "Masante" am Rande der Wüste schafft die Sprache Wirklichkeit: "Venedig habe ich stehen lassen, lasse ich das Heidelberger Schloß einstürzen, viel wäre damit nichtverloren. Ich sage: »Das Heidelberger Schloß ist eingestürzt.«" (MAS 252-253). An dieser Stelle stehengedachte und gesprochene Sätze direkt hintereinander.Der Sprechende aus "Masante" macht seine Erfindungen im Sprechen zur Wahrheit, und der Wirt Alain erwidert: "»Sehen Sie? Das war Korrosion durch Wind«"(MAS 253).

116 Reinhard Baumgart, Heimisch im Absurden, S. 342. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.339-343.117 George Steiner, Von realer Gegenwart, a.a.O., S.80.

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Hildesheimers Interesse für gesprochene Sprache prägtsich in seiner Tätigkeit als Hörspiel- und Theaterautor aus. Hörspiele und Theaterstücke begleiten auch stets Hildesheimers Prosatexte. Die Hörspiele "Monolog" (1964) und das Theaterstück "Nachtstück" (1963) sind eng verwandt mit "Tynset", das Hörspiel "Maxine" (1969) und das Theaterstück "Mary Stuart" (1970), schließlich auch das letzte Hörspiel "Hauskauf" (1974), erst nach Veröffentlichung von "Masante" erschienen, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit "Masante". Außerdem sind Reden stete Begleiter seines literarischen Schaffens, angefangen mit der berühmten Rede "Über das absurde Theater" von 1960 bis hin zur "Rede an die Jugend" von 1991.118 In seinem letzten großen Prosawerk "Marbot" schreibt Hildesheimer als BiographAndrew Marbots über dessen Aufzeichnungen zum Thema Selbstmord:

"Man möchte diese seltsamen Eintragungen »laute Gedanken« nennen, wenn nicht gerade sie unhörbar wären; es ist ein »sichtbares Denken«, das er sich inWirklichkeit nicht erlauben will, und doch hält er esfest, getarnt als ein Anderer" (MAR 199).

"Tynset" und "Masante" realisieren diese Paradoxien der "lauten Gedanken" und des "sichtbaren Denkens". Hier findet man Hildesheimers Sprachwelten, und hier klingt der Einfluß der Bildenden Kunst an, der in späterem Zusammenhang besprochen werden wird.Die musikalische Struktur der Prosamonologe, zu der Hildesheimer oft befragt wurde, hat neben ihrer Funktion als Kompositionshilfe auch Sinn für ihren Sprechcharakter. Christiaan L.Hart Nibbrig schreibt zur Musikalität von Hildesheimers Prosa, daß dort "Sprache zum Musikinstrument" werde, "das nicht sub-jektiven Ausdruck, sondern nur was vor sich geht, 118 W.Hildesheimer, Rede an die Jugend. Frankfurt 1991. Vgl.Anm.110.

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hörbar zu machen verspricht."119 Die Sprache selbst wird zum Gegenstand von Musik, und ein Wort wie "Tynset" kann zum Klingen gebracht werden:

"Zerlege ich das Wort in seine beiden Silben, so habeich zuerst das »Tyn«, einen hohen Gongschlag [...] habe also das »Tyn«, das sich alsbald, jäh aus seinenVibrationen gerissen, mit dem »set« setzt, als sei das Schwingen eines tynneren Beckens von einer kurzen, schnellen Bewegung eines einzigen flinken Fingers zum Stillstand gebracht und damit seinem Dröhnen ein strengen Ende gesetzt: Tynnn-Settt" (TYN 27).

Das Wort wird zum Klang, und der Klang wird zum Bild.In den Prosamonologen werden gesprochene Gedanken alsAbbildung eines an der Musik orientierten Sprechens geschrieben. Hildesheimer antwortet auf Dorothea Frauenhubers Frage, wie er das Wort Toccata definieren würde: "Eine Toccata ist ein Sprechmittel aus musikalischen Elementen, mit immer den gleichen musikalischen Elementen bei gewissen Takt und Längenverschiebungen - immer wieder dasselbe variiert."120 In "Masante" gibt es diese Toccata in Form und Inhalt. Es ist die Toccata aus Johann Sebastian Bachs"Goldberg-Variationen", übersetzt in Hildesheimers musikalische Sprache:

"[...] während drinnen Kayserling seine Füße in Pantoffel schiebt, [...] und während Georg zurückkehrt, [...] während der Hans dem Goldberg eineKerze entzündet, [...] und während Hans, angezogen, sich wieder hinlegt, [...]. Bei der zweiten Toccata

119 Christiaan L.Hart Nibbrig, Der andere Ton, S.1202. In: Merkur H.343, (1976), S.1201-1207.120 Dorothea Frauenhuber, Interview mit W.Hildesheimer am 3.9.1977, S.249. In: dies., Die Prosa Wolfgang Hildesheimers. Diss. (masch.) Salzburg 1979, S.244-249.

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überläuft es ihn, die Schönheit macht ihn frösteln, oft läßt er sie sogar zweimal spielen, diese TOCCATA." (MAS 325-329)

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II.2.2. Denken als Selbstgespräch - "laute Gedanken"

"Ich schreibe beinahe immer Selbstgespräche mit mir selbst. Sachen,

die ich mir unter vier Augen sage."Ludwig Wittgenstein,Vermischte Bemerkungen.

Hildesheimer schreibt in seinen Prosamonologen gesprochene Gedanken, die nicht als Bewußtseinsstrom,aber auch nicht als primär schriftlicher Ausdruck konzipiert sind. Denn Sätze wie der folgende befremden in einem geschriebenen Text: "Diese Schwaden von Luft, die man nur - nein, falsch: - die man noch nicht einmal anzuzünden braucht" (MAS 15/16). "Tynset" und "Masante" setzten sich nicht ausgedachten Sätzen, sondern aus gesprochenen Gedanken zusammen. Die Prosamonologe sind nicht in fortlaufendem Prosatext geschrieben, das Textbild wird von Absätzen, eingerückten Sätzen und Textleerstellen121 inseiner Geschlossenheit unterbrochen. Das Druckbild erweckt den Eindruck, als seien zwischen die Gedankendes Ich-Erzählers Stellen des Schweigens eingereiht. Diese Textpausen hat Patricia Haas Stanley als Aposiopesen bezeichnet,122 also als die rhetorische Figur, eine Rede mit vielsagenden Redepausen zu unterbrechen. Dem Aufbau von Sprachwelten dienen diese Sprechpausen ebenso wie die schon weiter oben

121 Den Begriff "Leerstelle" hat Wolfgang Iser im Anschluß an Roman Ingarden, Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks, Tübingen 1968. eingeführt. Vgl. dazu: Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. In: Rezeptionsästhetik, Hg.Rainer Warning. München 1975, S.228-252. Inwieweit Isers Begriff auch für Hildesheimers besonders markante, weil sichtbare Leerstellen zutrifft, wäre eine Untersuchung wert.122 Patricia Haas Stanley, Wolfgang Hildesheimers "Tynset", a.a.O., S.87, passim.

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erwähnten Korrekturen oder Neuansätze: "Es klingt hell, gläsern, - nein, das nicht, es klingt metallen"(TYN 25). Sie suggerieren den Eindruck eines im Sprechen, im Selbstgespräch entstehenden Gedankens. Heinrich von Kleist charakterisiert in seinem Aufsatz"Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" das Reden des Fuchses aus einer Fabel La Fontaines als "wahrhaftes lautes Denken".123 Es handelesich allerdings, so Kleist weiter, nicht um Rhetorik,also um vorgefertigte Sprache, sondern um die Sprache, die parallel zum Geist läuft "wie ein zweites, mit ihm fortlaufendes, Rad an seiner Achse."124 Denken und Sprechen laufen also gleichzeitigab. Hildesheimers Prosamonologe bilden diese von Kleist gemeinte "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" nach. Beim Sprechen entstehen neue Gedanken. So heißt es in "Tynset" an einer Stelle: "das Tynset der Wirklichkeit - was sage ich: Wirklichkeit? -" (TYN 236). Der Gedanke, der das Gesagte - bezeichnenderweise das Wort »Wirklichkeit« - in Frage stellt, kommt beim Sprechen. Es heißt ebennicht zufällig: "was sage ich da", und nicht: "was denke ich da".Die textleeren Zwischenräume markieren einerseits Verstummen, Schweigen, vielleicht das Suchen nach fehlenden Worten und Erinnerungen - andererseits die Suche nach anderen Möglichkeiten, die Wirklichkeit zusehen. Zur Textgestalt von "Mozart" schreibt Hildesheimer: "[D]ie Absätze bezeichnen weniger die Entwicklung des Themas als die verschiedenen Sichten auf ein nicht erschöpf-bares Phänomen."125 Das Genie W.A.Mozart ist für Hildesheimer als Person 123 Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden, S.322. In: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, Bd.II. Hg. Helmut Sembdner. Darmstadt (7.Auflage) 1983, S.319-324.124 Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung, a.a.O, S.322.

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unvorstellbar und unerschöpflich, und dem Biographen bleiben oft nur Vermutungen, Erfindungen von Möglichkeiten. In den Prosamonologen entwickelt sich ebenfalls kein Thema - auch das Wort "Tynset" wird nicht als Thema entwickelt -, auch dort werden nur immer Möglichkeiten von Wirklichkeit im Sprechen aneinandergereiht. Im Sprechen entsteht und vergeht Wirklichkeit: "[...] die Frist des Palazzo Vendramin und seiner Gäste ist verlängert, Venedig steht noch, ich habe es stehen lassen" (MAS 164/165) - das Heidelberger Schloß dagegen läßt der Ich-Erzähler einstürzen. Sprache schafft Wirklichkeit.Diese Absätze oder "Redepausen" weisen als formales Kennzeichen auf die Qualität der Prosa Hildesheimers als primär "gesprochene" Prosa hin, was auch seine eigene Bezeichnung "Monologe", also Selbstgespräche, hervorhebt. Der Ich-Erzähler betont deshalb den Wert des Sprechenden vor dem des Gesprochenen. So sagt das"Masante"-Ich: "Daß ich mich lieber an den Sprecher halte als an das Gesprochene, daß sie, Maxine, mich mehr beschäftigt als die Maschine" (MAS 47). Dem Sprechenden geht es also nicht nur um die Geschich-ten, die Maxine erfindet, ihm geht es um Maxine selbst als diejenige, die spricht. Das Sprechen als Ausdruck der Subjektivität und gleichzeitig als Charakterisierung des Sprechers gilt auch für den Ich-Erzähler von "Tynset" und "Masante". Vor jeder geschriebenen Geschichte gibt es eine gesprochene Geschichte. Damit nähert sich Hildesheimers Prosa dem Gedicht an,wie es Horst Janssen versteht. Janssen beschreibt in einer sensiblen Analyse das vergebliche Suchen nach dem eigentlichen Gedicht, das vor dem aufgeschriebenenGedicht liegt: "Wir ahnen, daß das Gedicht ein

125 W.Hildesheimer, Die Subjektivität des Biographen, S.463. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.III, S.463-475.

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geschriebenes Gesprochenes ist und nicht ein im Nachhinein gesprochenes Geschriebenes."126 Hildesheimers Prosamonologe sind dieses "geschriebeneGesprochene". Deshalb ist so oft von Wind und Atem inden Monologen die Rede. Es braucht Atemtechnik, um das Sprechen durchzuhalten. Der Atem rhythmisiert dasGesprochene, sein Auf und Ab pulsiert durch Hildes-heimers Prosa. Horst Janssen bemerkt über sein autobiographisches Schreiben: "Mein Gefühls-Ehrgeiz zielte lediglich dahin, das Produkt wenn irgend möglich in EINEM Zug, ungebrochen, ungeknickt abzulegen. Instinktiv entwickelte ich dafür die notwendige ganz gezielte Atemtechnik."127 Der Atem als bestimmendes Element der gesprochenen Sprache wird inder Textform der Prosamonologe verdeutlicht. Dem Abbruch eines Satzes folgt ein Zwischenraum ohne Text- um im Erzählten einzuhalten, Atem zu schöpfen und dann bei einem neuen Thema einzusetzen oder noch einmal neu anzufangen. Es ergibt sich also nicht nur eine "Kette von Assoziationen", wie Patricia Haas Stanley behauptet,128 sondern auch ein Sprechen, Atemholen und Weitersprechen, ein Sprechen und Schweigen, eine Ankunft und ein Abschied beim Wort und beim Schweigen. Hier redet einer zu sich selbst, aber er spricht auch indirekt zum Leser in der Art

126 Horst Janssen, Querbeet. Hamburg 1981, S.188. Jacques Derrida vertritt im Kapitel Linguistik undGrammatologie, S.99 das Gegenteil: "Wir wollen vielmehr zu bedenken geben, [...] daß die »ursprüngliche«, »natürliche« usw. Sprache nie existiert hat, daß sie nie unversehrt, nie unberührt von der Schrift war; daß sie selbst schon immer eine Schrift gewesen ist." In: JacquesDerrida, Grammatologie. Frankfurt/Main 1974, S.49-129.127 Horst Janssen, Hinkepott. Gifkendorf (3.Auflage) 1988, S.11.128 Patricia Haas Stanley, Wolfgang Hildesheimers "Tynset", a.a.O., S.96.

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jenes "pluralis concordiae",129 den Hildesheimer in "Mozart" und später auch in "Marbot" verwendet: Das »wir« bezeichnet für Hildesheimer "den gemeinsamen Standpunkt des Autors und des sich mit ihm in seinen Thesen, Ansichten und Folgerungen identifizierenden Lesers."130 Die Monologprosa wird zum »Lautsprecher« der vom Ich in Gedanken ausgesprochenen Sätze.

129 W.Hildesheimer, Mozart, S.11. In. W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.III, S.7-425.130 Wolfgang Hildesheimer, Mozart, a.a.O., S.11.

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II.2.3. Fragen und Schweigen

Fragen als ein "rhetorisches" Mittel gehören zu Hildesheimers Texten wie zur Grundstruktur seiner Strategie der Verunsicherung. So findet man den folgenden Satz des "Tynset"-Ichs über den Geist im Treppenabsatz seines Hauses, Hamlets Vater: "Was er sagt, wird von seiner Umgebung willig verstanden, aber mir - was sage ich? mir? - ich meine: seinem Sohn, Hamlet, bleibt das Gesagte fern" (TYN 158/9). Hier spricht das Ich zwar zu sich selbst und verbessert sich, aber es beantwortet zugleich auch die Frage des aufmerksamen Lesers, wieso das Ich plötzlich mit Hamlet identisch sei. Diese doppelte Qualität der Frage als Selbstbefragung des Erzählenden und Frage des Lesers an den Text wird offensichtlich in einem Erzählergestus, der auf potentielle Fragen der Zuhörer reagiert, wenn er von Speisen in einem Wirtshaus des 16.Jh.s erzählt: "Was mag es da geben? Nun, sagen wir: gesottene Schweinskeule in Pfeffer und Hirse" (TYN 204). Der Ich-Erzähler der Prosamonologe setzt voraus, daß auchder Leser sich Gedanken darüber macht, was es in einer Herberge des 16. Jh.s zu speisen geben könnte, und daß der Leser gemerkt hat, wie sich das Ich "unbewußt" mit Hamlet gleichsetzt - es ist ein Ich, das die Rolle von Erzähler und Leser vereinen kann.Es gibt kaum eine Seite in "Tynset" und "Masante", auf der keine Frage erscheint. Besonders in "Masante"häufen sie sich. Der Sprechende stellt sich unentwegtFragen, und so wird auch der Leser pausenlos mit diesen Fragen überschwemmt. Das Programm der Fragen wird bereits zu Beginn von "Tynset" entworfen: "Wohinentschwindet geschwundene Materie? Nun - das sind diegeringsten Fragen, die ich mich frage" (TYN 8). Das Erzählte wird unablässig mit Fragen versehen, ebenso das erlebte Geschehen, und besonders das eigene Tun wird in Frage gestellt: "Tätig? Davon kann bei mir

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ohnehin nicht mehr die Rede sein, nichts davon hier. Ich tue das Wichtige nicht mehr, meine Tätigkeiten sind gescheitert, basta" (MAS 128). Manche Fragen betreffen die Wirklichkeit des Ich-Erzählers: "Wieviele Stunden bin ich jetzt hier? Und noch nicht eingewöhnt?" (MAS 166), oder "Was wäre mirhier gemäß? Whisky etwa, wie diese Krüge ihn nahelegen?" (MAS 45). Besonders oft sind die Fragen des Ich-Erzählers an sein Erinnerungsvermögen von Namen: "Wie hieß er noch?". Es gibt aber auch Fragen,die weiter reichen als die Fragen nach Zeitgefühl undpassenden Gesten: "Vielleicht war Masante für mich vorbestimmt?" (MAS 131), oder:"Was rede ich da vor mir her, was schwingt da mit, was verschweige ich?" (MAS 332). Andere Fragen entlarven die Schein-Antworten der Kirche: "Bis zu welchem Alter - Antwort bitte, ich wüßte es gern genau! - bis zu welchem Alter darf man sündigen" (MAS 139). Die Fragen des Ich-Erzählers betreffen die Kunstgeschichte: "Was zum Beispiel bedeuten die Zeichen der Monate im Palazzo Schifanoia?" (MAS 334), aber auch die Kulturgeschichte: "[...] wer hat den Herbst erfunden,oder vielmehr: wer hat ihm den Stellenwert gegeben, den er jetzt hat?" (MAS 234). Diese Fragen suchen nach Gesichtspunkten, nach denen geordnet werden kannund stellen die, nach welchen geordnet wird, in Frage. Welcher Standpunkt ist eingenommen, so fragt der Ich-Erzähler, wenn die beiden neben Christus Gekreuzigten als Verbrecher bezeichnet werden: "Aber in wessen Augen denn? Wie? In den Augen derer, für die auch Jesus ein Verbrecher war, oder nicht? Oder etwa nicht? Was sind das für Maßstäbe?" (TYN 228). Viele Fragen betreffen schließlich die menschliche Existenz: "Man sagt, im Moment des Todes ziehe das vergangene Leben vorbei. Aber wer sagt das? die Toten?" (MAS 131). Der Tod von Kindern wird Anlaß einer Frage: "[...] wie werden wir Alte schließlich

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das ertragen, was sie in einem frühen Jahr haben ertragen müssen und hinter sich haben?" (MAS 340). Alle diese Fragen haben eines gemeinsam. Es gibt keine Antworten. Dem fragenden Ich-Erzähler fehlen die Maßstäbe, seine Fragen zu beantworten. Er akzeptiert keine festen Standpunkte, von denen eine gültige Antwort möglich wäre. Auch dem Leser beantworten sich seine Fragen an den Text nicht. Die "lauten Gedanken" des Ich-Erzählers bleiben im Raum stehen als unbeantwortete Fragen: "Aber was ist es denn, das ich mir unter Tynset vorstelle? Was? - Nichts, sei still, nichts" (TYN 243), und weiter: "[...] an was dachte ich noch, vorher? Was war es? Tynset - nichts - sei still, nichts - " (TYN 245). Die Antwort ist Schweigen, die Frage bleibt Frage undwird zu Schweigen. Der Ich-Erzähler schweigt, bricht Gedanken ab, Geschichten, und hebt doch immer wieder an zu sprechen. Weiterfragen ist Weiterleben. Doch ist die Leere zwischen Textabschnitten nicht nur Schweigen. Die Textpausen enthalten zwar keine Schrift, aber siesind auch nicht leer. Das Schweigen redet. Die Wüste,die scheinbar leer und schweigend alles gleichgültig sein läßt, diese Wüste spricht: "Alles still. Nichts bewegt sich oder scheint auch nur beweglich. Und dochwird mir hier ein schweigendes Schauspiel vorgeführt,ein Schattenspiel. Da draußen spricht es" (MAS 118). Die Wüste scheint der richtige Ort der Flucht, denn sie gibt keine Schein-Antworten wie die Welt. Doch Wüste nähert sich, wie sich in "Tynset" auch die Wirklichkeit ständig näherte. Wüste als Leere sollte der Flucht aus der Wirklichkeit helfen, doch nun stellt sich heraus, daß Wüste Fülle ist und Bedrohung: "Wie konnte ich denken, daß hier nichts ist? Hier ist zuviel, hier ist Wüste, die zwar nichtsbeantwortet, sich aber stetig nähert, hier ist Maxineund mehr, vielleicht mehr" (MAS 141). Selbst Wüste

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als Inbegriff von Leere, vom "Nichts", ist nur die Vortäuschung von Leere und Distanz.Die literarischen Vorbilder der »gesprochenen« Prosa findet man in James Joyces "Ulysses" und besonders in"Finnegans Wake", aus welchem Hildesheimer die "Anna Livia Plurabelle"-Passage 1969 übersetzt. Dort schreibt er: "[...] außerhalb der Sprache ist hier kein Inhalt.[...] Es erhebt sich also die Frage, wer hier eigentlich spricht, [...] niemand spricht. Ein Mythos artikuliert sich selbst, in der für ihn einzigmöglichen Lautsprache, er läßt sich selbst entstehen und wischt sich, unaufhörlich sprechend, tönend, singend, fließend, niemals aber erzählend, wieder weg."131 Wiederum erscheint im Sprechen und Schweigen die charakteristische Ankunft-Abschied-Struktur: Sprache und Schweigen sind die beiden kontra-punktischen Möglichkeiten, etwas zu sagen. Auch DjunaBarnes' Roman "Nachtgewächs", den Hildesheimer 1959 übersetzt, und Samuel Becketts Monologisierende der Trilogie "Molloy" (1951), "Malone stirbt" (1951) und "Der Namenlose" (1953) wären hier als mögliche Vorbilder zu nennen. Becketts Ich-Erzähler aus "Molloy" sagt: "Ich stellte mir gerne Fragen, eine nach der anderen, nur um sie zu betrachten. Nein, nicht gern, sondern aus Vernunftgründen, um glauben zu können, daß ich noch immer da sei."132 Solange man spricht, stirbt man nicht, und solange man Fragen stellt, existiert man. Es sind Fragen, die keine Antwort wollen und auch keine bekommen können: "Aber Fragen, die man sich selbst stellt, werden nicht beantwortet", heißt es inHildesheimers Theaterstück "Nachtstück" von 1963, undzwei Sätze später: "Dabei sind es die einzig

131 W.Hildesheimer, Übersetzung und Interpretation einer Passage aus "Finnegans Wake" von James Joyce, S.341. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.VII, S.338-351.132 Samuel Beckett, Molloy. Frankfurt 1975, S.57.

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wichtigen Fragen [...] wenn es wichtige Fragen gibt."133 Es ist die Fragwürdigkeit aller Antworten, die die Fragen des Ich-Erzählers der Prosamonologe betreffen.Sie wollen keine Antwort, weil jede Antwort wieder nur neue Fragen aufwirft. Die Fragen bleiben Fragen.In einer Geschichte berichtet ein Ich-Erzähler von einem Gast, den er im Wirtshaus getroffen hatte: "Er fragte mich einiges, aber ich konnte es nicht beant-worten, ja ich verstand nicht einmal die Fragen."134 Als der Ich-Erzähler daraufhin aufstehen will, hält ihn der Gast mit den Worten zurück: " »Bleib«, sagte er, »das war ja nur eine Prüfung. Wer die Fragen nicht beantwortet, hat die Prüfung bestanden«."135 Die Geschichte heißt "Die Prüfung" und ist von Franz Kafka. Hildesheimers Prosamonologe bestehen diese Prüfung, sie beantworten die gestellten Fragen nicht.Die Fragen, die die wahrgenommene Wirklichkeit stellt, werden nicht verstanden, und die Fragen, die man sich selbst stellt, enden im Schweigen. Das Schweigen wird zur einzigen Antwort.Das einsame Sprechen und Fragen ist zum Ausdruck des Scheiterns geworden. Der Doktor O'Connor aus Djuna Barnes' Roman "Nachtgewächs" redet betrunken und lautin einer Bar mit sich selbst, und er redet gegen das Schweigen Gottes an: "[...] und ich würde dir nichts davon sagen, spräche ich nicht zu mir selbst. Ich rede zu viel, weil das, was du verschweigst, mich so unglücklich gemacht hat."136 Hildesheimers Ich-Erzähler

133 W.Hildesheimer, Nachtstück, S.566. In.W.Hildesheimer, Ges.Werke Bd.VI, S.561-599. Hier spricht bereits der Monologisierende aus "Tynset" und "Masante".134 Franz Kafka, Die Prüfung, S.318. In: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/Main 1988,S.317-318.135 Franz Kafka, Die Prüfung, a.a.O., S.318.136 Djuna Barnes, Nachtgewächs. Frankfurt 1991, S.179.

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fragt gegen das Schweigen der Welt an, wissend, daß es keine Antwort geben wird - er fragt vergebliche Fragen.Hildesheimers Ich-Erzähler ist ein fragender Mensch, dem die Welt die Antwort verweigert. Das Ich ist mehrals eine Erzählfunktion und potentielles Ich seines Autors. Es ist, wie Ingeborg Bachmann es faßt, ein "Platzhalter der menschlichen Stimme."137

137 Ingeborg Bachmann, Das schreibende Ich, S.237. In: Ingeborg Bachmann, Werke, Bd. IV. München 1978, S.217-237.

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II.2.4. Sprache als Wirklichkeitskonstruktion

"Alles läßt sich über alles sagenund folglich auch schreiben."

George Steiner, Von realer Gegenwart

Sprache konstruiert nicht nur, sie ist eine eigene Wirklichkeit. In seinem Buch "Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge", in "Nachlese" und an anderen Stellen seines Werkes hat Wolfgang Hildesheimer eine Wirklichkeit konstruiert, die allein die Wirklichkeit der Sprache ist. Die Sprache wird dort, wo sie "beim Wort" genommen wird, zu einereigenen Wirklichkeit: "Der Apfel fiel nicht weit vom Stamm, das hat die Ernte um Wesentliches erleichtert"(MAX 8). Sprache erhält eine ästhetische Dimension, wenn die Übertragung der Wirklichkeit "auf die Wirklichkeit der Dichtung beschränkt" bleibt.138 Felix Philipp Ingold, der sich mit der Wortkunst des Franzosen Michel Leiris beschäftigt, schreibt, daß der Künstler "innerhalb seiner eigenen Sprache zum Übersetzer"139 wird. Diese "Übersetzung" hat Hildesheimerin seinen Prosamonologen gestaltet. Die Sprache hat eine eigene Wirklichkeit, die sich mit der wahrnehmbaren Wirklichkeit und deren Formulierung in Gedanken nicht mehr deckt.140 Hildesheimer eröffnet hier jene Perspektive, die, wie Burckhard Dücker schreibt, "[...] als Material der Literatur allein

138 Felix Philipp Ingold, »Übersetzung« als poetisches Verfahren, S.98. In: Michel Leiris, Wörter ohne Gedächtnis. Frankfurt 1991, S.96-107.139 Felix Philipp Ingold, »Übersetzung« als poetisches Verfahren, a.a.o., S.99.140 Siehe W.Hildesheimer, Mitteilungen an Max, S.70, wo er im Zusammenhang der Subjekt-Objekt-Vertauschung Krüger zitiert: "»es bedarf einiger Selbstbesinnung, um einzusehen, daß wir...doch nicht wirklich denken, was die Sprache zu sagen scheint«".

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noch Sprache, von Bedeutungen befreit, anerkennt: Sprache zu autonomer Wirklichkeit objektiviert".141 Sprache ist das Medium, das unsere Weltsicht bestimmt. Was man in Worte fassen kann, was einen Namen hat, existiert. Das ist die Erfahrung des "Tynset"-Ichs: "[...] alles hat einen Namen, und was keinen Namen hat, das gibt es nicht" (TYN 25). John G.Hanhardt hat Nam June Paiks und Rolf Vostells Video- und Fernsehinstallationen als Orte bezeichnet,wo "uns bewußt wird, wie das Fernsehen als Medium funktioniert, das unsere Weltsicht formt."142 Hildes-heimers Texte zeigen, wie die Sprache funktioniert, die unsere Weltsicht formt. Das Spiel mit den Möglichkeiten von Sprache gehört zu Hildesheimers Wirklichkeitskonstruktion. In seinem Text "Die Margarinefabrik" (1965) findet man einen merkwürdigenSatz: "[...] ich höre deutlich, wie keine Kirchenglocken läuten."143 Es ist die Beschreibung einer »negativen« Wirklichkeit. Dies ist auch Gegenstand einer Reflexion des Ich-Erzählers aus "Tynset":

"Was läßt sich von einem Ding oder einem Ort durch Beschreibung überhaupt mitteilen? Nichts. Keine Sicht, kein Blick aus dem Küchenfenster über den Hin-terhof auf ein wenig flatternde Bettwäsche an der Leine [...]. Geräusch läßt sich nachmalen, Stille nicht, Sturm ja, aber ein leichter Luftzug, der Gras zwischen den Steinen bewegt, nicht. Eine Revolution ja, keine Revolution nicht, was geschieht ja, was nicht geschieht nein." (TYN 91-92)

141 Burckhard Dücker, W.Hildesheimer und die dt.Literatur des Absurden, a.a.o., S.42.142 John G. Hanhardt, Décollage/Collage, S.17. In: Videoskulptur, Hg. W.Herzogenrath und E.Decker. Köln 1989, S. 13-24.143 W.Hildesheimer, Die Margarinefabrik, S.310. In:Wolfgang Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd. I, S. 303-312.

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Der Text erbringt den Gegenbeweis dessen, was behauptet wird: Es läßt sich doch etwas von einem Ding beschreiben, und sogar das, was nicht geschieht.Schon in den "Vergeblichen Aufzeichnungen" erscheint dieses Phänomen, das Matthias Burri "negatives Erzählen"144 genannt hat: "Nein, es ist keine Fels-zunge, es ist eine Landzunge [...].Auf ihr steht keinLeuchtturm, noch nicht einmal ein Haus."145 Eine Geschichte wird mit Verneinungen erzählt, und sie geschieht. Eine solche Geschichte beginnt zum Beispiel mit dem Satz: "Eine lange Bahnfahrt, auf derich mich nicht recht sehe" (TYN 93). Nicht-Sätze beschreiben eine imaginierte, eine Sprach-Wirklichkeit: "[Ich] sehe mich weder allein noch gegenüber Mitreisenden und deren verankerten Zielen: eine verheiratete Tochter in Bad Kissingen" (TYN 93).Hier wird also eine Wirklichkeit, eine erlebbare Weltkonstruiert, die nur innerhalb der Sprache existiert.Das Ich sieht sich nicht im Zug, so heißt es weiter in "Tynset", aber diese Situation wird genau ausgemalt: das Ich sieht sich also doch, und auch derLeser sieht es - er kann sich die Situation vorstellen. In der "Bett-Fuge" (TYN 189-211) aus "Tynset" findet sich ein weiteres Beispiel für die Technik der Wirklichkeitskonstruktion mittels Sprache. Bilder entstehen in der Vorstellungskraft, die sinnlich nicht wahrnehmbar sind. Der Text konstruiert also eine vorstellbare Welt allein mit Worten: "Schien derMond? Ja - oder sagen wir, er schien noch nicht" (TYN192). Es ist Konstruktion eines Bildes und sofort dessen Destruktion: Die Sprache löscht die Wirklichkeit aus. Bernd Scheffer hebt für Hildesheimers Hörspiel "Unter der Erde" hervor: "Die 144 Matthias Burri, Das Ende des Erzählens bei Wolfgang Hildesheimer. Zürich Lizentiatsarbeit (masch.) 1983, S.14.145 Wolfgang Hildesheimer, Vergebliche Aufzeichnungen, S.278. In: W.Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd.I, S.273-302.

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Sätze von Mann und Frau sind entweder Konstruktionen einer bestimmten Situation, oder sie versuchen, dieseSituation zu destruieren, wobei natürlich das destruierende Sprechen auf die Situation einzugehen hat."146 Hildesheimer konstruiert und destruiert gleichzeitig die vorgestellte Wirklichkeit in der Sprache: "[D]er Mond beleuchtet die Treppe nicht, beleuchtet auch die Küche nicht" (TYN 194). Das Geschehen entwickelt sich erst in der Vor-stellungskraft des Lesers, bevor der Text diese Vorstellung in der Verneinung dann wieder auslöscht.In Kafkas Roman "Das Schloß" wird ein ähnliches Spielgespielt: Als K. nachts im Dorf ankommt, sieht er nichts, denn es herrscht Nebel und Finsternis. Dennoch steht im Text: "[...] auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloß an."147

Der Leser weiß nicht, welchen Standpunkt er einnehmensoll: den K.s, der das Schloß nicht sieht, denn es ist dunkel, oder den des Erzählers, der zu wissen scheint, daß da trotz Dunkelheit ein Schloß ist. Hildesheimer steigert die absurde Situation, indem sein Ich-Erzähler etwas sieht, was nicht wahrnehmbar ist, aber trotzdem gesehen werden kann. Der Leser weiß nicht mehr, wo er stehen, wem er glauben soll, und damit hat das Verwirrspiel zwischen Vorstellungs-und Wahrnehmungskonstruktion gewirkt.Der zweite Teil von Samuel Becketts Roman "Molloy" beginnt: "Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben. Ich bin ruhig. Alles schläft. Doch ich stehe auf und gehe zu meinem Schreibtisch. Ich bin nicht schläfrig."148 Das Ende des Buches lautet: "Ich habe von einer Stimme gesprochen, die mir dies oder das anbefahl.[...] Auf ihr Geheiß schreibe ich den Bericht. Soll das bedeuten, daß ich

146 Bernd Scheffer, Transposition. In: Über W.Hildesheimer, a.a.O., S.27.147 Franz Kafka, Das Schloß. Frankfurt 1987, S.7.148 Samuel Beckett, Molloy. Frankfurt 1975, S.108.

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jetzt freier bin? Ich weiß es nicht. Es wird sich zeigen. Dann ging ich in das Haus zurück und schrieb »Es ist Mitternacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.« Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht."149 Beckett verwirrt den Leser mit Sätzen, die die erzählte Wirklichkeit und die Fiktionen des Ich-Erzählers untrennbar ineinander verflechten. Hildesheimer schafft ebenfalls neben der fingierten Wirklichkeit eine Sprach-Wirklichkeit, die kein Pendant in der Wirklichkeit mehr hat. Beckett nutzt in seinem Text "Imagination morte imaginez" die Kapazität von Sprache, nicht Realisierbares zur Vorstellung zu bringen. Er beschreibt eine weiße Rotunde in weißer Umgebung, innen gleißendes Licht: Dieses Bild ist nicht darstellbar, aber beschreibbar und vorstellbar. Sprache ermöglicht es, eine Wirklichkeit zu konstruieren, die allein die Wirklichkeit der Sprache ist. Manfred Smuda stellt daher für Beckett fest: "Damit erweist sich die Rotunda als verbal produzierte Schimäre, und jene vernunftwärtige Imagination, die sie ins Werk setzt, kappt alle Beziehungen zur wahrnehmbaren Welt."150 Hierleistet die Vorstellungskraft Fluchthilfe aus der Wirklichkeit. "Der Mond schien nicht": Eine völlig neue Wirklichkeit entsteht, sie übersteigt die wahrnehmbare Wirklichkeit. "Schien der Mond? Ja - oder sagen wir, er schien noch nicht": In einem Augenblick bildet sich und verschwindet das Bild des

149 Samuel Beckett, Molloy, a.a.O., S.204-205. In "Masante" zitiert Hildesheimer Beckett: "So waren es denn auch keine gemessenen Emissäre, die ihm, Bloch oder Gerber, [...] erlaubten, hinaufzugehen,ein wenig Besitz einzupacken oder zu ordnen, den Satz in einem aufgeschlagenen Buch zu Ende zu lesen, - etwa: >Es war nicht Mitternacht. Es regnete nicht.< - " (MAS 257-258).150 Manfred Smuda, Kunst im Kopf - Becketts späte Prosa und das Imaginäre, S.220. In: H.Engelhard (Hg), Samuel Beckett. Frankfurt 1984, S.211-234.

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Mondes. Die Wirklichkeit wird überstiegen. Man denkt an ein Gemälde des Malers René Magritte, der einen sonnenerleuchteten Tageshimmel hinter einem nächtlichen Haus mit erleuchteten Fenstern und angezündeten Laternen malte. Hildesheimer steht unübersehbar in der Tradition des Surrealismus.Sprache soll Wirklichkeit in Worte fassen. Aber wieweit entspricht diese Sprach-Wirklichkeit überhaupt der Wirklichkeit? George Steiner formuliertdrastisch:

"Wir sprechen immer noch von »Sonnenaufgang« und »Sonnenuntergang«. Wir tun so, als wäre das kopernikanische Modell des Sonnensystems nicht unwiderruflich an die Stelle des ptolemäischen getreten. Leere Metaphern und erodierte sprachliche Figuren bewohnen unseren Wortschatz und unsere Grammatik. Sie halten sich hartnäckig, gefangen im Gerüst und in den Schlupfwinkeln unserer gewohnten Alltagssprache."151

Mit Steiner kann man erneut die Frage stellen: "Hat unser Sprechen Inhalt?" Sprache kann die Wirklichkeitin vieler Hinsicht nicht mehr erfassen. Viele Schriftsteller "erlahmen angesichts der Realität, diesie nicht mehr verstehen",152 äußert Hildesheimer 1989 in einem Gespräch mit H.H.Hillrichs. Die These vom "Ende der Fiktionen" beleuchtet daher Hildesheimers Auffassung von der Funktion von Sprache und Literatur. Es geht ihm um intensive Darstellung, um Übersteigerung von Wirklichkeit. Aber wie kann man etwas übersteigern, für das die Worte fehlen? Hildesheimer schreibt zu einem Zitat seines Freundes Günter Eich:151 George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unserSprechen Inhalt? München/Wien 1990, S. 13. Die Frage "Hat unser Sprechen Inhalt?" ist der Untertitel des Essays.152 Wolfgang Hildesheimer, Ich werde nun schweigen,a.a.O., S. 89.

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"Günter Eich: »Schriftsteller sein, heißt die Welt als Sprache sehen.« Das würde er heute nicht mehr sagen. Heute würde die Welt ihm die Sprache verschlagen, daher wäre er auch kein Schriftsteller mehr. Die Welt hat sich von der Sprache weltweit entfernt."153

Noch ein weiteres Problem stellt sich: Über Sprache kann man nur in Sprache nachdenken. Hildesheimer ist sehr skeptisch gegenüber der Tatsache, daß man auf Sprache und Literatur immer nur in dem Medium antworten kann, um das es ja eigentlich geht: in Sprache und Literatur.154

In der Literatur kann nur die Sprache selbst eine "Gegenschöpfung"155 zur Wirklichkeit schaffen. Die Bildende Kunst benutzt zwar ebenfalls Materialien derWirklichkeit, wie Stein, Bronze, Gips oder Farbe, siekann sich jedoch mit ihren Produkten völlig vom real Existierenden lösen. Die Materialien können zum Zen-trum der Beschäftigung werden. Hildesheimer überträgtdiese bildkünstlerische Arbeit am Material auf die Literatur. Sprache wird auch zum Material, das die Beschäftigung mit der Wirklichkeit ersetzen kann. Sein Verhältnis zur Sprache ist primär ein ästhetisches, so wie es Friedrich Nietzsche beschreibt:

153 W.Hildesheimer, Nachlese. Frankfurt 1987, S.35.154 Siehe W.Hildesheimer, Das Ende der Fiktionen, S.144: "Es ist mir immer ein wenig widersprüchlicherschienen, daß Worte mit Worten, also ein Kunstwerk in seinem eigenen Medium interpretiert wird. " In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.VII, S.141-158. Vgl. zu diesem Thema den Aufsatz von Jean Starobinski, Der Text und der Interpret. In: Neue Rundschau 96, (1985), 3/4, S.38-54.155 George Steiner, Von realer Gegenwart, a.a.o., S.267.

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"Ueberhaupt aber scheint mir die richtige Perception - das würde heissen der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt - ein widersprüchliches Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären wie zwischen Subjekt und Objekt giebt es keine Causalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ä s t h e t i s c h es Verhalten, ich meine eine andeutende Uebertragung, eine nachstammelnde Uebersetzung in eine ganz fremde Sprache."156

Übertragung oder "Transposition" ist der Begriff, dergleichzeitig Möglichkeit und Unmöglichkeit andeutet, ein adäquates Ausdrucksmittel für die Erfassung der Wirklichkeit zu finden. Hildesheimer geht es um die Verabsolutierung des ästhetischen Verhaltens, wenn erdas Ende des Schreibens beschließt und sich fortan den Collagen widmet: "Denn jedes Bild zielt nicht zuletzt auf die Lösung eines immer wieder anders gearteten ästhetischen Problems hin, und dieses wird längst nicht immer bewältigt."157 Das Spiel mit der Sprache, das Wortspiel mit Zitaten der Poesie, die "Kalauer"158 in "Mitteilungen an Max über den Stand derDinge" beweisen, daß Hildesheimer auch in der Spracheein Material gesehen hat, daß man unabhängig von Wirklichkeitsdarstellung kreativ benutzen kann:

"Wenn ich höre >offene Formen<, was hier in meinem Gebirgsdorf sehr selten vorkommt, muß ich immer an die bunten gerippten Blechformen denken, mit denen

156 Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge imaussermoralischen Sinne, S.378. In: Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Schriften. Nietzsche, Werke 3.Abt. Bd.2. Hg. G.Colli und M.Montinari. Berlin/New York 1973, S.367-384.157 W.Hildesheimer, Die Ästhetik der Collage, S.11.In: W.Hildesheimer, Endlich allein. Collagen. Frankfurt 1984, S.9-14.158 Siehe zum "Kalauer" W.Hildesheimer, Mitteilungen an Max. Frankfurt 1986, S.67.

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die Kinder an den Stränden Sandkuchen backen oder vielmehr büken, wenn es noch Strände gäbe" (MAX 26).

Sprechen heißt, eine eigene Wirklichkeit zu schaffen.Eine Passage aus Hildesheimers "Mozart"-Biographie steht auch für seine eigene Umgangsweise mit Sprache.Anlaß sind Mozarts Bäsle-Briefe, über die Hildesheimer schreibt:

"Bei Mozart leuchtet die Genialität in seiner Disziplin auch in seinen Worten dort auf, wo er sie musikalisch assoziativ handhabt, wo also der Gehalt an Information in den Hintergrund tritt zugunsten der heraufbeschworenen Bilder, einer auf geringste Auslösungsmomente einsetzenden aktiven Wortphantasie,einer zwanghaften Lust und Leichtigkeit des Assoziierensund der Fähigkeit, mit disparaten und scheinbar willkürlichen Lautkombinationen nicht nur Euphorie und Rhythmus zu erzeugen, sondern auch immer die Konnotation im Auge zu behalten. Beim Schreiben gibt er sich dem Wortfluß hin, bis er über das Begriffliche weit hinauswächst, weiterwuchert in einem Rausch, erzeugt von den Lauten und ihrem vom Klang suggerierten stets wechselnden Sinn ."159

Die Charakteristika von Hildesheimers eigenem Schaffen sind genannt: die musikalisch-assoziative Technik, die "heraufbeschworenen Bilder", schließlichdas Spiel mit dem Klang der Wörter wie "Tynset" oder "Meona". Nicht zuletzt ist es die Lust oder der "Rausch" - wieder ein Nietzsche-Wort -, die Hildesheimer im Schreiben sucht - und sein Ich-Erzähler im Sprechen. Die "heraufbeschworenen Bilder"sollen nun, neben der Collage-Technik, im Mittelpunktder weiteren Beschäftigung stehen.

159 W.Hildesheimer, Mozart, S.131. In: Ges.Werke Bd.III, S.7-425. Kursiv Verfasserin.

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II.3. COLLAGEN UND BILDER

Hildesheimers Prosamonologe enthalten neben der inneren Dynamik, der Ankunft-Abschied-Struktur der Gedanken, auch ein statisches Element: Es ist der Konstruktionscharakter der Text-Bilder. "Auch das Kunstwerk ist nämlich eine Konstruktion"160: Mit diesemSatz nimmt Albert Camus Abschied von der Vorstellung eines »gewachsenen Werkes«. Kunst entsteht nicht, Kunst wird gebaut, komponiert und konstruiert.161 SeineCollagen, die Konstruktionen aus Kunstdrucken, bezeichnet Hildesheimer als "Mach-Werke",162 und in diesem Begriff stecken bereits die Elemente Vorgang -also das »Machen« -, und die Konstruktion - das »Werk«. In Hildesheimers Prosamonologen vereinigen sich auf poetische Weise der Konstruktionscharakter des Werkes mit dem Charakter von Kunst als Vorgang.Wirklichkeit erscheint in Hildesheimers Prosamonologen"verbildlicht", sie wird zu einer Galerie wahrgenommener Bilder. Das Wahrnehmbare wird in subjektive Vorstellungen von Wirklichkeit transformiert. Der Künstler Daniel Buren sagt 1968 über das Verhältnis zwischen Kunst und Sein:

"Der Unterschied zwischen der Kunst und der Welt, zwischen der Kunst und dem Sein besteht darin, daß 160 Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg 1959, S.81.161 Vgl. Hildesheimers Kritik am Kunstbegriff des Komponisten Wilhelm Furtwängler in: W.Hildesheimer, Nachlese. Frankfurt 1987, S.21: "Wilhelm Furtwängler: »Musik ist nichts Ausgedachtes, nichts Konstruiertes, sondern etwas Gewachsenes [...].« Mit diesem wahrhaft widerwärtigen Unfug war es ihm tief ernst."162 Wolfgang Hildesheimer, Zu meinen Collagen. In: W.Hildesheimer, Landschaft mit Phoenix, a.a.O. Ohne Seitenangabe: "Alle meine Figurationen sind »Mach-Werke«. Das Machen ist ein Akt höchster Intensität und Konzentration."

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die Welt und das Sein als wirkliche Dinge erkannt werden [...] und daß die Kunst diese Realität visualisiert. Was die Weltanschauung des Künstlers betrifft, so kann sie durchaus eine wahre Erkenntnis von der Wirklichkeit sein. Aber soweit es sich um dasProdukt, das Kunstwerk handelt [...], wird daraus eine festgefahrene und beliebige Wirklichkeit, die nur ein Vorschlag ist, eine vom einzelnen dadurch deformierte Wirklichkeit, daß sie nur seine Vision von der Welt ist, nicht mehr die Wirklichkeit selbst zeigt, sondern die bloße Vorstellung davon."163

So entsteht die Wirklichkeitskonstruktion der Prosamonologe in der Vorstellungskraft von Hildesheimers Ich-Erzähler aus "Tynset" und "Masante". Die Wirklichkeit wird nicht primär vom Icherzählt, sondern »sichtbar« gemacht, "visualisiert" durch Bilder, sie wird vor sein »inneres Auge« als ein Bild von Wirklichkeit gestellt: "[Ich] sehe mich als einen der sieben letzten Schläfer in diesem Bett,etwa als einen sündigen Mönch" (TYN 190).Volker Jehle schreibt über die Verbindung zwischen Kunst und Literatur in Hildesheimers Schaffen zwischen 1962 und 1974: "Die Arbeit am Tynset-Masante- Komplex war ständig begleitet von bildkünstlerischer Kreativität, und 1965, im Jahr Tynsets, ließ er [Hildesheimer] zum erstenmal seit fünfzehn Jahren wieder Bilder ausstellen: die Periode der Ich-Reflexionen war eine Auseinander-setzung auch mit sich selbst als bildender Künstler. [...] Nach 1974 [...] ent-standen nahezu keine bildkünstlerischen Arbeiten mehr."164 Hildesheimer hat seinen "Vergeblichen Aufzeichnungen" (1962) acht 163 Daniel Buren, Soll man die Kunst lehren?, S.64-65. In: Marie Luise Syring, Kunst in Frankreich seit 1966: zerborstene Sprache, zersprengte Form. Köln 1987, S.62-67.164 Volker Jehle, Hildesheimer und die bildende [sic!] Kunst, S.472-473. In: ders., W.HildesheimerWerkgeschichte. Frankfurt 1990, S.461-567.

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Rastercollagen, "Zeiten in Cornwall" (1971) sieben Zeichnungen beigefügt, und die "Mitteilungen an Max" (1983) enthalten sechs Tuschezeichnungen. Seit den 80er Jahren wächst die Intensität der Herstellung vonCollagen, und gegen Ende seines Lebens, im letzten Collagenband "Landschaft mit Phoenix" von 1991 schreibt Hildesheimer: Collagen sind "das einzige künstlerische Ausdrucksmittel [...], dessen ich mich in den letzen beiden Jahren bedient habe. Die Collageist mir eine Art Lebenszweck, ja zur Lebensform geworden."165 Die für Hildesheimers Kunst, und zwar fürLiteratur wie Bildende Kunst, in der Sekundärliteratur immer wieder hervorgehobene "Neigung zum Konstruieren"166 wird an den Collagen der 60er bis 70er Jahre sichtbar, die parallel zu seinem schriftstellerischen Werk entstanden. Auch die Collagen der 80er Jahre, obwohl farbiger, bestehen aus überwiegend geometrischen Formen und Körpern wie Kugeln, Pfeilen, Flächen und genauen Spiegelungen undSchatten.167 Die Technik der Collage als Stilprinzip wendet Hildesheimer bereits in seiner Monologprosa an, und zwar sowohl optisch, als auch inhaltlich. Dort "klebt" er gesprochene Gedanken aneinander und konstruiert Wirklichkeit. Gedanken werden gesammelt, Bruchstücke von Gedanken werden zu Bruchstücken er-fahrener Wirklichkeit. Am Ende wird konstruiert. GenoHartlaub beschreibt Hildesheimers Arbeitstisch, "auf dem er mit Schere und Klebpapier einzelne Texte, Sprachmaterial, das sich Jahre hindurch in 165 Wolfgang Hildesheimer, Zu meinen Collagen. In: W. Hildesheimer, Landschaft mit Phoenix. Frankfurt1991. Ohne Seitenangaben.166 Detlef Wolff, Schwarze und surrealistische Blätter, S. 218. In: Volker Jehle (Hg.), W.Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.218-220.167 Vgl. im Band "Endlich allein" die Collagen "Plan einer totalen Sonnenfinsternis", "Nachtbild".

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Zettelkästen und Schubläden anhäufte, nach Art von Bild-Collagen [...] zum Gesamttext von "Tynset" zusammenfügte."168Die Technik der Collage ist aber ebenso in "Masante" nicht nur inhaltlich, sondern auch optisch erkennbar.

"Links von der Mittelachse der Seite beginnt die Zeile. Nach dem Ende der Einheit fängt die nächste wieder da an. Außerdem können die Abstände der Einheiten variieren. Hildesheimers Buch ["Masante"] wirkt deshalb schon auf die Augen wie gebaut. Man gewinnt den Eindruck einer schwankenden Dualität, diesich bei der Lektüre als Wechsel von Anfangen und Abbrechen enthüllt."169

Die Technik der Collage, die hier als formale Textgestaltung zu Tage tritt, kennzeichnet "Tynset" und "Masante" als Produkte eines "Zettelkastens". Diese Technik bildet aber auch das Verhältnis des modernen Menschen zur Wirklichkeit ab, seine Wirklichkeitswahrnehmung, und so wird Hildesheimers collageartig konstruierte Wirklichkeit zur Metapher moderner Wirklichkeitserfahrung. Peter Strasser hat diesen Prozeß skizziert:

"Die Komplexität unseres Wissens steigt schneller alsunsere Fähigkeit, es zu einer widerspruchslosen Lebens- und Gefühlsordnung zu synthetisieren; wir treiben als Wohl- und Bestinformierte in einem Trümmerhaufen aus Erkenntnis-stücken umher und verlieren dabei zusehends die Hoffnung, aus all dem

168 Geno Hartlaub, Tynset ist keine Endstation. Gespräch mit W.Hildesheimer. In: Dt.Allgemeines Sonntagsblatt Nr.9 vom 26.Februar 1967.169 Klaus Podak, Anfangen in der Wüste. Zu WolfgangHildesheimers neuem Roman "Masante". In: Stuttgarter Zeitung, 29.Jg., Nr.148 vom 30.Juni 1973, S.52.

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ein in sich stimmiges, tragfähiges Gebäude zu errichten."170

Dies gilt auch für Hildesheimers Prosamonologe. Der Ich-Erzähler als Vermittler von Fiktionen will Gelungenes schaffen, er will eine zusammenhängende Welt entwerfen, scheitert an seiner Aufgabe und wird als Erzähler von Fiktionen verabschiedet.

170 Peter Strasser, Philosophie der Wirklichkeitssuche. Frankfurt 1989, S.194. Vgl. zum Thema auch die Medienkritik bei Neil Postmann,Wir amüsieren uns zu Tode. Frankfurt/Main 1992, S.89: "Die Nachrichten entlocken uns eine Vielfaltvon Meinungen, mit denen wir nur eines tun können - sie wiederum als Stoff für weitere Nachrichten anbieten, mit denen wir ebenfalls nichts anfangen können."

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II.3.1. Collagetechnik - Konstruktion und Destruktion

"Je ne fais qu'en défaisant."Alberto Giacometti

Die literarische Technik der Collage oder Montage, die in der Tradition des Futurismus, Dadaismus und Surrealismus steht und die von Künstlern wie Hans Arp, Raoul Hausmann und Gottfried Benn eingesetzt wurde, hat die Kombination von fiktiven und realen Elementen unterschiedlicher Provenienz zur Grundlage.171 Patricia Haas Stanley behauptet: "The major differences between the two monologues are formal. For one thing, Masante ist based on collage technique, Tynset on musical principles."172 Haas Stanleyverbindet "Tynset" mit Musik und "Masante" mit Collage, die zwei Texte enthalten jedoch beide Elemente. In den Prosamonologen werden die verschiedenen Erzählelemente im musikalischen Sprechen durch mehrfache Parallelführungen synchron über-einandergeschichtet oder, wie Hilde Domin für "Tynset" bereits 1965 hervorhebt, "übereinandergeschoben",173 und in der so entstehenden Collage als dem Übereinander verschiedener Schichten ist jeder Punkt gleichweit vom Zentrum des Prosamonologs, dem Ich-Erzähler, entfernt. Deshalb tauchen manche Erzählelemente, die zu Beginn des Monologs angesprochen werden, erst viel später wiederauf. Diese Technik imitiert, so Gerhard Papst, "das

171 Vgl. dazu Karl Riha, Collage, Montage. In: Literatur Lexikon (Hg.Walter Killy) Bd. 13. Begriffe, Realien, Methoden. Hg.Volker Meid. München 1992, S.155-158.172 Patricia Haas Stanley, W.Hildesheimer and his Critics. Columbia 1993, S.41.173 Hilde Domin,"Denk ich an Deutschland in der Nacht", S.110. In: Hilde Domin, Aber die Hoffnung.München/Zürich 1982, S.96-111.

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wesentlich Synchrone ästhetischen Erlebens, charakterisiert durch das Aufheben der Geschichte unddamit der Zeit."174 Es wird sich zeigen, daß Hildesheimers Text-Bilder Versuche sind, die Zeit in einem festen Bild zu fixieren.Die Collagetechnik als Fragmentierung von Texteinheitund Gedankeneinheit ist eine Technik der Abstraktion,über die Paul Klee schreibt: "Man verläßt die diesseitige Gegend und baut dafür hinüber in eine jenseitige, die ganz ja sein darf. Abstraktion. [...]Je schreckensvoller diese Welt (wie gerade heute), desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt."175 Wolfgang Hildesheimer hat Paul Klee oft zitiert und verdankt seiner Kunst entscheidende Anregungen. Nicht nur Klees Forderung nach Abstraktion, die das bildnerische Vorgehen des Künstlers, nicht die Aussage des Bildes betrifft, hat Hildesheimer in seinem Schaffen verwirklicht, er übernahm ganz besonders Klees Idee der Sichtbarmachung, wie sie Susanna Partsch beschreibt: "Sein Ziel war nicht die Darstellung der äußeren Wirklichkeit. Aus den ersten auf die Leinwand aufgetragenen Farbschichten sollte sich vielmehr durch Assoziation und Phantasie die Darstellung ergeben."176 So entstanden Hildesheimers Collagen nach bildkompositionstechnischen und ästhetischen Gesichtspunkten, nicht nach denen der Darstellung oder Entwicklung eines Themas, und so entstanden auch "Tynset" und "Masante". In "Tynset" ist der Name Tynset eben das Material, aus dem im Laufe der Beschäftigung ein Thema werden 174 Gerhard Probst, Die Kategorien von Zeit und Raum und das Steigern der Realität, S.280. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literatur 215 <130>, (1978), S.272-280.175 Paul Klee, Tagebuch 951. Zitiert nach: Susanna Partsch, Paul Klee. Köln 1990, S.34. 176 Susanna Partsch, Paul Klee 1879-1940. Köln (Taschen) 1990, S.16.

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könnte - doch wird der Name Tynset nach langer Prüfung am Ende verworfen. Das Thema einer Collage entsteht erst bei der Arbeit an ihr, nicht vorher. Hildesheimer schreibt: "[...] meist bildet sich das Thema im Laufe der Verdichtung der Komposition. Sobald es sich zu erkennen gibt, arbeite ich auf seine Verdeutlichung hin."177 Was Hildesheimer hier 1984 über seine bildkünstlerische Arbeit an Collagen äußert, wirft ein deutliches Licht auf die Prosamonologe. In "Tynset" ist ein klingender Name der Ausgangspunkt. Ein bestimmtes Wort, das dem Ich-Erzähler gefällt, wird zur Ursache des Monologs. JoanMiró schreibt am 10. August 1924 an Michel Leiris:

"Ich denke an unsere Unterhaltung, bei der Du erzählst, wie Du mit einem Wort beginnst und dann beobachtest, wohin es Dich führen wird. [...] Auf diese Weise etwas Künstliches zum Ausgangspunkt zu machen, ist, will mir scheinen, zu [sic!] dem vergleichbar, was Schriftsteller erreichen können, wenn sie mit einem beliebigen Laut beginnen."178

Der Name "Tynset" ist ein möglicher Stoff für eine Geschichte. Nach und nach entwickelt sich eine Struktur, in welcher der Name "Tynset" zum Leit-Motivwird. Der Name "Tynset" ist Motiv, nicht Thema des Monologs, und er wird am Ende als unbrauchbarer Stoffverworfen: "Zu Tynset jedoch - das wird mir zunehmendklar - fällt mir nichts ein, nichts und niemand, außer Hamlet, aber er fällt mit oft ein" (TYN 244). Der Name "Tynset" ist ein Motiv im Sinne Milan Kunderas, der zum Thema Erzählung und Abschweifung schreibt:

177 W.Hildesheimer, Die Ästhetik der Collage. In: Endlich allein, a.a.O., S.9-14.178 Brief Joan Miró an Michel Leiris am 10.August 1924. Zitiert nach: Judi Freeman, Das Wort-Bild inDada und Surrealismus. München 1990, S.39.

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"Ich unterscheide dabei Thema und Motiv : Das Motiv ist ein im Verlauf des Romans mehrmals wiederkehrendes Element des Themas oder der Geschichte in einem jeweils anderen Kontext [...]. Ein Thema ist eine existentielle Fragestellung."179

Thema des Prosamonologs "Tynset" - im Sinne Kunderas - ist nicht der Name Tynset, es ist der Satz: "Mir fällt nichts mehr ein"180. Eine Bild-Collage, in der sich ein Thema im Laufe der Arbeit nicht herauskristallisiert, kann jedoch ästhetischen Wert haben. Die Prosamonologe enthalten diesen Vorgang fürdas Sprechen und Schreiben. Die vergebliche Suche nach einem Stoff in "Tynset", der Versuch, in "Masante" allen Stoff für Geschichten schließlich nurnoch loszuwerden: Beide Ziele des Ich-Erzählers mißlingen. Dennoch sind die Prosamonologe selbst nicht mißlungen. Sie sind Texte, die zum Ausweis für "Das Ende der Fiktionen" und den Beginn eines Spiels werden, das nicht mehr von Wirklichkeit, sondern von der Wirklichkeit der Sprache handelt. Hildesheimer sagt 1989 zu "Masante":

"Der Stoff ist mir ausgegangen, und dann war diese Wüste, die ja nun tatsächlich in diesem Buch existiert, genau der richtige Ort, topographisch gesehen, wo ich aus einem Sprichwort die Wahrheit machen konnte: jemanden in die Wüste schicken."181

Die Prosamonologe reihen Anfänge und Abschiede von Erzähltem aneinander, die Teile bleiben stets wiedererkennbar. In dieser Weise funktionieren auch

179 Milan Kundera, Gespräch über die Kunst der Komposition, S.94. In: M.Kundera, Die Kunst des Romans. Frankfurt 1989, S.81-106.180 Siehe dazu Mathias Prangel, Interview mit Wolfgang Hildesheimer, S.2. In: Deutsche Bücher. Hg. Ferdinand van Ingen u.a. Amsterdam 1974, S.1-10.181 Wolfgang Hildesheimer, Ich werden nun schweigen. a.a.O., S.53.

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Hildesheimers Figuren. Der Sprechende aus "Tynset" ist in vielerlei Hinsicht ein Bruder der Trinkerin Maxine aus "Masante". Beide sammeln beim Sprechen Bilder und Erfindungen, um sie sofort wieder zu verwerfen. Dieses assoziative Sprechen, das eine lineare Bewegung der Gedanken auf ein Ziel hin ausschließt, weist auf die Ankunft-Abschied-Struktur,die die Prosamonologe durchzieht. Es ist nicht die additive Struktur des "und", sondern die neue Möglichkeiten schaffende Struktur des "oder". Die ihre Existenz konstruierende und erfindende Maxine ist die "Sammlerin" (MAS 187), die Schicksale "verzehrt, um sie, versuchsweise, an sich selbst zu erfahren, sie sich einzuverleiben oder wegzuwerfen, beinahe erschöpft" (MAS 187). Maxine geht mit Material um, alles wird ihr wahr, alles ist erfunden,sie setzt aus Stücken von Wirklichkeit und Erfindung ihr Schicksal zusammen, "während sie selbst sich in tausend Bruchstücken verschiedener Formen erklärt" (MAS 188). Maxine collagiert ihr Leben, sie erfindet sich selbst neu und findet sich nicht. Diese Sammlungvon Fragmenten ist ein Merkmal der Collage. Ihre Teile ergeben zwar eine zusammenhängende Komposition,bleiben aber in ihrer Schichtung und Zusammenstellungder unterschiedlichen Materialien erkennbare Einzelteile. Die Arbeitstechnik Wolfgang Hildesheimers, das stückweise, hektische Arbeiten am Text, 182verstärkt noch den Eindruck, daß Hildesheimer auch beim Schreiben nur Fragmente produziert, die er dann in Collagetechnik zusammensetzt. Sie ist damit eine Kompositionstechnik, die die eher willkürliche und zufällige Abfolge einzelner Elemente in einen konstruierten Zusammenhang bringt. Sie hat damit die Struktur eines "Zettelkastens".

182 Siehe dazu W.Hildesheimer/Walter Jens, Selbstanzeige, S.232. In.Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.228-239.

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Bild-Collagen können die verschiedensten Materialien in einem Bild versammeln. Dabei verändern die Fragmente durch ihre Struktur, Farbe und Ort den Gesamteindruck, je nach dem Ort, an dem sie zu liegenkommen. Ihre Struktur und Herkunft aus der Kunst- oder Lebenswelt bestimmen ihre Aura. Elemente der Wirklichkeit in Fiktionen einzufügen - die Montagetechnik Gottfried Benns oder Alfred Döblins -,verändert die Wirkung von Literatur. "Die eingeklebten Papiere und anderen Stoffe geben der Aussage eine materielle Substanz, die den Klang verstärkt",183 schreibt Herta Wescher über das Einfügenvon Stoffetzen, Zeitungspapieren und anderem in bildkünstlerische Collagen, und sie betont die Gleichrangigkeit von Bilddarstellungen einerseits undKalenderblättern, Speisezetteln und anderen Requisiten des Alltags andererseits am Beispiel der Collagen des Künstlers Larry Rivers.184 Die Collagen-Kompositionsstruktur von Hildesheimers "Tynset" ist komplizierter. Es sind zwar Requisiten der Realität - in "Tynset" das Telephonbuch, der Straßenzustandsbericht, Kochrezepte, in "Masante" derkatholische Kalender- , die mit denen der Kunst oder Fiktion zusammengeheftet werden - die "Bett-Fuge" in "Tynset", Maxines Geschichten in "Masante". Doch durch die Kombination von Elementen aus Realität und Fiktion wird die oben beschriebene Wirklichkeitswirkung nicht verstärkt, sondern verwischt. Denn die Sprechenden konstruieren eine Wirklichkeit gemäß Hildesheimers Wirklichkeitsdefinition, "die das Mögliche in sich einschließt und mit dem Geschehen vermischt" (MAS 188). Christoph Eykmanns These greift zu kurz, wenn er behauptet, Hildesheimer füge "[...] in das locker und assoziativ verknüpfte Romanwerk "Masante" Passagen ein, deren Relat real, d.h. außerfiktional

183 Herta Wescher, Die Collage. Köln 1968, S.305.184 Herta Wescher, Die Collage, a.a.O., S.309.

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ist."185 Hildesheimers "Masante" ist nicht "locker verknüpft", und die Wirklichkeitselemente sind keine eingefügten Realien. Das Erfundene bedarf jedoch des Realelements, wie Eykmann schreibt,186 denn die Elemente von Hildesheimers Prosamonologen sind eine Mischung aus Fiktion und Wirklichkeit. Daran leidet die Trinkerin Maxine, ihre Wirklichkeit ist diese: "Alles wird ihr wahr" (MAS 188). Der Sprechende aus "Masante" erkennt Maxines Dilemma genau: Da alles wahr ist, ist alles auch erfunden. Die Collagetechnik prägt auch Hildesheimers Landschaftsbeschreibungen. Betrachtet man den Bildaufbau, so fällt die Konstruktion von Schichten auf, eine von unten nach oben fortschreitende Beschreibung eines vertikal aufgebauten Gemäldes: "Die Klausurmauern des Augustinerklosters, darüber ein schlanker Glockenturm [...] darüber Berghänge [...] darüber der weiße Marmor [...] darüber der Himmel."187 Die Wiederholung des Wortes "darüber" als immergleiches Strukturelement erinnert an den horizontalen Aufbau des Bildes "Scheidung abends, Diametralstufung aus blauviolett und gelborange" von Paul Klee.188 Dort werden verschieden gefärbte Streifenübereinandergeschichtet, und diese Streifen konstituieren das wiederholte "darüber". Der Bildaufbau kann bei Hildesheimer aber auch in räumlicher Schichtung in die Tiefe erfolgen, gleich einem Relief: "Zum offenen Meer hinaus schichten sichhorizontale Streifen [...] und hinter dem Moor [...]

185 Christoph Eykmann, Erfunden oder vorgefunden? Zur Integration des Außerfiktionalen in die epische Fiktion, S.328. In: Neophilologus 62, (1978), S.319-334.186 Christoph Eykmann, Erfunden oder vorgefunden, a.a.O, S.330.187 W.Hildesheimer, Das Puschlav, S.659-660. In: Ges. Werke Bd. VII, S.657-663.188 Dieses Bild bei Susanna Partsch, Paul Klee, a.a.O., S.57.

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und dahinter wieder weites Land [...] Gebirge in blaugrauen Schichten."189 Die Transparenz der Schichtenerinnert an die Collagen Hildesheimers. Die Collagen "Westwärts" oder "Erdballspiel" aus dem Band "Endlichallein" machen dies sichtbar.190

Wenn man für Hildesheimers Monologprosa von Collagetechnik spricht, muß eine Voraussetzung beachtet werden, unter der eine Collage überhaupt entstehen kann. Denn die Fragmente einer Collage sindnicht nur vorgefunden, sie entste-hen auch durch gezielte Destruktion. Wenn auch die Wirklichkeit als Konglomerat von Fragmenten wahrgenommen wird, die kein Ganzes mehr ergeben, wie es in den Prosamonologen zum Ausdruck kommt, so wird doch mancher vorhandene Zusammenhang auch gezielt und willentlich zerstört. Günter Grass schreibt: "Dumm sein, immer neu anfangen wollen. Mit der Teigrolle den Augenblick walzen. Und die Zusammenhänge wieder auftrennen."191 Hildesheimer sagt in einem Gespräch mitFlorian Rötzer über experimentelle Literatur, "daß indieser Literatur, die meistens Lyrik ist, die Zersplitterung des Existierenden bereits inbegriffen ist, daß da bereits unsere Welt in Bestandteile aufgelöst wird, die wir nicht mehr wie ein Stück Erzählung rezipieren, sondern auf eine ganz andere Art."192 Die Collagetechnik wird hier also zum »realistischen«, die Art der Wahrnehmung von Realitätgenau abbildenden Stilmittel.

189 W.Hildesheimer, Bericht aus Irland, S.693. In: Ges. Werke Bd. VII, S.691-704.190 W.Hildesheimer, Endlich allein. Collagen, a.a.O., S.30 f. und 38 f. 191 Günter Grass, Zeichnungen und Texte 1954-1977. Zeichnen und Schreiben 1. Hg.Anselm Dreher. Darmstadt/Neuwied 1982, S.55.192 Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Florian Rötzer, S.245. In: Kunstforum International 24, (1988), S.244-246.

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Die formale Textgestalt der Prosamonologe weist auch auf die Technik der Collage hin. Textteile werden zusammengeklebt. Die in Volker Jehles Materialienbandüber Wolfgang Hildesheimer abgedruckte Reproduktion der Rede "Herr, gib ihnen die ewige Ruhe nicht" zeigtHildesheimers Collagetechnik an der Textgestalt.193 Beider Herstellung einer Bild-Collage muß Material oft erst zerrissen werden, um in kreativer Neuanordnung ein anderes Bild zu schaffen. Der kreative Akt, und das weiß Hildesheimer aus eigener Arbeitserfahrung, beginnt mit einer Destruktion. Wie bei ihm selbst istauch Paolo Polas Arbeit, wie Hildesheimer schreibt, ein "Zertrümmern-Müssen, um aus den Trümmern Elementeeiner neuen Welt aufzubauen, einer erfundenen Wirklichkeit als künstlerische Deutung unseres Daseins."194 Destruktion ist also die Voraussetzung eines Schöpfungsprozesses, der, weil er zu keinem Ende kommt, immer neue Möglichkeiten zuläßt und genaudadurch Wirklichkeit erst wiedergibt. In den erfundenen Geschichten von "Tynset" und "Masante" zeigt sich die Ankunft-Abschied-Struktur der Prosamonologe: Der Ich-Erzähler erfährt Wirklichkeit fragmentiert, kann dieser Erfahrung keine vollständigen Geschichten entgegenstellen, sondern setzt die Erfahrung in neue Fragmente um und kon-struiert dadurch erst Wirklichkeit: "Schließlich ist eine wahre Geschichte immer die Geschichte neuer Anfänge, nur die falschen Geschichten gehen weiter und entwickeln sich nach einem Gesetz oder Regeln derKunst. Immer neue Anfänge" (MAS 140). Die "wahre" Geschichte ist eine Geschichte der Anfänge. Die 193 Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.334-335.194 W.Hildesheimer, Über Paolo Pola, S. 439. In: Ges.Werke Bd. VII, S.439-440. Volker Jehle bemerkt, daß Hildesheimer hier auch über sich selbst geschrieben habe. In: Volker Jehle, W.Hildesheimer Werkgeschichte. Frankfurt 1990, S.501 f.

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Wirkung von Wirklichkeit, die sich in Sätzen, Bilderfragmenten, kurzen Assoziationen, in Zetteln niederschlägt, wird gesammelt, ihr werden fragmentierte Geschichten angeheftet - und alle dieseFragmente werden schließlich in einen neuen Wirklichkeitsentwurf montiert."Tynset" und "Masante" sind aus Teilen eines Zettelkastens entstanden, wie Hildesheimer ihn und seine Benutzung in "Masante" beschreibt. In "Masante"zieht der Sprechende willkürlich ein Zettel nach dem anderen unter dem Schild "CHI TOCCA MUORE" hervor, und Assoziationen verbinden einen Zettel mit dem anderen, ein Fragment führt zum nächsten, ad infinitum.195 Volker Jehle zitiert in diesem Zusammenhang Wolfgang Rath, der "Tynset" und "Masante" "Schnipselprodukte" nennt, und kritisiert Raths These über Hildesheimers Formgebung als der einer "Fertigteilkonstruktion nach dem Vorbild der Natur".196 Die Begriffe "Schnipsel-" und "Fertigteilprodukte" werden allerdings dem dyna-mischen Charakter dieser Text-Fragmente nicht gerecht, die alle potentielle Geschichten enthalten, die jederzeit weitererzählbar wären - wenn der Ich-Erzähler das wirklich wollen würde. Insgesamt jedoch hat Rath in seinem Buch der Dynamik und Beweglichkeitin Hildesheimers "Tynset" durchaus Rechnung getragen,ebenso seiner visuellen Komponente, wenn er schreibt:"Jede Aussage widersetzt sich der vorangegangenen

195 Hildesheimers schriftstellerische Technik, sichvon Kalendern, Zetteln, Telephonansagen inspirieren zu lassen, weist bereits auf das Fehlen eines Stoffes für Fiktionen hin. Elias Canetti schreibt: "Wer nichts zu denken hat, holt sichs im Wörterbuch." In: E.Canetti, Das Geheimherz der Uhr. Frankfurt 1990, S.124.196 Volker Jehle, W.Hildesheimer Werkgeschichte, a.a.O., S.601 Anm.62.

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[...]. Dualistisch denken heißt versinnlicht denken."197

In "Masante" kommt diese dualistische Struktur im kontrapunktischen Wechsel zwischen Statik und Bewegung zum Ausdruck. Die Wüste bei Meona wird zum Hintergrund: "Zum Fenster, das Stadium des sichtbarenTagesablaufes verzeichnen: wenig Veränderung" (MAS 165). Der Blick in die Wüste wird zur Versicherung von Statik, nur die anderen Bilder, die inneren, sindin Bewegung: "Ich stelle fest: die Bilder kommen schnell und willig, und ebenso schnell schwinden sie wieder, das macht die Leere: nichts hält sie auf" (MAS 166). In "Masante" wird deutlich, daß die Sehnsucht nach einem Stoff, wie vorher in "Tynset", die Sehnsucht nach Gelungenem, und die Sehnsucht nachLeere gleichermaßen zweifelhaft sind: "Jetzt sollten sich Zusammenhänge ergeben und sich verknüpfen, so daß etwas entsteht, das ich brauchen kann. Aber was? Und wozu?" (MAS 166). Von Anfang an ist das Ziel keinwirkliches Ziel, sondern nur Vorstellung eines Ziels:wie die Vorstellung, nach Tynset zu fahren. Der Ich-Erzähler braucht einen Hintergrund, einen Kontrapunkt, um von der Wirklichkeit abzuschweifen. Die charakteristische Ankunft-Abschied-Struktur weistbereits darauf hin, daß in den immer neuen Anfängen eigentlich das Ende gesucht wird.

197 Wolfgang Rath, Fremd im Fremden. Zur Scheidung von Ich und Welt im deutschen Gegenwartsroman. Heidelberg 1985, S.42.

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II.3.2. Der Blick und die Bilder

"Deutlicher, Herr Wirt! Beispiele brauche ich nicht,das nicht; aber Zusammenhänge, ein Bild!"

(MAS 271)

"Häscher: das Wort holt Bilder hervor".(MAS 213)

Hildesheimer beginnt seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen 1967 mit dem Satz: "Ich habe [...] an einer Kunstakademie studiert, und bin nicht von Theoretikern, sondern von Malern unterrichtet worden."198 Das Sehen ist - neben dem Hören, dem Klang der Wörter - Ausgangspunkt der Gedanken, Reflexionen und Geschichten des Ich-Erzählers, es sind sichtbare Dinge: ein menschlicher Schädel, Betten, ein Regenschirm, Häuser, Gemälde - Gegenstände der sicht-baren Welt. In "Masante" sagt der Ich-Erzähler: "[...] immer war mein Fall das Greifbare mit seiner Vergangenheit und seinen Möglichkeiten" (MAS 47). Hildesheimer wiederholt diesen Satz im Gespräch mit Manfred Durzak: "[I]ch bin ein Maler. Meine Requisiten sind tatsächlich, wie ich auch in "Masante" sage, die sichtbaren und greifbaren Dinge."199 In den Prosamonologen bestimmen die Orte, ihre Topographie, also Raum und Atmosphäre, Licht, Farben, Anordung der Dinge die Imagination des Ich-Erzählers. Im Gespräch mit Dierk Rodewald 1971 äußertHildesheimer: "Ich gehe nicht von einer Figur meiner Identifikation aus, ich gehe eigentlich immer von einem topographischen, einem atmosphärischen Punkt aus, [...] den muß ich gesehen haben."200 Wo man steht,ob neben den Dingen, über ihnen, in ihnen - die

198 W.Hildesheimer, Die Wirklichkeit des Absurden, S.43. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. VII, S.43-61.199 M. Durzak/W.Hildesheimer. In: Durzak, Gesprächeüber den Roman, a.a.O., S.288.

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Beschreibung richtet sich nach der räumlichen Befind-lichkeit, und im Text stehen dann raumschaffende Partikel: "unbeteiligt auf dem Fußboden eine erloschene Kerze, darüber ein Stuhl, stumpf mit Samt bezogen, darauf ein eiserner Handschuh" (TYN).201 Die Wirklichkeit in Bilder zu verwandeln, das ist der Versuch des Ich-Erzählers.Eine Landschaftsbeschreibung in "Marbot" zeigt Hildesheimers Art des Bildaufbaus 'mit dem Pinsel': "Und überall Schafe, wie aus dem Vollen geschöpft undgroßzügig über die Weite der Felder gesprenkelt, in Herden, Gruppen oder einzeln [...]. In der Weite, gegen den Horizont werden die wolligen Tierkörper zu weißen Akzenten" (MAR 27). In genau konstruierten Bildern, die vielen Collagen der 70er Jahre ähneln, wird Landschaft geometrisch wahrgenommen: "inmitten Schafweiden, die sich nach allen Richtungen in sanften und beinahe ebenmäßigen Wellen zum Horizont hindehnen, in rhythmischen Reihen unterbrochen, mitunter auch quadratisch quergeteilt von Baumgrenzen" (MAR 28). Geometrie und Akustik bestimmen die Landschaften, sie werden sichtbar und hörbar - hörbar wird hier die Stille. Konstruiert wird eine Hör-Landschaft aus geometrischen Zeichen: "Es ist eine Landschaft absoluter Stille, eine Waagerechte ohne vertikale Ausrufezeichen" (MAR 28). Hildesheimers Text-Bilder sind statisch, sie vergehennicht im Fortgang der Erzählung. Punkte als Zustände,als scheinbare Stasis in der Zeit, sind für Hildesheimers Prosa konstitutionell, denn es sind die200 Gespräch W.Hildesheimer/Dierk Rodewald, S.152. In: Über Wolfgang Hildesheimer, Hg.Dierk Rodewald.Frankfurt 1971, S.141-161.201 Vg. auch W.Hildesheimer, Das Puschlav, S.659-660: "darüber Berghänge mit Fels und Nadelwald, darüber der weiße Marmor des dreitausend Meter hohen Sassalbo, darüber der Himmel." In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. VII, S.657-663. Kursiv Verfasserin.

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statischen Bilder als Hintergründe, die bleiben: "Diese statischen Bilder bleiben haften, es sind die beweglichen, die entschwinden."202 Bilder sind das Bleibende, das Geschehen jedoch ist vergänglich, wie Hildesheimer zu Florian Rötzer sagt: "Was Sie erleben, vollzieht sich natürlich in der Zeit, aber was Sie sehen, das ist stationär."203 Damit sind die beiden Pole genannt: Sprache und Bilder als Dynamik und Statik der Monologprosa. Die Ankunft-Abschied-Struktur ist daran wesenhaft beteiligt: Sie vermeidetEntwicklung, also Zeitvergehen. Indem man von Punkt zu Punkt springt, erscheint jeder Punkt gleichermaßenzeitlos, weil er von jedem Punkt aus jederzeit wiedererreichbar ist. In "Masante" vollzieht sich die Abwendung des Ich-Erzählers von der vergeblichen Suche nach Stoff. Das Sehen wird zur Hilfe für »reine« Wahrnehmung. Die "Vergeblichen Aufzeichnungen" werden abgelegt:

"[D]ie schreibfertige Hand legte sich aufs Papier, die Worte bildeten sich nicht, die Erleuchtung blieb aus. So saß ich vor dem leeren Blatt: nichts. Und doch waren die Augenblicke in sich selbst gut. Leichtigkeit als Selbstzweck, eine Erkenntnis innen, die sich mir selbst nicht zu erkennen gab: ein geschenkter Augenblick, ein Genuß. Nicht verwertbar, daher keine Arbeit damit verknüpft. Die Gegenstände gewannen neue Bedeutung, belebten sich, umrissen sichschärfer, hatten plötzlich mehr Körper, boten Raum, in sie zu schlüpfen." (MAS 189)

Die Erfahrung von Leere, von Wüste lehrt Sehen. Die sichtbaren Gegenstände und Bilder werden zu Identifikationsangeboten: "Ich bin immer in die 202 W.Hildesheimer, Zeiten in Cornwall, S.358. In: Ges. Werke Bd.I, S.339-405.203 "Vom Sein ins Sehen fliehen." W.Hildesheimer imGespräch mit Florian Rötzer, S.246. In: KunstforumInternational. April/Mai 1988. Köln 1988, S.241-246.

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Hintergründe der Bilder geschlüpft, habe mich in den Landschaften verloren, im grünspanigen Grün der Mona Lisa, im vergilbten Schnee hinter der »Heimkehr der Jäger«" (MAS 339), sagt der Ich-Erzähler. Nicht Schreiben, sondern ein inneres Beschreiben des Dingesals die Vertiefung des Seh-Aktes wird wichtig. In "Tynset" waren die Gegenstände Ausgangspunkte für dieschweifende Phantasie, jetzt sind es die Dinge selbst, die gesehen werden:

"Ein Gang durch die Wüste: es ist da eine neue Dimension in mein Bewußtsein getreten, eine gefährliche Wachheit. Sie erlaubt mir, das Neue hier bis in seine kleinste Einzelheit aufzunehmen. Mehr sogar: Vergangenes im Licht einer neuen Sicht zu betrachten. Nur habe ich die Eigenschaft der Sicht noch nicht im Griff." (MAS 244-245)

Ende der 60er Jahre finden sich zwei Äußerungen Hildesheimers über sein Theater, die für sein Schaffen charakteristisch sind. Dort heißt es: "Ich habe keine »Aussage«, kein »Anliegen«. Es geht mir darum, etwas - buchstäblich - sichtbar zu machen, ohne Pathos oder Leidenschaft, es geht mir nicht um eine Sache, sondern um das Spiel, eben um Theater."204 Was da Hildesheimer - in Bezugnahme auf Paul Klee - vom Theater schreibt, daß er "weder an den Sinn noch an Deutung, sondern nur an das Herbeizaubern lebenderBilder dachte",205 das findet man fast zwanzig Jahre später im Aufsatz "Die Ästhetik der Collage" wieder: "Ich will auch »nichts damit sagen«, außer natürlichmit dem einzelnen Bild die Assoziationslust des Betrachters in jene Bahnen lenken, die ich selbst

204 Wolfgang Hildesheimer, Empirische Betrachtungenzu meinem Theater, S.823. In: W.Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd.VI, S.820-823. 205 W.Hildesheimer, Über "Pastorale oder Die Zeit für Kakao", S.816. In: W. Hildesheimer, Ges. WerkeBd. VI, S. 814-816.

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eingeschlagen habe, um - spreche ich es aus - Schönheit zu erzeugen."206 Die Herstellung dieser Bilder charakterisiert auch die Sprach-Kunst WolfgangHildesheimers. Wirklichkeit wird in »sichtbare« Sprach-Bilder übersetzt.

206 W.Hildesheimer, Die Ästhetik der Collage. In: Endlich allein, a.a.O., S.9.

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II.3.2.a) Sichtbarmachen: die Gleichzeitigkeit im Bild

Bilder ermöglichen die gleichzeitige Wahrnehmung unterschiedlicher, simultan ablaufender Vorgänge. Hildesheimers Monologprosa läßt "lebende Bilder" entstehen, die das leisten sollen,was Bildende Kunst und Musik207 vermögen: die Wahrnehmung verschiedener Vorgänge in einem Rezeptionsaugenblick. Schrift ist nur linear wahrnehmbar, sie enthält immer schon das Vergehen der Zeit, wie sehr der Text sich auch um dieHerstellung von Gleichzeitigkeit bemüht. In "Tynset" und auch in "Masante" finden sich Versuche, gleichzeitig stattfindende verschiedene Ereignisse inihrer Simultaneität zu beschreiben und in ein Bild zubannen. Auch hier ist wieder der Einfluß des Visuellen, des Sehens spürbar, von dem Merleau-Ponty sagt: "[...] es lehrt uns die «Gleichzeitigkeit»".208 Die Wiederholung bestimmter Sätze suggeriert die Stagnation der Zeit, also die Negierung der bereits im Schreiben und Lesen vergangenen Zeit. In einer Textraffung aus "Tynset" wird dies deutlich: "Hier liege ich [...] in diesem Bett, in dem [...] der Mörder lag [...] in dem der Mörder liegt [...] in demder Mörder liegt [...] in dem der Mörder liegt [...] in diesem Bett [...] liegt [...] liegt und horcht [...] liegt er [...] sieht den Schädel [...] er liegtund horcht [...] er hört nichts, er liegt, sein Kopf hier, wo mein Kopf liegt" (TYN 237-241, Kursiv Verf.).Die Struktur einer ständigen Rückkehr zum 207 Vgl. M.Kundera, Gespräch über die Kunst der Komposition, S.84 f., der die musikalischen Kompositionsprinzipien Polyphonie und Simultaneität auf Romane anwendet. In: Milan Kundera, Die Kunst des Romans. Frankfurt 1989, S.81-106.208 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S.40. In: ders., Das Auge und der Geist. Hg. H.W.Arndt. Hamburg 1984, S.13-43.

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Ausgangspunkt "hier" ist evident, sie suggeriert die Stagnation der Zeit, sie erzeugt ein statisches Bild.Die Beschreibung des Bildes hebt an mit dem Satz "Hier liege ich", dann folgt der Tempuswechsel von Präteritum zu Präsens: "in dem der Mörder lag - in dem der Mörder liegt", die vorgestellte Vergangenheitdes Bettes wird zur Gegenwart. Die Ankunft-Abschied-Bewegung in der Zeit verbindet das Hier der Gegenwartmit dem Hier der vorgestellten Vergangenheit. Sie endet mit der Wiederankunft in der Gegenwart des Ich und seiner körperlichen Befindlichkeit: "sein Kopf hier, wo mein Kopf liegt" (TYN 241). Der Aufbau des Text-Bildes entsteht außerdem in der Art der Wahrnehmung eines gemalten Bildes: Der Betrachter steht vor dem Bild, betrachtet es, wird langsam zum Teilnehmer, schließlich zum Teil des Bil-des. Der Betrachter wird zum Dargestellten auf dem Bild, wird zum atmenden Menschen, der in seinem Bett liegt, er erkennt jedes Detail, das Geschehen spielt sich an einem Punkt ab, einem topographisch und atmosphärisch genau beschriebenen Ort: "hier, in diesem Bett [...] hier, wo jetzt mein Kopf liegt, genau hier [...] Hier, wo mein Körper liegt" (TYN 130). Der Sprechende liegt genau an der Stelle des Bettes, wo vor hunderten von Jahren ein Mord geschah,an der Stelle im Bett, wo Gesualdo starb - wo der Ich-Erzähler Gesualdo hat sterben lassen.Die Ankunft-Abschied-Struktur von Hildesheimers Prosaist Ausdruck des Versuches, durch Verdoppelung des Standpunktes jene Gleichzeitigkeit herzustellen, die bei der Wahrnehmung eines bildkünstlerischen Werkes entsteht. Hier und Dort sind dabei die Standpunkte, die gleichzeitig bestehen können und wesenhaft die räumliche Wahrnehmung eines Gegenstandes bestimmen. Wenn man als Betrachter vor einem Gemälde steht und es attentiv wahrnimmt, so ist man nicht nur vor, sondern auch im Kunstwerk. Die ästhetische Erfahrung der Gleichzeitigkeit vom Hier als dem Standpunkt des

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Betrachters und dem Dort als seinem Sein im Bild wirdvon Hildesheimer auf die Literatur übertragen und dient der Erweiterung der Perspektive und der Mehrdeutigkeit. Dies klingt schon in Hildesheimers Text "Die Margarinefabrik" von 1965 an. Der Ich-Erzähler verdoppelt sich in seiner Imagination, "um zwei zu sein, die einander im Raum und in Beziehung zu ihm beobachten: ich stehe hier, und ich sehe mich von hinten einem anderen Faden folgen."209 Hildesheimergeht es um das Sehen, um den Versuch einer umfassenden Raum-Wahrnehmung durch die Verdoppelung der Perspektive. Raum-Wahrnehmung von zwei gleichzeitig bestehenden Standpunkten ist ein Elementprimär ästhetischer Erfahrung. Durch die Kontemplation eines Bildes wird die Illusion erzeugt,man könne seinen Standpunkt, den Punkt des Seins im eigenen Körper, verlassen. Der gesuchte Standpunkt wird zum Raum-Zeit-Punkt, wie Elias Canetti über Michel de Montaigne schreibt: "Montaigne der Ich-Sager. »Ich« als Raum, nicht als Position."210

In Franz Kafkas letzter Erzählung "Der Bau" spricht der Erzählende, ein unter der Erde lebendes Tier, voneiner traumhaften Ich-Verdoppelung als Möglichkeit des Selbstschutzes: "Mir ist dann, als stehe ich nicht vor meinem Haus, sondern vor mir selbst, während ich schlafe, und hätte das Glück, gleichzeitig tief zu schlafen und dabei mich scharf bewachen zu können."211 Die Ich-Verdoppelung steht in Kafkas Geschichte im Dienste der Selbstbeobachtung. In Hildesheimers Monologprosa ist der Wunsch nach Ich-Verdoppelung Ausdruck der Suche nach Distanz zum eigenen unveränderlichen Standpunkt, zu einem festgelegten Punkt. Hier ist Hildesheimer jener 209 W.Hildesheimer, Die Margarinefabrik, S.310. In:Ges. Werke Bd.I, S.303-312.210 Elias Canetti, Das Geheimherz der Uhr. Frankfurt 1990, S.77. 211 Franz Kafka, Der Bau, S.367. In: Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen. Frankfurt 1988, S.359-388.

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"Polyhistor [...], der sich nur allzu gern auf Abwegebegibt und sich dabei aus den Augen verliert" (MAX 63). Auch Hildesheimers Text-Bilder zeigen diese Doppelstruktur. Das Geschehen der Prosamonologe spielt vor einem genau festgelegten Hintergrund an genau festgelegten Orten. In "Tynset" sagt der Ich-Erzähler kurz vor der Celestina-Szene: "[D]ie Erinnerung ist gelöscht, alles entschwunden, bis auf Tynset. Tynset läßt sich nicht verdrängen, es steht immer noch da, im Hintergrund" (TYN 220). Tynset ist die Folie, auf der sich das Geschehen, die Celestina-Szene, wie vor einem fest installierten Bühnenbild abspielt. Hildesheimers Ausbildung als Bühnenbildner scheint hier in seine Prosa einzudringen. Der Bühnenraum als Hintergrund der "lebenden Bilder" zeigt Raum und Leere als Bedingung der Wahrnehmung von Geschehen.212 Vor einer statischen Folie als Hintergrund entwickelt sich das dramatische Geschehender Celestina-Szene. Der Hintergrund, das imaginäre Tynset, ist das statische Element des Bildes: "Ich genieße diese Sicht dort hinten, wo nichts sich bewegt, kein Baum, kein Schatten zwischen den Häusern" (TYN 220). Der Vordergrund dagegen ist Bewegung: "[...] vorn nimmt mich etwas anderes gefangen, es sind Celestina und die beiden Gläser Wein" (TYN 220). Vor dem installierten Bühnenbild vollzieht sich im Vordergrund das Schauspiel. Die weite Landschaft als Hintergrund eines Land-schafsgemäldes und im Vordergrund Menschen als lebendige Kontraste, das könnte Vorbild gewesen sein.Bewegung und Statik bedingen sich und werden in ein einziges Bild gebannt.

212 Zum Thema Raum und Bilder Elizabeth Petuchowski, "Emptiness" and related images in Wolfgang Hildesheimers "Tynset" und "Masante". Cincinatti Phil.diss. (masch.) 1975.

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Die Phantasie des Ich-Erzählers aus "Tynset" und "Masante" ist eine visuelle, sie zielt auf das Sichtbarmachen von Wirklichkeit. "Masante" weist in die Richtung einer anderen Art des Erzählens: statt Erfindung ist es die intensive Wahrnehmung der Wirklichkeit. Das Sehen als Akt beginnt, die Inhalte des Sehens zu ersetzen.

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II.3.2.b) Sehen lernen

"Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen - ja, ich fange an."

R.M.Rilke, Malte Laurids Brigge

"Wie schwer fällt mir zu sehen, was vor meinen Augen liegt! "

Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen

Die Ästhetik Wolfgang Hildesheimers steht in der Tradition des Surrealismus als einer Form der Perzeption, und unter seinem Einfluß steht auch die Technik, die Wirklichkeit übersteigernde Möglichkeiten zu erfinden. Der Surrealismus als Technik wird Hildesheimer zum Mittel der Schöpfung von "Metaphysik". Die Wirklichkeit wird, in Bilder transformiert, zum Erlebnis, nicht mehr zur Lieferantin von Inhalten. Durch die Spannung zwischenMaler und Objekt auf den Bildern Jo von Kalckreuths sei es, schreibt Hildesheimer, "als überrasche er dieDinge im Vollzug ihrer Beziehung zueinander und zu ihm, sodaß auch das scheinbar nichtige Objekt Bedeutung gewinnt und somit zu einem intensiv erlebten Moment und daher zu einem beinah metaphysischen Ganzen beiträgt."213 Die »surrealistische« oder »metaphysische« Beschreibung der Wirklichkeit hilft, die Wirklichkeit in Ästhetik und in ein Erlebnis zu verwandeln:

"Man darf das METAPHYSISCHE nicht einfach der Schulphilosophie überlassen, die Ästhetik hat ein mindestens ebenso großes Gewohnheitsrecht darauf. Wasist metaphysisch in der Literatur? Ist es einfach dasextreme Angebot der Schilderung eines Vorgangs bis weit jenseits der Wirklichkeit? Die Schilderung einesaus dem Leben gegriffenen Vollzugs, aber intensiver, 213 W.Hildesheimer, Der Maler Jo von Kalckreuth, S.499. In: W.Hildesheimer, Ges.Werke Bd. VII, S.499-501.

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deutlicher, wahrer und wirklicher und gleichzeitig scheinbar unwirklicher als das Leben? »Wuthering Heights«, »Nightwood«, »Finnegans Wake« - die Teufelserscheinung im »Doktor Faustus« -"214

Salvador Dali macht auf seinen Bildern eine brennendeGiraffe zur Wirklichkeit, überschreitet schöpferisch die Physis durch »gemalte Metaphysik«. Die Begriffe "Surrealismus" und "Metaphysik" greifen dabei ineinander, denn beide bedeuten hier eine Intensivierung der Erfahrung von Wirklichkeit - und zwar der Wirklichkeit der Kunst. Die Bildende Kunst ist nicht zufällig Beispiel für Hildesheimers Begriffder Metaphysik oder des Surrealismus. Sie ist als sichtbare Wirklichkeitskonstruktion gelungener Beweis von möglicher Existenz. Hildesheimers Kunstfigur Andrew Marbot erfährt diesen sichtbaren Beweis der Existenz von Engeln an den Fresken des italienischen mittelalterlichen Malers Giotto, wenn er in sein Tagebuch schreibt: "Mit Giotto werden wir wieder zu wundergläubigen Kindern und glauben keinem Erwachsenen, der da sagt: das gibt es nicht, sondern deuten auf Giotto und sagen: da ist es!" (MAR 119). Das Sehen wird zum Beweis von Wirklichkeit. In den "Vergeblichen Aufzeichnungen" hat Hildesheimers Ich-Erzähler seine Ausgangssituation skizziert: "Mir fällt nichts mehr ein". Wenn der Kopfkein Material mehr liefert, so muß die Wahrnehmung, das Sehen von Welt thematisiert werden. "Tynset" als erster Schritt in diese Richtung thematisiert ein inneres Sehen als Vorstellung und Erinnerung, den Seh-Inhalt, "Masante" enthält bereits neben den Seh-Inhalten den Seh-Akt.215 Das Auge des "Tynset"-Ichs

214 W.Hildesheimer, Nachlese. Frankfurt 1987, S.18.215 Vgl. Peter Strasser, Philosophie der Wirklichkeitssuche. Frankfurt 1989, S.72: "Empfindungen lassen sich prinzipiell nicht in Aktund Inhalt zerlegen. [...] Demgegen-über muß jede Wahrnehmung in Akt und Inhalt begrifflich

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nimmt Welt nicht in direkter Wahrnehmung, sondern in ihrer Vermittlung durch Erinnerungen und Bilder wahr.Sein Denken ist ein In-Bildern-Denken, die Seh-Inhalte sind Konstruktionen möglicher Vergangenheit und die Vorstellungen von Tynset. Wenn der Sprechendedie Augen öffnet, um Welt zu sehen, will er nichts sehen: "[E]s wäre mir kaum möglich, das zu sehen, wasich sehen will, nämlich nichts" (TYN 180). Hildesheimer macht den Seh-Akt als Wirklichkeitskonstruktion zum Stoff von "Masante": Sehen hat eine zentrale Stellung. Die erfundenen Geschichten und die evozierten Erinnerungen sind Vor-Stellungen im Sinne eines reflektierenden Vor-sich-Hinstellens eines Bildes. Das "Tynset"-Ich spricht häufig in der Schilderung seiner Imaginationen und Erinnerungen von "Sicht" und "sehen".216 Der Begriff Sehen wird in "Tynset" jedoch in einer eigenartigen Weise verstanden. Der Ich-Erzähler befindet sich auf dem Dachboden des Schuppens, blickt durch das Fernrohr und "landet" in seiner Vorstellung auf dem Mond, wo er sich umblickt. Doch dann passiert folgendes: "Dennoch, ich koste von dieser Einsamkeit,ich schließe die Augen, versuche, mich abzuschließen,aber jetzt sehe ich abgestecktes, vermessenes Gebiet,abgezirkelt, aufgeteilt" (TYN 179). In dem Moment, indem der Versuch einer Imagination unternommen wird, die die Wirklichkeit ausschließen soll, taucht Wirklichkeit auf: "[...] und das Bild ist gelöscht,

zerlegbar sein. Sehe ich ein Blatt Papier, dann ist mein Sehen (der Seh-Akt) von dem, was ich sehe(dem Seh-Inhalt: das Blatt Papier) kategorial verschieden. Daher kann es sein, daß ich tatsächlich etwas sehe, was es tatsächlich gar nicht gibt."216 TYN 81, TYN 93-95 passim, "jetzt sehe ich", TYN179. Besonders in "Masante" häufen sich die Verbendes Sehens: MAS 131 "hier sieht man weit", MAS 196, MAS 221 "Blick", MAS 225 "Blick", MAS 229, MAS 234, MAS 316 und öfter.

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ich sehe nichts mehr, höre nichts mehr" (TYN 179). Das Sehen selbst als Vorgang ist das Mittel zur Flucht aus der Wirklichkeit, während Denken und Imaginieren die Wirklichkeit anziehen, die abgestoßenwerden soll. In "Tynset" wird die Richtung, in der der Ich-Erzähler das Weite sucht, bereits klar: Das Sehen ist von existenzieller Wichtigkeit. Während in "Tynset" der Ich-Erzähler mit dem Namen Tynset einen Hintergrund seines Erzählens gefunden hat, kommt er in "Masante" nicht einmal bis dorthin: "[I]ch werde nach Masante zurückkehren, - die Rückkehr leuchtet vor mir auf, - sobald ich nur eineneinzigen Faden gefunden habe, den weiterzuspinnen es lohnt" (MAS 177). Im Laufe von "Masante" wird dem Sprechenden schließlich klar, daß das vergebliche Suchen nach Anfängen eigentlich ein Abschiednehmen ist. Hier soll nichts mehr begonnen, nur noch abgelegt, nichts mehr konstruiert, nur noch wahrgenommen werden. "Vom Sein ins Sehen flüchten": Der Titel des Aufsatzes von Florian Rötzer trifft diesen Vorgang.217

Der Erzähler ist an den Rand der Wüste gekommen, weilWüste als Freiheit, als eine Art freie weiße Leinwanderscheint, auf der noch alles möglich ist. "Am Anfangalso ist noch alles offen, die Fläche leer",218 schreibt Hildesheimer über den Beginn seiner Arbeit an einer Bild-Collage. "Tynset" ist geprägt vom Sich-Abschließen von allen Wahrnehmungen, das Ende von "Masante" beschreibt eine Öffnung ihnen gegenüber: "Ich öffne das Fenster: kalt! Nachts läßt Sand die Luft erkalten" (MAS 364), und: "Ich öffne die Tür, und fast noch im Schutz ihres Rahmens fällt es mich an, ich bin ausgesetzt. Ein scharfer Schnitt trennt

217 Florian Rötzer, Vom Sein ins Sehen flüchten, a.a.O., S.241-246.218 W.Hildesheimer, Die Ästhetik der Collage. In: Endlich allein, a.a.O., S.13.

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mich von der Geborgenheit der dernière chance" (MAS 366).Der Sprechende aus "Masante" hegt am Anfang noch die Hoffnung, daß die Leere der Wüste Kreativität erzeugen könne. Horst Janssen schreibt über die bilderlosen Wände im Zimmer seines Lehrers Alfred Mahlau: "Er hielt sein Gucken frei von Gewöhnung und Abnutzung und damit aufnahmebereit für jede Überraschung."219 Der Anfang vor einer weißen Leinwand,auf der nichts vorgegeben ist: Die weiße Fläche als Anfang und Ende, das ist das Ziel des Sprechenden aus"Tynset" und "Masante". Deshalb muß in "Masante" ununterbrochen vom Anfangen geredet werden. Alles mußversucht werden, bevor endgültig aufgegeben wird, aber die Anfänge, die man mit Sprache als Material macht, sind Illusionen: "Kein Anfang, alles nur Vorwand!" (MAS 65). "Irrtum, Willkür, Verbrechen, Verblendung, von Anfang an" (TYN 228), das ist der wahre Anfang der Welt und damit der Wirklichkeit. Aufeiner weißen Fläche, in der Leere anzufangen ist unmöglich. Nur die Arbeit an einer Collage hilft der Illusion des Schaffenden, wirklich anzufangen, denn das Papier ist noch weiß, alles ist noch möglich. DieArbeit mit Sprache ist eine Arbeit auf weißem Papier,aber mit einem Material, das die Wirklichkeit - transportiert durch die Sprache - in die Leere hineinträgt. Denken ist nicht Farbe oder Form - Denken und Sprechen enthalten bereits die Wirklichkeit, die ausgelöscht werden soll.In "Masante" scheint der Ich-Erzähler nicht nur die Fiktionen und Erinnerungen, er scheint sich selbst auslöschen zu wollen. Der Ich-Erzähler sucht nicht den Anfang, er sucht das Ende des Sprechens. Damit rücken "Tynset" und "Masante" in Samuel Becketts Nähe. Seine Monologe sind pausenlose Anfänge, und fürihn zählen die Anfänge, die immer neu zu gewinnende Kraft eines Versuchs: "Aber es war ein kleiner

219 Horst Janssen, Querbeet. Hamburg 1981, S.421.

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Anfang. Es ist der erste Schritt, der zählt. Der zweite zählt weniger."220 Denken und Sprechen kann keine »weiße Fläche« sein, und der Anfangssatz aus "Masante": "Noch ist alles offen, alles wie es sein soll, ein Anfang" (MAS 19) entpuppt sich als Täuschung. Wenn für Georg Trakl noch das Wort Walter Killys über seine immer neuen Gedichtvarianten gilt: "Als ob es ihm selbst definierbar gewesen wäre, als ob er die Not der immer neuen Versuche nicht gekannt hätte",221 so wird die "Not der immer neuen Versuche" bei Hildesheimer zur Struktur, zur Form seiner Prosa,um damit zu zeigen, daß nur noch Anfänge, nicht endgültige Fassungen gelten können: "Ich habe noch immer nicht angefangen; oder anders: ich fange immer wieder an" (MAS 140). Es geht nicht um das Weitermachen, es geht auch nicht um das Finden des letztlich gültigen Entwurfs, sondern um das Anfangen - Anfangen, um endlich Abschied zu nehmen, denn der Versuch, etwas Erzählenswertes zu finden, ist gescheitert.

Im Hörspiel "Maxine" (1969) erklärt der Erzähler, warum er in die Wüste gekommen sei: "Ich kann nichts mehr sehen. Daher bin ich hier."222 Der Ich-Erzähler aus "Tynset" ist nicht nach Meona aufgebrochen, "um nachzuprüfen, ob er tatsächlich Recht hatte, sich zurückzuziehen, und ob seine Gründe absoluter Tatenlosigkeit tatsächlich standhalten",223 wie Volker Jehle vermutet, sondern um wieder sehen zu lernen. Der Wunsch, wieder sehen zu können, zielt auf den Seh-Akt selbst. Das Sehen wird zum Selbstzweck, es 220 Samuel Beckett, Molloy. Frankfurt 1975, S.192.221 Walter Killy, Über Georg Trakl. Göttingen (3.Auflage) 1967, S.91.222 W.Hildesheimer, Maxine, S.392. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. V, S.365-399.223 Volker Jehle, Das Ende kommt doch, S.450. In: W.Hildesheimer, Die Hörspiele. Hg. Volker Jehle. Frankfurt 1988, S. 439-456.

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beruhigt und entspannt und provoziert nicht mehr die Ankunft, sondern den Abschied von Erinnerungen, Geschichten und Bildern. Text-Bilder werden, da sie ja Seh-Inhalte sind, verworfen: "Soweit das Bild. Ichhabe es mir aus dem Kopf gedeutet. Ich werde müde, genug der Bilder!" (MAS 340). Sprach-Bilder enthaltenschließlich auch Wirklichkeit, deshalb sind auch sie mit Deutung und Arbeit verbunden: "Alain trinkt und überläßt mir seine Bilder zur Bewältigung" (MAS 252)."Masante" ist damit das Bindeglied zwischen Monologprosa und Collagen. Das Erzählen von Fiktionenist an ein Ende gelangt. Im Text "Mitteilungen an Max" teilt der Ich-Erzähler mit:

"Übrigens male ich wieder. Manchmal gegenständlich, manchmal ungegenständlich, manchmal auch so gegenstandslos, daß auf dem Bild nichts zu sehen ist,was bei mir immer ein Gefühl tiefer Beruhigung auslöst" (MAX 49).

Es sind nicht Wörter, nicht Bilder, die die Wirklichkeit auslöschen, es ist das Sehen als Seh-Akt. Und nur reines Schauen, interesseloses Betrachten ist Schönheit,224 und nur das Sehen selbst ermöglicht die Flucht aus der Wirklichkeit.

In "Masante" wird in jene Richtung gewiesen, " wo nichts ist, nichts, Nichts. Dorthin -" (TYN 186). 224 Vgl. dazu Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. Hg. W.Weischedel. Frankfurt 1974, S.124: "Geschmack ist das Beurteilungsvermögen eines Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder Mißfallen, ohne allesInteresse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens heißt schön." Dazu auch George Steiner, Von realer Gegenwart. München/Wien 1990, S.44: "Die Anziehungskraft, die vom Text, vom Kunstwerk, von der Musik ausgeht, ist radikal interesselos."

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Doch die Wirklichkeit des Ich-Erzählers sieht anders aus: Es ist die Wirklichkeit des Alterns und des Todes. Der Tod, "einer trüben Wirklichkeit trübster Vertreter, ihr Repräsentant schlechthin" (TYN 265) ist Ursprung der Irritationen des Ich-Erzählers. Dieser Wirklichkeit, die eine Wirklichkeit des Todes ist, wird in letzten Versuchen eine andere, eine fingierte Wirklichkeit entgegengesetzt, die George Steiner beschreibt:

"Wo es kompromißlos die Fragen unserer Conditio in Angriff nimmt, sucht das Dichterische die Mitteilungslosigkeit unserer Begegnungen mit dem Tod zu erhellen (in ihrer letztlichen Struktur sind Erzählungen Generalproben für den Tod)".225

In "Masante" ist die Vorbereitung auf den Abschied des Ich-Erzählers auch die Vorbereitung auf den Tod:

"Und dann, eines Nachts, löst man sich zum letzten Mal die Schnürsenkel, denn es geht ans Sterben. Ich denke jetzt nicht gern daran, denn ich werde mir balddie Schnürsenkel lösen, wird es das letzte Mal sein?"(MAS 342).

225 George Steiner, Von realer Gegenwart. München 1990, S.187-188.

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III. ABSCHIEDE - SCHEITERN UND ENDEN

Das "Ende der Fiktionen" ist Thema der Prosamonologe,wie auch das Thema des Endens. "Darstellung des Endesalso als kontrolliertes, komponiertes Ende der Darstellung",226 so könnte man es mit Christiaan L.HartNibbrigs Satz über Alban Bergs musikalische Fassung von Büchners "Wozzeck" sagen."Tynset" und"Masante" sind Bücher über das Scheitern der Fiktionen, aber auch über das Altern und Sterben."Masante" ist Abschluß und Ende der monologischen Prosa. "Masante" ist ein Existenzbericht, wie ihn Horst Janssen als das Ergebnis des Alterns erkennt: "Nun ja - im nun beginnenden Altern entwickelt sich denn doch der Mut im Künstler, einmal nach hinten zu denken und in diesem Zurückdenken wird das unauflösbare Dilemma klar, daß es nie die EINE Welt, daß es eine Abfolge vieler gebildeter - EINgebildeterWelten war. Diese Einsicht ist die Tapferkeit des Alters, und aus ihr destilliert sich die Melancholie."227 Janssens Satz faßt zusammen, was man als Erkenntnisprozeß des Ich-Erzählers in "Masante" finden kann: die Erfahrung des körperlichen und geistigen Alterns, der Mut zur Konfrontation mit der Erinnerung, die Erkenntnis der Multiplizität der Welt, schließlich auch die melancholische Grundstimmung des Textes. Bei Hildesheimer ist das Thema Tod ubiquitär. In "Tynset" herrscht die Tendenznoch vor, den Tod fast spielerisch zur Figur der Reflexionen und Geschichten zu machen und ihn sogar zu verspotten:

226 Cristiaan L.Hart Nibbrig, Darstellung des Endes, S.223. In: Die Kunst zu Enden. Hg. Jürgen Söring. Frankfurt 1990, S.205-223.227 Horst Janssen, An und für mich. München 1986, S.172.

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"Da ist er wieder, schreitet durch den Wüstennachmittag [...]. Es ist der Tod, ja, das ist er wirklich diesmal, und er flattert, als hätte er inseinem lächerlichen unsäglichen Alter noch nicht einmal das Fliegen erlernt, noch nicht einmal das. Das ist lächerlich, ja - lächerlich - und ich lache -lache -" (TYN 82).

Die Freiheit, sich in der Kunst über den Tod zu erheben, nimmt sich auch Hildesheimer.228 "Masante" dagegen schlägt ernstere Töne an. Enden und Sterben fließen zusammen. Der Ich-Erzähler versucht, in der Wüstenbar von Meona Alains Zettel zu ergänzen, den dieser mitten im Satz "It's not that I" (MAS 369) abgebrochen hatte: "»Nicht etwa daß ich...« Angst habe? Den Tod in mir spüre? Mich schließlich - und endlich - selbst zurücknehme?" (MAS 370). Sich selbstzurücknehmen - das ist das Thema des Selbstmordes aus"Marbot" und zugleich das des Verschwindens des Ich-Erzählers in der Wüste. Bevor jedoch Abschied genommen werden kann, müssen alle Möglichkeiten durchprobiert und verworfen worden sein. In "Masante"hat der Ich-Erzähler wahrhaft Ordnung geschaffen und entpuppt sich als jener Ich-Erzähler, der am Ende der"Vergeblichen Aufzeichnungen" sagt:

"Ich habe alles verworfen, was zu finden war, und wasich verworfen habe, ist für mich unwiederbringlich verschwunden.[...] Mir ist nichts eingefallen, ich habe es redlich versucht und habe mir nichts vorzuwerfen. Ich gehe."229

228 Siehe zu diesem Thema den Aufsatz von Wilfried Barner, >Zeitlichkeit und Wort<, S.289. In: Alles ist nur Übergang. Gedichte und Texte über das Sterben. Hg. Friederike Waller. Frankfurt 1991, S.279-289.229 Wolfgang Hildesheimer, Vergebliche Aufzeichnungen, S.302. In: W.Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd.1, S.273-302.

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"Das Ende der Fiktionen" und der damit eingeleitete Abschied von der Literatur haben ohne Zweifel mit Hildesheimers pessimistischer Zukunftssicht zu tun. Der Ursprung dieses Gedankens steht jedoch in engem Zusammenhang mit der Infragestellung der Funktion vonKunst und Literatur seit Ende des Zweiten Weltkrieges. Sie ist Teil jener Kunstkonzeption, die Maurice Blanchot in seinem 1959 erschienenen Aufsatz "Wohin geht die Literatur?" beschreibt:

"Was den Schriftsteller anzieht, den Künstler bewegt,ist nicht unmittelbar das Werk, sondern die Suche nach ihm, die Bewegung, die zu ihm hinführt [...]. Daher kommt es, [...] daß der Schriftsteller häufig wünscht, so gut wie nichts fertigzumachen und in bruckstückhaften Ansätzen hundert Erzählungen stehen zu lassen, die nur insoweit Interesse verdienen, als sie ihn einem bestimmten Punkt zuführen und indem er versucht, über diesen Punkt hinauszugelangen."230

Hildesheimers letzter Prosamonolog "Masante", in dem die Suche nach dem Ende zentral ist, führt schließlich zum von Blanchot angesprochenen Punkt. Das Scheitern des Ich-Erzählers an den Fiktionen endet in der Wüste, und die "hundert Erzählungen" und"bruchstückhaften Ansätze" verschwinden mit ihm. Die Redewendung "jemanden in die Wüste schicken" wird zurWirklichkeit: Das fiktive Ich hat sich aufgelöst, Hildesheimer verliert seinen Ich-Erzähler und damit die Möglichkeiten, Fiktionen dieser Art zu schreiben.

Altern, Scheitern und Abschiednehmen, diese drei Themen sollen nun genauer untersucht werden.

230 Maurice Blanchot, Wohin geht die Literatur? S.270. In: Maurice Blanchot, Der Gesang der Sirenen. Frankfurt 1988, S.263-339.

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III.1. DAS ALTERN - ABSCHIED VON DER WIRKLICHKEIT

"Das Leben, die Erlaubnis,den Tod kennenzulernen."

Djuna Barnes, Nachtgewächs

Die Weltsicht des Ich-Erzählers aus "Tynset" ist geprägt von den Erfahrungen der Vergangenheit, und das Erinnern geschieht auch noch in "Masante", wie esHildesheimer beschreibt, abschnitthaft und in Fragmenten:

"Manchmal werden Geschehnisse der Vergangenheit auf eindringliche, ja, metaphysische Weise plötzlich präsent und verschwinden wie abgeschnitten. Ganze Perioden meiner Erfahrung liegen kondensiert, gewissermaßen gebündelt vor mir, so daß ich sie jeweils als ein Ganzes abrufen kann, wobei Anfang undEnde gleich weit von mir entfernt sind.- Auf diese Weise zieht sich eine Spanne von Jahren zu einem Augenblick intensiven Erlebens zusammen, und im nächsten Augenblick ist sie verschwunden und hinterläßt nichts, noch nicht einmal ein Loch, es istwieder Donnerstag."231

Dies ist die Ankunft-Abschied-Struktur des Erinnerns - und die Erinnerung wird zur Wirklichkeit des Ich-Erzählers, des Alternden. Die Erfahrung des Alterns wird zur bestimmenden Struktur der Prosamonologe, zu einer neuen Facette der Ankunft-Abschied-Struktur. Julien Green schreibt 1974 über die Struktur der Erinnerung im Vorwort seiner Autobiographie "Junge Jahre":

"Doch Stück für Stück aneinandergereiht, bilden dieseErinnerungen eine Art Kontinuität, die irreführen kann. Das, woran ich mich erinnere, ist fast immer von einer geradezu photographischen Klarheit, doch

231 W.Hildesheimer, Nachlese. Frankfurt/Main 1987, S.19.

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noch einmal, dies sind isolierte Augenblicke, getrennt durch Zwischenräume, die ich nicht auszustatten weiß. Ich habe das mit einem Museumssaalverglichen, in dem die einzelnen Bilder weit voneinander gehängt sind."232

Die Erinnerungen als Fragmente, als Bilder, sind als Ankunft-Abschieds-Punkte auch Existenzmarken. Die Gegenwart existiert als der Punkt, wo Vergangenheit und Zukunft sich treffen, er wird zum Ankunft-Abschieds-Punkt in der vergehenden Zeit. Die Wirklichkeit der Prosamonologe ist die Befindlichkeitdes Ich-Erzählers, der die Erfahrung des Alterns macht: Er selbst muß Abschied nehmen, er selbst wird von dieser Bewegung erfaßt.Wolfgang Hildesheimer ist 49 Jahre alt, als er "Tynset" veröffentlicht, und als "Masante" erscheint,ist er bereits 57. Mit fast 60 Jahren hält er 1975 den Vortrag "The End of Fiction" an vier irischen Universitäten. Die Themen Altern und Tod sind bereitsseit dem Prosafragment "Hamlet" von 1961 inhaltliche Leitmotive, und sie bilden in beiden Prosamonologen den Grundton. Der Tod, den Hildesheimer in seinem Buch "Mozart" den "dunklen allgegenwärtigen Marksteinals Zielpunkt aller Wege und Irrwege"233 nennt, bestimmt die Perspektive, überschattet das Erzählte. Er ist Blickpunkt des Geschehens:

"Alles wahre Erleben hat ein genau kontrapunktisches Verhältnis zum Tod. Ohne dieses wäre jede Erfahrung und jedes Erlebnis wertlos. Nichts im Leben wäre schön oder wichtig gewesen, nichts wesentlich, wenn es den Tod nicht gäbe. Erst wenn man ihn vor Augen hat, wird das Leben lebenswert."234

232 Julien Green, Junge Jahre. Autobiographie. München 1988, S.9.233 W.Hildesheimer, Mozart, S.34. In: Ges. Werke Bd. III, S.7-425.234 W.Hildesheimer, Nachlese. Frankfurt 1987, S.37.

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Hildesheimer wird der Tod zum Ausrichtepunkt, zum Kontrapunkt seines Lebens. Hier und Dort, Ankunft undAbschied beschreiben damit die Existenz: Sie markieren Leben und Sterben, Geburt und Tod. Und so sind die Themen "Tynsets" und "Masantes" nicht nur die Fiktionen, die Zeit und die Erinnerung, sondern auch der Prozeß "des Alterns und Der-Welt-Absterbens".235

Der Monologisierende aus "Tynset" ist von der Erfahrung des Alterns geprägt. Diese Befindlichkeit bestimmt auch die Art des Erzählens und die Art der Anordnung der Gedanken. In Hildesheimers Kurzprosa "Sich erinnern" von 1976 formuliert er ironisch-satirisch, was in "Tynset" zur allgegenwärtigen Bedrohung und in "Masante" zum gewünschten Ziel wird:das Entschwinden von Namen, das Verblassen der Erinnerungen.236 In "Tynset" wird das Altern zur Ursache einer wahrnehmbaren Veränderung von Körper und Gedanken des Sprechenden: "[...] ich spüre mich unter der Haut altern. [...] wenn ich das, was ich denke, wirklich noch Gedanken nennen soll, diese Splitter, diese Bruchstücke, abgetakelte Sehnsüchte, deren Objekt mir entschwunden ist oder soeben ent-schwindet. Meine Erinnerung läßt nach, alles verblaßtund wendet sich ab" (TYN 73). Die Collagetechnik wirdhiermit zum Abbild der Wirkung des Alterns. Hildesheimer Tendenz, anthropologische Dimensionen inStruktur und Form zu verwandeln, wird in "Masante" zur bestimmenden Richtung. In "Tynset" wehrt sich derSprechende noch verzweifelt gegen den sich nähernden Tod durch den Abschluß von der Wirklichkeit oder seine Verwandlung in eine fiktive Gestalt. "Masante" zeigt nun, daß Anfang, Mitte und Ende als 235 Marianne Kestings, Wolfgang Hildesheimer, S.94.In: Neues Handbuch der dt. Gegenwartsliteratur seit 1945, Hg. D.-R.Moser. München 1990, S.294-295.236 W.Hildesheimer, Sich erinnern. In. W.Hildesheimer, Ges.Werke Bd.VII, S.522-524.

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entscheidende Punkte menschlichen Lebens in der Erfahrung eines Tages und einer Nacht langsam akzeptiert werden. Die Begrenzung der Existenz durch die Punkte Ankunft und Abschied ist die Beschreibung des menschlichen Lebens als Reise zwischen der Geburtals Ankunft und dem Tod als endgültigem Abschied. Nicht zufällig beginnt der Sprechende mit dem Thema des Anfangens, erzählt dann von der Erfahrung "jener Mitte des Lebens, von der aus es abwärts geht, dem Ende zu, schneller und schneller. Was vorher war, istunwirklich geworden und wird immer unwirklicher, fremder" (MAS 135). Am Ende von "Masante" klingt schließlich das Thema Sterben an: "»Wir suchen keinen.« Ein klarer Satz. Klar wie CHI TOCCA MUORE" (MAS 376). In "Masante" werden Ankunft und Abschied zu Existenzmarken. Die Wirklichkeit ist die des Alternden. Der Ich-Erzähler der Monologe findet sich in der Mitte des Lebens angekommen, dort, wo das Sterben spürbar wird: "Ich werde alt, ich spüre es, wie ich hier liege" (TYN 72). In klarer Offenheit wird festgestellt: "ein allmähliches Vergehen, ich spüre mich unter der Haut altern" (TYN 73). Während das "Tynset"-Ich in Resignation und ergebenerHinnahme des Unvermeidlichen verharrt, beschreibt "Masante" den Versuch, sich von der Last der Zeit in Gestalt der Erinnerungen zu befreien. Es ist der radikale Abschied von einer erdrückenden Befindlichkeit, von vergeblichen Fluchtversuchen vor den Bedrängnissen der Wirklichkeit in Geschichten, wie sie das Ich von "Tynset" noch leidet. Der Name Tynset ist ein imaginiertes Flucht-Ziel, eine Reise in der Vorstellungskraft wert, bald schon wertlos geworden. Die Sehnsucht nach Weite und Leere richtet sich in "Tynset" auf einen Namen. In "Masante" ist esdie Wüste, die Weite und die Befreiung von der Last der Erinnerungen verspricht, und die Sehnsucht nach Leere ist die nach Befreiung des Inneren von Gelebtem, Erinnertem, von Totem. Tynset ist Chiffre

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für das Rätsel, die Gegenstände in der Bar von Meona sind das Gegenteil, sie sind verbraucht: "- alles offen, rätsellos, nichts wartet hier auf Entzifferung" (MAS 94).Die ständige Selbstbeobachtung hat Wachheit provoziert und das Wagnis verursacht, sich dem Unbekannten auszusetzen. Es wird nicht mehr verdrängt, sondern hingehört. Der Mann aus Hildesheimers letztem Hörspiel "Biosphärenklänge" spricht dies aus:

"Wer horcht schon in sich hinein nach dem Echo einer minimalen Wahrnehmung. Und wer verdrängt nicht das Geräusch selbst dann noch, wenn er es hört, o h n e hinzuhorchen? Die meisten Leute gehen erst zum Arzt, wenn ihnen der Tod schon an der Leber sitzt."237

Der Sprechende aus "Masante" hat genau hingehört: "Ich war ganz Ohr nach innen, Auge nach innen, doch erst dieses Hineinhorchen und Hineinsehen setzt die Dinge innen in Bewegung; so wie ein Gegenstand sich durch Beobachtung verändert, veränderte ich mich durch Selbstbeobachtung" (MAS 36). Die Konsequenz derSelbstbeobachtung ist deutlich. Der Gang an den Rand der Wüste wird zum Gang an die Grenze: "Dies hier istetwas Halbes, nicht Leben und nicht Tod, am Rande vonBeidem, zu Beidem ist es nur ein Schritt; hier ist die Grenze wie eine Wasserscheide" (MAS 285). Eine Entscheidung muß fallen, und die Großschreibung des Wortes "Beide" verweist auf die zwei Möglichkeiten. Hier am Rande der Wüste gilt es, sich zu befreien vonder Last der Vergangenheit, sie zu verabschieden, oder zu enden und zu sterben. Es gilt, Abschied zu nehmen von vertanen Möglichkeiten und vergeblichen Aufzeichnungen. Die Erfahrung des "Tynset"-Ichs ist für das "Masante"-Ich die Ursache des Aufbruchs nach Meona: "In Masante war ich voll Altern, in einem 237 W.Hildesheimer, Biosphärenklänge, S.461. In: Ges. Werke Bd.V, S.445-486.

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Zustand, da man zunehmend sich selbst spürt" (MAS 36). Der Körper wird zum nicht mehr negierbaren Seismographen der Befindlichkeit.238 Er blockiert das Streben des Ichs in die Welt und in das Außen: "Die Gedanken versuchten hinauszudringen, doch sie wurden zurückgehalten, oft zurückgedrängt durch einen Druck im Kopf, an den Schläfen, ein Reißen, ein Ziehen, rührten sie sich, nach einem letzten gewaltsamen Versuch, den Dingen entgegenzukommen, nicht mehr von der Stelle, matt" (MAS 37). Altern ist eine Erfahrungder Lähmung, und die gesuchten Abschiede von sich selbst scheitern: "[D]er Versuch, mich auf Reisen abschiednehmend zu delektieren, war müßig, dieses Schema war schon veraltet" (MAS 37). So ist auch das Tynset-Schema als imaginierte Reise veraltet und muß ad acta gelegt werden: "Eine Zeitlang rieb ich mich in Sucht und Suche nach möglichen Zielen auf, eines war im Norden und hieß Tynset" (MAS 321). Das Ich ringt nach Atem, der Tod beginnt, die Fenster des Hauses zu schließen. Es muß ein Abschied gewagt werden. Leere und Wüste versprechen Raum und Atem. Dort weht der Wind frei, dort kann man atmen. "Masante" ist ein Bericht über "gelebte subjektive Wirklichkeit",239 wie Jean Améry die Erfahrung des Alterns nennt. Altern wird zur Möglichkeit der Erfah-rung von Abschied und Vergänglichkeit. Die Zeitlichkeit des Menschen und die Gegenwart als Ankunft-Abschieds-Punkt, der zugleich Vergangenheit und Zukunft ist, ist nun die Wirklichkeit. Wie die Verfassung des Alternden, so ist auch Meona eine Grenzerfahrung mit gelebter Zeit: "Das Leben hier scheint sich in einem stationären Stadium des Erlöschens zu bewegen" (MAS 25). Das Leben des

238 Vgl. zu diesem Thema Mathias Baum, Bildfindung im Spannungsfeld von Existentialität und Sensualität. Frankfurt 1993, S.45-52.239 Jean Améry, Über das Altern. Stuttgart (5.Auflage) 1979, S.56.

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Monologisierenden erlischt, seine Erfahrungen hat er gemacht, nun bleibt ihm das Auswerten. Meona ist ihm in Topographie verwandelte Entsprechung: Alles ist hier vermessen, registriert, hier passiert nichts mehr. Wie in der Prosa "Vergebliche Aufzeichnungen" gibt es in "Masante" keine Möglichkeiten mehr: "Zukunft hebt sich nicht ab, sie hat stattgefunden, alle Ansätze sind vertan, die Möglichkeiten, eine nach der anderen, verwelkt: keine Funde, keine Schätze, kein Glück" (MAS 23). Das könnte das Ende sein. Der Sprechende versucht nun, aus dem Raum des Gelebten oder der Vergangenheit, in der es sich in "Tynset" noch befand, in seine Zukunft hinaufzutauchen. Friedrich Dürrenmatt schreibt 1969 in einem Aufsatz über Paul Flora: "Die Gegenwart scheint von der Vergangenheit umklammert, kommt nicht von ihr los, wird selber zur Vergangenheit, wird von ihr verschluckt. Nur auf dem Umweg über die Vergangenheit wird daher eine Aussage über die Gegenwart möglich: Die Gegenwart liest sich an ihrer Vergangenheit ab."240 In Dürrenmatts Äußerung tritt ein Grundzug der Literatur nach 1945 zu Tage, der auch Hildesheimers Prosa nachhaltig geprägt hat, der aber gleichzeitig Hildesheimers Kunst inhärent ist. "Tynset" und "Masante" handeln von Vergangenem. In "Masante" wird die Wüste zum Symbol für die Erfahrung des Alternden, der nicht mehr erlebt, sondern Erfahrungen des Lebens auswertet. Jean Améry erklärt diese Fremdheitserfahrung des Alternden mit seinem Hinaustreten aus der vertrauten Wirklichkeit

240 Friedrich Dürrenmatt, Paul Flora, S.120. In: F.Dürrenmatt, Versuche. Zürich 1988, S.117-120. Auch Hildesheimer, dessen Erstausgabe der "Lieblosen Legenden" Paul Flora 1952 illustriert hat, schreibt einen Aufsatz über ihn. Siehe W.Hildesheimer, Einleitung zu "Floras Fauna." In: Wolfgang Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd. VII, S.515-516.

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"[i]n eine Welt ohne Zeichen und Systeme, eine leere Welt, ein Anti-Universum."241

Genau dies ist die Hoffnung des "Masante"-Ichs, die es in Meona und die Wüste setzt: "Daß hier kein Zeichen entstehe, in der Luft oder im Sand, nichts deutbares [sic!], kein Ansatzpunkt der Auslegung" (MAS 16). Diesmal wird ein Wort wie Tynset nicht gesucht, an dem die Gedanken hängenbleiben müssen. Hier wird nicht nach Deutung, sondern nach Existenz gefragt. "Tynset" ist ein erster Versuch, mit der Erfahrung des Alterns als einer "Ich-Zeit-Erinnerung"242, wie Améry es beschreibt, umzugehen. In "Tynset" reagiert der Ich-Erzähler mit dem Rückzug aus der ihm fremd gewordenen Welt als der kontrapunktischen Möglichkeit, die "Masante" formuliert. Denn "Masante" ist die Konfrontation mit der Wirklichkeit des Alterns. Die Wüste ist existentielle Bedrohung, sie wartet, wie der Tod wartet: "Die Wüste ist kein Spiel zwischen selbstgebackenen Sandburgen" (MAS 17). Hildesheimers Anspielungen sind doppeldeutig, und die Wüste wird nun zur Metapher des Todes: "[K]einer, der hier in die Wüste läuft, taucht dort am anderen Ende wieder hervor" (MAS 17). Im Angesicht der Wüste, mit dem Todals Endpunkt aller Möglichkeiten, versucht der Ich-Erzähler, seine Erinnerungen zu finden und abzulegen.Nur befreit von ihnen ist das Schweben möglich, nur dann das Springen mit dem Regenschirm in die vorbeiziehende Zeit: "[...] dann springe ich mitten hinein mit meinem Regenschirm und lasse mich treiben"(MAS 377). Hier liegt der entscheidende Wendepunkt von "Masante", hier liegt ein Wendepunkt im Schaffen Wolfgang Hildesheimers. Die verschwundenen Möglichkeiten und ständigen Anfänge werden einerseitszum Zeichen des Scheiterns, wie das "Tynset"-Ich es Hamlet zuschreibt: "[...] oft ist ihm, als habe das

241 Jean Améry, Über das Altern, a.a.O., S.107.242 Jean Améry, Über das Altern, a.a.O., S.109.

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Thema vor seinem Abschnitt noch Möglichkeiten gehabt,die im Zuge der Behandlung allmählich systematisch vertan worden und nun für immer erloschen seien" (TYN159). Die Anfänge werden aber auch zu Zeichen des Lebens, denn sie haben kein von vornherein gesetztes Ende. Die abgelegten Erinnerungen werden zur Bedingung einer Befreiung, eines Weiterlebens. Der Tod als das definitive Ende wird durch die Muliplizität des Endens überspielt. In "Masante" manifestiert sich die Sehnsucht eines Sprechenden, sich selbst einen Tod zu wählen, der dem Zerfall und einem Dahinsiechen im Krankenhaus entkommen kann243. Die Sehnsucht nach einem Verschwinden ohne Spuren läßt das "Masante"-Ich zum Vorfahren Andrew Marbots werden, jenem Selbstmörder des 19.Jh.s, dessen Leicheniemals gefunden wurde. So kann man Uwe Japps Satz unterstreichen: "Sodann verschwindet Marbot auf ähnlich spurlose Weise aus dem Leben und der Literatur wie der Ich-Erzähler in Masante."244 Voraussetzung dieses Verschwindens aber ist das Leichtwerden, der Abschied vom Material der Wirklichkeit:

"[...] ein Schauder rieselt über die Hülle, und schonwird die Haut rauh, und doch wird innen alles leicht,Allergie und Allegria zugleich, - was ist das? Das, mein Lieber, ist der Tod". (MAS 234/235)

243 Siehe MAS 342 und 357, wo zweimal das Symbol der zum letzten Mal gelösten Schnürsenkel vor dem Bett als Anspielung auf das Sterben im Krankenhausauftaucht. Es findet sich auch in Hildesheimers Text Notate (1965/66) in den Ges.Werken Bd.VII, S.685.244 Uwe Japp, Das Ende der Kunst des Schreibens, S.223. In: H.Bungert (Hg.), Hauptwerke der Literatur. Regensburg 1990, S.211-226.

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III.2. LEICHT - WERDEN - ABSCHIED VON DEN BILDERN

"vielleicht weiß ich sonst nicht viel,aber etwas weiß ich: WANN

ETWAS VORBEI IST."Wolfgang Hildesheimer, Sachbuch.

"Masante" ist ein Buch der Auflösungen. Die folgenreichste Auflösung ist die des Ich-Erzählers, die Hildesheimer so oft betonte. Die Prosamonologformwird mit "Masante" abgelegt. In einem Interview, das Matthias Burri 1982 mit Wolfgang Hildesheimer führte,heißt es:

"Matthias Burri: In »Masante« wird das Häscher-Thema am Schluß abgelegt. Es verschwimmt diesem Ich zusehends. Am Schluß ist nicht einmal mehr klar, wer Opfer und wer Verfolger war.Hildesheimer: Es ist ein Abstreifen. Man hat das Gefühl,er bereitet sich auf das Nichts vor. Es werden ja alle Bilder abgetan, abgestrichen, abgelegt."245

Hildesheimers Antwort hat zentrale Bedeutung. Das Thema "Ablegen" findet sich bereits in den "Vergeblichen Aufzeichnungen". In "Masante" und besonders in "Zeiten in Cornwall" wird es strukturbestimmend, aber auch "Tynset" klingt bereitsin dieser Tonart. Die letzten Bemerkungen des Monologisierenden über Tynset lauten: "Und Tynset? Wie ist es jetzt mit Tynset? Vorbei, erledigt. Es istzu spät. Nichts mehr davon" (TYN 257), und später: "Tynset ist hinfällig. Ich werde nicht mehr nach Tynset kommen" (TYN 268). Der frühe Wintereinbruch und der Schnee werden als Erklärung angeführt, daß das Vorhaben nicht in die Tat umgesetzt wird. In 245 Gespräch Matthias Burri mit Wolfgang Hildesheimer am 20./21.101982 in Poschiavo, S.152 f. In: Matthias Burri, Das Ende des Erzählens bei Wolfgang Hildesheimer. Zürich Lizent.arbeit (masch.) 1983, S.142-157.

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"Masante" und "Zeiten in Cornwall" entscheidet nicht mehr ein äußerlicher Vorgang über Abschiede. Der Sprechende nimmt sich selbst vor, abzurechnen, einen Lebensabschnitt abzuschließen und so Ordnung zu schaffen: Er bereitet sich tatsächlich auf das Nichtsvor. Der Ich-Erzähler aus "Zeiten in Cornwall" fährt Punkt für Punkt die Stätten ab, die er in seiner Vergangenheit besucht hatte, zieht Bilanz und macht sein "summing up": "Diese Sache, Cornwall, ist nun erledigt, abgeschlossen, und die Erinnerung als aktiver Wunsch wird mit dieser Aufzeichnung ad acta gelegt."246 Burckard Dücker sieht diesen Vorgang autobiographisch: "Hildesheimer zieht »Bilanz« mit Cornwall. Er legt nicht nur seine Erinnerung ab, sondern auch zahlreiche Schlüsselmotive früherer Werke."247 Abrechnen will auch der Sprecher in Meona: "Meona istkein Ort der Wahl, kein Mensch will nach Meona, niemand ist im Geist hier, wie er im Geist in Masanteist, im Gegenteil: wer hier ist, der rechnet ab mit anderen Orten der Erde, jeder mit seinem, ich mit vielen" (MAS 59). "Masante" wird damit zum "Endspiel erzählerischer Möglichkeiten", so Günter Blamberger, und das Erzählen als Ablegen oder "Zerstören der Fiktionen" zur allegorischen Erzähltechnik.248

Das "Masante"-Ich schafft sich Leere: "Dieses Zimmer bleibt, solange ich hier bin, leer, die Wand weiß, bis auf den Kalender" (MAS 60). Leere bedeutet die Freiheit von Bildern, von Gedanken, von Erinnerungen an Schrecken, an die Wirklichkeit. Erst dann werden neue Wahrnehmungen möglich, es geht um ein Sich-246 W.Hildesheimer, Zeiten in Cornwall, S.399. In: Ges.Werke Bd.I, S.339-406.247 Burckhard Dücker, Wolfgang Hildesheimer und diedeutsche Literatur des Absurden. Bensberg-Frankenforst 1976, S.98.248 Günter Blamberger, Wolfgang Hildesheimers Prosades Absurden, S.98. In: G.Blamberger, Versuch überden Gegenwartsroman. Stuttgart 1985, S. 74-100.

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Aussetzen: "Keine gemütliche Behaustheit. Da ist Luftzu atmen" (MAS 61). Leere soll das Erlebnis der Ankunft und des Abschieds der Dinge und Gedanken provozieren. Die Befindlichkeit soll erreicht werden,in der man, von der Vergangenheit und möglichen Geschichten erleichtert, Leere als Befreiung spüren kann: "empfangen, entlassen, ablegen, untersuchen, prüfen, anrufen, Anrufungen hören, antworten oder unbeantwortet lassen; es meldet sich, meldet sich ab,verschwindet oder taucht zum letzten Mal auf; wenig Kommen, noch weniger Bleiben, viel Gehen; da leert essich denn" (MAS 60). Ordnung und Platzschaffen, sich »entleeren« sind Ziele des Sprechenden aus "Masante".Die Wüste wird gewählt, weil von ihr die Wirkung eines Stimulans erhofft wird. "Die Leere der Landschaft spiegelt sich im Gehirn und schafft sofortauch dort eine Leere"249, schreibt Hildesheimer 1966. Um aber die Dinge "ad-acta" legen zu können, müssen sie noch einmal evoziert, noch einmal nacherlebt werden. Das Ziel eines Leerwerdens, eines Abschieds von Erinnerungen und Orten ist verbunden mit ihren Anrufungen. Der Monologisierende hatte sich diesen Vorgang des Verabschiedens ganz einfach vorgestellt: "Ich dagegen brauche nur abzuschöpfen und mich am Abgeschöpften zu bereichern, bevor ich nach Masante zurückkehre. Auswerten wäre wohl das rechte Wort" (MAS 24). Die Anrufungen aber können Gefahr bedeuten und Erinnerung an Schrecken: "[D]och lasse ich diese Anrufungen! Hier in der Wüste könnte so manches oder so mancher Gestalt annehmen, den Tropenhelm vom Hakenheben, - allmählich schwindet auch hier mein Gefühl der Sicherheit" (MAS 75). Trotzdem gelingt in Meona das Ablegen bedrängender Erinnerungen wie die an OttoLüdig: "Ich lege Herrn Lüdig ab, jetzt verklingt der Name wie ein Ruf hinten im Wald [...] Lüdig hat mich nicht erreicht, dem bin ich entkommen. Exit Otto

249 W.Hildesheimer, Notate, S.840. In: Ges. Werke Bd. VI, S.839-843.

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Lüdig" (MAS 76). Genauso werden die Häscher und Hamlet schließlich abgelegt, wie zuvor in "Tynset" der Name Tynset: "Die Häscher sind entlassen" (MAS 346). Das "Masante"-Ich stellt sich den Erinnerungen und Bildern nicht, es verdrängt sie und hakt sie ab. Die Anrufungen finden nicht statt, die Anfänge bleiben Anfänge, die Ungeduld des Sprechenden treibt zum Verdrängen, nicht zum Bewältigen, und die Geschichte bleibt ein Torso.Das "Ad-acta"-Legen entpuppt sich im Laufe von "Masante" als ambivalenter Vorgang im Bewußtsein des Sprechenden. Denn wenn alle Anfänge verworfen werden,abgelegt werden, alle Anfänge von Erinnerungen, Geschichten und Reflexionen, dann bedeutet das die Provokation eines Scheiterns. Alle Anfänge verlieren ihre Bedeutung, und der Sprechende erkennt: "Masante ist Schuld daran! Das heißt, ich selbst bin schuld daran, weil ich Masante haben wollte, wo sich alles Aufzeichenbare allmählich von selbst abgelegt hat wieSatz im Wein, den man wegschüttet" (MAS 332). Der Erfolg des Entschlusses, sich das Abstreifen zum Zielzu setzen und nach Meona zu gehen, bleibt fraglich: "Niederschreiben um abzustreifen, das war das Experiment, ist es schon gemacht?" (MAS 345). Denn sogar wenn es Stoff für Geschichten gibt, so werden die Dinge mit allen ihren Varianten solange ad absurdum definiert, bis sie erschöpft sind. Oder Geschichten werden abgestoßen, das Ziel sind nicht-entstehende Geschichten: "Keine Geschichte hier, der Mitschüler ist wieder entschwunden, das Zimmer ist wieder leer, die Wand weiß, bis auf die große Eins darauf. Montag" (MAS 82). Hildesheimers Prosamonologe scheinen als Mittel zum Ablegen ebenfalls "Literatur aus Verdrängung"250 zu sein, wie Volker Jehle es in Bezug auf die "Lieblosen

250 Volker Jehle, Das Ende kommt doch, S.440. In: W.Hildesheimer, Die Hörspiele. Hg. Volker Jehle. Frankfurt 1988, S. 439-456.

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Legenden" nennt. Die Prosamonologe zeigen einen scheiternden Ich-Erzähler, der sich ewig die gleichenGeschichten erzählen müßte, würde er nicht schließlich erkennen, "wann etwas vorbei ist".Von Andrew Marbot berichtet sein Biograph Hildesheimer, daß er in einer Art Geheimtagebuch "denVersuch einer Verfremdung unternimmt, indem er sich in die dritte Person singular versetzt, als hege er die Absicht, aus seinem Erleben eine Fiktion zu machen" (MAR 61). Der Leser dieses Geheimtagebuchs war jedoch nur Marbot selber, "der sich mit sich selbst als potentiellem Romanheld konfrontierte, um sich von seiner immerwiederkehrenden Bestürzung zu distanzieren" (MAR 61). Marbot ist auf der Suche nachder Distanz, die ein "Ad-acta-Legen" erlaubt, indem man sich selbst in Verfremdung gestaltet und eigene Erlebnisse einer fiktiven Figur auflädt, um sie selbst loszuwerden, in die Wüste zu schicken. Marbot möchte vergessen. "Schreiben ist für einen Schriftsteller eine andere Art des Vergessenkönnens"251, schreibt Fritz Rudolf Fries über Jorge Luis Borges. Für Hildesheimer gilt dies ebenso:"Für mich ist Schreiben nicht zuletzt Ablegen."252 Das "In-die-Wüste-Schicken" scheint jedoch nicht so sehr das Vergessen, als vielmehr das Verdrängen zu zeigen.In "Masante" ist Wüste der Ort einer doppelten Zuständlichkeit. In die Wüste schicken und vergessen,das ist das Ziel des Ich-Erzählers. Die an Meona angrenzende Wüste, die anfangs als eine Leere erschien, eine weiße Fläche, wo nichts ist als Sand, die äußere Wüste also, wird ergänzt durch einen Zustand der inneren Wüste, einer Wüste voller Dinge im Kopf des Sprechenden, die es loszuwerden und in

251 Fritz Rudolf Fries, Die aufgehobene Zeit oder der Leser als Autor, S.84. In: Borges lesen. Hg. G. Haefs u. F.Arnold. Frankfurt 1991, S.75-89.252 W.Hildesheimer, Zeiten in Cornwall, S.399. In: Ges.Werke Bd.I, S.339-406.

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die äußere Wüste zu schicken gilt. Das Ende von "Masante" macht aber dem Ich-Erzähler klar: Auch Wüste ist nicht leer, sie ist voll wie alles andere, voll von Schrecken und Möglichkeiten, wie das Ich selbst voll ist. Die Wüste als Inbegriff der Leere erweist sich selbst als etwas, das abgelegt werden muß. Deshalb sagt der Ich-Erzähler: "Ich wäre gern inMasante, um diese eine Dimension, Meona, bereichert. Nicht mehr, um sie zu verarbeiten, - jetzt nur noch ablegen! - sondern um Wüste als erledigte Sache abzustoßen. Sie ist nicht leer, sie ist voll, alles ist voll" (MAS 366). Hier findet man wieder die Sehnsucht des Sprechenden nach dem Nichts, das Hildesheimer im Interview mit Matthias Burri erwähnte: erst alles in die Wüste schicken, um dann die gesamte, nun mit Abgelegtem angefüllte Wüste loszuwerden. In "Tynset" wird nur ein Name "ad acta" gelegt, in "Zeiten in Cornwall" sind es Orte und Erinnerungen. In "Masante" heißt es vom Träger eines erfundenen Namens: "Dr.Ewald Winführ-Morelli.[...] Ordinarius für Tautologie, erhält sein eigenes Institut, gilt als begnadeter Pleonast. Abgelegt" (MAS 295). Hier werden schließlich Fiktionen abgelegt.In "Masante" erfaßt das Abschiednehmen zuletzt den Ich-Erzähler als vermittelnde Instanz. Geschichten erzählen, um sie"ad acta" zu legen, Geschichten abzu-handeln, das ist schließlich die Folgerung, die der Ich-Erzähler - bevor er sich selbst auslöscht - aus der Erfahrung zieht, daß nichts mehr zu erzählen ist.Was übrig bleibt, ist am Ende von Spiel und Scheiterndas Schweigen.

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III.3. DAS SCHEITERN - "MIßLINGEN ALS FORM"

"ein Versuch kann nur scheitern,wenn er gemacht wird,

wir lernen aus dem Scheitern."Wolfgang Hildesheimer, Mozart.

Das Thema Scheitern durchzieht Hildesheimers Schaffender 60er Jahre, und noch Anfang der 80er Jahre klingtin "Marbot" dieses Thema an. Scheitern ist aber nichtnur Thema, sondern bestimmt auch die Form der Monologe. Die Monologform, das gesetzte Scheitern vonAnfang an, die ständigen Anfänge, die Zweifel, das alles spricht für die These Peter Horst Neumanns von einer "Setzung des Mißlingens als Form."253 Hildesheimer thematisiert nicht nur das Scheitern, schon Form und Struktur der Texte enthalten es. Das Scheitern wird zur Ausdrucksform.Samuel Beckett schreibt über den Künstler Bram van Velde als einem der ersten, "der zugab, daß Künstler sein heißt, scheitern wie kein anderer zu scheitern wagt, daß Scheitern seine Welt ausmacht."254 Scheitern ist ein Akt des Ausdrucks, sagt Beckett, und dieser Ausdruck des Scheiterns ist gleichermaßen unmöglich und notwendig.255 Der mit Beckett bekannte Bildhauer Alberto Giacometti äußert etwa 1953: "Ich bin immer gescheitert."256 Scheitern wird als Thema der Kunst zurästhetischen Darstellung des Versagens, zu einer Ästhetik des Scheiterns.257 Die Wahrheit darzustellen heißt also, das Mißlingen und Scheitern von Kunst als

253 Peter Horst Neumann, Voreingenommene Bemerkungen, S.267. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S. 264-268.254 Samuel Beckett, Bram van Velde, S.11. In: Samuel Beckett, Hg. H.Engelhard. Frankfurt 1984, S.8-11.255 Samuel Beckett, Bram van Velde, a.a.O., S.11.256 Reinhold Hohl, Alberto Giacometti. Stuttgart (2.Auflage) 1987, S.279.

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Erfassungsversuche der Wirklichkeit darzustellen. DieErfahrung des Scheiterns wird zu Inhalt und Form der Kunst. Die Dinge zu sehen, wie sie wirklich sind, istunmöglich, deshalb gehört das Scheitern daran zur Erfahrung des kreativen Menschen. Vergebliche Aufzeichnungen sind deswegen als Aufzeichnungen nicht vergeblich, sie zeigen nur Vergeblichkeit. Becketts Trilogie, in der das Ich nichts anderes will als schweigen und totsein, und dennoch ununterbrochen redet und lebt, ist nicht sinnlos. Die Wirklichkeit bleibt ungreifbar, wie nahe man ihr auch kommt, und diese Erkenntnis ist die Erkenntnis des notwendigen Scheiterns als Grundkonstante jeder Kunst, wie Philipp Roth es schreibt: "Vielleicht sage ich im Grunde nichts weiter, als daß Worte, da sie eben Worte sind, sich der Wirklichkeit lediglich annähernkönnen; mag ich ihr also noch so nahe kommen, bleibt es dennoch immer nur bei einer Annäherung."258

"Masante" ist Demonstration des Scheiterns mit Wortenund an Worten. Der Mann aus dem Hörspiel "Biosphärenklänge" sagt: "Ich hatte nur m e i n e Worte. An denen bin ich denn auch gescheitert."259 Mario C.Abutille erkennt: "Das eigentliche Scheitern offenbart sich aber dort, wo Hildesheimer nach wie vor stark ist: in der Sprache. Er exerziert in "Masante" den Untergang der realistischen Erzählweisevor, weil er keinen Inhalt mehr auftreiben kann, der zu dieser Form paßt."260 Weil aber der Ich-Erzähler sowohl an der realistischen Erzählweise, als auch am

257 Vgl zum Thema das Buch von Michael Kämper-van den Boogaart, Ästhetik des Scheiterns. Stuttgart 1992, in dem sämtliche Themen wie Sinnverlust, Melancholie, Flucht, Allegorie des scheiternden Helden etc. bei Botho Strauß, Jürgen Theobaldy, Uwe Timm u.a. angesprochen werden.258Philip Roth, Mein Leben als Mann.Reinbek b. Hamburg 1993, S.246.259 W.Hildesheimer, Biosphärenklänge, S.479. In: Ges.Werke Bd.V, S.445- 486.

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Ideal einer geschlossenen Geschichte hängt, ist das Scheitern vorherbestimmt. Hildesheimers Ich-Erzähler kommt nach Meona im Verlangen nach Vollkommenheit undGelingen: "Vielleicht also gelingt mir hier, was mir auch in Masante nicht mehr gelingen will? Einen Gedanken, oder auch nur den Seitenzweig eines Gedankens, bis zur Reife zu denken und ihn in ein Bild zu fassen, das in allem bis ins Letzte stimmt. Äußere Bedingungen wären gegeben: ich bin unauffindbar. Niemand kommt zu mir" (MAS 24). Das Ziel der Vollkommenheit jedoch ist ein sinnloses Ziel. Es sind auch die falschen Fragen, die gestellt werden, es sind unbeantwortbare Fragen. Hildesheimer schreibt 1973 über den Maler Paolo Pola:"Oft scheint es, als wolle der Maler mit aller Kraft einen Akt des Versagens darstellen, gleichsam Unzu-länglichkeit demonstrieren, indem er dort aufhört, wodie Bild-Elemente in endlicher Harmonie zusammenströmen."261 Dies ist eine genaue Beschreibung der Technik, die Hildesheimer besonders in "Masante" anwendet: die Ankunft-Abschied-Struktur als Ausdruck des Scheiterns, die von Anfang an das Gelingen ausschließt. Das Ich strebt nach Synthese, doch es verfolgt die Gedanken und Erlebnisse nicht bis zum Ende. "Masante" ist die Darstellung dieses Versagens.Dem Scheitern ist wesenhaft die Struktur von Loslassen und Wiederaufnehmen inhärent, eben die Ankunft-Abschied-Struktur, die "Tynset" und "Masante"zugrunde liegt. Gegen Ende von "Masante" versteht derScheiternde, daß von Anfang an nichts zu gewinnen undsein Vorhaben zum Scheitern verurteilt war: "Wo also lag der Sinn einer Spekulation, die niemanden 260 Mario C.Abutille, Ein weiterer Schritt in die innere Emigration. In: National-Zeitung Basel, 131.Jg. vom 16.Juni 1973. 261 W.Hildesheimer über Paolo Pola (1973). In:Volker Jehle, W.Hildesheimer. Werkgeschichte. Frankfurt 1990, S.502. Dieser Text erscheint nichtin den Ges.Werken.

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erreicht? Was sollte sie festhalten, und für wen? Gelingen konnte mir nichts mehr, die Zeit des Gelingens ist vorbei, so wie auch die Zeit derer, dieGelungenes wollen" (MAS 345). Das ist eine deutliche Absage an alles Gelungene und an Zusammenhänge: Sie sind Vergangenheit. Deshalb auch Hildesheimers Satz über seine bildkünstlerische Arbeit: "Nichts ist auf Gelingen angelegt, nichts wiederholbar."262 Schon zu Beginn der von Hildesheimer selbst so bezeichneten "Tynset-Masante-Phase"263 ist das "Ende der Fiktionen" in Sicht. Doch erst in "Masante" hat der Ich-Erzählerdurch Scheitern gelernt. "Masante" ist der Abschied vom Versuch, "das Leben auf dem Umweg über Deutung oder Beschreibung zu meistern" (MAS 59).Hildesheimers Prosamonologe eröffnen das Feld der Fragen. Peter Schneider zitiert in seinem Aufsatz "Das Licht am Ende des Erzählens" einen Satz Robert Musils über das Erzählverfahren in "Der Mann ohne Eigenschaften": "[D]ie Geschichte des Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die erzählt werdensollte, nicht erzählt wird."264 In "Tynset" wird die Geschichte, die zu Tynset gehören könnte, nicht erzählt, das Ende von "Masante" bleibt ein Rätsel. Nichts wird beantwortet. Auch Hildesheimers Prosamonologe zeigen, "daß die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen, von denen sie gebraucht werden",265 wie Friedrich Schlegel in seinem

262 W.Hildesheimer, Es gelingt mir längst nicht alles, S.747. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd. VII, S.747.263 Gespräch M.Durzak/W.Hildesheimer, S.274. In: M.Durzak, Gespräche über den Roman. Frankfurt 1976, S.271-295. 264 Peter Schneider, Das Licht am Ende des Erzählens, S.59. In: Bestandsaufnahme Gegenwartsliteratur. München 1988, S.54-60.265 Friedrich Schlegel, Über die Unverständlichkeit, S.333. In: Friedrich Schlegel,Schriften zur Literatur. Hg. W. Rasch. München

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Aufsatz "Über die Unverständlichkeit" so treffend bemerkt. Das "Mißlingen als Form" als Ausdruck des Scheiterns gehört zum Menschsein. Man kann nur immer wieder anfangen und immer wieder Abschied nehmen, bis der Mensch, der Künstler selbst Abschied nehmen muß: "Wenn etwas die Schöpfung abschließt, so ist es nichtder sieghafte und illusorische Schrei des blinden Künstlers: »Ich habe alles gesagt«, sondern der Tod des Schöpfers, der seine Erfahrung und das Buch seines Geistes abschließt."266 Albert Camus weiß, daß Scheitern zur Kunst gehört wie der Tod zum Leben. In Hildesheimers Werk aber ist das Scheitern nicht nur schmerzhafte Erfahrung des Ich-Erzählers, sondern auch ein Spiel, eine Möglichkeit von Kunst - wie das Spiel mit dem Tod und dem Enden. Ironisch und auch ein wenig bitter ist deshalb der Begleittext WolfgangHildesheimers zu seiner Collage "Extinktes" von 1990.Hildesheimer spielt dort auf Stefan Georges Gedicht "Herr der Insel" an, in dem ein Vogel auftaucht, "sichtbar nur solchen, die zuvor gescheitert sind - das Scheitern als die Voraussetzung einer anders nicht erfahrbaren Wirklichkeit"267, wie es in Peter Horst Neumanns Aufsatz über George und Hildesheimer heißt. Hildesheimer endet seinen Text mit dem Satz: "Scheitern ist ohnehin »out«."268 Die Prosamonologe "Tynset" und "Masante" zeigen, daß es möglich ist, ohne einen Stoff, ohne Thema, ohne inhaltliche Zusammenhänge und ohne den Entwurf einer neuen Ordnung Fiktionen zu schreiben. Doch auch diese

(2.Auflage) 1985, S.332-342.266 Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Hamburg 1959, S.94.267 Peter Horst Neumann, Der Guricht im Palimpsest.Wolfgang Hildesheimer und Stefan George, S.1006. In: Merkur 46, (1992), S.1001-1007.268 W.Hildesheimer, Collage Nr.12. In: W.Hildesheimer, Landschaft mit Phoenix. Frankfurt 1991. Ohne Seitennummerierung.

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Art von Fiktionen erschöpfen sich. Franz Loquai schreibt resümierend: "In Masante, in Meona mit der Herberge >la derniére [sic!] chance<, ereignet sich nicht das Ende der Geschichte, aber das der Fiktionen. Jetzt sind sie es, die von der Realität eingeholt werden."269 Das vielbesprochene "Ende der Fiktionen", das Hildesheimer später nur auf die traditionellen Romankonstellationen, nicht auf Fiktionen allgemein bezieht,270 hat Hildesheimer schon zu Beginn seiner Rede mit den Worten relativiert: "Aber ich proklamiere nicht. Ich bleibe im Subjektiven. Das allerdings tut jeder Schriftsteller,der sein Metier behandelt."271 Dies soll im Schlußkapitel aufgenommen werden. Es wird sich zeigen, daß das "Ende der Fiktionen" mit Hildesheimers spezifischem Fiktionsbegriff zu tun hat. Fiktion ist fingierte Wirklichkeit, sie bezieht also Stellung zur Wirklichkeit. Wenn jedoch weder dasIndividuum - der Ich-Erzähler in diesem Fall -, noch die Fiktion in der Lage sind, dies zu leisten, dann ist diese Art Fiktion als Wirklichkeitskonstruktion an ihr Ende gelangt. Das romanhafte Erzählen als Mitteilung von heutiger Wirklichkeit ist nicht mehr möglich. Aus diesem Grund schreibt Hildesheimer nach "Masante" nur noch Biographien über historisch real existierende und erfundene historische Figuren, Kunst-Rezensionen, Wortspiele und klebt Collagen. Das"Ende der Fiktionen" ist das Ende jener Wirklichkeitskonstruktionen, die die heutige Wirklichkeit zu erfassen suchen.

269 Franz Loquai, Hamlet und Deutschland, a.a.O., S.203.270 Siehe Matthias Burri im Gespräch mit W.Hildesheimer am 20./21.10.1982 in Poschiavo, S.147. In: Matthias Burri, Das Ende des Erzählens,a.a.O., S.142-157.271 W.Hildesheimer, Das Ende der Fiktionen, S.141. In: Ges. Werke Bd.VII, S.141-158.

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IV. DAS ENDE DER FIKTIONEN

"Wohl dem Anaximander! Er hat nur einen einzigenSatz gesagt. Gewiß, er hatte das Glück, ihn aus einerweithin unerkannten Welt greifen zu können. Die Meine

ist erkannt und ausgebeutet. Sie gibt keinen gutenSatz mehr her. Den Punkt setzen, den Schlußstrich

ziehen, meine Zeit ist vorbei." (MAS 332)

Der Ich-Erzähler aus "Masante" steht in Meona in einer gedeuteten Welt, in der es keine Geheimnisse mehr gibt und auch keinen Stoff zum Erzählen. Der Ich-Erzähler der "Vergeblichen Aufzeichnungen" stelltam Ende seines Versuches, etwas Erzählenswertes zu finden, aus dem eine Geschichte werden könnte, resignierend fest: "Es hat auch nichts getaugt, es war nichts als als ein letzter ausgelaugter Rest erschöpften Stoffes, aller Stoff ist erschöpft."272 Dieser Ich-Erzähler geht am Ende, aber er geht nur fort, nicht in die Wüste - noch scheint Hoffnung auf Stoff für Geschichten zu bestehen.Die Erfahrung der Erschöpfung des Stoffes entspricht auch einer Erschöpfung der Erzählkunst. In Italo Calvinos Roman "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" sagt ein Ich-Erzähler: "Seit einiger Zeit erschöpft sich jeder Roman, den ich zu schreibenbeginne, kurz nach den ersten Seiten, als hätte ich schon am Anfang alles gesagt, was ich zu sagen habe."273 Stéphane Moses schreibt über Italo Calvinos Buch, das zehn Romananfänge in sich vereint und das 1979 erscheint:

"Die zehn unvollendeten Erzählungen zeugen gleichermaßen von einem Mangel, einer Schwäche, einer

272 Wolfgang Hildesheimer, Vergebliche Aufzeichnungen, S.302. In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.I, S.273-302.273 Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht. München 1986, S.237.

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Erschöpfung der Erzählkunst wie von ihrer Erneuerung,vom Bruch mit einer veralteten und Etablierung einer neuen Erzählkategorie, der Unterbrechung, die nicht als Mangel der Romanstruktur zu gelten hat, sondern vielmehr als Auslösung neuer erzählerischer Impulse."274

Auch für Hildesheimers Ich-Erzähler sind die immer neuen Anfänge und Unterbrechungen im Erzählen Auslöser neuer Ideen. Die Ideen kommen beim Sprechen und Schreiben. Hildesheimer erklärt 1973 in einem Interview über "Masante":

"Das Schreiben ist nicht dargestellt als Prozeß des Produzierens, sondern sollte dargestellt werden als Prozeß des immer neuen Versuchens, des Tastens, ob hier etwas darzustellen wäre: action writing, sozusagen."275

Es geht Hildesheimer jedoch nicht, wie Moses es für Calvinos Erzählkunst postuliert, um die Etablierung einer "neuen Erzählkategorie", sondern um den schriftlichen Beweis des "Endes der Fiktionen". Hildesheimers Schreiben ist Scheitern als Setzung vonAnfang an. Der Ich-Erzähler aus "Masante" stellt am Ende seines Monologs alles radikal in Frage: den Sinnvon Fiktionen und sein eigenes Tun. Nicht mehr die Erschöpfung des Stoffes ist Thema, jetzt wird der Sinn der Fiktionen selbst in Frage gestellt, und damit der Sinn des Ich-Erzählers. Eine zentrale Textstelle aus "Masante" ist diese Selbstreflexion:

274 Stéphane Moses, Italo Calvino: Die Kunst nicht zu enden, S.121. In: Die Kunst zu enden, Hg. Jürgen Söring. Frankfurt/Main u.a. 1990, S.111-123. 275 Dieter E.Zimmer, Rückzug aus dem Leben. Gespräch mit W.Hildesheimer. In: Die Zeit Nr.16, 28.Jg. vom 13.April 1973.

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"Nur noch Fragmente, Dinge, die immer im Entstehen bleiben, doch das ist meine Sache nicht, ich habe immer Fertiges, Vollkommenes haben wollen -: mein Fehler. Damit bringt man es nicht weit. Wozu erzähle ich mir Geschichten, als sei ich nicht der, dem sie geschehen sind? Weil ich es nicht mehr bin? Weshalb will ich sie hören, als sei die Vergangenheit, aus der sie kommen, jemals wirklich gewesen, als hätte sie jene Geborgenheit geboten oder auch nur versprochen, in der ein erfundenes Geschehen, bis zu seinem erfundenen Ende weiterentwickelt, irgendeiner Wirklichkeit entspricht? Weshalb wollte ich mich selbst bezwingen, da mir doch die Frage warum immer im Gehirn stand? Nur weil der Zwang nicht nachließ?" (MAS 345)

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IV.1. "DAS ENDE DER FIKTIONEN"

"Denn man muß Abschied nehmen, es wäre dumm,nicht im passenden Augenblick Abschied zu nehmen".

Samuel Beckett, Molloy.

Als Erzähler kann Wolfgang Hildesheimer nur über ein "potentielles Ich" schreiben - dieser Ich-Erzähler verschwindet am Ende von "Masante" in der Wüste. Es ist charakteristisch für Hildesheimers Kunstkonzeption, nun das "Ende der Fiktionen" zu erklären, da es den Träger dieser Fiktionen nicht mehr gibt. "Tynset" und "Masante" verdeutlichen das Scheitern des Ich-Erzählers an Weltentwürfen, sie sind der Erfahrungsbericht eines Erzählers, der das "Ende der Fiktionen" bereits erreicht hat, und sie erbringen den Beweis, daß man dieses Ende in Fiktionen darstellen kann. Eine Kunst, die als Kunst gegen die Kunst protestiert - eine Fiktion, die als Fiktion die Fiktionen abschafft: Das sind Gedanken, die in den 20er Jahren des 20.Jh.s im Dadaismus auftauchen. Sie beeinflussen auch bildende Künstler wie Joan Mirò, über den Jaques Dupin in seiner Biographie des Malers schreibt: "Mirò hörte selbst inder Anti-Malerei nicht auf, Maler zu sein. Er schaffteine Bewegung der Kunst, in der diese gegen sich selbst protestiert. "276

"Mir fällt nichts mehr ein", das "Ende der Fiktionen"und schließlich 1984 das »Ende des Schreibens« - Hildesheimers schriftliche Werke umfassen dennoch sieben Bände. Wie ernst ist es Hildesheimer mit dem Ende? Uwe Japp weist in seinem Aufsatz "Das Ende der Kunst des Schreibens" darauf hin, daß es Hildesheimervon den "Vergeblichen Aufzeichnungen" bis hin zu "Masante" um die Thematik des Endens geht.277

276 Dupins Mirò-Biographie ist zitiert nach Antoni Tàpies, Miròs Totschlag, S.87. In: Antoni Tàpies, Kunst contra Ästhetik. St.Gallen 1983, S.85-89.

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In "Tynset" und "Masante" zeigen alle erfundenen Geschichten die seltsame Weigerung des Ich-Erzählers,von Geschichten mehr als den Anfang zu erzählen, der zugleich ihr Ende ist oder vom Ende handelt. Der Pesttod der Figuren der "Bett-Fuge", der Tod Gesualdos und der seiner ermordeten Ehefrau und des Geliebten, schließlich der Tod Prosniczers und des Kindes aus "Tynset", in "Masante" die Tode in der Wüste, die tote Ratte im Schaufenster, die Todes-drohungen der Häscher, schließlich der Tod des Ich-Erzählers selbst: Alle Anfänge sind schon ihr eigenesEnde, es ist "das Ende im Anfang als Strukturprinzip",278 wie Volker Jehle schreibt. Das Ziel des Ich-Erzählers aus "Tynset" und "Masante"ist der Versuch, eine Wirklichkeit zu schaffen, die die Welt auslöscht. Da der Ich-Erzähler jedoch sämtliche Ansätze eines Entwurfs einer Gegenwelt, also einer Fiktion im traditionellen Sinne, in "Masante" bald schon in "die Wüste schickt", bleibt am Ende nur die Leere. Deswegen muß der Ich-Erzähler verschwinden: Er hat alle Möglichkeiten von Geschichten ausgelöscht und damit sich selber. Er hatals Erfinder von Fiktionen ohne Fiktionen keine Funktion mehr. Franz Loquai hat dieses Versagen des Erzählers beschrieben: "Der Erzähler wird so überflüssig wie der in die Wüste geschickte Hamlet. Das alter ego, der heimatlose Widergänger, hat Hamletin die Wüste zu folgen. Dort ist der Platz des Erzählers, da gehört er hin, das verlangt die Konsequenz der Invention Hildesheimers."279 277 Uwe Japp, Das Ende der Kunst des Schreibens, S.216 ff. In: H.Bungert (Hg.), Hauptwerke der Literatur. Regensburg 1990, S.211-226.278 Volker Jehle, Künstlerische Entwicklung als Kunstwerk, S.471. In: ders., Wolfgang HildesheimerWerkgeschichte, a.a.O., S.470-475.279 Franz Loquai, Auf der Suche nach Weite. Zur Prosa Wolfgang Hildesheimers, S.45. In: Wolfgang Hildesheimer, Text und Kritik 89/90, (1986), S.45-

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Das Verschwinden in der Wüste weist aber noch auf anderes. Der Ich-Erzähler aus "Masante" geht in die Wüste und hat damit einen Entschluß gefaßt, wie ihn Jakob von Gunten ganz ähnlich schildert: "Aber weg jetzt mit der Feder. Weg jetzt mit dem Gedankenleben.Ich gehe mit Herrn Benjamenta in die Wüste."280 Dieses "Gedankenleben", das der Ich-Erzähler besonders in "Tynset", aber auch in "Masante" lebt, wird am Ende von "Masante" weggeworfen. In einem 1968 geführten Gespräch mit Walter Jens weist Wolfgang Hildesheimer auf eine Werklinie hin, in der sein neues, damals noch "Meona" betiteltes Buches stehe, und die mit demzu Beginn der 60er Jahre geplanten "Hamlet"-Roman begonnen habe.281 Vom Romanfragment "Hamlet" habe er das Element der Euphorie übernommen, Euphorie als demElement, "in dem sich also die Sprache auflöst, weil sich das Denken auflöst, darauf wollte ich nicht verzichten."282 Das "Masante"-Ich vergeht und verweht im Sand, und vorher denkt es an das Leben in Masante:"Dann werde ich heimkehren, durch triefende Wiesen waten und über Bäche springen, zuhause die nassen Strümpfe über dem Ofen trocknen" (MAS 376). Keine Gedanken mehr, keine Erinnerungen, keine Häscher, nurnoch das Leben als Ziel der Sehnsucht: Hier wird, ebenso wie in Robert Walsers "Jakob von Gunten", der Sprung aus dem »Literaturleben« in ein anderes Leben beschrieben. Jakob verschwindet - wie der Ich-Erzähler "Masantes" - in der Wüste, beide suchen sie dort ein Leben außerhalb des "Gedankenlebens". Robert

62.280 Robert Walser, Jakob von Gunten. Ein Tagebuch. Frankfurt 1985, S.164.281 W.Hildesheimer/Walter Jens, Selbstanzeige, S. 231. In: Volker Jehle (Hg.), W.Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.228-239.282 W.Hildesheimer/W.Jens, Selbstanzeige, a.a.O, S.231.

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Walsers Figur Jakob strebt ein Leben in der "Wildnis"283an. Hildesheimers Ich-Erzähler dagegen löstsich auf. Sein Autor, der sich dieser Erzähler-Figur »beraubt« sieht, scheint dies zu akzeptieren und wendet sich dem Konstruieren von Biographien, dem »Bilderleben« in seinen Collagen und dem Widerstand gegen die Zerstörung der Erde zu. Hildesheimer hielt seit Mitte der 80er Jahren Reden für Greenpeace und gegen die Zerstörung der Natur und ihre Zerstörer284. Die Collagen dagegen wurden ihm als rein ästhetische Erzeugung von Schönheit zur Fluchtmöglichkeit aus derWelt. Es ist daher nicht allein "das Hauptanliegen Hildesheimers als Autor", so Björn Andersson, "das primäre Fehlen eines Prinzips darzustellen."285 Es ist auch nicht nur die Darstellung der Unmöglichkeit eines einheitlichen und definitiven Weltbildes, wie Umberto Eco es für die moderne Literatur feststellt.286

Die Prosamonologe sind die Infragestellung des Sinns eines Schreibens, das stets nach Gelungenem und Vollkommenem strebt und doch nur Versuch und immer vergebliche Aufzeichnung sein kann. Das schon in Hildesheimers geplantem "Hamlet"-Roman auftauchende Element der Auflösung von Sprache und Denken wird in "Masante" im Verschwinden des Erzählers realisiert. Besonders wichtig ist jedoch, daß der Ich-Erzähler anseiner eigentlichen Aufgabe, nämlich Fiktionen zu erzählen, scheitert. Der Weltentwurf, der die Wirklichkeit zum Plagiat derKunst werden läßt, gelingt Horst Janssen beim 283 Robert Walser, Jakob von Gunten, a.a.O., S.164.284 Siehe dazu den Abschnitt "Stellungnahmen" und den kurzen Text "Greenpeace". In: Wolfgang Hildesheimer, Gesammelte Werke Bd.VII, S.713-744 und 639-640.285 Björn Andersson, Zur Gestaltung von Entfremdungbei Wolfgang Hildesheimer. Uppsala 1979, S.169.286 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. Frankfurt/Main 1973, S.164.

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Zeichnen. Janssen berichtet, sein Blick sei eines Morgens auf die zerbrochenen Hölzer einer alten Leiter gefallen, "grau-schwarz-schimmel- und moosgrünfarben, die da eine Zeichnung nachahmen, die ich gestern am Tisch von einem ganz anderen Sujet gemacht habe."287 Diese Ersetzung der Wirklichkeit versucht der Ich-Erzähler der Prosamonologe vergeblich: Seine Wirklichkeitskonstruktionen können die Welt nicht durch Fiktionen ersetzen. Die Ankunft-Abschied-Struktur seiner Gedanken erweist sich als Zwang und Ausdruck der Unmöglichkeit, die Wirklichkeit zu vergessen. Der Mann aus Hildesheimers1977 gesendetem Hörspiel "Biosphärenklänge" sagt deshalb: "[...] die Muße, an alles in der Welt denkenzu können, war in Wirklichkeit der Zwang, an alles inder Welt denken zu müssen."288 Um 1965 formuliert Hildesheimer: "Schreiben bedeutet klarlegen, aufdecken. Malen heißt zudecken, Weißes mit Farbe zudecken, aus dem Unbewußten schöpfen, daher erschöpft es mich nicht."289 Ähnliches findet mannoch 1986: "Aber das Schreiben zwingt permanent zum Nachdenken über unser Leben, über unsere Vergangenheit, vor allem aber über unsere Zukunft, inder die Rezeption stattfinden soll. Die Collage dagegen zwingt zum Nachdenken über Farbtöne."290

Schreiben ist ein Zwang, dessen Sinn von Anfang an fraglich ist und den ständig Zweifel begleiteten. Denn wenn Schreiben Klarlegen ist, dann hat es die entgegengesetzte Wirkung dessen, was eigentlich

287 Horst Janssen, Fixierte Augenblicke (1982), S.127. In: Horst Janssen, An und für mich. München1986, S.127-129.288 W.Hildesheimer, Biosphärenklänge, S.468. In: Ges.Werke Bd.V, S.445-486.289 W.Hildesheimer, Notate (1965-66), S.667-668. In: Ges. Werke Bd. VII, S.664-685.290 W.Hildesheimer, Zu meinen neuen Collagen, S.9. In: W.Hildesheimer, In Erwartung der Nacht. Collagen. Frankfurt 1987, S.9-13.

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gesucht wird - der Abschied von der Wirklichkeit. Schaffen, ohne über die Wirklichkeit nachdenken zu müssen, scheint ein Privileg der Bildenden Kunst zu sein. Merleau-Ponty macht es deutlich: "Nur der Malerhat das Recht, seinen Blick auf alle Dinge zu werfen,ohne zu ihrer Beurteilung verpflichtet zu sein."291 Das Schreiben scheint nur ein Versuch, "das Leben aufdem Umweg über Deutung und Beschreibung zu meistern" (MAS 59). Ganz gelingt das Vergessen der Außenwelt imSchreiben dort nicht, sie dringt stets in das Bewußtsein des Schreibenden ein und verhindert, daß Fiktionen eine eigene Welt entstehen lassen. Von H.H.Hillrichs nach seiner Erinnerung an Momente des Glücks gefragt, antwortet Hildesheimer:

"[...] das waren Momente der intensiven Arbeit an einer Collage, nie an etwas Geschriebenem, sondern aneiner Collage oder an einer Zeichnung, wo ich das Gefühl hatte, [...] daß ich eigentlich jetzt glücklich bin, so etwas zu machen, und daß es mir gelingt, die Außenwelt zu vergessen."292

Hildesheimer liebt die Verundeutlichung. Welchen Stellenwert das Schreiben für ihn hatte, bleibt unklar. 1990 sagt er halb ironisch, halb ernst: "Das Schreiben war bloß ein Intermezzo - von 40 Jahren. Jetzt mache ich wieder Collagen."293

291 Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und Geist, a.a.O., S. 15.292 W.Hildesheimer, Ich werde nun schweigen, a.a.O., S.62.293 W.Hildesheimer am 17.8.1990 in der Zürcher Zeitung "Cash". In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.VII, Anhang, S.811. Anm.zu S.748.

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IV.2. DAS ENDE IM ANFANG

"Ein Tanz ohne Tanzende. Der Versuch, körperloseBewegung zu schaffen, ohne die Assoziation mit

Sich-Bewegenden hervorzurufen."Wolfgang Hildesheimer, Zur Collage "Unberechenbares".

Wolfgang Hildesheimers Bild-Collagen zeigen schattenhafte Figuren, sie zeigen Spiegelungen. Hildesheimer scheint Metamorphosen im Bild gebannt zuhaben, die Bewegungen des Windes im Raum in seinen Collagen einzufangen. Annie Bardon schreibt:

"Diese gespenstischen Schattenfiguren, die ihm [dem Betrachter] dort [in den Collagen] immer wieder begegnen, bewegen sich meist in weiten Räumen ohne festen Boden, sie schweben, sind nirgends verwurzelt."294

Wie seine Collagen die Figuren, so halten Hildesheimers Prosamonologe das Erzählen in der Schwebe. Das Erzählte scheint fragil, es schwankt zwischen zwei Punkten in leeren Zwischenräumen umher,295 wie Christiaan L. Hart Nibbrig Hildesheimers Collagen beschreibt. Der französische Schriftsteller Michel Leiris schreibt über ein Bild des Malers Francis Bacon:

"[...] die Realität eines Körpers wird dann stärker wahrgenommen, [...] wenn der Eindruck entsteht, daß dieser Körper von sich selbst eine intensivere Wahr-nehmung hat, weil er sich in einem zweifelhaften

294 Annie Bardon, Endstation Collagen, S.18. In: Wolfgang Hildesheimer, Collagen. Reutlingen 1985, S.9-19.295 Christiaan L.Hart Nibbrig, Flucht - Trotz. EineCollage aus und mit und über Wolfgang Hildesheimers Ästhetik des Zwischenraums, S.90. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S. 89-113.

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Gleichgewicht befindet, in einer Haltung also, die das Gegenteil der Ruhestellung ist."296

Die Ankunft-Abschied-Struktur in "Tynset" und "Masante" ist dieses "zweifelhafte Gleichgewicht".Auch im 1981 erschienenen Buch "Marbot" erscheint sieals Wechselspiel von Distanz und Identifikation zwischen dem Biographen Hildesheimer und der von Hildesheimer erfundenen Figur Marbot. Helmut Heissenbüttel wirft Hildesheimer in seiner Rezension von "Marbot" dieses Spiel vor: "Er will nicht hinein.Er will es von sich weg halten, erfinden, indem er konstruiert."297 Dieses Konstruieren ist jedoch die Kunst Wolfgang Hildesheimers, die in der Ankunft-Abschied-Struktur so deutlich zum Ausdruck kommt. Hildesheimer spielt mit den Möglichkeiten der Phantasie, und seine Abschweifungen und Verunsicherungen werden ihm zum kreativen System. So erweist sich wieder einmal jenervielzitierte Satz aus den "Mitteilungen an Max" als zentral, wo der Ich-Erzähler - das "potentielle ich" Hildesheimers - sich beschreibt als "ein Polyhistor meiner selbst und meiner Umgebung, der sich nur allzugern auf Abwege begibt und sich dabei aus den Augen verliert, solange uns noch Abwege und Augen offenstehen" (MAX 63).298

296 Michel Leiris, Francis Bacon heute, S.18/19. In: Michel Leiris, Bacon, Picasso, Masson. Hg. Hans-Jürgen Heinrichs. Frankfurt 1989, S.9-26.297 Helmut Heissenbüttel, Die Puppe in der Puppe oder Der Hildesheimer im Marbot, S.304-305. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.302-305.298 Volker Jehle, Wolfgang Hildesheimer Werkgeschichte, Frankfurt 1990, S.206 erwähnt, Hildesheimer habe ihm gegenüber diese Stelle aus "Mitteilungen an Max" als "Die LÖSUNG zu mir" bezeichnet.

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Auch der Leser von "Tynset" und "Masante" muß diese "Abwege", er muß das Hin und Her zwischen Erfindung und Beschreibung von Wirklichkeit, zwischen Identifikation und Distanz mitmachen, den Wechsel zwischen den Geschichten, Reflexionen und Fragen. Es wird ein waches Bewußtsein des Lesers gefordert für dieses durchaus ernstgemeinte Spiel, nicht sein Eintritt in eine fiktionale Welt. Klaus Reichert hebtdies hervor: "[...] hier wird sich nicht identifiziert. Es ist der kritische, d.h. der sichtende, der unterscheidende Gestus, der dem Leser eine stete Wachsamkeit des Mitvollzugs abverlangt."299

Für sich selbst hat Hildesheimer die Frage: "Warum tue ich das, was ich tue?"300 beantwortet und ist zu dem Entschluß gelangt, keine Prosamonologe mehr zu schreiben. Der Abschied von den Fiktionen dieser Art beendet das Wechselspiel zwischen der Absurdität der Wirklichkeit und der Absurdität der Fiktionen.

299 Klaus Reichert, Aus der Fremde und zurück.W.Hildesheimer zum Siebzigsten, S.65. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.58-71.300 Zu dem Zitat aus Hildesheimers "Rede an die Jugend" Siehe Kapitel II.2. dieser Arbeit.

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LITERATURVERZEICHNIS

1. Wolfgang Hildesheimers Werke1

a) Literatur

Hildesheimer, Wolfgang: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Hg.Christiaan Lucas Hart Nibbrig u. Volker Jehle. Frankfurt 1991.Band I: Erzählende Prosa.Band II: Monologische Prosa.Band III: Essayistische Prosa.Band IV: Biographische Prosa.Band V: Hörspiele.Band VI: Theaterstücke.Band VII: Vermischte Schriften.Hildesheimer, Wolfgang: Marbot. Eine Biographie. Frankfurt 1984.Hildesheimer, Wolfgang: Masante. Frankfurt 1988.Hildesheimer, Wolfgang: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes. Frankfurt 1986.Hildesheimer, Wolfgang: Nachlese. Frankfurt 1987.Hildesheimer, Wolfgang: Rede an die Jugend. Mit einemPostscriptum für die Eltern und zwei Collagen. Nachwort von Chr.L.Hart Nibbrig. Frankfurt 1991.Hildesheimer, Wolfgang: Tynset. Frankfurt 1992.

b) Collagen

1 Die in dieser Arbeit nach den Einzelausgaben zitierten Werke "Tynset", "Masante", "Mitteilungenan Max" und "Marbot" sind in den Gesammelten Werken enthalten. Dort sind zum Teil auch Illustrationen, in den Collage-Bänden Texte von Wolfgang Hildesheimer zu finden. Die Aufteilung inLiteratur und Collage dient daher nur der Übersichtlichkeit.

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Hildesheimer, Wolfgang: Collagen. Ausstellungskatalog Hans Thoma-Gesellschaft SpendhausReutlingen 4.Juni-28.Juli 1985. Reutlingen 1985.Hildesheimer, Wolfgang: Endlich allein. Collagen. Frankfurt (Insel) 1985.Hildesheimer, Wolfgang: In Erwartung der Nacht. Collagen. Frankfurt (Insel) 1986.Hildesheimer, Wolfgang: Landschaft mit Phoenix. Collagen. Frankfurt 1991.

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2. Interviews und Gespräche mit Wolfgang Hildesheimer

Ashoff, Birgitta: Warum gibt es keine Hoffnung, die Welt zu verändern, Herr Hildesheimer? In: W.Hildesheimer, Ges. Werke Bd.VII, S.810-811."Der Mensch wird die Erde verlassen". Gespräch W.Hildesheimer mit Tilman Jens. In: Stern Nr.16 vom 12.4.1984, S.58-60.Durzak, Manfred: Ich kann über nichts anderes schreiben als über ein potentielles Ich. Gespräch mitW.Hildesheimer. In: ders., Gespräche über den Roman. Frankfurt 1976, S.271-295.Hartlaub, Geno: Tynset ist keine Endstation. Gesprächmit W.Hildesheimer. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (Hamburg) Nr.9, 26.Februar 1967.Hildesheimer, Wolfgang: Ich werde nun schweigen. Gespräch mit Hans Helmut Hillrichs in der Reihe "Zeugen des Jahrhunderts". Hg. Ingo Hermann. Göttingen 1993.Hildesheimer, Wolfgang und Walter Jens: Selbstanzeige. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.228-239."Mozart" und "Marbot" - Spiegelbücher? W.Hildesheimerim Gespräch mit Hanjo Kesting. In: W.Hildesheimer Text und Kritik 89/90, (1986), S.83-89.Prangel, Matthias: Interview mit Wolfgang Hildesheimer. In: Deutsche Bücher. Hg. Ferdinand van Ingen u.a. Amsterdam 1974, S.1-10.Rodewald, Dierk: Wolfgang Hildesheimer im Gespräch mit Dierk Rodewald.In: ders.(Hg.), Über Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1971, S.141-161."Vom Sein ins Sehen flüchten." Gespräch Wolfgang Hildesheimer mit Florian Rötzer. In: Kunstforum International 94 (1988), S.244-246.Zimmer, Dieter E.: Rückzug aus dem Leben. Gespräch mit Wolfgang Hildesheimer. In: Die Zeit Nr.16, 28.Jg., vom 13.April 1973.

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3. Rezensionen

Abutille, Mario C.: Ein weiterer Schritt in die innere Emigration. In: National-Zeitung Basel, 131.Jg. vom 16.Juni 1973.Heissenbüttel, Helmut: Die Puppe in der Puppe oder Der Hildesheimer im Marbot. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer, S.302-305.Kaiser, Joachim: Stilleben mit Häschern. Plauderton und Verzweiflung. W.Hildesheimer "Masante". In: Süddeutsche Zeitung vom 14./15.April 1973.Podak, Klaus: Anfangen in der Wüste. Zu W.Hildesheimers neuem Roman "Masante". In: Stuttgarter Zeitung, 29.Jg., Nr.148 vom 30.Juni 1973,S.52.Wolff, Detlef: Schwarze und surrealistische Blätter. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.218-220.

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4. Sekundärliteratur zu Wolfgang Hildesheimer

Andersson, Björn: Zur Gestaltung von Entfremdung bei Wolfgang Hildesheimer. Uppsala 1979.Bardon, Annie: Endstation Collagen. In: W.Hildesheimer, Collagen. Ausstellungskatalog Hans Thoma-Gesellschaft. Reutlingen 1985, S.9-19.Baumgart, Reinhard: Heimisch im Absurden. In: Volker Jehle (Hg.), Wolfgang Hildesheimer. Frankfurt 1989, S.339-343.Behrens, Kerstin: Wirklichkeit bei Wolfgang Hildesheimer. Augsburg Magisterarbeit (masch.) 1992.Blamberger, Günter: Der Rest ist Schweigen. Hildesheimers Literatur des Absurden. In: W.Hildesheimer Text und Kritik 89/90, (1986), S.33-44.Blamberger, Günter, Wolfgang Hildesheimers Prosa des Absurden. In: ders., Versuch über den Gegenwartsroman. Stuttgart 1985, S.74-100.Burri, Matthias: Das Ende des Erzählens bei Wolfgang Hildesheimer. Zürich Lizentiatsarbeit (masch.) 1983.Dücker, Burckhard: Wolfgang Hildesheimer und die deutsche Literatur des Absurden. Bensberg-Frankenforst 1976.Durzak, Manfred: Gespräche über den Roman. Frankfurt 1976.Eykmann, Christoph: Erfunden oder vorgefunden? Zur Integration des Außerfiktionalen in die epische Fiktion. In: Neophilologus 62, (1978), S.319-334.Frauenhuber, Dorothea: Die Prosa Wolfgang Hildesheimers. Salzburg Phil.diss. (masch.) 1979.Goll-Bickmann, Dietmar: Aspekte der Melancholie in der frühen und mittleren Prosa Wolfgang Hildesheimers. Münster 1989.Guetg, Marco: Wolfgang Hildesheimer Tynset. Eine Kompositionsanalyse. Freiburg (CH) Lizentiatsarbeit (masch.) 1977.

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