Tobias Bevc (Hrsg.): Computerspiele und Politik . Zur Konstruktion von Politik und Gesellschaft in...

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LIT www.lit-verlag.de Tobias Bevc (Hg.) Computerspiele und Politik Computerspiele und Politik Zur Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen Tobias Bevc (Hg.) LIT LIT Studien zur visuellen Politik 9 *ukdist#,-ccxx* 978-3-8258-0332-2 Der vorliegende Band rekonstruiert, wie in Computerspielen Politik und Gesellschaft dargestellt werden. Neben eine For- schungsagenda und theoretische Reflexionen zur Analyse von Computerspielen treten exemplarische Einzelanalysen und Bei- spiele aus der Praxis. Mit diesem Band liegt erstmals im deut- schen Sprachraum ein Versuch vor, Computerspiele aus inter- disziplinärer Perspektive explizit auf ihre politischen Gehalte hin zu analysieren. Bedenkt man den Stellenwert von Computer- spielen in der täglichen Mediennutzung Jugendlicher, so kann deren Beitrag für die politische Sozialisation kaum überschätzt werden.

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Studien zur visuellen Politik

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Der vorliegende Band rekonstruiert, wie in ComputerspielenPolitik und Gesellschaft dargestellt werden. Neben eine For-schungsagenda und theoretische Reflexionen zur Analyse vonComputerspielen treten exemplarische Einzelanalysen und Bei-spiele aus der Praxis. Mit diesem Band liegt erstmals im deut-schen Sprachraum ein Versuch vor, Computerspiele aus inter-disziplinärer Perspektive explizit auf ihre politischen Gehaltehin zu analysieren. Bedenkt man den Stellenwert von Computer-spielen in der täglichen Mediennutzung Jugendlicher, so kannderen Beitrag für die politische Sozialisation kaum überschätztwerden.

Inhalt

Inhalt

Statt eines Vorwortes: Eine Forschungsagenda zur Analyse von Computerspielen ............................................................................... 7 Tobias Bevc

I. Theoretisch-methodische Reflexionen ............................................. 23

Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen? ................. 25

Tobias Bevc

Online-Rollenspiele als soziale Experimentierräume ................................... 55 Julian Kücklich

Computerspiele als Aufbewahrungsform des Politischen. Politische Theorie in Age of Empires and Civilization. .......................................... 77 Alexander Weiß

Anmerkungen zur visuellen Kommunikation im Medium Videospiel aus politiktheoretischer Sicht oder Don Quichote und der Amok- lauf der Bilder ........................................................................................ 99 Holger Zapf

II. Spieleanalysen ................................................................................... 115

Eine Reise zu fremden Völkern. Wie ein japanisches RPG das

Thema „Rassismus“ ins Spiel bringt ................................................... 117 Michael Nagenborg

Geschichte in Bildschirmspielen. Bildschirmspiele mit historischem Inhalt. ............................................................................. 141 Stefan Wesener

Inhalt

III. Konstruktivistische Zugänge ....................................................... 165

Das Soziale an Software. Rekonstruktion impliziter Gesellschafts-

modelle bei der Entwicklung des Computerspiels MyTown ............... 167 Stefan Selke

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen zur Darstellung von Politik in Computerspielen ........................................................... 193 Volker Hafner und Peter Merschitz

IV. Computerspiele als gesellschaftliches Phänomen .................... 219

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft

und Politik durch eSport ...................................................................... 221 Jürg Müller-Lietzkow

Autoren ....................................................................................................... 249

Statt eines Vorwortes

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Statt eines Vorwortes: Eine Forschungsagenda zur Analyse von Computerspielen1

Tobias Bevc

Zusammenfassung

Computerspiele sind heute ein fester Bestandteil des Medienmenüs der Ju-gendlichen und sollten daher größere Beachtung bezüglich politischer Bil-dung finden. Politikferne Zielgruppen lassen sich mit den traditionellen Me-dien der politischen Bildung kaum mehr erreichen. Dagegen bieten sich Computerspiele an, um diese Zielgruppen zu erreichen. Damit dies gelingen kann ist es notwendig ein geeignetes theoretisches Instrumentarium zur Ana-lyse und Bewertung von Computerspielen zu erstellen, um so die Spiele zielgruppen- und anwendungsgerecht gestalten zu können. In dieser Hinsicht wird hier versucht einen Rahmen für ein solches Instrumentarium zu entwer-fen. Betont wird hier auch die Rolle, die die besonderen Eigenheiten visuel-ler Kommunikation in bezug auf politische Kommunikation spielt.

Einleitung

Computerspiele sind keine Randphänomene mehr. Sie beanspruchen im Me-dienmenü der Jugendlichen heutzutage einen großen Anteil. Dies gilt insbe-sondere für männliche Jugendliche. 72% der männlichen Jugendlichen spie-len einmal die Woche Computerspiel im Vergleich zu 31% der Mädchen. 50% der männlichen Jugendlichen spielen gar täglich/mehrmals die Woche (JIM 2006; vgl. meinen Aufsatz in diesem Band). Nichtsdestotrotz wird Computerspielen immer nur dann Aufmerksamkeit geschenkt, wenn irgend-wo in der Republik ein Jugendlicher einen Amoklauf begangen hat. Da die dann aufgeschreckte Medienöffentlichkeit erfährt, dass dieser Jugendliche auch Computerspiele gespielt hat, möglicherweise gar Counterstrike, ist so-fort klar: Computerspiele sind Schuld an solchen Ereignissen wie sie u. a. in Columbine, Erfurt und Emsdetten geschehen sind. Aber: Mit der Gewaltproblematik möchte dieser Sammelband sich nicht aus-einandersetzen.

1 Bedanken möchte ich mich hier für die großzügige Bereitschaft folgender Firmen, mir

Computerspiele kostenlos zur Verfügung zu stellen: Electronic Arts, Koch Media Deut-schland GmbH, Microsoft, THQ Entertainment GmbH, Ubisoft GmbH.

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Dafür soll er sich aber mit einem vernachlässigtem aber mindestens ebenso wichtigem Thema beschäftigen: Wie tragen Computerspiele und die in ihnen existenten Vorstellungen von Politik und Gesellschaft zu der politischen So-zialisation und Identitätsbildung ihrer Nutzer bei? Wie wird also in diesen Spielen Politik und Gesellschaft konstruiert? Dieser Band, der aus dem Workshop „Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen?“ hervorgegangen ist, der am 19. und 20. Oktober 2006 an der TU München in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung und dem Zentral-institut für Lehrerbildung und Lehrerfortbildung statt fand, will zunächst einmal der zentralen Frage nachgehen, die in dem Workshoptitel deutlich formuliert ist. Dieses Vorwort wird nun nicht jeden einzelnen Artikel vorstellen. Diese Aufgabe übernimmt eine Zusammenfassung, die jedem Artikel vorangestellt ist. Vielmehr sollen im folgenden Überlegungen zu einer Forschungsagenda hinsichtlich von Computerspielen angestellt werden. Aufgrund des steigenden Computerspielekonsums unter den heutigen Ju-gendlichen ist es sinnvoll sich mit den Inhalten dieser Spiele auseinander zu setzen. Nur so können wir wissen, welches Bild von Politik und Gesellschaft die Jugendlichen in ihrem Medienkonsum ausgesetzt sind – so wie dies für den Bereich Film und TV schon dokumentiert ist (Dörner 2001; Baum 2002; Hofmann 1999, 2005; Holbert 2005; Saxer 2007). Aber auch eine ganz ande-re Frage ist in diesem Kontext wichtig: In Anbetracht der Tatsache, dass auch die „bildungsfernen“ Jugendlichen dem Medium Computerspiel sehr aufgeschlossen und neugierig gegenüberstehen, bietet sich hier die Chance, durch dieses Medium diese Jugendlichen, die durch die traditionellen Ange-bote der politischen Bildung nicht (mehr) zu erreichen sind, anzusprechen. Insofern eröffnet dieses Themengebiet nicht nur analytische Aufschlüsse über die politische Sozialisation und Identitätsbildung heutiger Jugendlicher, sondern eröffnet auch neue Perspektiven bezüglich der politischen Bildung von Jugendlichen. Folgende Fragen stellen sich aus dieser Perspektive in Hinblick auf Compu-terspiele:

• Welche Konfliktlösungsmechanismen werden propagiert? • Welches Bild von Gesellschaft wird vermittelt? • Welches Bild der Genese der Gesellschaft wird gezeigt (historisch)?

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• Welches Verhalten des Individuums wird als erstrebenswert dargestellt?

• Welches Bild von Politik wird gezeichnet? • Werden moralische und ethische Werte von Politik und Gesellschaft

propagiert?

M. a. W.: Wie wird Politik und Gesellschaft in modernen Computerspielen dargestellt? Beeinflussen sie unser Werteverständnis, unsere Vorstellung von Demokratie, Inklusion/Exklusion, dem Anderen, von Pluralität und Gewalt-freiheit?

Die Notwendigkeit einer neuen Forschungsagenda

Um solche Fragen zu beantworten, aber auch um das gerade konstatierte Po-tential zu heben, das Computerspiele offensichtlich besitzen (vgl. Gebel/ Gurt/Wagner 2005; vgl. meinen Aufsatz in diesem Band), bedarf es einer strukturierten Vorgehensweise und neuer Methoden. Da Computerspiele ei-ne völlig neue Mediengattung bilden, müssen u. a. eine Computerspiel-analyse entwickelt (vgl. Eichner 2005) und auch bestehende begriffliche Unklarheiten und Fragen des Umgangs mit diesem neuen Medium geklärt werden. Hierbei sollte immer klar sein: Eine Verteufelung der Computer-spiele als „Killerspiele“, die aus unseren Kindern Monstern machen, hilft nicht wirklich weiter (vgl. Jones 2002).

Analyseraster

Um Computerspiele sinnvoll zu analysieren, ist es notwendig ein Analyse-raster zu entwickeln, das den Eigenheiten von Computerspielen gerecht wird. Im folgenden soll ein solches Raster in Umrissen skizziert werden. Zu einer Ausarbeitung eines Analysekonzepts bedarf es u.a. noch der empiri-schen Validierung und weiterer Proben. Im folgenden handelt es sich demzu-folge um theoretische Erwägungen. Für die Inhaltsanalyse von Computer-spielen liegt schon ein Modell vor, mit dem man die „spezifischen ästhetischen Kategorien von Videospielen erfassen und hinsichtlich ihrer Funktions- und Wirkungsweisen“ untersuchen kann (Eichner 2005, 474). Allerdings unterliegt Eichners Analysemethode zugleich einer zumindest fragwürdigen Einschätzung, nämlich der, dass Computerspiele in „jedem Fall rezipierte Texte sind.“ (ebd.). Dies ist eine äußerst fragwürdige Annah-me, stellt das Medium des Computerspiels doch eine völlig eigene Medien-

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gattung dar (vgl. u. a. Aarseth 1997; Juul 2005a, 2005b; Neitzel 2005). Der Spieler unterscheidet sich signifikant von einem Leser. Die Aktivität des Spielens begründet einen ganz anderen Analysekontext als die des Lesens, ist der Spieler doch in mehrfacher Hinsicht völlig anders aktiv in das Ge-schehen involviert – was jedoch auch Eichner konstatiert (Eichner 2005, 475f.). Darüber hinaus kann das Computerspiel im Fall von Multispielerspie-len (Online oder als LAN) auch noch gleichzeitig den Rahmen für soziale Interaktionen abgeben. In diesem Fall ist der Spieler auch noch sozialer Ak-teur (vgl. Aarseth 2004; Thorhauge 2003). Insofern muss die Inhaltsanalyse eines Computerspiels einige Komponenten mehr berücksichtigen als dies bei einer Inhaltsanalyse von Film und Fernsehen bzw. eines Textes der Fall ist. Es bietet sich an, die Analyse von Computerspielen in die verschiedenen Komponenten eines Spieles zu gliedern: Interaktivität, Zeitlichkeit (Echtzeit, rundenbasiert, Spielzeit, ...), Spielwelt (Regeln, Narration), Ziel des Spiels, Perspektive auf das Spielgeschehen (First-Person, Top-Down, Third-Person, ...), Räumlichkeit, und zu guter letzt die audio-visuelle Darstellung des Spielgeschehens (Realismus, Fantasy, Science-Fiction, abstrakte Welten, Transmedialität) (vgl. Eichner 2005, 476-481). Auch ist weiterhin zu be-rücksichtigen, dass Computerspiele im Falle der Multispielerspiele im Ge-gensatz zu TV und Film keine Einbahnstrassenkommunikation ist mit einer „One-to-Many“-Struktur, sondern hier die Vision von Walter Benjamin, dass der Rezipient von Medieninhalten zugleich deren Produzent ist/sein kann, zumindest teilweise eingelöst ist (vgl. Benjamin 1934, 1936; vgl. Bevc 1999, Eskelinen/Tronstad 2003).

Komparative Perspektive

Weiterhin muss versucht werden, an die Momente anzuknüpfen, die Bogost für eine Computerspielanalyse vorschlägt, und die eine komparative Sicht-weise zu anderen Formen der menschlichen Kulturproduktion einnimmt (Bogost 2006; Myers 2006): „What do video games do, what happens when players interact with them, and how do they relate to, participate in, extend, and revise the cultural expression at work in other cultural artifacts?“ (Bo-gost 2006, 46). Neben einigen schon genannten Aspekten liegt hier die Be-tonung auf der Interaktivität und dem Verhältnis zu anderen Formen des/der „Kulturausdrucks – bzw. -produktion“. Ergänzen Computerspiele das vor

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handene Menü des Kulturausdrucks bzw. -produktion und – wenn ja – wie machen sie das? Wichtig bei der Analyse von Computerspielen ist auch in dieser Hinsicht vor allem, dass das Moment des Spielers als Akteur sozialen Handelns ausrei-chend berücksichtigt wird. Damit kommt der Dimension der (sozialen) Interaktivität (Salen/Zimmerman 2004, 2006) und Fragen des Einflusses von Immersion und des Selbstwirksamkeitserlebnisses (Klimmt 2005; McMahan 2003) eine entscheidende Rolle zu.

Computerspiele und Genres

Darüber hinaus ist es wichtig bei der Analyse von Computerspielen die Ei-genheiten der verschiedenen Genres zu berücksichtigen, da in den verschie-denen Genres auch immer verschiedene Aspekte der Konstruktion von Poli-tik und Gesellschaft unterschiedlich stark angesprochen werden. So ist in einer Wirtschaftssimulation eventuell die Frage des Umgangs mit seinen Mi-tarbeitern für den Spieler ein entscheidender Faktor über Sieg oder Niederla-ge. Das Computerspiel setzt hier Regeln für den Umgang mit Menschen, die auf einer bestimmten Sichtweise von Wirtschaft und Gesellschaft beruhen, und die der Spieler sich – je nach Spiel – zu eigen machen muss, wenn er gewinnen will. In einem First-Person-Shooter wird ganz offensichtlich die Frage nach dem Umgang mit dem Anderen, Fremden gestellt oder besser: sie wird eindeutig beantwortet. Dies ist eine Form der Thematisierung der Frage nach Inklusion und Exklusion, die in der politischen Theorie ausgiebig diskutiert wird (vgl. z. B. Barber 1994; Benhabib 2002, 2004; Habermas 1998). Auch muss klar sein, dass in einem Shooter der Spieler wenig bis nichts der Narration hinzufügt bzw. zur ihr beiträgt. Diese unterschiedlichen Fragen tauchen in vielen verschiedenen Spielen un-terschiedlicher Genres auf und sie werden genrespezifisch anders beantwor-tet – so zumindest die bisherige Beobachtung. Diese Aussage soll gleichzei-tig als These verstanden werden (vgl. meinen Aufsatz in diesem Band). Die Kategorisierung dieser Genres ist nicht leicht, wie man an den unter-schiedlichen Versuchen hierzu erkennen kann: Hartmut Gieselmann unter-scheidet Action Spiele, Strategiespiele, Adventures, Renn- und Sportspiele. Dann nennt er noch den Bereich Kriegsspiele, den er in Echtzeitstrategie-spiele, First-Person-Shooter und Militärsimulationen untergliedert (Giesel-mann 2002). Mit Fritz lässt sich diese Liste um „Run and Jump“ Spiele, Rol-

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lenspiele, Beat’m up und Umsetzungen von Brettspielen erweitern, wobei es, wie er anmerkt, immer Überschneidungen gibt. Die Genres sind insofern als Idealtypen anzusehen (Fritz 2003). Wolf schlägt vor die üblichen Genreun-terteilungen, wie sie aus der Unterteilung von Filmen bekannt sind: Ikonog-raphie, Struktur/Aufbau und Thema/Motiv, durch ein zentrales Element von Computerspielen zu ersetzen: Interaktivität. Damit kommt er auf 42 sich teilweise überschneidende Genres (Wolf 2005). Diese doch etwas ausufern-de Unterteilung gibt zwar wertvolle Anregungen, doch fehlt auch hier noch eine sinnvolle Unterteilung. Die Kategorie der Interaktivität und ihre je spe-zifische Qualität muss bei einer sinnvollen Genreunterteilung auf jeden Fall besonders berücksichtigt werden, sie ist alleine aber nicht ausreichend. Espen Aarseth u. a. schlagen dagegen eine völlig andere Typologisierung und Klassifikation von Computerspielen vor, die zu einer strukturellen Theo-rie von Spielen führen soll. Der Vorteil dieser Methode ist, dass man ein Werkzeug erhält, mit dem man sowohl Spiele unterschiedlicher Genres, als auch Spiele desselben Genres besser vergleichen und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeiten kann – wobei hier auffällt, dass diese Ty-pologisierung sehr den oben gemachten Beobachtungen bezüglich eines Analyserasters für Compterspiele entspricht. Aarseth/Elverdam (2007) er-weitern das Modell der „Multidimensionalen Typologie von Spielen“ von Aarseth/Smedstad/Sunnanå (2003) durch neue Metakategorien. Dies ist ohne weiteres möglich, war doch die multidimensionale Typologie von Spielen von vornherein als eine Typologie mit offenem Ende angelegt. Die neuen Metakategorien sollen eine noch bessere und feinere Untergliederung zulas-sen. Sinn und Zweck dieser Übung ist es, Spiele besser miteinander verglei-chen und analysieren zu können. Dies ist in mindestens zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen für die sozialwissenschaftliche Analyse, da man bestimmte Aktionen oder Verhaltensweisen seitens des Spielers nun besser bestimmten Ebenen bzw. spielimmanenten Gegebenheiten zuschreiben kann. Insofern lassen sich auch besser Aussagen über eventuelle Interpretations-möglichkeiten des Verhaltens des Spielers machen, da man nun besser weiß, ob der Spieler eine Handlung aufgrund von Regeln und/oder einer spielim-manenten Logik ausgeführt hat, oder weil er bewusst dieses oder jenes tun wollte. Zum anderen ist es in Hinsicht auf die Entwicklung von Spielen be-deutsam. Denn wenn man eine Typologisierung der einzelnen Spielelemente hat und daran auch sehen kann, wie diese jeweils das Spiel und den Spieler

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beeinflussen, dann kann man schon bei der Spielidee die passenden Elemen-te mit ihren entsprechenden Effekten auswählen, um diese Spielidee am bes-ten umzusetzen (vgl. Abb. 1 und 2 von Aarseth/Elverdam (2007) am Ende dieses Aufsatzes).

Probleme der Begrifflichkeit

Die von Wolf (2005) vorgeschlagene Kategorie der Interaktivität als Merk-mal der Genreunterteilung verweist gleich auf ein weiteres Problem: Was bedeutet eigentlich Interaktivität? Und was bedeuten die weiteren Schlüssel-begriffe, die im Zusammenhang mit Computerspielen immer wieder fallen: Immersion, Virtualität, Flow, Repräsentation, Simulation? Was versteckt sich hinter den Theorien, die immer wieder im Zusammenhang mit Compu-terspielen genannt werden: der Theorie der „Ludologen“ und der der „Narra-tivisten“. Inwiefern sind diese wichtig für die Analyse von Computerspie-len? Und die Konzepte von Game und Play respektive Ludus und Paidia? Einige dieser Fragen werden in dem Aufsatz Konstruktion von Politik und Gesellschaft (in diesem Band) zumindest ansatzweise behandelt. Festzustel-len ist jedoch, dass diesbezüglich zumindest im deutschen Sprachraum ein „Handbuch Computerspiele“ fehlt.2 Aber auch die existierenden eng-lischsprachigen Reader und Handbücher bleiben oft nebulös bzw. unterneh-men nicht hinreichend den Versuch die Begriffe in ihrer Entwicklung und ihren unterschiedlichen Bedeutungen zu beschreiben und zu definieren (vgl. Salen/Zimmermann 2004, 2006; Wolf/Perron 2003; Raessens/Goldstein 2005, besser: Vorderer/Bryant 2006).

Strukturen und Besonderheiten visueller Kommunikation

Um den Eigenheiten von Computerspielen gerecht zu werden, sollte die Un-tersuchung von Computerspielen zudem versuchen, die spezifischen Ele-mente visueller Kommunikation als eigenständige Kommunikations-konstituenten zu begreifen (Hofmann 1999, Hofmann 2005; Mitchell 1986). Die Besonderheiten der visuellen Kommunikation müssen ernst genommen werden und bei der Beurteilung von Computerspielen und ihrem Einfluss auf die politische Sozialisation bzw. Identitätsbildung Berücksichtigung finden. Immerhin löst die visuelle Kommunikation die sprachliche mehr und mehr

2 Eines befindet sich zumindest schon in der Planungsphase: Tobias Bevc, Holger Zapf

(Hg.), Handbuch Computerspieleforschung. Begriffe und Methoden, in Vorbereitung.

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ab, auch in der Vermittlung politischer Inhalte, wie u. a. an Nachrichtensen-dungen wie der Tageschau und Heute festgestellt werden kann. Die Zeit, die in diesen Sendungen Wortbeiträge ausmachen nimmt immer mehr ab, politi-sche Inhalte werden mehr und mehr visuell vermittelt (vgl. ALM 1999 und 2001). Dieser veränderten Präsentation kommunizierter Nachrichten und politischer Inhalte und der damit einhergehenden Veränderung der Konsum-gewohnheiten solcher Inhalte entspricht die These eines Paradigmenwech-sels von dem logozentrischen hin zum ikonozentrischen Weltverstehen (Hofmann 1999). Diese veränderte Informationskommunikation und -wahrnehmung unterstützt die These, dass in Computerspielen Politik und Gesellschaft konstruiert werden und diese Konstruktion auch perzipiert wird, da diese Konstruktion in den wenigsten Fällen sprachlich vorgenommen wird, sondern meist durch visuelle Stilmittel. Sie entspricht damit also den Perzeptionsgewohnheiten der Konsumenten. Dass mit diesem Wechsel auch ein Wechsel der Inhalte selbst bzw. der wahrgenommenen Inhalte einher-geht, verdeutlichen Überlegungen zur visuellen Kommunikation. Im Unterschied zur sprachlichen Kommunikation lässt visuelle Kommuni-kation wegen der Polysemie der Bilder immer nur eine unscharfe Sinncodie-rung zu und niemals eine eindeutige Decodierung. Mit visueller Kommuni-kation kann dementsprechend kein eindeutiger Sinn festgelegt werden, und auch kann man einen Kommunikationspartner zu keiner eindeutigen Festle-gung nötigen, wie das die sprachliche Kommunikation mit ihren assertori-schen Sätzen vermag. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass in entwickel-ten (heutigen) Gesellschaften mit dem immer weiter zunehmenden Kommunikationsbedarf das Dissensrisiko stark angestiegen ist und somit das sprachliche Behaupten eine riskante Form der Kommunikation darstellt. Ge-rade in politischen Diskursen können Behauptungen und Argumente gleich-zeitig integrierend und exkludierend wirken. Die Kommunikation mit Bil-dern ist aufgrund ihres hohen Grades an Unschärfe dagegen hauptsächlich integrativ, gerade weil sie nur unscharfe Sinnfestlegungen vornimmt. Auf-grund dieser Unschärfe ist es in der visuellen Kommunikation auch deutlich einfacher Grenzen zu überwinden, die sprachlich nicht oder nur äußerst langwierig zu überwinden wären (Hofmann 2005, 15ff.). Dies lässt die Hypothese zu, dass die visuellen Unterhaltungsmedien ein (po-litisch) viel heterogeneres Publikum ansprechen als schriftliche, da die Ak-zeptanz des Kommunizierten – m. a. W. die Wahrscheinlichkeit gelingender

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Kommunikation – durch die Unschärfe der Bilder viel größer ist als bei sprachlicher oder schriftlicher Kommunikation. Visuelle Unterhaltungsmedien bieten also für die entertainisierte Konstruk-tion von Politik und Gesellschaft Vor- und Nachteile: Der Vorteil ist die In-klusion großer Teile der Gesellschaft was Verständnis und auch Inhalte an-geht. Letzteres ist gleichzeitig als Nachteil zu betrachten. Das Eindeutige der sprachlichen Kommunikation geht völlig verloren und damit auch ihr ein-deutiger (politischer) Gehalt. Neben der sprachlichen Identifikation gibt es noch eine visuelle, wie man an Lacans Spiegelmetapher sehen kann (vgl. Hofmann 2005, 15; Lacan 1949). Die im Vergleich zur sprachlichen Identitätsbildung, die diachron verläuft, synchrone visuelle Identitätsbildung rechnet grundsätzlich mit einer Fremd-beobachtung. Insofern ist davon auszugehen, dass diese Form der Identitäts-bildung wie sie durch visuelle Medien gefördert wird, Aspekte der Perspek-tivübernahme bezüglich der Bildung einer individuellen Identität fördert, was der politischen Sozialistation in einer demokratischen Gesellschaft si-cherlich zuträglich ist (vgl. Berger/Luckmann 1993). Ein dritter Punkt ist die heute massenmediale Verbreitung der Bilder die völ-lig unterschiedene Verständigungsverhältnisse mit sich bringt. Virilio spricht von einer „permanenten telepräsenten Welt“ in der völlig mediatisierten Ge-sellschaft. Diese planetare Optik macht alles jederzeit für jeden sichtbar. Mit Baudrillard lässt sich feststellen, dass in unserer Welt alles gesehen werden muss, damit es existiert, das Reale muss Bild werden (Baudrillard 2002). Damit sind visuelle Unterhaltungsmedien potentiell sehr manipulative Me-dien: Was sie nicht zeigen, existiert nicht. Dies bestätigt eine Pilotstudie, die feststellt, dass Computerspiele das Bestehende kritiklos wiedergeben: Alter-natives kommt nicht zu Wort/ins Bild (Bevc 2006).

Konsequenzen

Durch diese Setzung des Analyserasters, das die spezifischen Eigenheiten des Mediums Computerspiel für die Analyse, die Eigenheiten der visuellen Kommunikation, die spezifischen Besonderheiten der Genres sowie Fragen der Rolle der Interaktivität etc. und damit der sozialen Interaktion (zu-mindest in Multiuserspielen) berücksichtigt, soll die Konstruktion von Poli-tik und Gesellschaft durch Computerspiele dechiffrierbar und der wissen-schaftlichen interdisziplinären Analyse zugänglich gemacht werden.

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Dabei muss klar sein, dass die intensive Beschäftigung mit dem Gegenstand selbst wie auch die mit den Nutzern dieses Mediums zentral ist, um Fragen der Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen beant-worten zu können und dementsprechend auf diese Antworten reagieren zu können. Wie oben schon angemerkt, eröffnet dieses neue Medium potentiell spannende Möglichkeiten bezüglich der politischen Bildung, da es den Wahrnehmungsstrukturen der heute heranwachsenden Generation entspricht und gleichzeitig sowieso in deren Alltag integriert ist. Bevor aber diese Po-tentiale von Computerspielen beispielsweise für die politische Bildung ge-nutzt werden können, gilt es, dieses „neue“ Medium, das dieses Jahr seinen 36.(!) Geburtstag feiern kann, zu verstehen und geeignete Methoden und Begriffe für seine Analyse zu entwickeln.

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Abbildungen

Abb. 1: Übersicht des Typologie Modells (Aarseth/Elverdam 2007, 21).

Statt eines Vorwortes

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Abb. 2: Die verschiedenen Dimensionen der Metakatekorien verbessern den Ver-gleich von Spielen (Aarseth/Elverdam 2007, 19).

I. Theoretisch-methodische Reflexionen

Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computerspielen

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Konstruktion von Politik und Gesellschaft in Computer-spielen?

Tobias Bevc

Zusammenfassung

Hier wird zunächst den Fragen nachgegangen, warum Computerspiele at-traktiv sind, wie sie eigentlich in dem Streit zwischen Narratologen und Lu-dologen zu positionieren sind und welche Konsequenzen/Möglichkeiten fol-gen, wenn der Schwerpunkt eines Spiels mehr auf „Game“ oder „Play“ liegt. Die These lautet, dass die Tendenz zu „Play“ in einem Spiel mehr Möglich-keiten für ein „inhaltliches Selbstwirksamkeitserleben“ erlaubt und damit fürdie politische Bildung von Interesse ist. Die anschließenden Beispiele zeigen die politischen Inhalte von erfolgreichen Computerspielen und deren verhaftet sein im Game sowie die politischen Inhalte von zwei bekannten „Serious Games“. Das Beispiel der Serious Games zeigt aber auch, dass selbst „Game“ das problematisieren politischen Inhalts ermöglicht, wenn man es denn möchte.

I Einleitung

Computerspiele gelangen fast nur dann in das öffentliche Bewusstsein und auf die Tagesordnung der Politik und Öffentlichkeit, nachdem tragische Ereignisse wie beispielsweise der Erfurter Amoklauf stattgefunden haben. Obwohl sie ansonsten kaum wahrgenommen werden, verbringen viele der in der Mediengesellschaft heranwachsenden Jugendlichen große Teile ihrer Freizeit mit Computerspielen. Computerspiele schließen in der Nutzungs-häufigkeit mit dem Fernsehen gleich, wobei man hier nach Geschlecht und Bildungsgrad differenzieren muss. Laut der Jugend, Information, (Multi-)Media 2006 (JIM)-Studie sehen Kin-der und Jugendliche im Alter von 12-19 Jahren täglich ca. 135 Minuten fern (nach Selbsteinschätzung). Laut GFK-Konsumforschung ist es eine halbe Stunde weniger (JIM 2006, 23). Die tägliche Computernutzung liegt bei ca. 134 Minuten, wobei Jungen deutlich länger vor dem Computer sitzen (147 Minuten) als Mädchen (120 Minuten) (JIM 2006, 32). Weiterhin lässt sich aus der JIM Studie 2006 herauslesen, dass nur 16 % der Mädchen aber 56 % der Jungen täglich/mehrmals die Woche Computer spielen.

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Abb. 1: Nutzungsfrequenz von Computerspielen 2006 (aus: JIM 2006, 36).

Anhand dieser Zahlen kann man sehr gut erkennen, dass das „neue“ Medium der Computerspiele ein vorrangig männliches Medium ist, das insbesondere von Haupt- und Realschülern benutzt wird und mit zunehmendem Alter an Attraktivität verliert. Doch auch die Nutzungsfrequenz von Computerspielen am Gymnasium beträgt bei den Jungen ca. 50 % täglich/mehrmals pro Wo-che, wenn man aus den Zahlen fürs Gymnasium die Mädchen herausrechnet. Darüber hinaus muss man beachten, dass diese Studie das Spielen im Inter-net als gesonderte Aktivität verzeichnet, nämlich als Online-Tätigkeit. Hier zeigen die Zahlen, dass 25% der Jungen täglich/mehrmals die Woche im Internet spielen (JIM 2006, 39). Diese Zahlen belegen deutlich, dass große Teile der durch die Medien statt-findenden politischen Sozialisation der Jugendlichen und jungen Erwachse-nen von Computerspielen mitbestimmt wird (zur Sozialisation der Jugendli-chen durch Medien vgl. Kuhn 2000). In Fragen ihres Beitrags zur Konstruktion von Politik und Gesellschaft und zur politischen Identitätsbil-dung sind Computerspiele im Gegensatz zu TV und Film noch unbekanntes Terrain (für Film und/oder Fernsehen vgl. Bevc 2005; Dörner 1999, 2000, 2001; Hickethier 1991; Hofmann 1999a, 1999b, 2005; Höpel 2005; Jurga 1995; Kellner 1995; Martenstein 1996; Medien Praktisch 4/91; Schneider 1995; Shaheen 2001). Insofern stellt sich die Frage, ob und in welcher Form die Konstruktionen des Politischen in Computerspielen die politischen Vor-

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stellungen der heute Heranwachsenden prägen. Wie wird Politik und Gesell-schaft in modernen Computerspielen dargestellt? Beeinflussen sie unser Werteverständnis, unsere Vorstellung von Demokratie, Pluralität, Umgang mit dem Anderen/Fremden und Gewaltfreiheit? Bevor diese Fragen anhand von Fallbeispielen diskutiert werden, sollen je-doch noch einige allgemeine Anmerkungen zum Thema Computerspiele vorausgeschickt werden.

II Vier allgemeine Anmerkungen

1 Computerspiele?

Die erste Anmerkung betrifft den Begriff „Computerspiele“. Eigentlich müsste es heißen Bildschirmspiele oder digitale Spiele. Denn der Begriff Computerspiele lässt die Spielekonsolen wie Playstation, XBox, Wii, PSP etc. , wie auch alle anderen Formen des digitalen Spiels außer acht, die aber immer auch gemeint sind, wenn hier von Computerspielen die Rede ist (vgl. Wesener 2004, 13; Kerr 2006, 3f.).

2 Narration oder „Ludologie“?

Die zweite Anmerkung betrifft das Problem des wissenschaftlichen Um-gangs mit Computerspielen: Die Frage nämlich, ob ein Computerspiel als eine Narration zu begreifen ist und daher den gleichen Maßstäben der Ana-lyse wie sie unterliegt? Oder muss man Computerspiele, wie die „Ludolo-gen“ es tun, als etwas Eigenständiges betrachten, also nicht in in erster Linie als Text bzw. Narration. Die Ludologen sind der Ansicht, dass Computer-spiele vor allem aus drei Aspekten bestehen: 1. Regeln, 2. einer Spielwelt, die wiederum aus einem materiellen und einem semiotischen System be-steht, und 3. aus dem Spielen des Spiels selbst, d. h. aus dem Anwenden der Regeln auf die Spielwelt (Aarseth 2004, 47f.). Darüber hinaus unterscheiden sich Computerspiele durch zwei Merkmale von Narrationen: a) ihre Zeitlichkeit, d. h. die Kausalität der Ereignisse und b) die Bedeutung des Nutzers. Die dominante Form der Zeitlichkeit ist näm-lich die zwischen Nutzer und Ereignissen im Spiel und nicht die zwischen der Zeit der Geschichte und der des Diskurses. Das macht deutlich, dass der Spieler im Vergleich zu einem Leser konfi-gurativ und dynamisch ist, anstatt interpretativ und statisch (Eskelinen 2004, 37). Das Konfigurative und Dynamische ist jedoch mehr eine potentielle Ei-

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genschaft von Computerspielen, als dass sie schon verwirklicht wäre (vgl. unten Play und Game). Die beiden Positionen zwischen Narratologen (z. B. Atkins, Murray) und Ludologen (Aarseth, Juul, Eskelinen) scheinen unversöhnbar, wenn man sich folgende Beispiele ansieht: Murray interpretiert in ihrem Buch „Hamlet on the Holodeck“ das bekannte Computerspiel Tetris wie folgt:

In Tetris everything you bring to a shapely completion is swept away from you. Success means just being able to keep up with the flow. This is a perfect enactment of the overtasked lives of the Americans in the 1990s – of the constant bombardment of tasks that demand our attention and that we must somehow fit into our overcrowded schedules and clear off our tasks in order to make room for the next onslaught. (Murray 1997, 143f.).

Eskelinen, der die Position der Ludologen vertritt, widerspricht hier vehem-ent. In seinem für die ludologische Position paradigmatischen Aufsatz „The Gaming Situation“ (Game Studies, 1/2001) vertritt er die Auffassung, dass man das Spielen von Computerspielen nur durch einen strukturellen Ansatz verstehen kann. Zum einen hebt er auf die – oben schon erwähnte – Form der Zeitlichkeit ab, die in Spielen ganz anders ist als in Erzählungen:

The dominant temporal relation in (computer) games is the one between user time (the actions of the player) and event time (the happenings of the game), whereas in narratives it's between story time (the time of the events told) and discourse time (the time of the telling). Despite possible hybrids the underlying restrictions of temporality remain the same: there's no narrative without story and discourse times and no game without user and event times – everything else is optional. (Eskelinen 2001).

Die Zeit der Erzählung ist immer vergangene Zeit, die Spiel-Zeit hingegen ist immer gegenwärtige Zeit. Daher können sie keine Erzählung sein, so Es-kelinen, da sie mit dieser Zeitstruktur in keine bekannte Definition von Er-zählungen passen. Davon ausgehend interpretiert er Tetris als Beispiel für abstrakte Spiele:

The fundamental constituents of the story are usually divided into events and existents. It should already be obvious that it is possible to combine

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existents and events in ways that do not form or become stories. In ab-stract games like Tetris there are settings, objects and events but defi-nitely no characters. In addition there are events in games that change situations but do not convey or carry or communicate stories. (Eskelinen 2001).

Und anschließend, nun sich auf Murrays narratologische Interpretation von Tetris beziehend, schlußfolgert Eskelinen, dass Murray nicht das Spiel Tetris interpretiert, sondern sie interpretiert vielmehr den scheinbaren Inhalt von Tetris („its supposed content“) bzw. sie projiziert ihren bevorzugten Inhalt in das Spiel hinein. Daher lerne man bei ihr nichts über das Spiel bzw. über die Eigenschaften des Spiels, die es erst zu einem Spiel werden lassen. Damit kommt er zu der doch recht starken Schlussfolgerung:

The explanation for this interpretative violence seems to be equally hor-rid: the determination to find or forge a story at any cost, as games can't be games because if they were, they apparently couldn't be studied at all. (Eskelinen 2001).

Eskelinen schlägt in seinem Aufsatz vor, Spiele ausschließlich nach ihren spezifischen Bestandteilen zu untersuchen, also nach ihren Regeln, ihren „materiellen“ Bestandteilen (also, um bei dem Beispiel Tetris zu bleiben, die verschiedenen herunterfallenden geometrischen Formen, und die Möglich-keit, diese Formen um ihre eigene Achsen zu drehen) und der Spielsituation. Beschränkt man sich bei der Interpretation von Computerspielen tatsächlich auf abstrakte Spiele wie Tetris so ist der Ansatz der Ludologen sicherlich verständlich und nachvollziehbar und es erscheint einem die Interpretation von Murray doch reichlich überzogen. Murray und andere Narratologen beachten zu wenig die eigenständige Di-mension von Computerspielen, die von den Ludologen zu Recht hervorge-hoben wird. Die Ludologen andererseits versteifen sich zu sehr darauf, dass Computerspiele ausschließlich durch nicht-narrative Elemente zu analysie-ren und zu erklären sind. Der tatsächlich angemessene Weg zur Analyse und Interpretation eines Computerspiels liegt – je nach Spiel und Genre – ir-gendwo zwischen diesen beiden Positionen. Die meisten Computerspiele sind auch Erzählungen, aber darüber hinaus beinhalten sie starke eigene Elemente, die sie von anderen Medien unterscheiden. Die Erzählung in ei-nem Computerspiel ist einerseits der grobe Orientierungsrahmen, in dem die

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Handlungen der Spieler eingebettet sind. Diese Erzählungen sind mal mehr, mal weniger detailliert, und sie werden je nach Spiel mehr oder weniger vom Spieler beeinflusst. Fast alle Spiele haben ein solches narratives Element, wie oberflächlich und sinnfrei es einem manchmal auch erscheinen mag. So lautet z. B. die Hintergrundgeschichte für Quake4 wie folgt:

In der Mitte des 21. Jahrhunderts überfielen die Strogg, eine barbarische Rasse, die Erde. Zunächst glaubte man, die massive Invasion hätte zum Ziel, den Planeten seiner natürlichen Ressourcen zu berauben, doch die Menschen fanden schnell heraus, dass es den Strogg nur um die Gefal-lenen ging. Deren Glieder werden mit Metall und Maschinenteilen ver-bunden, um die monströsen Strogg zu erschaffen. [...]. Sie sind Matthew Kane, ein Mitglied der Elitegruppe „Rhino Squad“ und Teil der massi-ven Invasionsmacht. Ihre schlimmsten Alpträume werden wahr, als Sie entdecken, dass sie die Strogg nur besiegen können, wenn Sie selber ei-ner der ihren werden ...“ (Activison 2005, 3).

Andererseits ist die Grundidee von Tolkiens Herr der Ringe nicht viel ausge-feilter: Gut gegen Böse, das Böse will das Gute vernichten. Full Spectrum Warrior: Ten Hammers, ein weiteres Computerspiel, gibt die Hintergrund-geschichte für die im Spiel folgenden Handlungen, die eine Fortführung der Hintergrundgeschichte darstellen, im Einführungsvideo zum Besten:

Abb. 2: Die Metaerzählung, in der der Spieler als Soldat in Full

Spectrum Warrior agiert.

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Die Frage, ob ein Computerspiel eine Erzählung beinhaltet, ist aber sowieso falsch gestellt. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Computerspiele einen mehr oder weniger offensichtlichen Realitätsbezug haben und dies-bezüglich auch eine Erzählung den Spieler in die Handlung einbettet (im Falle von Quake4 wird die Erde von monströsen Barbaren überfallen und Marines sollen diesen Barbaren den Garaus machen, im Fall von Full Spec-trum Warrior sind es muslimische Terroristen, die von Marines bekämpft, d. h. getötet werden sollen) muss die Frage lauten: Wie anschlussfähig ist die in den Computerspielen vorhandene Erzählung für den Spieler? Unter „anschlussfähig“ ist gemeint, dass das Spiel Elemente vermittelt, die im tatsächlichen Leben Anwendung finden können, bzw. die realen Ge-schehnisse in ein Interpretationsverhältnis zu denen im Spiel stellen lässt. Diese Anschlussfähigkeit kann ideell oder materiell sein. Uns interessiert hier nur das Ideelle. Also unser Werteverständnis, unsere Vorstellung von Demokratie, Pluralität, Umgang mit dem Anderen/Fremden und Gewaltfrei-heit.3 Darüber hinaus werden in vielen Spielen transmediale Elemente verwendet, die einen eindeutigen Realitätsbezug herstellen. Abgesehen von der Erzäh-lung sind hier also Elemente aus der realen Welt durch die verschiedensten Repräsentationsmedien (Graphik, Text und Film) und Formen der Repräsen-tation wie (TV (Nachrichten), Kino und Sport) kombiniert die beständig dem Spieler suggerieren, dass sein Spielen in Bezug zu dem Geschehen in der realen Welt steht (vgl. Dovey/Kennedy 2006, 84-103; vgl. Abb. 7, 10). Die Diskussion zwischen Narratologen und Ludologen ist deswegen so interessant, weil diese zwei extremen Positionen grundlegend richtige Ge-danken bezüglich der Analyse eines Computerspiels bieten. Diese müssen jedoch erst in ein richtiges Verhältnis, welches je nach Spiel unterschiedlich sein kann/muss, zueinander gebracht werden. Dann sind beide in der Lage die notwendigen Elemente einer dem Medium Computerspiele gerecht wer-denden Analysemethodik bereitzustellen.

3 Materiell würde bedeuten, dass die Spieler im Spiel Leute verprügeln und dann auf die

Straße gehen und dies dort auch tun. Eine zumindest fragwürdige Annahme, die hier nicht behandelt wird (vgl. zur Wirkung von Computerspielen auf die Spieler: Anderson/ Bush-man 2001; Anderson/Bartholow 2002; Funk et al. 2004, Gentil et al. 2004).

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3 Warum spielt man Computerspiele?

Die dritte Anmerkung beschäftigt sich mit der Frage, warum so viele Men-schen Computerspiele spielen? Christoph Klimmt nennt drei Mechanismen des Unterhaltungserlebens beim Computerspielen, die zumindest einige Aspekte dieser Frage beantworten können:

1. Selbstwirksamkeitserleben

2. Spannung und Lösung

3. Simulierte Lebenserfahrung

zu 1: Das Selbstwirksamkeitserleben bedeutet, dass der Spieler auf seine Eingaben von dem Bildschirmspiel eine Reaktion erhält. Man drückt also auf einen Knopf am Eingabegerät und der Avatar führt eine Handlung aus, springt, rennt oder schießt. zu 2: Spannung und Lösung werden im digitalen Spiel aufgrund der Interak-tivität viel intensiver erfahren als bei nicht-interaktiven Medien wie Büchern oder Filmen, da der Spieler in der Spannung und Lösung der jeweiligen Si-tuation selbst involviert ist, d. h. selbst einem Handlungsdruck ausgesetzt ist und nicht nur Zeuge dieses Drucks ist. Die Spannung löst sich, wenn das Ergebnis des Handelns vorliegt. Wenn allerdings das Ergebnis zu häufig ein negatives ist, kann Frustration und Abwendung vom Spiel die Folge sein. Überwiegt das Positive, so ist die Unterhaltung gut, der Spieler bleibt moti-viert. Dieses Ergebnis kann nur dann erreicht werden, wenn der Ausgang der Handlung vorher auch ungewiss war (Klimmt 2005, 70-95; vgl. Abb. 3). zu 3: Zur simulierten Lebenserfahrung, führt Klimmt aus, dass die über-geordneten narrativen Strukturen der digitalen Spiele „den Rahmen für eine besondere Form von Rollenspiel“ bereitstellen. Dabei dokumentieren sie die Handlungsrolle, die der Spieler übernehmen soll. Im Gegensatz zu anderen Unterhaltungsmedien lassen Computerspiele ihre Nutzer aber besonders in-tensiv die angebotene Handlungsrolle erleben, weil neben den Freiheiten der Rolle auch die Zwänge, die mit ihr einhergehen, erlebbar werden (ebd., 100f.) Die Attraktivität des Angebots der Handlungsrolle bei Bildschirmspielen ist deshalb so groß, weil sie interaktiv ist, und einen gewissen Grad an Komple-

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xität besitzt, sowie letztendlich, dass das Geschehen mit einer hohen audio-visuellen Realitätstreue präsentiert wird. Das Selbstwirksamkeitserlebnis fördert die Erfahrung des Spiels als Lebens-weltsimulator. Das durch Spannung und Lösung episodenhafte Rezeptions-erleben unterstützt ebenfalls den Mechanismus der simulierten Lebens-erfahrung, da die erfolgreich oder erfolglos ausgefüllte Rolle die Identifi-kation mit der Spielfigur maßgeblich beeinflusst.

Abb. 3: Spannung und Lösung als Mechanismus des Unterhaltungserlebens (aus: Klimmt 2006, 90).

Als Handlungsfolgen werden u. a. Kompetenzerwerb bezüglich weiteren Computerspielens angeführt, wie auch der Erwerb von Kompetenzen für das reale Leben, wie beispielsweise Wissen über Volkswirtschaft durch Wirt-schaftssimulationen oder aber das Wissen über Politik durch die vielen Spie-le, in denen Politik eine Rolle spielt (ebd., 111). Der mögliche Kompe-tenzerwerb durch das Spielen von Computerspielen ist vielfältig, wie aus der Studie „Kompetenzförderliche Potenziale populärer Computerspiele“ her-vorgeht (vgl. Abb. 4). Dabei muss klar sein, dass die geförderten Kom-petenzen je nach Genre unterschiedliche sind. Während First-Person-Shooter maßgeblich die sensomotorischen Fähigkeiten schulen, fördern Simula-

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tionen, Aufbauspiele und Strategiespiele wie beispielsweise die Civilization- oder die Age of Empire-Reihe Fähigkeiten, die der kognitiven Kompetenz zuzuordnen sind. Es ist zu vermuten, dass die in der Grafik unter soziale Kompetenzen und persönlichkeitsbezogene Kompetenzen angeführten Fä-higkeiten vor allem in Mehrspieler-Spielen (vorrangig in Netzwerk-, respek-tive Onlinespielen) zu erwerben sind (vgl. Abb.4; vgl. Gebel/Gurt/Wagner 2005, 263-282, hier vor allem: 266f.). Aufgrund der bisher gemachten Beobachtungen soll hier die These aufges-tellt werden, dass es eine gesellschaftlich-politische Aussage in nahezu je-dem Computerspiel gibt. Es gilt also herauszuarbeiten, wie diese im Allgemeinen aussieht und ob es eine Tendenz hinsichtlich des Gehalts dieser Aussage gibt.

Kognitive Kompetenz Medienkompetenz – Wahrnehmung – Medienkunde – Aufmerksamkeit – selbstbestimmter Umgang – Konzentration – aktive Kommunikation – Gedächtnis – Mediengestaltung – Abstraktion – Schlussfolgern Persönlichkeitsbezogene Kompetenz – Strukturverständnis – Bedeutungsverständnis – Selbstbeobachtung – Handlungsplanung – Selbstkritik/-reflexion – Lösen neuer Aufgaben – Identitätswahrung – Problemlösen – emotionale Selbstkontrolle

Soziale Kompetenz

Sensomotorik – Persepktivenübernahme – Empathiefähigkeit – Hand Auge Koordination – Ambiguitätstoleranz – Reaktionsgeschwindigkeit – Interaktionsfähigkeit – Kommunikationsfähigkeit – Kooperationsfähigkeit – Moralische Urteilskompetenz

Abb. 4: Potenziell durch Computerspiele geförderte Kompetenz- und Fähigkeitsbereiche (Gebel/Gurt/Wagner 2005, 262).

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4 Game oder Play

Die vierte Anmerkung betrifft den Charakter des Bildschirmspiels selbst: Die Frage, ob ein Spiel mehr Richtung Game oder Play tendiert. Play meint das freie Spiel, das sich nur wenig oder kaum an die Regeln und an die Er-zählung des Spiels hält. Game hingegen bezeichnet das regelkonforme Spiel, das dazu dient, das Ziel, das von den Spieldesignern ausgegeben wurde, zu erreichen, also der übergeordneten Narration zu folgen. Dieser Charakter ist bei der Bewertung von Bildschirmspielen hinsichtlich der Konstruktion von Politik und Gesellschaft von großer Bedeutung, wie im folgenden deutlich wird. Die existierenden Spiele – mit ganz wenigen Ausnahmen wie z. B. die Grand Theft Auto-Reihe – verkörpern alle das Prinzip des Game. Die Wege, die in den Spielen i. d. R. zum Erfolg führen, verlaufen ganz klar innerhalb enger Korridore und das genreübergreifend. Es muss hier jedoch betont wer-den, dass diese Unterscheidung zwischen Game und Play zwar allgemein in der Forschung über Computerspiele anerkannt ist und Verwendung findet (manchmal auch unter den Begriffen „Ludus“ und „Paidia“), jedoch die Ein-stufung der Computerspiele, ob sie nun dem Game oder Play vhaftet sind, meist deutlich unterschiedlich zu der hier vorgenommen ausfällt. Zunächst soll kurz die nützliche Einteilung von Spielen in vier Hauptrubri-ken von Roger Callois (1960) vorgestellt werden. Diese Einteilung unter-scheidet, „ob innerhalb des Spiels das Moment des Wettstreits, des Zufalls, der Maskierung oder des Rausches vorherrscht“. Callois bezeichnet diese vier Rubriken als Agôn, Alea, Mimicry und Ilinx:

man spielt Fußball, Billard oder Schach (agôn), man spielt Roulett oder Lotterie (alea), man spielt Seeräuber, man spielt Nero oder Hamlet (mi-micry) und man spielt, um durch eine rapide Rotations- oder Fallbewe-gung in sich selbst einen organischen Zustand der Verwirrung und des Außersichseins hervorzurufen (ilinx). (Callois 1960, 19, 21-36).

Diese vier Rubriken sind als Idealtypen zu verstehen und kommen nicht oder nur selten in Reinform vor (auch bei Fußball ist alea im Spiel). Diese Ideal-typen muss man sich auf einem bipolaren Kontinuum angeordnet vorstellen. Die beiden Pole werden durch Ludus (Game) und Paidia (Play) gekenn-zeichnet. Auf der Seite der Paidia „regiert fast ausschließlich ein gemeinsa-mes Prinzip des Vergnügens, der freien Improvisation und der unbekümmer-

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ten Lebensfreude, wodurch eine gewisse unbekümmerte Phantasie [...] zum Ausdruck kommt.“ Auf der Seite des Ludus hingegen ist diese Freiheit und Unbekümmertheit der Paidia gebändigt bzw. absorbiert. Hier ist die anarchi-sche Natur „gebieterischen und absichtlich hemmenden Konventionen“ un-terworfen, „indem man [ihr] fortwährend schwierigere Hindernisse einbaut, um so den Weg zu dem ersehnten Resultat möglichst unbequem zu gestalten. Dieses Resultat ist ohne jeden Nutzen.“ (Callois 1960, 19f.).

Ludus – Game

agôn

(Wettstreit)

alea

(Zufall)

mimicry

(Maskierung)

ilinx

(Rausch)

Paidia – Play

Abb. 5: Die vier Rubriken des Spiels in ihrer Anordnung auf einem bipolaren Kontinuum zwischen Ludus und Paidia (nach Callois 1960, 19f.).

Man kann also konstatieren, dass die Unterteilung in Game und Play auf alle verschiedenen „Rubriken“ anzuwenden ist. Doch zurück zu der unter-schiedlichen Bewertung, ob ein Spiel eher dem Game oder Play zuzuordnen ist: Dovey/Kennedy (2006) beispielsweise ordnen unter Game Spiele wie Schach und Nullsummenspiele ein, unter Play verstehen sie „open-ended play, spontaneus, improvised play, often thought of as true creative play – active, tumultous, exuberant. Here we might apply the term of simulation games like Civilization, Age of Empires or the Sims, where there is no clear winning or losing state, just a dynamic sandbox to play in endlessly.“ (Do-vey/Kennedy 2006, 25). Gerade aber Spiele wie die hier genannten sind ei-gentlich exemplarische Beispiele für Ludus bzw. Game, da sie eben keine der Bedingungen erfüllen, die Callois unter Paidia aufführt. Sie lassen kein freies, selbstbestimmtes Spiel zu. Dazu mehr bei den Fallbeispielen. Hier soll folgende These aufgestellt werden: Für die Zwecke der (po-litischen) Bildung – aber auch des „inhaltlichen Selbstwirksamkeitserlebens“ (vgl. unten) ist ein Computerspiel besser geeignet, das zumindest in einem

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bestimmten Maße Elemente von Play zulässt, will man die Spieler zur kriti-schen Urteilsbildung anleiten. Diese These geht auf die Überlegung zurück, dass es einen Unterschied macht, ob man etwas aus Gehorsam gegenüber den Regeln und/oder der Narration macht oder aber aus eigener Einsicht. Durch das Konzept des Play wird dem Spieler erlaubt, autonom zu handeln. Nur so lassen sich nachhaltig zentrale demokratische Werte wie Pluralität, Perspektivübernahme, Respekt vor dem Anderen usw. erzielen. Das Spielen des regelkonformen Spiels kann von den Regelherstellern in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Hinzu kommt, dass die generelle Narration, in die die Spielhandlung eingebettet ist, mit den Regeln konform geht bzw. von ihnen gestützt wird, so z. B. in Age of Empires III. Die über-geordnete Narration erzählt von der Eroberung des amerikanischen Konti-nents. Die einzelnen Missionen der Kampagne sind immer nur durch militä-rische Siege über den Gegner zu erfüllen. Die Regeln, die nur den Kampf vorsehen, um das Missionsziel zu erreichen und die Erzählung, die von den hintertriebenen und feindseligen Gegnern berichtet, gehen Hand in Hand. Nicht nur, dass aus der Narration hervorgeht, dass man den Gegner besiegen muss, das Handeln wird auch moralisch gerechtfertigt. Die Regeln und die Narration stützen sich also gegenseitig. Man hat keine Möglichkeit das Spiel und das Spielziel selbst zu definieren und mit dem Gegner beispielsweise friedlich zu koexistieren. Das nichtregelkonforme Spiel hingegen – so es denn möglich ist –findet zwar unter derselben Narration statt wie das regelkonforme Spiel, kümmert sich aber nicht um die Vorgaben, die man befolgen muss, um zu gewinnen bzw. um Fortschritte zu machen, d. h. die vorgegebene Narration kann teil-weise verlassen bzw. umgeschrieben werden. Mit anderen Worten: Die Be-deutung der Narration ist irgendwo zwischen manipulierbar und völlig uner-heblich anzusiedeln. Leider ist diese Weise des Spiels in den wenigsten Spielen möglich und wenn es möglich ist, dann auch nur unvollkommen. Das Konzept des Play – wie festgestellt – erlaubt dem Spieler, autonom zu handeln und seine eigene Urteilsfähigkeit zu verwenden und zu schärfen. Somit ist es auch möglich, zentrale demokratische Werte wie Pluralität, Perspektivübernahme, Respekt vor dem Anderen durch dieses freie Spiel „Play“ zu erzielen. Zentral für die Bildung dieser demokratischen Werte

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bzw. der kritischen Urteilsbildung ist, dass sie im Spiel durch das Selbst-wirksamkeitserleben unterstützt und gestärkt werden. Dieses Selbstwirksamkeitserleben ist aber nur dann glaubhaft, wenn ein Spiel das Konzept des Play und auch andere Handlungen des Spielers als die, die im Sinne der Narration sind, zulässt. Anstatt also um das einfache Konzept des Selbstwirksamkeitserlebens geht es hier vor allem um ein er-weitertes Selbstwirksamkeitserleben. Der Spieler muss merken, dass der Verlauf des Spieles wie auch der Narration abhängig ist von seinen Ent-scheidungen, dass also alles immer auch ganz anders sein könnte. Ein sol-ches Spiel müsste also ein „inhaltliches“ Selbstwirksamkeitserlebnis ermög-lichen. Nur so kann der Spieler die Erfahrung machen, dass er den Lauf der Dinge beeinflussen kann, dass sein Handeln ein Unterschied macht. Dies wäre eine normative Zielsetzung eines Computerspiels, das für die poli-tische Bildung sinnvoll einsetzbar wäre, ohne ein solches Spiel inhaltlich zu überfrachten. Gleichzeitig würde so das eigentliche Ziel der politischen Bil-dung, die selbständige kritische Urteilsbildung, ermöglicht und gestärkt wer-den.

III Fallbeispiele4

Im folgenden sollen einige Spiele vorgestellt und im Hinblick auf die Kons-truktion von Politik und Gesellschaft betrachtet werden.

1 Die Sims 2

In diesem Spiel muss man als Spieler eine Person oder eine Familie in ihrem Leben begleiten, die Weichen für die Karriere stellen und all ihre Bedürfnis-se befriedigen. Man kann zwischen sechs Laufbahnen wählen: Aufwachsen (jedes Kind hat diese Laufbahn), Romantik, Familie, Wissen, Ruf, Ruhm. Man kann zu Beginn des Spiels den Charakter und die Laufbahn seines Sims bestimmen. Unterschiede in Rasse, sozialer Herkunft oder Geschlecht exis-tieren in diesem Spiel nur als phänotypische Merkmale, ohne Auswirkungen auf das Leben in Die Sims 2. Man kann zwar auswählen, ob man schwarz oder weiß sein möchte, eine Frau oder ein Mann, jedoch ist dies für alles weitere unerheblich. Dies wäre zwar prinzipiell auch für die Realität wün-schenswert, doch in einer „Simulation“ eines typisch amerikanischen bzw.

4 Diese Analysen entsprechen noch nicht den in dem Aufsatz Statt eines Vorwortes in die-

sem Band gemachten Feststellungen, wie eine Computerspielanlyse auszusehen hat.

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europäischen Mittelklassevororts ist dies hochgradig ideologisch. Politik und Gesellschaft werden hier so konstruiert, dass man als Spieler nicht einfach eine nonkonforme Verhaltensweise seinen Avataren befehligen kann, beispielsweise sich nur mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen, ohne eine Karriere anzustreben, und dabei gleichzeitig zufrieden zu sein. Das Problem, das so ein Verhalten in diesem Spiel unauflösbar erzeugen würde, wird nach folgender Erklärung aus der Anleitung deutlich: „In einer saube-ren Umgebung und mit vielen hübschen Gegenständen (je teurer desto bes-ser) um sie herum sind deine Sims glücklicher und gesünder.“ (EA Games 2005, 22) Und glückliche und gesunde Sims sind das Ziel des Spiels. Teure Gegenstände sind nur erhältlich, wenn man viel Geld hat – ein glückliches Leben ist also von der erfolgreichen beruflichen Karriere abhängig. Das rela-tiviert auch die Möglichkeit unter den sechs Karrieren zu wählen, da ja alle zu viel Geld führen müssen, will man einen zufriedenen Sim. Es wird also das Bild einer homogenen und materialistischen Konsum-gesellschaft gezeichnet, in der man nicht „ohne Angst verschieden sein kann“ (Adorno 1997, 115f.). Dies jedoch wäre die Voraussetzung für die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen: Dies ist kaum möglich in einem Spiel, in dem Unterschiede nur äußerlich sind. Das Spiel lässt im Endeffekt nur eine Umsetzung des Lebens erfolgreicher Menschen zu. Und Erfolg wird hier immer nach Schema F erreicht, wie es auch in zahlreichen TV Serien vorgelebt wird.

2 Civilization

In Civilization steuert man als Spieler eine Kultur von ihren Anfängen bis zu einem der sechs möglichen Siegbedingungen, aus denen man am Anfang wählen kann (z. B.: Eroberungssieg oder diplomatischer Sieg). Alle Siege zielen darauf ab, die Dominanz auf der Welt zu erreichen. Der Weg dorthin ist egal, ist doch das Ergebnis immer das Gleiche: die Formung der Welt nach dem eigenen Bilde. Wobei, auch diese Formulierung legt nahe, dass der Spieler autonom entscheiden kann, wie die Welt auszusehen hat. Dies ist nicht der Fall. Weder der linear aufgebaute Technologie- und Entwicklungs-baum lässt eine wirklich freie Entscheidung zu, die zu einer neuartigen Ent-wicklung führte, noch das schon erwähnte Spielziel. Auch die verschiedenen Kulturen, aus denen man zu Beginn des Spiels wäh-len darf, haben pro forma unterschiedliche Eigenschaften, die zumindest ein

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bisschen Einfluss auf den Spielverlauf haben. Auch kann man mit jeder Kul-tur gewinnen, was ja prinzipiell begrüßenswert ist. Allerdings muss man mit jeder Kultur gleich handeln und den gleichen Entwicklungspfad beschreiten. Das ist im Prinzip das Gleiche wie das schon bei den Sims Kritisierte: Phä-nomenologisch wird die Differenz anerkannt, die Differenz wirkt sich aber nicht wirklich auf den Spielverlauf aus. In der Zivilopädie (ein Lexikon, das dem Spiel eingebaut ist, und die Zivili-sationsentwicklungen/-schritte erklärt) bekommt man die Gesetzmäßigkeit der Civilization Welt erklärt. Die Positivisten unter den Computerspielern wird es freuen: Hier gibt es klare Gesetzmäßigkeiten für jede Entwicklung: So führt der Liberalismus zum Kommunismus, die Philosophie zu Nationa-lismus und Kommunismus und die Verfassung zur Demokratie und Kapital-gesellschaft. Erstaunlich in der Welt von Civilization ist, dass es keinen Kapitalismus gibt und dass der Liberalismus zum Kommunismus führt, nicht aber zum Kapita-lismus. Diese Kausalitäten sind zumindest verwirrend, wenn nicht gar schlicht falsch. Wirklich wunderlich wird es, wenn man sich die Liste der Zivilisationen ansieht und die ihnen zugeordneten Staatsformen (in Aus-wahl):

Zivilisationen (bevorzugte) Staatsformen

Das Amerikanische Reich Allgemeines Wahlrecht

Das Arabische Reich Theokratie

Das Aztektenreich Polizeistaat

Das Chinesische Reich Polizeistaat

Das Deutsche Reich Allgemeines Wahlrecht

Das Englische Reich Repräsentation

Das Griechische Reich Erbrecht

Das Persische Reich Repräsentation

Alleine diese Auswahl zeigt, dass die Spielentwickler keine Ahnung haben, was eigentlich unter Staatsform fällt und was nicht. Zudem fragt man sich, wie diese Staatsformen in ihrer Zuordnung zustande gekommen sind (Hier

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muss man wohl auf Zufall tippen und sollte keine ideologische verbrämte Zuordnung vermuten). Es scheint so, als würden in diesem Spiel alle Inhalte dem Vorbehalt unterliegen, den die Spielentwickler bezüglich der Religion formuliert haben:

Wir wissen, dass es über Religionen unterschiedliche Meinungen gibt. Immerhin war die Religion immer wieder Auslöser blutiger Kriege. Wir möchten niemandem zu nahe treten. [...] Wir haben uns bei der Wahl der Religionen für die sieben bekanntesten Religionen entschieden. [...] Wir wollen diese Religionen weder werten, noch den Glauben anderer Menschen respektlos behandeln. Schließlich sind wir Spiele-Entwickler, keine Theologen. (Take2 Interactive 2005, 69).5

Einen solchen „Disclaimer“ hätten die Entwickler von Civilization IV besser auch für alle anderen Inhalte formuliert. Die Staatsformen haben wenig Auswirkungen auf das Spiel. Gewisse Ent-wicklungen gehen schneller voran bzw. sind effektiver. Auffällig ist nur, dass die Reiche, die dem Westen zuzuordnen sind, generell (mit der Aus-nahme Spaniens) mit positiv konnotierten „Staatsformen“ besetzt sind. Viel wichtiger aber ist: Was muss man tun, um in diesem Spiel Erfolg zu haben? Man muss von Anfang an Gebiete kolonialisieren und Feinde dabei aus dem Weg räumen. Entweder militärisch, wirtschaftlich oder kulturell. Hier kommt einem Marx' Beschreibung der Bourgeoisie in den Sinn und wie sie sich die Welt Untertan gemacht hat (vgl. Stephenson 1999):

Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktions-instrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ih-rer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremden-haß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zu-grunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde. (MEW 4, 466).

5 Wie man an diesen Formulierungen erkennen kann, sind es auch keine Germanisten! Oder

wollen Theologen andere Religionen respektlos behandeln?

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Und nach genau diesem Bilde muss auch der Spieler in Civilization vorge-hen, möchte er Erfolg haben. Sehen wir uns ein weiteres Detail des Spiels an: Um die Menschen, die in den Städten wohnen, bei Laune zu halten, ist es notwendig, neben einem po-lizeilichen Zwangsapparat in Form von in den Städten stationiertem Militär, Entertainer und Luxusgüter bereit zu halten. Hier kommt das schöne Kon-zept von Zuckerbrot und Peitsche zum Tragen, das die Menschen vom Klas-senkampf oder sozialen Unruhen abhalten soll. Wenn das Volk unzufrieden wird, empfiehlt es sich, schnell eine Staatsreligion einzuführen... Die Konstruktion von Politik und Gesellschaft, die hier stattfindet, ist die, dass es keine Alternative zu dem bisherigen Entwicklungspfad der west-lichen Gesellschaften gibt. Bei der Betrachtung der Funktionsweise dieses Spiels kommt einem Horkheimers Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft in den Sinn: Positivismus und Metaphysik – als Ausdruck des bürgerlichen Denkens – konvergieren ungeachtet ihrer sonstigen Gegensätze in einer ge-meinsamen Abstraktion: der Fixierung auf Realität als einer statischen und ahistorischen Gegebenheit (Horkheimer 1937, 166ff.). Auch Walter Benja-mins Kritik am Historismus, dass dieser immer nur die Geschichte der Sie-ger schreibe, trifft das Spielprinzip schön. Dagegen gilt es, die Tradition der Unterdrückten zu bewahren (Benjamin 1940). Besser kann man das Spiel-prinzip von Civilization – und was ihm fehlt – nicht beschreiben.

3 „Close Combat. First to Fight“ und „Full Spectrum Warrior“

Diese beiden Spiele sind der aktuellen Weltpolitik entlehnt. Sie widmen sich ganz offensichtlich dem Kampf gegen das „Böse“. Das Böse ist hier in bei-den Fällen, wie könnte es anders sein, der bärtige Moslem. Die Kriegsschau-plätze sind meist Städte im Nahen Osten oder in fiktiven Ländern, die aller-dings sehr den Ländern ähneln, die man aus den realen Nachrichten kennt, in denen gerade die NATO oder eine „Koalition der Willigen“ einen Krieg füh-ren. Sie weisen immer einen klaren Bezug zum Nahen Osten auf und sind leicht auf der „Achse des Bösen“ zu verorten. Diese den Kampf gegen den Terrorismus aufgreifende Spiellogik ist sehr bestechend, greift sie doch auf Bilder und Narrationen zurück, die zur Zeit regelmäßig in den Medien ver-breitet werden. Die Spiele können sich somit einer hohen Anschlussfähigkeit an die aktuelle Medienrealität in den Nachrichten sicher sein.

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Abb. 6: Bärtiger und Turban tragender Moslem, aus: Close Combat. First to Fight.

Abb. 7: Terroristenführer als Spielkartentrumpf, aus: Close Combat. First to Fight.

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Abb. 8: Klinische Präzision, aus: Full Spectrum Warrior: Ten Hammers.

Abb. 9: Der Feind!, aus: Close Combat. First to Fight.

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Abb. 10: Embedded Journalists begleiten die „humanitäre“ Mission, aus: Close Combat. First to Fight.

Abb. 11: Technisch überlegener Westen, aus: Close Combat. First to Fight.

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Die Symbolik mit den Terroristenführern auf Spielkarten ist bekannt aus dem von George W. Bush geführten Antiterrorkrieg. Die gegnerischen Sol-daten tragen Turban und Vollbart (Abb. 6 + 7). Wie diese Abbildungen deutlich machen, ist die Distanz der Spiele zu dem realen Geschehen minimal. Eine ideologische Distanz existiert hier über-haupt nicht. Die Logik der Terrorbekämpfung der Bush-Administration wird hier ungebrochen übernommen. Einzig das Feigenblatt der NATO und UNO wird noch als legitimatorische Grundlage dieser Einsätze herbeizitiert. Insofern wird in diesen Spielen mit klarem Bezug zur Realität die Dichoto-mie „Gut – Böse“ anhand der Identifikation westlicher, technisch stark über-legener Militäreinheiten (Abb. 11), die aus demokratischen und kapitalisti-schen Staaten kommen, und moslemischer Terroristen gezeichnet, die stets autoritäre und theokratische Regime im Sinn haben bzw. für diese kämpfen. Den Spielern wird aufgrund der Transmedialität der Darstellung suggeriert (Abb. 10: einer Nachrichtensendung, wie man sie von CNN u. ä. kennt), dass sie ein Bestandteil eines echten Konfliktes sind – und dabei – selbstver-ständlich – auf der Seite der „Guten“ kämpfen. Entsprechend der realen aktuellen Konfliktlage wird dem Spieler durch Mo-scheen mit ihren Minaretten und dem Ruf des Muezzins deutlich gemacht, wer der Gegner ist. Auffällig ist hierbei auch, dass die Gegner in den Cut-szenen immer brutal und rücksichtslos sind, die „Guten“ aber jede Form des Kollateralschadens zu vermeiden suchen. Die Legitimation für das eigene Handeln ist in solchen Spielen immer das gleiche: Böse Terroristen bzw. Diktatoren, die vor Völkermord, Folter etc. nicht zurückschrecken, auf der einen Seite, die die gute demokratische und friedliebende westliche Welt auf der anderen Seite, die sich immer strikt an die Genfer Konventionen und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hält, bedroht. Diese Bedrohung muss um jeden Preis bekämpft werden. Darüber hinaus ist interessant, wenn auch nicht neu, dass seit ca. dem 11. September 2001 die Kommunisten als Inkarnation des schlechthin Bösen – verkörpert durch Russen – von Arabern abgelöst wurden.6 Die Ideologie des Kommunismus ist nun durch die Religion des Islam – und dem mit ihr natür-lich verknüpften Terrorismus – als stereotypes Nationalitäten übergreifendes Feindbild ersetzt worden. Ähnliches lässt sich vom Film sagen, wobei in Hollywood die Araber noch nie gut dargestellt wurden (Shaheen 2001).

6 Mit der, die Regel bestätigenden, Ausnahme von Freedom Fighters, EA Games, 2003.

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IV Serious Games

Natürlich gibt es auch Spiele, die versuchen, spielerisch auf Dilemmata der Politik, z. B. der aktuellen Terrorbekämpfung bzw. der Armut in Entwick-lungsländern, hinzuweisen. Paradigmatisch möchte ich hier zwei Spiele he-raus greifen und zeigen, wie diese Spiele ihren Nutzern ihr Anliegen ver-ständlich zu machen suchen. Zuerst das Spiel September 12th auf Newsgaming.com, wobei die Bezeich-nung „Spiel“ besser durch „Lehrstück“ ersetzt werden müsste. Dieses „Spiel“ will zeigen, dass Gewalt die Probleme des fundamen-talistischen Terrors nicht lösen kann. Das Spiel ist ganz einfach aufgebaut: Man sieht einen Eingangsbildschirm, auf dem Zivilisten und Terroristen ab-gebildet sind (Abb. 12). Wenn man das Spiel beginnt, sieht man eine „arabi-sche Stadt“. Hauptsächlich Zivilisten sind unterwegs (Abb. 13). Nun hat man zwei Optionen: die Stadt mit Cruise Missiles zu beschießen oder nicht. Be-schießt man sie, dann werden die Zivilisten weniger und die Terroristen mehr – um genau zu sein: die Zivilisten verwandeln sich in Terroristen (Abb. 14), beschießt man sie nicht, bleibt es wie es ist. Das Spiel hat kein Ende. Hier ist eine – zugegebenermaßen sehr normative – Aussage zum Antiter-rorkrieg der Koalition der Willigen mit einfachsten Mitteln umgesetzt. Aber auch dieses Spiel läßt dem Spieler keine eigenen Möglichkeiten zu entschei-den. Immerhin geht dieses kleine Browserspiel einmal kritisch mit der gege-benen Realität um und bietet eine andere Interpretation als die zuvor analy-sierten Spiele.

Abb. 12: Phänotypen der Terroristen und Zivilisten

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Abb. 13: Ohne Beschuss: Kaum Terroristen

Abb. 14: Nach Beschuss: Deutlich mehr Terroristen

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Ein anderes Serious Game, das sehr viele Vorschusslorbeeren erhalten hat, geht mit der sehr problematischen Frage des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses um: PeaceMaker. Beim Spielen wird sofort klar, dass die Spieleentwickler die Ansicht vertreten, dass ein Frieden unter Einbezug möglichst vieler gesellschaftlicher Gruppen, d. h. ein nachhaltiger Frieden, nur möglich ist, wenn eine Zwei-Staaten-Lösung mit möglichst wenigen bis keinen Restriktionen für die Freiheit der Palästinenser angestrebt wird. Al-lerdings ist das Gameplay auch so, dass nur auf diesem Weg ein erfolgrei-cher Friedensprozess möglich ist. Der Spieler kann immer nur aus einem doch sehr begrenzten Repertoire an Handlungen auswählen (u. a. die Le-bensbedingungen der Palästinenser verbessern durch Lockerung der Aus-gangssperren, weniger strenge Kontrollen an den Grenzposten, mehr Ar-beitsvisa etc. oder vice versa verschlechtern). Das Spiel lässt seitens der Spieler keinerlei eigene Momente des Handelns zu. Mit anderen Worten: Das Spiel zeigt deutlich, dass das Erreichen eines nachhaltigen Friedens zwi-schen Israelis und Palästinensern sehr schwierig ist und durch allerlei Un-wägbarkeiten und irrationale Handlungen seitens der israelischen Siedler und der Hamas bzw. Al-Fatha. Insofern bietet dieses Spiel auch wieder nur ein Abbild der Realität, jedoch problematisiert es diese durchaus und zeigt dem Spieler deutlich die Schwierigkeiten des Friedensprozesses auf. Anhand der beiden hier vorgestellten Serious respektive Educational Games wird deutlich, dass es schwierig ist, die beengenden Grenzen des Game zu überwinden. Jedoch ist auch in dieser Beschränkung ein kritischer Umgang mit dem Bestehenden möglich und es ist machbar, Dinge zu problemati-sieren, ihre Vieldeutigkeiten darzustellen und die ubiquitären Unwägbar-keiten menschlichen Handelns zu verdeutlichen. Alleine dies ist schon ein großer Verdienst, der bei den Unterhaltungsspielen fast durchweg – wieder mit der Ausnahme von GTA San Andreas – völlig vernachlässigt wird. Dort wird stattdessen ein monistisches Bild von der Gesellschaft und ihren Hand-lungsmöglichkeiten auf Herausforderungen bzw. Entwicklungsalternativen gezeichnet. Alles ist in diesen eindeutig, Ambivalenzen existieren nicht. In-sofern besitzen diese Spiele eindeutig eine Narration. Diese ist durchweg als ideologisch zu bezeichnen. Bei den Serious Games hingegen ist die Frage, ob man sie überhaupt als Spiele einstufen soll.

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V Einige Gedanken zum Schluss

Eine der Thesen dieses Aufsatzes ist, dass in nahezu allen Computerspielen eine gesellschaftlich-politische Aussage gemacht wird und dass diese Aus-sagen in den gängigen und erfolgreichen Computerspielen durchweg eine Ideologie des Bestehenden transportieren. Das soll heißen, dass das Beste-hende – also die Welt, in der wir leben, der Status quo – in keinster Weise hinterfragt, sondern kritiklos als richtig anerkannt wird. Alternativen oder auch nur ein Hinweis, dass es nicht so sein muss, wie es ist, fehlen völlig. Diese Spiele lassen auch keinerlei Play zu. Alle Entscheidungsoptionen sind bei genauerem Hinsehen Scheinoptionen – sie unterliegen also voll und ganz dem Game und der von den Entwicklern vorgesehenen Narration. Dieses Spielprinzip gepaart mit der Tendenz das Bestehende zu bejahen, lässt das oben eingeführte „inhaltliche Selbstwirksamkeitserlebnis“, welches den Spieler als autonomen Akteur einführt, nicht zu. Aber nur, wenn die Handlungen des Spielers tatsächlich einen (inhaltlichen) Unterschied ma-chen, sind kritische Urteilsbildung und eigene Gestaltungs„macht“ möglich. Der Spieler muss merken, dass sowohl der Verlauf des Spieles wie auch der der Narration abhängig sind von seinen Entscheidungen, dass also alles im-mer auch ganz anders sein könnte. Nur so sind zentrale Elemente demokrati-schen Verhaltens, wie aktive Teilnahme an Aushandlungsprozessen und ge-sellschaftlichen Diskursen, Perspektivübernahme, Ambiguitätstoleranz, Fru-strationstoleranz etc. sinnvoll und nachhaltig als „Lernelemente“ in ein Computerspiel einzubauen. Ein Computerspiel, das diesen Maßstäben ge-nügte, würde auch eine sinnvolle Erweiterung des Medienangebots der poli-tischen Bildung darstellen. Aber auch für die kommerziellen Computerspiele wäre es wünschenswert, wenn die Entscheidungen der Spieler mehr Einfluss auf den Spielverlauf hätten. Insofern sind auch die vorgestellten Serious Games nur bedingt geeignet für die Zwecke der politischen Bildung. Auch hier unterliegen die Spieler den von den Spielentwicklern entworfenen Handlungszwängen und der Hand-lungslogik, wollen sie erfolgreich sein. Immerhin aber thematisieren diese Spiele die Welt als ambivalentes Gebilde, in dem es immer mehrere Sicht-weisen des Geschehens gibt. So lässt sich schlussendlich feststellen, dass die existierenden Computer-spiele die bestehende Welt unterkomplex darstellen und eine bestimmte Sichtweise des Geschehens als die einzige richtige und alternativlose wie-

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dergeben. Damit berauben sich diese Spiele eines großen Potentials, das sie sowohl von ihrem Unterhaltungswert als auch für die politische Bildung deutlich attraktiver werden lassen würde. Hinzu kommt, dass die Sichtweise des Gegebenen der meisten Spiele schlicht die Realität der gegebenen Welt verlängert und als richtig und alternativlos darstellt. In diesen Spielen geht es um die Ins-Recht-Setzung der Sieger, egal wie gewalttätig diese Siege er-rungen wurden. Das Töten wird als legitimes Mittel der Politik anerkannt und propagiert, Carl Schmitts Freund-Feind Dichotomie feiert hier wieder fröhliche Urständ. Auch Homer in der Ilias erzählt von mehr als nur einer gewonnen Schlacht. Er erzählt vom Entstehen eines Gruppenbewusstseins, von dem Erwachen einer kollektiven Identität. Beides wird gekoppelt an die Freund-Feind Unterscheidung und daran, den Feind gewalttätig niederge-rungen zu haben (vgl. Wertheimer 1986, 19). Hier beginnt die ästhetische Verherrlichung von Gewalt als Heldentum. In den Computerspielen wird diese Tradition leider nur allzu bereitwillig fortgesetzt, andere Formen men-schlicher Konfliktlösung scheinen bisher in den Köpfen der Spieleentwickler nicht zu existieren bzw. nicht attraktiv zu erscheinen.

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Online-Rollenspiele als soziale Experimentierräume

Julian Kücklich

Zusammenfassung

Der literarische Realismus spielte eine entscheidende Rolle bei der Entwick-lung und Ausdifferenzierung moderner Demokratien im 19. Jahrhundert. Besonders in den USA schufen die Romane von Henry James, Mark Twain und anderen Autoren des Realismus soziale Experimentierräume, in denen zu Hause im Sessel verschiedene Gesellschaftsentwürfe miteinander vergli-chen und voneinander abgegrenzt werden konnten. Der realistische Roman ist also untrennbar verbunden mit dem Bereich des Sozialen und insbesonde-re den sozialen Entwicklungen der Neuzeit. Diese Rolle der Literatur wurde im 20. Jahrhundert weitgehend von audiovi-suellen Medien – vor allem dem Film – übernommen. Nun, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, zeichnet sich jedoch ein weiterer Medienumbruch ab: Soziale Experimentierräume entstehen nicht mehr nur bei der Lektüre oder beim Betrachten eines Films im Kopf des Rezipienten, sondern werden in Form von Online-Rollenspielen (MMOGs) einem zahlenden Publikum zu-gänglich gemacht. Spiele wie The Sims Online, EverQuest und Star Wars Galaxies schaffen riesige Schattengesellschaften, die reale Gesellschaften nicht nur spiegeln, sondern auch kommentieren und karikieren. Dies weist darauf hin, dass die Zukunft des sozialen Realismus – mit der für ihn charakteristischen Spannung zwischen nüchterner Beschreibung des Sta-tus Quo und utopischer Überhöhung einer möglichen Zukunft – im Cybers-pace liegt. Es ist daher fruchtbar die Traditionslinien zu verfolgen, die zwi-schen dieser neuen Form des sozialen Kommentars und früheren Formen in der Literatur und im Film verlaufen. Dadurch ist es möglich, das Konzept des Realismus kritisch zu hinterfragen und für eine gesellschaftspolitische Analyse von MMOGs fruchtbar zu machen.

Einleitung

In den letzten 40 Jahren hat sich das Medium des Computerspiels von seinen bescheidenen Anfängen in amerikanischen Forschungslabors zu einer Mil-liardenindustrie entwickelt, die nun sogar droht, Hollywood in den Schatten zu stellen. Ein Spielgenre ist dabei besonders hervorzuheben, nicht nur auf-

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grund seines Erfolgs sondern auch aufgrund seiner kulturellen Signifikanz: die so genannten Massively Multi-Player Online Games (MMOGs), d. h. Online-Rollenspiele, die es mehreren Tausend Spielern ermöglichen mitei-nander zu interagieren. Während kompetitive Online-Spiele wie Counter-Strike und Battlefield 1942 zu den beliebtesten und lukrativsten Titeln im Online-Markt gehören, sind Online-Rollenspiele wie EverQuest und Star Wars Galaxies vor allem deshalb interessant, weil sie 'Schattengesell-schaften' darstellen, die den realen Gesellschaften einen Spiegel vorhalten und sie kommentieren. In dieser Hinsicht nehmen sie eine ähnliche Rolle ein wie sie traditionell die Literatur und der Film inne hatten. Dieses Verständnis der Rolle kultureller Texte als Gesellschaftskommentar kann zum Roman des 19. Jahrhunderts zurückverfolgt werden, insbesondere dem realistischen Roman, der ver-suchte die sozialen Konflikte, die sich aus der Industrialisierung, Urbani-sierung und Säkularisierung ergaben, nicht nur darzustellen, sondern oft auch Lösungswege dafür aufzuzeigen. Diese Tendenz ist vor allem im ame-rikanischen Realismus sehr ausgeprägt, etwa bei Mark Twain und Henry James, wo es immer auch darum geht, die Maxime 'E pluribus unum' in die Tat umzusetzen. Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Welt, in der wir leben, drastisch ver-ändert – nicht zuletzt aufgrund neuer Technologien und ihrer Verwend-ungsweisen. Filme, Zeitungen, Radio und Telefon, das Internet und Handys sind ein wichtiger Teil unseres Alltagslebens geworden. Zwar kann man die postmoderne Literatur auch als Reaktion auf diese Mediatisierung sehen, aber die Literatur ist auch in gewisser Weise von diesen Veränderungen be-droht. Der Film und das Fernsehen haben die traditionellen Funktionen der Literatur zumindest teilweise übernommen – etwa Erziehung, Eskapismus und Unterhaltung, aber auch Kommentar, Kritik und die Schaffung sozialer Utopien. Trotz neuer Entwicklungen in den audiovisuellen Medien, z. B. Reality-Formate im Fernsehen, basieren diese kulturellen Formen immer noch sehr stark auf linearen Narrativen, die jedoch zunehmend ungeeignet erscheinen, das Leben im späten 20. und dem frühen 21. Jahrhundert zu beschreiben. Ich möchte daher die Frage aufwerfen, ob das Online-Rollenspiel mit seinen vie-len diskontinuierlichen und miteinander verflochtenen Narrativen besser da-zu geeignet ist, die aktuellen Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens

Online-Rollenspiele als soziale Experimentierräume

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darzustellen als Literatur und Film. Online-Rollenspiele wie World of War-craft scheinen jedenfalls bestimmte Entwicklungen in der Gesellschaft nach-zuzeichnen, wenn nicht gar in voraussehender Weise zu beschreiben. Bei-spielsweise gibt es wohl kaum eine evokativere Metapher für das Zeitalter des virtuellen Kapitalismus als die Verschmelzung von virtuellen und realen Ökonomien (siehe Castronova 2005). In anderen Worten: die Zukunft der Literatur scheint wieder einmal im Cy-berspace zu legen, wenn auch vielleicht in anderer Art und Weise als dies Theoretiker wie Landow (1992) and Bolter (1991) antizipiert haben. Online-Rollenspiele können als riesige Texte betrachtet werden, die aus Tausenden, wenn nicht gar Millionen individueller Texte bestehen. Diese Texte sind nicht nur untereinander verwoben, sondern dienen auch als Mechanismen für die Erstellung neuer Texte. Diese sind jedoch nicht notwendigerweise nar-rativ, sondern können auch deskriptiv, performativ oder poetisch sein. In dieser Hinsicht können Online-Rollenspiele als Metanarrative betrachtet werden, die traditionelle Genregrenzen überschreiten. Dies ist jedoch an sich kein neues Phänomen, sondern lediglich eine Übernahme der Strategien, die dem Roman dazu verhalfen zur dominanten Medienform des 19. Jahrhun-derts zu werden, nämlich die Assimilation anderer Genres. Der folgende Artikel wird daher versuchen zu zeigen, dass es sinnvoll ist, sich Online-Rollenspielen aus textueller Perspektive zu nähern, ohne dabei einzelne Genres zu privilegieren. Dies erlaubt es uns diese Spiele als ludi-sche Strukturen zu begreifen, die sich Eigenschaften des Romans zueigen machen, wodurch sie eine Tradition aufgreifen, die mehr als zwei Jahrhun-derte alt ist. So betrachtet befinden sich Online-Rollenspiele in einem Span-nungsfeld zwischen Moderne und Postmoderne, dem Realen und dem Ima-ginären und zwischen Regelhaftigkeit und der Aufhebung von Regeln. Romantheoretische Konzepte von Bachtin, Genette, Barthes und McHale werden uns dabei behilflich sein, dieses Spannungsfeld zu untersuchen und die Parallelen zwischen literarischen und virtuellen Gesellschaftsentwürfen zu betrachten.

Online-Rollenspiele als Texte

In diesem Abschnitt werde ich erörtern, unter welchen Aspekten wir Online-Rollenspiele als Texte betrachten können, und was dies für ihre Unter-suchung bedeutet. Die Frage der Textualität ist dabei eng mit der Frage nach

Julian Kücklich

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Intra- und Intertextualität verbunden, die in eigenen Unterabschnitten be-trachtet werden, um ein differenzierteres Verständnis der Textualität von Online-Rollenspielen zu gewinnen. Während Textualität an sich noch kein Zeichen von Literarizität ist – ein Rezept für Zwiebelsuppe ist ein Text, aber es ist kein literarischer Text – ist es nichtsdestotrotz eine Voraussetzung für eine textuelle Analyse, d. h. die Methode, die in den folgenden Abschnitten zur Untersuchung von Online-Rollenspielen herangezogen werden soll.

Textualität

Die Betrachtung von Kulturgegenständen als Texte ist eine Tradition, die mindestens bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückreicht. Die My-thologies (Barthes, 1957) von Roland Barthes waren ein wichtiger Meilen-stein in der Entwicklung jener Disziplin, die wir heute als Cultural Studies kennen. Dort wandte Barthes die Methode der Textanalyse auf so unter-schiedliche Phänomene wie das Beefsteak, den Eiffelturm und den Ring-kampf an. Diese Methode verbreitete sich in den folgenden Jahrzehnten und so ist es kaum überraschend, dass auch digitale Spiele unter diesem Aspekt betrachtet wurden, sobald diese zu einem Teil der Populärkultur wurden. Eine der ersten Untersuchungen dieser Art war Mary Ann Buckles' Dis-sertation Interactive Fiction: The Storygame 'Adventure' (1985), worauf schnell wissenschaftliche Artikel wie Neil Randalls Determining Literari-ness in Interactive Fiction (1988) und Richard Ziegfelds Interactive Fiction: A New Literary Genre (1989) folgten. In den 90er Jahren setzte sich dieser Trend mit Monografien wie Brenda Laurels Computers as Theatre (1991), Janet H. Murrays Hamlet on the Holodeck (1997) und Espen Aarseths Cy-bertext (1997) fort. Aarseth betrachtet die so genannten 'Adventure Games' – ein Genre, das lite-rarischen Texten in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich ist – als Teil des Phäno-mens, das er als Cybertext bezeichnet, eine Textsorte, die sich ihm zufolge dadurch auszeichnet, dass sie "non-trivial effort [...] to allow the reader to traverse the text" (1) erfordert. In Hinblick auf Adventure Games erscheint dies einleuchtend, da der Spieler Rätsel lösen oder Gegner überwinden muss, um das Spiel zu Ende zu bringen, was ohne weiteres als "nicht-trivialer Aufwand" beschrieben werden kann. Während dieses Modell des ergodischen Lesens bei Single-Player-Spielen recht gut funktioniert, hat es bei Multi-Player-Spielen nur einen begrenzten

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Nutzen. Das Zusammenspiel verschiedener Spieler in einem Multi-Player-Setting kann nur schwer als textuelle Maschine konzipiert werden, die von ihren Benutzern manipuliert wird, weil die einzelnen Spieler ja nicht nur auf den Output des Spiels selbst reagieren, sondern auch auf den Input anderer Spieler.

Intratextualität

In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden der Autor und der Prozess des Schreibens zu immer stärker umstrittenen Konzepten. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verkündete Roland Barthes den Tod des Autors (siehe Barthes, 1977) und wies darauf hin, dass es die Sprache sei, die spricht, nicht der Autor. Michel Foucault (1977) trug weiter zur Margi-nalisierung des Autors bei, indem er erklärte, dass die Aspekte des Subjekts, das wir als Autor wahrnehmen, lediglich Projektionen der Art und Weise sind, wie wir selbst mit Texten umgehen. Indem er den Autor auf eine Funk-tion des Texts reduzierte, machte Foucault auf die Kontingenz des Schrei-bens aufmerksam. Ihm zufolge ist Schreiben also nichts anderes als die zu-fällige Überschneidung von kulturellen Diskursen. Wie einige Theoretiker der neuen Medien festgestellt haben (z. B. Bolter 1991; Landow 1992) ähnelt dies auf frappierende Art und Weise den kolla-borativen, anarchischen Prozessen der gegenseitigen Annotation, die für das Schreiben in den elektronischen Medien charakteristisch ist, insbesondere in Hinblick auf neuere Entwicklungen, die unter der Bezeichnung 'Web 2.0' zusammengefasst werden können. Diese Perspektive erlaubt es uns, Online-Rollenspiele als Mechanismen zu betrachten, die eine gegenseitige Befruch-tung des semiotischen Outputs der Spieler ermöglichen, wodurch ephemere oder persistente Textstrukturen entstehen können. Diese Betrachtungsweise ist zudem im Einklang mit der etymologischen Wurzel des Begriffs Text, dem lateinischen Verb texere ('weben'). Online-Rollenspiele sind also wie Webstühle, die es den Spielern erlauben ihre individuellen Texte miteinan-der zu verweben. Die Textualität dieser Spiele ist daher eng mit dem Kon-zept der Intertextualität verbunden.

Intertextualität

Digitale Spiele haben nicht nur eine intratextuelle, sondern auch eine inter-textuelle Dimension. Dies betrifft nicht nur Single-Player-Spiele, sondern

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insbesondere auch Multi-Player-Spiele, wo die Verwebung der Texte ver-schiedener Spiele eine Kontamination mit den verschiedenen Intertexten er-möglicht, die die Spieler mitbringen. Die einfachste Form der Intertextualität in digitalen Spielen ist die direkte Referenzierung, z. B. in lizenzierten Spie-len wie Star Wars Galaxies. Einige Spiele zitieren direkt aus anderen Me-dien; so begegnet der Spieler in Deus Ex häufig Zitaten aus Büchern von G.K. Chesterton, Sun Tzu und anderen Autoren. Indirektere Formen der Intertextualität werden durch die Verwendung bestimmter Stilmittel erzielt, etwa die Kleidung und das Verhalten der Charaktere in Grand Theft Auto: Vice City, die auf die 80er-Jahre-Fernsehserie Miami Vice verweisen. Interessanter ist jedoch die intertextuelle Dimension, die von den Spielern selbst in Spiele hineinprojiziert wird. So wird sich jeder Spieler, der je einen Film aus der Indiana-Jones-Serie gesehen hat, an dieses Erlebnis erinnert fühlen, wenn er Tomb Raider spielt, auch wenn auf diese Filme nicht direkt Bezug genommen wird. Ob ein Spieler die Bezüge von Rez auf die synästhe-tische Philosophie Wassilij Kandinskys erkennt, hängt sowohl von seinem Vorwissen als auch der subjektiven Wahrnehmung ab. Aber wenn ein Spie-ler sich durch etwas, das er in einem Spiel sieht, hört oder fühlt, an ein ande-res mediales Erlebnis erinnert fühlt, ist es in jedem Fall schwer zu beweisen, dass der Primärtext den Sekundärtext nicht referenziert, ob auf bewusste oder unbewusste Weise. In den meisten Multi-Player-Spielen und insbesondere in persistenten Onli-ne-Rollenspielen haben die Spieler zahlreiche Möglichkeiten diese intertex-tuellen Verbindungen explizit zu machen. Eine einfache Möglichkeit dies zu erreichen, besteht darin, seinem Charakter einen Namen zu geben, der einen bestimmten Intertext evoziert, wie es etwa die zahlreichen Barbaren mit dem Namen Conan(n) in EverQuest deutlich machen. Eine kursorische Suche nach Halo 2-Spielernamen bei bungie.net ergibt positive Resultate für Gan-dalf, Merlin, Mr Spock, Han Solo, Harry Potter, Yossarian, Ishmael und Mephistopheles. Allein durch die Verwendung dieser Namen ist es also möglich, ein weit verzweigtes intertextuelles Netz zu knüpfen. Da die Einwohner von virtuellen Welten zudem weit gehende Redefreiheit genießen, sind Bezüge auf andere Texte in der Konversation zwischen Spie-lern häufig, auch wenn solche Verstöße gegen die Geschlossenheit der fik-tionalen Welt bei Rollenspielpuristen häufig auf Widerstand stoßen. In eini-gen Fällen wird diese Möglichkeit zur Bezugname auf andere Texte auch

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kreativ genutzt, etwa in den Gedichten des Asheron's-Call-Spielers mit dem Pseudonym Wei-No. Ein Gedicht aus seiner Sammlung mit dem Titel "The Wind Whispers through the Hole in My Abdomen" lautet wie folgt:

Soft Spring breezes Moist with life Rich and fertile Whispering softly Through what's left of my gut After I thought it would be cool to explore the tower that contained a Lich.

Während sich über den literarischen Wert des Gedichts streiten lässt, ist doch auffällig, dass der Autor Stilmittel aus dem japanischen Haiku verwen-det, einschließlich des von diesem Gedichttypus geforderten kigo (Jahreszei-tenwort). Es lässt sich natürlich nicht feststellen, ob dieses Gedicht tatsäch-lich in der Welt von Asheron's Call rezitiert wurde (und so Eingang in den Text des Spiels fand), aber selbst wenn dies nicht der Fall ist, lässt sich das Gedicht als ein Paratext betrachten. Es ist allerdings nicht immer möglich zwischen Paratexten und Intertexten zu unterscheiden, insbesondere dann, wenn man eine liberale Interpretation des Begriffs der Intertextualität zu Grunde legt, wie es angesichts der gegenseitigen Befruchtung des textuellen Outputs von Online-Rollenspielen angezeigt erscheint, bei der ständig neue intertextuelle Bezüge entstehen.

Online-Rollenspiele als Literatur

"The end of literature is at hand." Mit diesen Worten beginnt das erste Kapi-tel von J Hillis Millers (2002) Buch On Literature, in dem er die Frage zu beantworten sucht, was Literatur eigentlich ist. Miller zufolge gibt es zwei Bedeutungen des Begriffs Literatur: die erste, spezifischere Bedeutung um-fasst eine bestimmte Form des Schreibens, das nicht von seinen "Roman-Christian-European roots" (1) getrennt werden kann, während die zweite Bedeutung sich auf die Fähigkeit von Wörtern oder anderen Zeichen bezieht, als Literatur wahrgenommen zu werden ("a universal aptitude for words or

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other signs to be taken as literature" [13]). Literarizität ist also eine Funktion der Sprache. Weiter oben habe ich das Beispiel eines Kochrezepts für Zwiebelsuppe an-geführt, um zu zeigen, dass Textualität nicht mit Literarizität einhergehen muss. Aber man muss nur den Kontext ändern, damit dieses Rezept zu ei-nem literarischen Text wird. Man betrachte beispielsweise den Anfang des Liedes "Seeing Daylight" von John Darnielle (The Mountain Goats): "Two cans clear chicken broth/Two white onions/One bulb garlic/Boil, boil/Boil, boil." Wie dieses Beispiel deutlich macht, kann ein Rezept für Zwiebelsuppe ohne weiteres zu einem poetischen Text werden. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass das Wort 'Zwiebeln' sich hier nicht mehr auf reale Zwiebeln bezieht, sondern autonom wird. Wie Miller hervorhebt, ist dies eine Form der säkularen Magie, bei der die Signifikanten von ihren Signifikaten getrennt werden: "Words used as signi-fiers without referents generate with amazing ease people with subjectivities, things, places, actions, all the paraphernalia of poems, plays, and novels with which adept readers are familiar" (17). Er nennt die Welt, die auf diese Wei-se geschaffen wird, eine "hyper-reality" (18), aber das bedeutet nicht, dass Literatur keine Auswirkungen auf die reale Welt hat. Literatur kann die Wahrnehmung der Welt des Lesers verändern und es ist möglich, dass dieser sich entschließt, aufgrund dieser veränderten Wahr-nehmung selbst tätig zu werden: "Literature is a use of words that makes things happen by way of its readers" (Miller 2002, 20). Aber die Literatur verwendet keineswegs nur Wörter, um diesen Effekt zu erzielen. Die ge-schwärzten Seiten in Laurence Sterns Tristram Shandy enthalten kein einzi-ges Wort, und dennoch wäre keine Ausgabe des Romans ohne diese Seiten vollständig. Auf ähnliche Art und Weise wurden Typographie, Layout, Diagramme und andere nicht-linguistische Zeichen von verschiedenen Auto-ren verwendet, um literarische Effekte zu erzielen. In Hypertexten ver-schwimmen die Grenzen zwischen textuellen und visuellen Medien sogar noch stärker. Ich würde daher vorschlagen, Millers Definition für unsere Zwecke umzu-formulieren. Literatur könnte definiert werden als eine Verwendung nicht-referenzieller Zeichen, um durch ihre Empfänger etwas zu bewirken. Online-Rollenspiele scheinen unter diese Definition zu fallen: ein Ork in EverQuest ist offensichtlich kein Abbild einer Kreatur in der realen Welt, sondern wird

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durch die Verwendung verschiedener Zeichen geschaffen. Dennoch kann eine Begegnung mit einem Ork die Wahrnehmung der Welt des Spielers verändern, insbesondere wenn man in Betracht zieht, dass sich manche Be-wohner der realen Welt unglücklicherweise oft wie Orks benehmen.

Online-Rollenspiele als erzählende Literatur

Die Frage, ob und auf welche Weise digitale Spiele Geschichten erzählen, ist in der Computerspielforschung heftig umstritten (siehe Kücklich 2007a). Während Literatur-, Film- und Medienwissenschaftler Computerspiele oft als neue Formen des Erzählens betrachten, sind andere Forscher der Mei-nung, dass sie in erster Linie als formale regelbasierte Strukturen betrachtet werden sollten, deren narrative Aspekte allenfalls marginal sind. In der Tat gibt es viele Spiele, die nicht viel erzählenden Inhalt aufweisen, etwa Space Invaders oder Burnout 3. Andere Spiele, insbesondere Abenteuer- und Rol-lenspiele, besitzen jedoch eine narrative Komponente, die bei der Analyse dieser Spiele nicht übersehen werden darf. Einer der stärksten Indikatoren der Narrativität dieser Spiele ist die Tatsache, dass sie nacherzählt werden können. Star Wars: Knights of the Old Republic ist beispielsweise die Geschichte eines Soldaten in der republikanischen Ar-mee, der zum Jedi-Ritter wird und den bösen Sith-Herrscher Malak besiegt. Innerhalb dieses narrativen Rahmens hat der Spieler ein gewisses Maß an Spielraum, den er je nach persönlichen Vorlieben nutzen kann, aber diese Handlungen ändern nichts an der generellen Richtung des Plots, was auch daran deutlich wird, dass für dieses und andere Spiele detaillierte Anweisun-gen zur Lösung, so genannte 'walkthroughs', zur Verfügung stehen (siehe Kücklich 2007b). In Online-Rollenspielen erweist sich der Sachverhalt jedoch als etwas komp-lexer. Zunächst ist es unmöglich, alle Handlungen aller Spieler in diesen Spielen nachzuerzählen, allein aufgrund der riesigen Menge an Ereignissen. Historiografische Berichte über virtuelle Welten beschränken sich daher auch meist auf die Vorgeschichte bestimmter Spiele, so zum Beispiel die "History of Norrath", die auf der "EverQuest Stratics" Website zu finden ist. Andere historische Betrachtungen beschränken sich auf die Geschichte eines bestimmten Clans oder einer bestimmten Gilde. Dies ist jedoch weniger sig-nifikant als die Tatsache, dass Online-Rollenspiele schlicht und einfach zu desorganisiert sind, um in narratologischer Terminologie beschrieben zu

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werden. Was diesen Spielen vor allem fehlt ist ein Plot. Individuelle narrati-ve Sequenzen ('Questen') werden zwar von den Spielanbietern vorgegeben, aber sie sind lediglich Inseln der Narrativität in einen Ozean der Kontingenz. In dieser Hinsicht sind Online-Rollenspiele der realen Welt verblüffend ähn-lich. Das Leben eines Menschen folgt ja ebenfalls keinem Plot, sondern be-steht zum größten Teil aus kontigenten Ereignissen. Dies bedeutet jedoch nicht notwendigerweise, dass das Leben sinnlos ist. Indem man das Leben als Erzählung begreift, also indem man zu seinem eigenen Biographen wird, kann man seinem Leben Sinn verleihen. Dies ist auch in Online-Rollenspielen der Fall, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: in diesen Spielen ist eine verfehlte Lebensplanung, selbst wenn sie in den Tod führt, niemals endgültig. Denn die Charaktere können meist wiederbelebt oder neu erschaffen werden, so dass der Tod nicht unbedingt das Ende der Welt bedeuten muss. Dies führt jedoch dazu, dass Online-Rollenspiele traditionellen Erzählungen noch weniger ähnlich sind als dies ohnehin schon der Fall ist. Denn literari-sche Erzählungen beinhalten ja stets eine zeitliche Progression und kommen unvermeidlich zu einem Ende. Aus diesem Grund sind sie auch so gut dazu geeignet über die Beschaffenheit der Zeit und die Sterblichkeit des Men-schen zu spekulieren. Romane wie Prousts À la recherche du temps perdu stellen diesen Aspekt sehr stark in den Vordergrund, aber er ist eigentlich in jeder Erzählung präsent. Peter Brooks bringt dies in dem folgenden Zitat konzis auf den Punkt: "It is my simple conviction that narrative has something to do with time-boundedness, and that plot is the internal logic of the discourse of mortality" (Brooks 1996). Kann eine Welt, die keinen Tod im konventionellen Sinn kennt, überhaupt als narratives Universum betrachtet werden? Obwohl alles dagegen zu spre-chen scheint, denke ich, dass dies sehr wohl möglich ist. Jeder Spieler erlebt seinen Weg durch ein Online-Rollenspiel als eine Erzählung – darauf weisen allein schon die zahllosen von Fans geschriebenen Geschichten ('fan fiction') hin, die auf virtuellen Welten basieren. Dies sind nicht immer konventionelle Erzählungen, aber sie weisen nichtsdestotrotz Merkmale auf, die jenen tradi-tioneller Narrative ähnlich sind, etwa Charakterentwicklung, Konflikt und Konfliktlösung sowie Krisen und Epiphanien. Für sich alleine genommen fehlt diesen Erzählungen die Tiefe literarischer Werke, aber in ihrer Gesam-

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theit stellen sie große Erzählungen dar, die gesellschaftliche Entwicklungen nachzeichnen.

Sozialer Realismus in Online Rollenspielen

Einer der ersten Computerspielforscher, der sich des Themas des Realismus in Computerspielen angenommen hat, ist Alexander Galloway (Galloway 2004). Die Tatsache, dass die Computerspielforschung diese Frage so lange ignoriert hat, ist insofern überraschend, als der Aspekt des Realismus im po-pulären Diskurs um Computerspiele eine so große Rolle spielt. Dies zeigt sich allein schon an den Diskussionen um Polygonzahlen, Pixelshader und realistische Beleuchtung in Computerspielzeitschriften und Webforen. Gal-loway hebt jedoch hervor, dass 'Realistischkeit' (realistic-ness) und Realis-mus keineswegs dasselbe sind: "If they were the same, realism in gaming would just be a process of counting the polygons and tracing the correspon-dences." Dies ermöglicht es, die Frage nach der Realistischkeit der Darstellungen in Online-Rollenspielen zu umgehen und uns ihrem Realismus zu widmen. Im Rückgriff auf André Bazin definiert Galloway Realismus als "a technique to approximate the basic phenomenological qualities of the real world," das heißt "real life in all its dirty details, hopeful desires and abysmal defeats." Es ist daher nicht überraschend, dass Realismus oft mit Sozialkritik Hand in Hand geht. Galloway weist beispielsweise darauf hin, dass der Realismus von Vittorio De Sicas Ladri di Biciclette letztendlich in der Geschichte des arbeitslosen Vaters zu suchen ist und nicht in der Art der Darstellung. Der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts kann als sozialkritischer Kommentar der radikalen Veränderungen verstanden werden, der die Gesell-schaft im beginnenden Industrialismus unterworfen war. Balzac, Tolstoi, Dickens und Henry James kontextualisierten die Säkularisation, Urbanisati-on und Industrialisierung der Gesellschaft. Insbesondere in Amerika war der Realismus eine wichtige Kraft im Prozess der Schaffung einer Nation aus den Angehörigen verschiedener Nationalitäten, Ethnizitäten und Glaubens-richtungen, die während des 19. Jahrhunderts in die neue Welt ausgewandert waren. Der Realismus und insbesondere der realistische Gesellschaftsroman ist da-her eng mit der Sphäre des Sozialen verbunden. Er beschreibt und kons-truiert die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Der

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realistische Roman stellt so ein Modell zur Verfügung, das es dem Leser er-möglicht, seinen eigenen Platz in der Gesellschaft zu finden. Wie Lionel Trilling (1996) hervorhebt, liegt seine Größe und sein Nutzen vor allem "in its unremitting work of involving the reader himself in the moral life, invit-ing him to put his own motives under examination, suggesting that reality is not as his conventional education has led him to see it" (90). Um den Realismus von Online-Rollenspielen zu ermessen, müssen wir daher deren Beziehung zur Gesellschaft näher betrachten. Dienen Online-Rollenspiele lediglich der Befriedigung eskapistischer Fantasien oder stellen sie einen Raum dar, in dem Utopien konstruiert und auf ihre Lebensfähigkeit hin geprüft werden können? Und könnte die Strukturierung virtueller Gesell-schaften vielleicht sogar als Kommentar zu realen Gesellschaften gesehen werden? Wenn dies der Fall wäre, dann könnten sie zu Modellen der Gesell-schaft des 21. Jahrhunderts werden, so wie der Roman zum Modell der Ge-sellschaft des 19. Jahrhunderts wurde.

Online-Rollenspiele und die Gesellschaft

Online-Rollenspiele sind Einwanderergesellschaften – wenn man nur seine Subskriptionsgebühren pünktlich bezahlt und sich an die Spielregeln hält, kann man die Grenze zur virtuellen Welt passieren, ohne dass allzu viele Fragen gestellt werden. Man kann sein altes Ich hinter sich lassen, so wie die Einwanderer der Neuen Welt ihre nationalen Identitäten hinter sich ließen und amerikanische Staatsbürger wurden – oder so wird es zumindest häufig dargestellt. Die Realität sieht allerdings oft anders aus, denn wie wir wissen, lassen Immigranten nur selten ihre Identitäten in ihrem Heimatland zurück, und wenn sich diese nicht mit den Werten anderer Gesellschaftsmitglieder in Einklang bringen lassen, führt dies schnell zu Konflikten.

Anarchy Online

Soziale Konflikte müssen nicht notwendigerweise destruktiv sein, sondern können auch zu einer produktiven Auseinandersetzung mit gesellschaft-lichen Wertvorstellungen führen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Onli-ne-Rollenspiele nicht wesentlich von realen Gesellschaften: ein gewisses Konfliktniveau ist nötig, um zu gewährleisten, dass das Spiel nicht lang-weilig wird, aber wenn der Konflikt außer Kontrolle gerät, können die Fol-gen katastrophal sein.

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Ein Beispiel für die potenzielle Destruktivität von Konflikten in virtuellen Gesellschaften bietet die Geschichte von Diablo, eines der ersten erfolg-reichen Online-Spiele. Diablo wurde durch den Konflikt zwischen Spielern, die sich an die Regeln hielten und Spielern, die sich illegitim bereicherten, fast vollkommen aus der Balance geworfen:

Then the cheaters came. As a social construct, despite being virtual, the online world of Diablo was just as susceptible to cheaters as the real world. Imagine yourself as a player, having spent countless hours labo-riously developing your character to a very high level, possessing po-werful equipment. Then one day, you encounter a ridiculously high lev-el character, possessing unimaginably powerful equipment, asking questions like 'How do I attack a monster?' Such obviously new players had found ways of illegitimately altering their characters. Using a tech-nique called 'duping', they could duplicate any item they owned, or even fabricate them out of thin air. (Kuo 2001).

Das Ergebnis war, dass Diablo sich dramatisch veränderte: "Cheating had turned a game that 'offered over 100 hours of gameplay into a mere 5-minute wonder' [Greenhill 1997] It became such a problem that many people either outright refused to play it online, or would only play on a LAN with trusted friends" (4). Dies ist kein isolierter Vorfall, sondern etwas, das in vielen On-line-Spielen vorkommt. Das Töten von Spieler-Charakteren, die Dupli-zierung von Gegenständen und antisoziales Verhalten sind Probleme, die das Wohlergehen der Spieler in entscheidender Weise beeinträchtigen. Interessanterweise ist es ein Roman, in dem ein Online-Rollenspiel als zent-rale Metapher dient, der diesen Sachverhalt prägnant auf den Punkt bringt. In Big If (Costello 2004) beschreibt Mark Costello dieses Spiel in Worten, die an die Einwanderungsprozeduren auf Staten Island erinnern. Nachdem sie den "logon buffer" passiert haben, müssen die Spieler einen Spielercharakter aus Menüs auswählen, bevor sie dann am Startpunkt des Spiels ankommen: "a deep smoking crater formerly known as downtown Albuquerque" (153). Das Ziel des Spiels besteht darin, sich von dort zur Pazifikküste durchzu-schlagen. Damit dies gelingt, brauchen die Spieler jedoch Geld und dies führt dazu, dass die meisten Spieler das eigentliche Ziel des Spiels vergessen und sich stattdessen in der Nähe des Startpunkts niederlassen, um dort Dinge des täg-lichen Bedarfs an die Neuankömmlinge zu verkaufen. Damit ist jedoch der

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Konflikt bereits vorprogrammiert. Um ihr eigenes Überleben zu gewähr-leisten, verlegen sich einige Spieler darauf, andere Spieler auszurauben und zu töten:

The pickers waited by the crater, following the newbies, who sometimes asked the poignant question Why R U following me? – the text floating in a box above their heads as the robbers struck [...]. Robbers sometimes killed each other over these choice victims. Pickers fought pickers for the spoils and other robbers waited, killing pickers as other pickers waited for the spoils of the spoils, and some of these were robbed. (158).

Big If ist eine beißende Satire des kapitalistischen Amerika. In einer Welt, in der alles mit einem Markenzeichen versehen ist, in der die Monster mit "a pair of Sony PC speakers, a Cub Cadet four-wheel-drive snowblower, a Mi-nolta office copier, a Yamaha Disklavier GranTouch piano, and a Sealy Posturepedic mattress" (155) ausgestattet sind, fallen die Spieler in einen proto-sozialen Zustand zurück, in dem nur die Stärksten überleben. Dies ist aber nicht nur in fiktionalen Online-Rollenspielen der Fall, sondern bei-spielsweise auch in Anarchy Online, einem Spiel, das auf seiner offiziellen Website wie folgt beschrieben wird: "Rubi-Ka is filled with conflict, controversy and conspiracy. First time colo-nists are best advised to make themselves aware of the planet's heritage least they fall foul of the factional and political forces that exert themselves on Rubi-Ka."

Online-Rollenspiele und die dialogische Imagination

Das Szenario, das Costello beschreibt, unterscheidet sich nicht wesentlich von virtuellen Welten wie EverQuest, wo alles – Gegenstände, Bauwerke, Landschaften und sogar Charaktere und ihre Äußerungen – als Eigentum von Sony Computer Entertainment (SCE) gekennzeichnet sind. Im Cybers-pace gilt Habeas Corpus nicht, wie die Spieler feststellen mussten, die ver-suchten, ihre EverQuest-Charaktere auf eBay zu verkaufen. Im April 2000 verbot SCE dies, da der Verkauf virtueller Charaktere zu Animositäten unter Spielern führen würde (Sandoval 2000). Auch im End User License Agree-ment (EULA) des Spiels wird dies deutlich gemacht:

[W]e and our suppliers shall retain all rights, title and interest, including, without limitation, ownership of all intellectual property rights relating

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to or residing in the CD-ROM, the Software and the Game, all copies thereof, and all game character data in connection therewith. You ac-knowledge and agree that you have not and will not acquire or obtain any intellectual property or other rights, including any right of exploita-tion, of any kind in or to the CD-ROM, the Software or the Game, in-cluding, without limitation, in any character(s), item(s), coin(s) or other material or property, and that all such property, material and items are exclusively owned by us. (Sony 2004).

Sal Humphreys (Humphreys 2004) hat darauf hingewiesen, dass diese Kommodifikation der Kultur von Online-Rollenspielen nicht nur eine Frage der Eigentumsrechte an virtuellen Gegenständen ist. Mit Rückgriff auf die Arbeit von TL Taylor (Taylor 2002) über die Verhandlung von Unter-nehmens- und Spielerinteressen in virtuellen Welten erörtert sie, auf welche Art und Weise die Integration der Spieler in das Produktionsmodell von On-line-Rollenspielen neue Herausforderungen für das traditionelle Urheber-rechtsmodell aufwirft. Wie sie hervorhebt, basiert dieses auf einem linearen Produktionsmodell und individueller Autorschaft, und dieses Modell ist im Bereich der Online-Rollenspiele sicherlich als überholt anzusehen. Humphreys weist dabei insbesondere auf die integrale Rolle der Spieler bei der Produktion von Spielkultur hin:

Player activity is productive in a number of ways. The basic ergodic na-ture of the game text requires player input in order to advance the game. In emergent games like EverQuest this can be a creative process which leads to unexpected or unpredictable outcomes [...]. Players are also a source of feedback and suggestions; act as quasi bug-testers; are active on game bulletin boards; interact with developers vital to the developer in their ongoing production and design of the game; create websites with information and guides to the games, which also generate discus-sion and feedback. Finally there are the social and community invest-ment of players that build important structural features such as the social networks found in guilds, and the long-term friendships and team-like relationships that lead to player retention in the game. (2-3).

Wie sie weiter ausführt, werden Spieleraktivitäten von Spielepublishern kommodifiziert und in ihre Geschäftsmodelle integriert. Das Problem besteht dabei vor allem darin, dass die Eigentumsrechte in Online-Rollenspielen die

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tatsächliche Strukturen der Herstellung und Autorschaft nicht abbilden. Da-her tun Firmen wie SCE bei der Anmeldung von Eigentumsrechten an Spiel-elementen so, als ob sie ein fertiges Produkt entwickelt und auf den Markt gebracht hätten, während es sich in Wirklichkeit um lediglich um eine Rah-menstruktur handelt, in der die Entwicklung nie abgeschlossen ist und die Arbeit von bezahlten und unbezahlten Akteuren miteinander verzahnt wird. Humphreys weist zudem darauf hin, dass die sozialen, emotionalen und kul-turellen Aspekte von Spielern und Entwicklern gemeinsam in einem dialogi-schen Prozess geschaffen werden, der sich ständig im Fluss befindet. Das von Michail Bakhtin entwickelte Konzept der Dialogizität (Bakhtin 1996) erlaubt es uns die Überschneidung der sozialen mit der literarischen Sphäre in den Blick zu nehmen. Bakhtin zufolge zeichnet sich der Roman durch Heteroglossie aus, einer Mischung aus regionalen Dialekten, Sozio-lekten, Jargons, literarischer Sprache usw. Diese unterschiedlichen Stimmen befinden sich in einem Dialog miteinander, was zur Folge hat, dass der Ro-man nicht mit einer Stimme spricht, sondern in vielen Zungen, jede mit ih-rem eigenen Charakter, ihrer eigenen Meinung und ihrer eigenen Herkunft:

Every concrete utterance of a speaking subject serves as a point where centrifugal as well as centrapetal forces are brought to bear. The proc-esses of centralization and decentralization, of unification and disunifi-cation, intersect in the utterance; the utterance not only answers the re-quirements of its own language as an individualized embodiment of a speech act, but it answers the requirements of heteroglossia as well; it is in fact an active participant in such speech diversity. (Bakhtin 1982, 272).

Diese Heteroglossie bildet den Hintergrund für die Stimme des Autors, ohne welchen die Nuancierungen seiner Prosa nicht wahrgenommen werden kön-nen und ohne den sie nicht zum Klingen gebracht werden können. Die Paral-lelen zwischen dieser Konzeptualisierung des Romans und sozialen Ent-wicklungen sind offensichtlich. Jede Gesellschaft gibt einer Vielfalt von Stimmen Raum und um mit einer Stimme sprechen zu können, müssen diese vielfältigen Stimmen miteinander amalgamiert werden: E pluribus unum. Dialogizität ist ein demokratischer Prozess, der stets gegen die zentripetale Kraft der Einsprachigkeit wirkt, welche mit absolutistischer Herrschaft, Zentralisierung und Homogenität konnotiert ist. Das Problem der Eigen-tumsverhältnisse in virtuellen Welten muss daher vor dem Hintergrund des

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Konflikts zwischen dialogischer Produktion und einer monologischen Kont-rolle ihrer Ergebnisse gesehen werden.

Bürgerschaft in Online-Rollenspielen

Online-Rollenspiele haben das Potenzial zur Dialogizität, aber diese wird dadurch eingeschränkt, dass die Anbieter der Spiele darauf insistieren, die Stimmen der Spieler zu appropriieren. Dies ist insofern problematisch, als dies den Publishern das Recht gibt, die sozialen Beziehungen der User zu beeinflussen und Spieler-Accounts aufzulösen, ohne dass dieses Verhalten transparent oder überprüfbar ist. Obwohl Online-Rollenspiele kollaborativ produziert werden, behalten sich die Anbieter also eine gott-ähnliche Macht über die Spieler vor, die allein von ihren Urheber- und Eigentumsrechten an dem jeweiligen Spiel abgeleitet ist. Wie Humphreys (2004) zeigt, basieren diese Rechte auf dem überholten Modell des Originalgenies, das die voll-ständige Kontrolle über seine Schöpfung hat: "It is a law which focuses heavily on tangible (even if virtual) objects, and dismisses the intangible so-cially produced networks despite their obvious productive and economic characteristics" (7). Online-Rollenspiele können als virtuelle Zivilgesellschaften angesehen wer-den, die im Großen und Ganzen zum Wohlergehen ihrer Mitglieder beitra-gen. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Spieler in ei-ner Weise ihrer Rechte beraubt werden, die in der realen Welt niemals toleriert würde. Im Kontext des Spiels mag dies trivial erscheinen, aber bei näherem Hinsehen zeigt sich schnell, dass dies keineswegs trivial ist, schon allein deswegen, weil das gesellschaftliche Engagement von Online-Rollenspielern oft weit über ihr realgesellschaftliches Engagement hinaus geht. Zudem gleicht die Entmündigung von Online-Rollenspielern den Ef-fekten der neoliberalen Durchdringung des Staates mit marktwirtschaftlichen Strukturen. In einer Welt, in der der öffentliche Raum zunehmend kleiner wird, mögen Online-Rollenspiele als Rückzugsräume erscheinen, aber tat-sächlich werden sie der realen Welt immer ähnlicher. Während in den USA Gesetze wie der Patriot Act (2001) zu einer Erosion der Bürgerrechte führen, stoßen ähnliche Gesetzentwürfe in Europa (noch) auf Widerstand. Aber auch dort kann man sich globalen Prozessen nicht ent-ziehen, die zu einer Beschädigung der Öffentlichkeit führen, etwa durch die Konsolidierung der Medien oder die zunehmende Durchdringung von wirt-

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schaftlicher und politischer Macht. Im Namen der Sicherheit werden alltäg-liche Verrichtungen immer stärker überwacht und reguliert, und all dies spiegelt sich in Online-Rollenspielen. Humphreys zitiert ein Beispiel aus Taylor (2002), in dem ein Spieler-Account von SCE aufgelöst wurde, weil die Firma es nicht tolerieren wollte, dass dieser in der Welt von EverQuest angesiedelte 'fan fiction' auf seiner Website veröffentlicht hatte. Ein weiterer Fall betrifft den Journalisten Peter Ludlow, der über Fälle von virtueller Kinderprostitution in The Sims Online berichtet hatte. Der Realismus von Online-Rollenspielen ist in gewisser Weise für andere Medien unerreichbar. Während Literatur, Film und andere Medien sich im-mer noch schwer tun, die tiefgreifenden sozialen Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu verarbeiten, können virtuelle Welten als Kommentar zu diesen Transformationen betrachtet werden. Die Art und Weise, wie sie das tun, gemahnt an Millers weiter oben zitierte Definition der Literatur, da sie ihre Kritik nicht direkt üben, sondern vermittelt durch die Spieler. Inter-essanterweise hat sich dieser Kontradiskurs in den durch und durch kom-merzialisierten Räumen von Online-Rollenspielen etablieren können, was darauf hinweist, welche Kraft die Dialogizität gegenüber dem Monologis-mus hat. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Online-Rollenspiele bereits ihr Potenzial ausgeschöpft hätten – im Gegenteil. Georg Lukács (1996) hat darauf hinge-wiesen, dass der Realismus Mensch und Gesellschaft im Idealfall als voll-ständige Einheiten abbildet. Die virtuellen Gesellschaften der Online-Rollenspiele und ihre Mitglieder sind noch weit von einer solchen Vollstän-digkeit entfernt, denn ihre Machtstrukturen verhindern, dass die Spieler zu sozialen Wesen im eigentlichen Sinn werden, und dies führt dazu, dass die virtuellen Gesellschaften nicht zu Experimentierräumen für die Gesellschaft werden können, in der wir leben. Gesellschaften sind immer virtuelle Kons-trukte und daher sind die sozialen Räume in Online-Rollenspiele nicht not-wendigerweise weniger real als reale Gesellschaften. Diese Erkenntnis bildet die Voraussetzung dafür, dass Online-Rollenspiele tatsächlich zu utopischen Konstrukten werden können, die ähnliche Funktionen übernehmen wie Lite-ratur und Film. Paul de Man zufolge ist das Dazwischen wichtiger als der Unterschied zwi-schen Wahrheit und Fiktion: "The binary opposition between fact and fiction is no longer relevant, in any differential system, it is the assertion of the spa-

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ce between the entities that matters" (zitiert in Hutcheon 1996). Wie die Lite-ratur existieren auch Online-Rollenspiele in einem liminalen Bereich zwi-schen sozialer Realität und Fiktion, und daraus beziehen beide Medien ihre Stärke. In seiner Einführung zu seinem Roman Crash (1973) hat J.G. Ballard darauf hingewiesen, dass die Aufgabe eines Autors wie die eines Wissen-schaftlers darin besteht, Hypothesen gegen die Realität zu testen. In Rück-griff auf diese Definition erklärt Barry Atkins: "[G]ame-fictions [are] all about the testing of 'hypotheses', 'options', and 'imaginative alternatives', all about offering the 'contents' and not the authored and fixed 'meaning' of a single imaginative possibility" (144). Und er weist darauf hin, dass Computerspiele sich nicht so weit von der Li-teratur des 19. Jahrhunderts entfernt haben, wie Ballard es für nötig befindet. Ihm zufolge beinhalten Computerspiele ihre eigene Moral und können daher in der Tradition von Dickens, Thackeray und Austen gesehen werden. Wenn der Roman die soziale Simulationsmaschine des 19. Jahrhunderts war, in der die Charaktere – nachdem sie erschaffen wurden – ein unabhängiges Leben führten, dann kann man davon sprechen, dass Online-Rollenspiele diese Funktion für die Gesellschaft bereits teilweise übernommen haben.

Literatur

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Computerspiele als Aufbewahrungsform des Politischen

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Computerspiele als Aufbewahrungsform des Politischen.

Politische Theorie in Age of Empires und Civilization

Alexander Weiß

Zusammenfassung

Die Untersuchung von Computerspielen als Gegenstand der politischen Theorie bedarf zunächst einer Beschreibung, wie politische Inhalte in der Textform des Spiels aufbewahrt sind. Die Analyse der spezifischen Aufbe-wahrungsform bei Computerspielen wird anhand zweier Strukturelemente durchgeführt: Zum einen der high score als alle Inhalte perspektivierendes Moment, und zum anderen eine besondere Sequenzierung von Handeln und Erleben, die Spiele von anderen Textformen wie Literatur oder Theorie un-terscheiden. Mit Age of Empires und Civilization werden anschließend zwei wirkmächtige Spiele auf ihre politischen Inhalte hin untersucht, wobei die zuvor beschriebenen Kategorien der Aufbewahrungsform mit seinen Struk-turelementen des high scores und der Handeln-Erleben-Sequenz zur Anwen-dung gebracht werden.

Einleitung

In welcher Weise kann die Analyse von Computerspielen für die politische Theorie fruchtbar sein? Anders als für andere Disziplinen und Teilgebiete innerhalb der Politikwissenschaft kann eine Antwort hierauf nicht in der Wirkungsforschung gefunden werden, wie es etwa mit der oft gestellten Fra-ge nach dem Zusammenhang von Computerspielen und Gewalt im Kontext der Erziehungswissenschaften geschieht. Auch produktionszentrierte Ansät-ze, die etwa die Organisation der Spielindustrie untersuchen, oder benutzer-zentrierte Fragestellungen über Verhalten von Spielerinnen und Spielern oder Vereins- und Organisationsbildung im Spielbetrieb bringen zwar viel Wissenswerte in den Medienwissenschaften mit seiner Unterspezifizierung der game studies und auch in der Politikwissenschaft hervor,1 aber ein spezi-fisches Feld der politischen Theorie ist damit noch nicht berührt. Für die Theorie muss der Mehrwert einer Beschäftigung mit Computerspie-

1 Auch über die Verwendbarkeit von Computerspielen im Schulunterricht gibt es einschlä-

gige Literatur, vgl. etwa (Grosch 2002).

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len in einer Erweiterung des Quellenbestandes liegen, aus dem kultur-, dis-kurs- oder ideengeschichtliche Entwicklungen erfasst und weitergeführt werden können. Hier sind Computerspiele also ein Medium, eine Textform im postmodernen, weiten Sinne eines Textbegriffs, oder, auch gerade mit Bezug auf technische Dimensionen, ein Aufschreibesystem im Sinne Kitt-lers,2 in dem auf eben mediumspezifische Weise das Politische, politische Relationen, Situationen, Institutionen, Handlungen und Strukturen, behan-delt werden. Für diese Relation zwischen Medium und Inhalt verwende ich hier den an Kittler angelehnten Begriff der Aufbewahrungsform. Die Leit-frage, auf die hier eine Antwort gesucht wird, ist also, ob es eine spezifische Art und Weise gibt, in der politische Inhalte in Computerspielen repräsen-tiert und in spielspezifischen Textstrukturen aufbewahrt sind; und eine sol-che spezifische Art wird nicht in einer ideologischen Ausrichtung von Pro-duzenten oder Nutzern gesucht, sondern in Eigenschaften des Mediums Spiel. Um einer solchen Erfassung des Spielebegriffs für die politische Theorie nachzugehen, unternehme ich vier Schritte in diesem Beitrag: Zunächst wer-den einige Verwendungs- und Behandlungsweisen des Begriffs des Spiels in anderen Zusammenhängen nachgezeichnet und auf ihre Verwertbarkeit für eine mediumspezifische Perspektive auf Computerspiele für die politische Theorie befragt (1). Im zweiten Abschnitt werde ich Computerspiele als Me-dium für Politik strukturell zu beschreiben versuchen und mich dabei auf zwei Strukturelemente beschränken (2) und anschließend mit Age of Empires und Civilization zwei wirkmächtige Spiele auf ihre politischen Gehalte hin untersuchen (3). Abschließend werden der zweite und der dritte Teil zusam-mengeführt und Überlegungen zu der Frage angestellt, wie die gefundenen politischen Inhalte in den Spielen sich als Inhalte von Spielen verhalten (4).

1. Spiele in den Humanwissenschaften

Wittgenstein diente der Begriff des Spiels in seinen Philosophischen Unter-suchen (Wittgenstein 1990) als Beispiel für die Unschärfe einiger Begriffe, bei denen es nicht möglich sei, ein allen Referenten des Begriffs gemeinsa-mes Merkmal anzugeben: „Man kann sagen, der Begriff ‚Spiel’ ist ein Be-griff mit verschwommenen Rändern“ (Wittgenstein 1990, 280, § 71). Die Pointe dieser Einsicht lag für Wittgenstein darin, dass wir den Begriff auch 2 Nach Friedrich A. Kittler (Kittler 1995).

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dann sicher verwenden können, wenn er kein gemeinsames Merkmal hat, sondern über „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander über-greifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen“ (Wittgenstein 1990, 278, § 66). Für diese Übereinstimmungen führte er die Bezeichnung „Familienähnlichkeiten“ ein (§ 68), mit dem die Tatsache ausgedrückt wird, dass nicht allen Spielen etwas gemeinsam ist, wir aber dennoch jedes Spiel als Spiel wieder erkennen können. Obwohl somit also eine Operationalisierbarkeit des Gegenstandes Spiel ge-währleistet wäre, auch wenn sie sicherlich komplizierter ist, als die positiven Sozialwissenschaften in der Regel ihre Begriffe konstruieren, führt das Phä-nomen Spiel in den Sozialwissenschaften ein Schattendasein. Zwar gibt es mit der Spieltheorie einen eigenen wirkmächtigen Ansatz, der den Begriff sogar in seiner Bezeichnung trägt, aber dort geht es darum, reale Situationen als Spielsituationen zu rekonstruieren und analysieren, und nicht um Spiele als Gegenstände der Betrachtung. Spiele als Metapher für Gesellschaft und menschliches Verhalten haben seit Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (Schiller 1993) und seinem berühmten Diktum: „Denn, um es endlich auf einmal he-rauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ (Schiller 1993, 15. Brief, 63, Hervorh. i. Orig.), zwar Eingang in die Beschreibungs-semantik für Gesellschaft gefunden, aber eben nur als Metapher, denn zuvor bemerkt Schiller: „Freilich dürfen wir uns hier nicht an die Spiele erinnern, die in dem wirklichen Leben im Gange sind“ (Schiller 1993, 15. Brief, 62). Reale Spiele als Gegenstand wurden später in den anthropologischen Studien von Karl Groos entdeckt, der 1899 in seinem Buch Die Spiele der Menschen (Groos 1899) Grundtypen von Spielen unterscheidet und zu einer Theorie des Spiels vordringt, die er von den Standpunkten der Physiologie, Biologie, Psychologie, Ästhetik, Soziologie und der Pädagogik herleitet (Groos 1899, 465-526), so dass der Bereich der Politik noch vollständig unberücksichtigt bleibt, denn auch der soziologische Standpunkt (Groos 1899, 511-516) be-steht in den nicht im engeren Sinne politischen Gegenständen der Gruppen-inklusion und Rollenaneignung. Johan Huizinga hat in den 1930er Jahren eine kulturanthropologische Sicht-weise auf Spiele angewandt und im gleichnamigen Buch den Terminus Ho-mo ludens (Huizinga 1940) geprägt. In seiner Studie vertritt er die These,

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dass Kulturformen in ihrer Entwicklungsphase in der Form von Spielen und Spielelementen ‚probiert’ werden, „daß Kultur in Form von Spiel entsteht, daß Kultur anfänglich gespielt wird“ (Huizinga 1940, 75). Das konstitutive Element des Spielens für Kultur zeige sich unter anderem auch in realen Spielen, so dass hier ein kulturhistorischer und –soziologischer Horizont für die Betrachtung von Spielen aufgemacht wird, der Spiele unter dem Ge-sichtspunkt des Ausprobierens neuer Praktiken analysierbar macht. Roger Caillois, der in seinem Buch Die Spiele der Menschen (Caillois 1964) von 1958 an Huizinga anknüpft bemerkt diese Lücke, die sein Vorgänger gelassen hat: „Sein [Huizingas, A. W.] Werk ist keine Untersuchung der Spiele, sondern eine Untersuchung der fruchtbaren Auswirkung, die der Spielgeist auf dem Gebiet der Kultur ausübt“ (Caillois 1964, 9). Caillois hat wegweisende begriffliche Unterscheidungen für die Analyse von Spielen getroffen, die auch dann einige heute in der Beschreibung von Com-puterspielen verwendete Kategorien vorwegnehmen, wenn sie nicht mehr namentlich auf ihn zurückgeführt werden. So ist die gängige Unterscheidung zwischen ‚play’ als intuitions- und phantasiegeleitetes Spielen und ‚game’ als regel- und erfolgsorientiertes Spielen durchaus mit der Unterscheidung zweiter Pole bei Caillois deckungsgleich: „Auf der einen Seite regiert fast ausschließlich ein gemeinsames Prinzip des Vergnügens, der freien Improvi-sation und der unbekümmerten Lebensfreude, wodurch eine gewisse unkont-rollierte Phantasie, die man mit dem Namen paidia bezeichnen könnte, zum Ausdruck kommt. Auf der anderen Seite (...) aber wird sie gebändigt durch eine ergänzende Tendenz (...). Es ist dies ein wachsendes Bedürfnis, die anarchische Natur willkürlichen, gebieterischen und absichtlich hemmenden Konventionen zu unterwerfen (...). Diese zweite Komponente nenne ich lu-dus“ (Caillois 1964, 20). Auch hier wird aber eher das Spielen untersucht und als eine menschliche Grundverhaltensweise verstanden, als etwa einzel-ne Spiele, und schon gar kommerziell produzierte Spiele, analysiert. Die Fragestellung, die hier an Computerspiele gerichtet werden soll, ist mit diesen Arbeiten jedoch noch nicht berührt und nehmen sich aus Sicht der politischen Theorie eher als Vorarbeiten für die noch zu leistende Theoriear-beit aus. Weder die Spieltheorie noch weite Teile der anthropologischen oder kulturalistischen Ansätze behandeln Spiele im engeren Sinne, sondern sehen im Spiel als solchem bzw. im spielenden Menschen eine Metapher oder Al-legorie auf die Seinsweise des Menschen oder die Beschaffenheit von Kultu-

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ren, nehmen also das Spiel als Hinweis auf etwas anderes, das selbst kein Spiel ist. Für die oben gestellte Frage nach dem Nutzen von Spielanalyse für politische Theorie reicht eine, wenn auch originelle weitere Metapher für gesellschaftliche Phänomene aber nicht aus. Denn um ein Verständnis des Feldes von Computerspielen und Politik zu gewinnen, das nicht zuerst auf die politischen Bedingungen der Produkti-onsbedingungen oder politischer Aspekte der Wirkung gerichtet ist, sondern Spiele als Textform sui generis ernst nimmt, muss lauten: In welcher Form ist das Politische und sind politische Gegenstände in der Textform des Com-puterspiels im Gegensatz zu anderen Textformen organisiert? Computerspie-le werden so als Aufbewahrungsformen für Politik verstanden. Damit wird eine Position innerhalb einer in den game studies getroffenenen Unterschei-dung eingenommen.

Zur Differenz von Ludologie und Narratologie

In der noch jungen Disziplin der game studies wird eine Leitdifferenz disku-tiert, die um die begriffliche und damit konzeptuelle Fassung von Computer-spielen kreist. Entweder seien Spiele als neue Form von Narrativen zu ver-stehen und so mit Begriffen der Textwissenschaften zu beschreiben, oder sie seien etwas gänzlich anderes, eine eigene Objektgruppe, so dass für das neu zu beschreibende Phänomen der Spiele auch neue Begriffe einzuführen sei-en. Espen Aarseth ist ein Protagonist der zweiten Richtung, der Ludologie, und Gonzalo Frasca prägte mit dem Begriff der Ludology einen geeigneten Term, der die spielespezifischen Strukturelemente, die über reine Textlich-keit hinausgehen, erfassen soll: „We will propose the term ludology (from ludus, the Latin word for ‚game’), to refer to the yet non-existent ‚discipline that studies game and play activities’.“ (Frasca 1999). Die Ausgangsthese der Ludologie, nach der ein Spiel ein vom Spieler selbst mitkonstruiertes Gebilde sei, während eine Erzählung vorgegebene Sinnbe-züge beinhalte, stellt sich in einem Spiel wie Civilization wie folgt dar: Jedes gespielte Spiel ist zwar individuell und anders, so wie im Verständnis der Dekonstruktion jede Lektüre einer Erzählung auch, aber zwei gespielte Spie-le Civilization haben eine Ähnlichkeit miteinander, die sie von gespielten Spielen (etwa von Age of Empires) unterscheidet. Diese Ähnlichkeit liegt in einem Möglichkeitsraum begründet, der die Bedingungen, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten jeweils als Partien aktualisierter Potenzialitäten

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umreißt. Dieser Möglichkeitsraum ist logisch höher angesiedelt als eine Par-tie selbst und ist vergleichbar mit dem Begriff des Genres in der Literatur (nicht zu verwechseln mit dem zusätzlich gebrauchten Begriff des Genres zur Unterscheidung verschiedener Spieltypen).3 Hier wird eine ludologische Position eingenommen, die aber nicht als Ge-genbegriff zur narratologischen Perspektive auf Spiele gemeint ist, sondern den komplexen Überbegriff des Möglichkeitsraums ansetzt. In einem Mög-lichkeitsraum können durch Spielertätigkeit Narrative und ganze Narrationen aktualisiert werden.

2. Computerspiele als Aufbewahrungssysteme

Wenn hier nur zwei Aspekte als für Computerspiele charakteristisch be-schrieben werden, dann ist dies sicherlich höchst unvollständig. Gerade technische oder visuelle Aspekte böten weitaus mehr Anlass, Computerspie-le gegen andere Formen abzugrenzen. Die beiden hier behandelten Struktur-elemente betreffen aber, so denke ich, besonders die spezifische Ordnungs- und Aufbewahrungsleistung von Spielen, da alle Inhalte durch sie so gerich-tet werden, dass sie, auch wenn sie auf der inhaltlichen Ebene gleich er-scheinen, immer schon als Spielelemente anders funktionieren als entspre-chende Elemente in anderen Formen. Die Frage, von der ich ausgehe, besteht darin, wie wir die Form beschreiben können, in der Wissen über Politik im Spiel vorliegt. Mit Wissen sind hier beschreibbare Positionen darüber, wie Gegenstände, Akteure, Strukturen usw. miteinander in kausalen, referierenden etc. Relationen zusammenhän-gen, gemeint. In einer solchen Perspektive stehen Spiele in einer funktiona-len Konkurrenz zu Alternativformen der Wissensaufbewahrung, wie Theo-rien, fiktionalen Texten, Theaterstücken und Filmen, religiöser Sprache wie Gebeten, Reiseberichten, Utopien, Witzen, Liedern und schließlich, wenn man den Wissensbegriff so erweitert, dass er nicht mehr an propositionale Inhalte gebunden bleibt, Musik, Malerei, Architektur, Kleidung etc.4 Eine

3 Die Idee eines Möglichkeitsraumes mit relativ hohen, aber nichtsdestotrotz klar umrisse-

nen Freiheitsgraden für Handlungen ist auch konstitutiv für Schillers Verständnis von Spiel: Er rekurriert auf den „Sprachgebrauch (...), der alles das, was weder subjektiv noch objektiv zufällig ist und doch weder äußerlich noch innerlich nötigt, mit dem Wort Spiel zu bezeichnen pflegt“ (Schiller 1993, 15. Brief, 61).

4 Bis hin also zu den Bedeutungsträgern, die Roland Barthes als Mythen des Alltags (Bar-thes 1991) untersucht hat.

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solche Liste ist immer unvollständig und zeigt nicht mehr als das Spektrum und den Horizont, in dem eine politische Theorie Computerspiele behandeln muss. Spiele als Aufbewahrungsform sind dabei auf einer Ebene mit Theorien und fiktionalen Texten, wie Romanen, Theaterstücken, Opern und Filmen. Unter den Begriffen Philosophie und Literatur wurden in den Diskursen der Mo-derne die Textformen Theorie und fiktionaler Text differenziert.5 In der Postmoderne wurde die Differenz dann wieder dekonstruiert6 mit dem Ver-weis, dass einerseits in philosophischen Texten mit Metaphern und Tropen gearbeitet werde und andererseits einigen fiktionalen Texten eine konkrete Botschaft zu Grunde liege. Unbeschadet dieser Dekonstruktion sollen hier strukturelle und somit analysierbare Unterschiede zwischen den Textformen angenommen und zugleich die Dualität der Formen aus der Debatte der Postmoderne, die aus Philosophie und Literatur bestand, zur Trias von Theo-rie, fiktionalem Text und Spiel erweitert werden. Ein oft herangeführter und auch hier interessanter Vergleich zwischen den Textformen Theorie und fiktionaler Text liegt zwischen Machiavellis Der Fürst (Machiavelli 1996, 51-123) und Shakespeares Richard III. (Shakes-peare 1968). In der ersten Textform kommen konstative und präskriptive Sätze vor, die wahrheitsfähig oder nach Kriterien der Richtigkeit beurteilbar sind. Im Theaterstück gibt es dagegen fiktive Sprechakte, deren Inhalt nicht angemessen verstanden wird, wenn man sie auf Wahrheit oder Richtigkeit prüft. Was passiert, wenn eine politische Idee zuerst im Sprachspiel wahrheitsfähi-ger Sätze in einer Theorie und dann performativ auf der Bühne aufgeführt wird? In Der Fürst lesen wir Thesen über die realen Bedingungen des Regie-rens, und in Richard III. sehen wir die Handlungsbedingungen eines Ak-teurs, der sich so verhält, als habe er die Inhalte von Machiavellis Thesen verinnerlicht. Der Code, der hier im Theaterstück relevant wird, ist nicht mehr der zwischen richtig oder wahr und falsch, sondern der zwischen er-folgreich handeln und scheitern. Ähnlich ist es in einem Spiel, und Sid Meiers Civilization lässt sich tatsächlich als eine Spielversion des Fürsten oder Richard des III. verstehen: Strategisches Regierungshandeln in einer

5 Vor allem Habermas hat in Der philosophische Diskurs der Moderne (Habermas 1991)

diese Unterscheidung vorgenommen. 6 Hier wären unter anderem Paul de Mans Allegorien des Lesens (de Man 1988) zu nennen.

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Umgebung mit ebenfalls rational handelnden Akteuren – dies ist das Univer-sum, das alle drei Texte mit ihrer jeweiligen, ihrer Form geschuldeten Be-sonderheit entfalten.

Der high score

Ein wichtiger Vergleichpunkt zwischen den Textformen, an dem strukturelle Unterschiede deutlich werden, ist die Verschiedenheit der Erfolgsbedingun-gen: Für eine Theorie liegt sie in irgend einer Form der Akzeptabilität von Sätzen; je nach Wissenschaftlichkeitsverständnis kann dies eine Version von Wahrheit (Korrespondenz, Falsifizierbarkeit ...), Plausibilität oder Richtig-keit sein. Der implizite Leser stimmt Thesen zu, bezweifelt oder negiert sie, oder er ist sich unsicher. Im fiktionalen Text wird dem impliziten Leser oder Zuschauer eine Rolle gegeben, die vom Prüfen auf Wahrheit verschieden und auf eine andere Re-lation zwischen Textinhalt und implizitem Leser ausgerichtet ist: Analog zur Wahrheit in der Theorie gibt es hier, je nach Text, einen Wert aus der offe-nen Reihe „Spannung, Furcht, Mitleid, Vergnügen, Schauder, Abscheu ...“, also irgendeine Reaktion auf den Inhalt, die nicht identisch ist mit der Frage, ob die Sätze wahr sind. Wenn ein impliziter Leser durch das Genre etwa ei-nen spannenden Text erwartet, dann ist im folgenden analog zur wahr-falsch-Unterscheidung hier die spannend-langweilig-Dichotomie tragend. So wie in einer Theorie ein Satz dann „hochwertig“ ist, wenn er selbst wahr ist und noch eine „tragende“ Rolle für die Gesamtthese spielt, dann ist ein Mo-nolog, ein Dialog oder eine Szene in einem Stück dann hochwertig, wenn dadurch die Handlung in Richtung Spannung vorangetrieben wird. Was ist nun die Entsprechung im Computerspiel? Der implizite Leser, der in dieser Textform nicht ein Zuschauer, sondern ein impliziter Spieler ist, hat hier die Rolle, den ihm vorgegebenen Text auf Handlungsmöglichkeiten oder -konsequenzen zu befragen. Eine Aktion des Spielers ist dann hochwer-tig, wenn sie zum Gewinnen beiträgt, also – in den meisten Fällen – am En-de zu einem höheren high score führt. Der high score leistet im Spiel das, was in der Theorie die Wahrheit und im fiktionalen Text die Spannung oder das Vergnügen bewirkt: Er ist das Kriterium, nach dem die inneren Prozesse der Textform funktionieren. Das hat weit reichende Folgen für die Behandlung etwa politischer Gegens-tände in den Textformen: Etwa die Monarchie als Institution ist in Der Fürst

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ein Objekt, das analysiert wird, in Richard III. ist es eine Handlungsarena, in welcher ein Scheitern zu einer erhabenen Fallhöhe und damit zu Spannung führt. In Civilization ist Monarchie gegenüber der Vorform, der Despotie, eine Möglichkeit, den Nahrungs-, Handels- und Bodenschatzertrag für Städ-te zu erhöhen und so zu Handlungen zu gelangen, die zu einem höheren high score führen. Die Institution hat also einen instrumentellen, mittelhaften Wert, und dies nicht etwa in Relation zum Zweck des guten Lebens der In-dividuen, die in der Monarchie leben oder zukünftiger Individuen, auch nicht in Relation zu einer Lehre idealer Regierungsformen, einem göttlichen Wil-len oder der Verwirklichung der Vernunft, sondern alle Wertigkeit von Handlungen oder Entwicklungen bildet sich im high score selbst ab. Der high score steht für nichts außerhalb des Spiels, er ist kein Symbol, kei-ne Repräsentation irgend eines Prinzips, er ist ein funktionales, aber seman-tisch bedeutungsloses Mittel, um den Text ‚Spiel’ zu strukturieren. Zufällig kann ein high score so beschaffen sein, dass er sich als eine Abbildung eines Handlungsprinzip aus der realen Welt verstehen lässt, aber zunächst und in Bezug auf seine Funktion im Text ist er ein immanentes und nur im Spiel vorkommendes Element. Damit wird aber der high score selbst auf den Rang eines ethischen Prinzips erhoben: Die durch einen high score implizierte Spielethik ist klar konsequenzialistisch, sie kann nicht intrinsikalistisch, kei-ne Prinzipienethik oder Verpflichtungsethik, auch keine Glücksethik (wer sollte glücklich sein?) sein, sondern reine Folgenethik, aber nicht in Bezug auf Glückspunkte der Menschen, denn auch die sind nur funktional bedeu-tend, nicht aber an sich. Der Begriff der Würde des Menschen, der einen Wert des Subjekts an sich ausdrückt, ist in solchen Spielen nicht abbildbar, denn einzig relevant sind die Konsequenzen für das Metaziel, den high sco-re. Von hier aus lassen sich auch Übertragungsprobleme verstehen, die Spie-ler haben, wenn sie Spielperspektiven in die Welt außerhalb der Spiele mit-nehmen möchten: Sie finden keinen high score in der Welt, und dadurch wird alles Wissen, was aus Spielen stammt, richtungs- und orientierungslos.

Handeln und Erleben

Nach dem Strukturprinzip der Textform nehme ich als zweiten Vergleichs-punkt zwischen Theorie, fiktionalem Text und Spiel die Position des implizi-ten Lesers, Zuschauers oder Spielers und verbinde sie mit dem Begriffspaar „Handeln / Erleben“, das wir bei Luhmann als Risiko und Gefahr für die Un-

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terscheidung generalisierter Medien vorfinden (Luhmann 1991). Handeln ist danach das Verbuchen von Veränderungen als Folgen von eigenen, vorheri-gen Entscheidungen und Handlungen, während Erleben die Anrechnung von Veränderungen als Konsequenzen von nicht selbst initiierten Prozessen be-deutet. Die soziologische Unterscheidung von Handeln und Erleben wird beim Ver-gleich der Textformen um den Begriff der Verstehens zur Triade erweitert, womit eine Form des spezifischen Erlebens wahrheitsfähiger Sätze in Theo-rien bezeichnet sein soll. Sicherlich würde im Denken Luhmanns dafür die Kategorie des Erlebens greifen, oder auch – wenn Verstehen im konstrukti-vistischen Sinne gedeutet wird – die des Handelns. Für die Unterscheidung idealtypischer impliziter Leser/Nutzer der drei Aufbewahrungsformen Theo-rie/fiktionaler Text/Spiel scheint mir die Erweiterung der Dichotomie zur Triade dennoch heuristisch fruchtbar zu sein, denn die jeweilige Textform setzt einen impliziten Leser, Zuschauer oder Spieler in eine je bestimmte Relation zum im Text befindlichen Wissen. Während die dominierende Form der Tätigkeit des impliziten Lesers bei theoretischen Texten im Verstehen liegt, tritt beim Theater das Erleben in den Vordergrund. In Machiavellis Der Fürst verstehen wir die Bedingungen von Politik, in Shakespeares Richard III erleben wir das Handeln der Figu-ren, hier speziell einer Figur, die Politik wie der implizite Leser des Fürsten versteht. Während wir in der Theorie mögliche Handlungen verstehen, erle-ben wir das Handeln der Figuren in fiktiven Texten. Im Spiel hingegen erle-ben wir die Konsequenzen unseres eigenen Handelns, nicht das einer erleb-ten Figur. Der Expertenspieler weiß im Gegensatz zum Anfänger auch immer besser, wie er das, was er als Konsequenz eigener Handlugen erlebt, von dem, was er als Zufall erlebt, unterscheiden und zur Grundlage neuer Handlungen machen kann. Diese Differenz zwischen Handeln, Erleben und Verstehen verweist nun selbst auf Machiavelli und die Unterscheidung zwischen virtus und fortuna (Machiavelli 1996, 120), nach der es die zentrale Fähigkeit eines guten Poli-tikers sei zu verstehen, welche Dinge in der Welt sich zufällig und welche sich planbar verändern, wo also genau die Grenze zwischen fortuna und vir-tus, Gefahr und Risiko, Erleben und Handeln sei. Politik besteht hiernach im Verstehen der Grenze zwischen Handeln und Erleben. Im Spiel ist es für den Erfolg wesentlich, diese Unterscheidung zu verstehen.

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Genau dies unterscheidet einen Anfänger von einem passionierten Profispie-ler, dass Anfänger nach spielfremden Kriterien handeln, während Profis wis-sen, was beeinflussbar ist und was nicht. Entsprechendes bezeichnet die Un-terscheidung von ‚play’ und ‚game’. Game-orientierte Expertenspieler kennen die „Hintergrundtheorie“ eines Spiels, die aus kausalen Zusammen-hängen besteht, die zum Teil in Anleitungen nachzulesen sind und zum Teil durch Spielerfahrung langsam ermittelt werden. Hier zeigt sich eine strukturelle Analogie zwischen Politik im Verständnis der Unterscheidung von virtus und fortuna bei Machiavelli einerseits und der abstrakten Struktur der Textform des Spiels andererseits: In beiden Fällen liegt das zu lösende Problem in der Abgrenzung des durch Handlungen Be-einflussbaren vom nicht Beeinflussbaren. Auch hier lässt sich wieder ein Übertragungsproblem verstehen: Im Spiel sind die Spieler daran gewöhnt, dass viele, ja fast alle ihre Handlungen für folgende Handlungen relevant sind und dass sie entsprechend vieles falsch und vieles richtig machen kön-nen, auf jeden Fall aber die meisten ihrer Handlugen in der Kategorie der Rationalität relevant zu beurteilen sind. In der Welt außerhalb der Spiele ist dieses Verhältnis in Bezug auf Politik für die meisten Menschen sicherlich ganz anders, und das, was sie dort als Politik erleben ist zu einem sehr viel höheren Anteil erlebt und nicht erhandelt. Die Politik der Spielwelt besteht im hohen Maße aus virtus, aus Risiko, aus Konsequenzen eigener Handlun-gen, in der Welt außerhalb der Spiele hingegen gibt es viel mehr fortuna, Gefahr und erlebte Veränderungen.

3. Age of Empires und Civilization

Beide untersuchte Spiele sind Simulationsspiele, bestehen also darin, dass innerhalb bestehender Regelgefüge Elemente, Situationen, Konstellationen oder – in den jeweiligen Szenarioerweiterungen – historische Szenarien si-muliert werden.7

7 Damit ist im Genre der Simulationsspiele die Unvereinbarkeit der geregelten und der

fiktiven Betätigung, die noch Caillois bei Spielen angenommen hatte („Die Spiele sind al-so nicht geregelt und fiktiv. Sie sind entweder geregelt oder fiktiv“ (Caillois 1964, 15), aufgehoben.

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Age of Empires

Als Echtzeitstrategiespiel mit inzwischen ca. 16 Millionen verkauften Exemplaren hat Age of Empires den Status eines Klassikers innerhalb der Spielelandschaft eingenommen. Die erste Version kam 1997 auf den Markt, und inzwischen werden Age of Empires III sowie mehrere ausgekoppelte Szenarien als Erweiterungen, eine Mobiltelefonversion des Spiels und Ein-zelspieler- und Mehrspielerversionen angeboten. Das erste Spiel beginnt mit der gespielten Zeit um 8000 v. Chr. und führt den Spieler bis ins Jahr 500 v. Chr., Age of Empires III hingegen spielt in der Zeit von 1500 – 1860. Ein Spieler führt einen Stamm dadurch, dass er die immer größer werdende Zahl der Figuren aus einem Spektrum vorgegebener Möglichkeiten Hand-lungen ausführen lässt. Dies geschieht im Echtzeitmodus, d. h. dass in der realen Spielzeit auch gespielte Zeit vergeht, deren Tempo an das gewählte Schwierigkeitslevel gekoppelt ist, innerhalb derer der Spieler zu handeln hat. Auch wenn der Spieler nichts tut, vergeht also gespielte Zeit, in der sich et-wa andere, vom Computer gesteuerte Figuren, bewegen. Im Ablauf eines Spiels (vgl. Abbildung 1) geht es für den Spieler darum, einen Dorfplatz zu finden, das Dorf anzulegen, Ressourcen aus der Umge-bung abzubauen, Militär- und Zivileinheiten zu generieren, Techniken aus einem universalen Technologiebaum mit Differenzen für bestimmte Völker zu entwickeln und dies alles möglichst so schnell zu tun, dass man beim Kontakt mit anderen Völkern einen technologischen und militärischen Vor-sprung hat, denn ein solcher Kontakt bedeutet im Spiel fast immer Krieg. Dies folgt zwangsläufig aus der unterlegten Entwicklungstheorie: Die Roh-stoffe, die in der Dorfumgebung abgebaut werden, werden knapp, so dass eine Koexistenz bei gleich bleibendem Entwicklungsniveau nicht möglich ist und relativ schnell eine Konkurrenzsituation erreicht wird, die Rousseau im zweiten Teil der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (Rousseau 1998) für den notwendigen Ausgang aus dem Naturzustand verantwortlich macht. Das Spiel sieht zwei Siegbedingungen vor, nämlich entweder ein Weltwun-der zu bauen, was so ressourcenintensiv ist, dass man es sich zumeist nur leisten kann, wenn man zuvor alle Kriege mit den größten Konkurrenten siegreich überstanden hat, oder alle Gegner zu besiegen. Durch die zwangläufige Entwicklung hin zur Konkurrenzsituation, die Sieg-bedingungen und das Echtzeitelement steht im Mittelpunkt des Spiels ein

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kontinuierliches Lösen vorgegebener Probleme. In den Kampagnenversionen des Spiels wird sogar ein Problem zum zentralen Strukturelement erhoben, etwa wenn die Anfangsaufgabe heißt: „Die Engländer sind auf dem Weg zu den Schotten (die der Spieler führt), sie haben ausgebildete Kämpfer, wir haben nur einen Haufen einfacher Bauern“. Es läuft die Spielzeit, bis die Engländer das Dorf erreichen werden, und bis dahin muss man so weit ent-wickelt sein, dass man die Schlacht gewinnen kann.

Abb. 1: Age of Empires: Der Beginn des Spiels

Politik erscheint hier also als gesteuerte Entwicklung und Produktion sowie als Kampf. Der Kampf ist in seiner archaischen Version dargestellt, als Kampf von ‚Mann gegen Mann’ bzw. ‚Figur gegen Figur’, wobei jede ein-zelne Figur für den Gesamtablauf wichtig und zum ‚Helden’ werden kann. Der Spieler lernt als Politiker des eigenen Dorfes, sich in einer fiktiven Welt pragmatisch zu orientieren und die notwendigen Schritte auszuführen, um ein Ziel zu erreichen.

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Civilization

Der wichtigste narrative Unterschied zwischen Age of Empires und Civiliza-tion besteht darin, dass Civilization kein Echtzeitspiel ist, sondern ein run-denbasiertes Globalstrategiespiel, in dem also Spielzeit und gespielte Zeit voneinander entkoppelt sind. Der Spieler spielt nicht einzelne Figuren, son-dern ein ganzes Volk. Auch wenn er einzelne Einheiten bewegen kann, so stehen diese nicht für je einzelne Figuren, sondern für militärische oder zivi-le Einheiten, die wiederum eine Vielzahl von Menschen repräsentieren. Ent-sprechend beschränkt sich die Darstellung von Kämpfen auf das Ziehen von Einheiten und das Erklingen von Kampfgeräuschen. Die erste Version von Civilization, das in einer inhaltlichen Reihe mit seit den 1970ern entstandenen ‚Empire’-Spielen steht und auch einen Vorläufer als gleichnamiges Brettspiel hatte, wurde seit 1991 verkauft. Eine ähnliche Differenzierung von Kampagnen und Szenarien wie bei Age of Empires lässt sich auch bei Civilization beobachten, das inzwischen als Civilization IV an-geboten wird. Ein Spiel beginnt um 2000 v. Chr. und mündet in die Gegenwart bzw. näch-ste Zukunft um 2020. Das Spiel ist auf qualitatives und quantitatives Wach-stum angelegt: Das geführte Volk wächst, breitet sich aus und entwickelt sich wissenschaftlich, technologisch und, wie die oben bereits angedeutete Entwicklung von Staatsformen, auch institutionell. Beide Formen des Wach-stums fließen in den high score ein, der sowohl eine größere Bevölkerung als auch die Zahl der Entwicklungen honoriert. Die Moderne, in die das Spiel mündet, ist dabei sicherlich US amerikanisch geprägt, so sind die modernen Weltwunder, die man bauen kann, etwa der Hoover Damm, das Manhattan-projekt zum Bau der Atombombe oder Krebsheilung, nicht aber die Renten-versicherung, kostenlose Kinderbetreuung oder irgendein anderen sozial-staatliches Element. Ein weiteres Charakteristikum des implizierten Geschichtsbildes bei Civili-zation liegt darin, dass die Moderne ‚dichter’ ist als die vorherigen Epochen. So repräsentiert eine Runde in der Anfangsphase des Spiels 100 gespielte Jahre, am Ende aber nur noch zwei Jahre. Durch das Wachstum der Zahl der Einheiten und der durch Technologie geschaffenen Möglichkeiten, aber auch der erst in der Moderne aufkommenden äußeren Probleme, wie etwa Um-weltverschmutzung, entwickelt sich ein Spiel, das zwar nie so heroisch wirkt wie bei Age of Empires, aber dennoch mit der Konzentration auf einige we-

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nige Einheiten beginnt, hin zu einer Welt, in der Bürokratie und Technisie-rung den Handlungsaufwand pro angestrebtem Ziel erheblich erhöhen, so dass beim Spieler der Eindruck entstehen kann, dass Freizeit hier zur Arbeit wird. Der Zauber des Anfangs (vgl. Abbildung 2), den auch play-orientierte Spie-ler erfassen, weicht im Spiel mehr und mehr der verwalteten und entzauber-ten Welt der Moderne, wobei der Genuss hier eine game-Orientierung gera-dezu voraussetzt.

Abb. 2: Civilization: „Zauber des Anfangs“: Eine unbekannte Welt

Wichtig für unseren Zusammenhang ist der durchgehend instrumentelle Zu-gang zu Institutionen, der am Beispiel der UNO besonders deutlich wird: Der Fortschritt der Staatsformen, der also auch genau als solcher impliziert wird, liegt darin, dass bei den entwickelteren Formen mehr Ressourcen pro Bewohnereinheit generiert werden können, dass sie also rationeller sind. Während die Despotie noch sehr ineffektiv in Bezug auf Ressourcen ist, än-

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dert sich das Verhältnis über die Monarchie, die Republik, den Kommunis-mus bis hin zur Demokratie als der effizientesten und produktivsten Staats-form (Zwischen Staats- und Regierungsformen wird nicht weiter differen-ziert). Die höheren Staatsformen, die man vor ihrer Einsetzung zunächst noch ent-wickeln muss, haben aber bestimmte, spezifische Nachteile. Ein erheblicher spieltechnischer Nachteil der Demokratie besteht darin, dass Stadtbevölke-rungen unglücklich werden und die Regierung stürzen (was eine Phase sehr unproduktiven Umbruchs zur Folge hat), wenn zu viele Militäreinheiten die Stadt verlassen haben (diesen Effekt kann man – auch hier ist der instrumen-telle Blick ganz deutlich – beispielsweise durch die Entwicklung des Frau-enwahlrechts reduzieren). Die Folge davon ist, dass es sehr schwer ist, als Demokratie Krieg zu führen, was zusätzlich dadurch erschwert wird, dass in der Demokratie Verträge geschlossen werden, die man als Spieler nicht mehr ohne Weiteres brechen kann. Wenn eine Demokratie einen Angriffskrieg führen will, kommt zumeist die Nachricht, dass der Senat sich dagegen aus-gesprochen habe, was den Spieler vor die Alternative des Regierungssturzes mit der Folge der ineffizienten Umbruchszeit einerseits oder des Abbruchs der Angriffspläne andererseits stellt. Wenn ein Spieler aber das Weltwunder der UNO entwickelt hat, dann – und das ist beinahe die einzige Wirkung im Spiel – stimmt der Senat fast immer den Angriffsplänen, mit dem Kommen-tar, dass es sich um einen legitimen Krieg handele, zu. Die implizite Bot-schaft ist, dass der Sinn der UNO darin besteht, auch als Demokratie Krieg führen zu können.

4. Age of Empires und Civilization aus Perspektive der politi-schen Theorie

Beiden Spielen gemeinsam ist die Tatsache, dass eigenes Handeln in der Gegenwart, sei es die Echtzeitgegenwart bei Age of Empires oder die Ge-genwart der aktuellen Spielrunde bei Civilization, die Situation der Zukunft beeinflusst. Wie bei Machiavellis Abgrenzung von virtus gegenüber der for-tuna und bei Luhmanns Abgrenzung des Risikos gegenüber der Gefahr, wird in den Spielen ein politischer Raum, in dem Handlungen relevant sind, ge-genüber einem nicht-politischen ‚zufalls-’, also computergesteuerten Bereich abgegrenzt. In den Spielen ist aber ein konstruktivistisches Element ange-legt, das über das reine Verstehen oder Erleben dieses Zusammenhangs hi-

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nausgeht: Die Grenze zwischen Politischem und nicht-Politischem selbst ändert sich durch das Handeln des Spielers, etwa indem er neue Technolo-gien entwickelt, die den Möglichkeitsraum zukünftiger Handlungen ganz neu strukturieren. Die Politik, die im Spiel repräsentiert ist, liegt bei den beiden untersuchten Spielen allerdings auf einem sehr verschiedenen Level, der schon visuell durch das, was man mit der Metapher der Kameraperspektive bezeichnen könnte, zum Ausdruck kommt: Bei Age of Empires ist auf dem hauptsäch-lich im Spiel benutzten Bildschirmbild die Perspektive der Totale einge-nommen, in der noch einzelne Menschen als Figuren und zugleich die Ge-samtheit der Situation des Dorfes erkannt werden können. Entsprechend der Spielidee der ständig zu lösenden Probleme wird hier also auch visuell eine archaische Politik der aktuellen Situation, die Interaktion zwischen anwe-senden Personen dargestellt (vgl. Abbildung 3). Dazu kommen noch beson-dere graphische Elemente bei Kämpfen, die die Flugbahnen von Geschossen oder das Einfallen von Türmen sichtbar werden lassen (vgl. Abbildung 4). Der Fokus liegt hier also auf der Mikroebene anwesender Figuren. Die Perspektive bei Civilization müsste man dagegen analog zum Begriff der Totale wohl ‚Urbane’ (vgl. Abbildung 5) oder ‚Globale’ (vgl. Abbildung 6) nennen, denn die Reichweite des Blickes geht hier viel weiter und umfasst mehrere Städte, Kontinente oder gar die ganze Spielwelt. Zugleich ist die Darstellung nicht mehr mimetisch, sondern zunehmend abstrakt. So ist der Maßstab zwischen Einheiten und Städten etwa nicht wirklichkeitsgetreu, so dass der Spieler auf dem Bildschirm weniger die Simulation eines realen Situationsraumes sieht, in dem er sich bewegen und handeln muss, sondern eine Administrationsoberfläche, auf der die abstrakten Einheiten verschoben werden. Dieser Unterschied zwischen den Politikbegriffen erinnert an Münklers Un-terscheidung zweier Politiken in Odysseus und Kassandra (Münkler 1991): Kassandra warnt vor der Politik in Troja, die auch dem Verständnis in Age of Empires entspricht. Politik ist hier geprägt von Heroismus, Angst und ihrer Überwindung, der Interaktion zwischen Individuen, die relevante personale Qualitäten haben müssen. Bei Odysseus und Civilization hingegen steht ein anderer Politikbegriff im Mittelpunkt: Hier geht es um Verwaltung, Planung, technische Kriegführung und die Erhabenheit der Komplexität.

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Abb. 3

Abb. 4

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Abb. 5

Abb. 6

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Bei Age of Empires ist der Spieler durch die spielspezifische Sequenzierung von Handeln und dem Erleben der Handlungskonsequenzen immer ein Mit-autor des Pathos heroischer Einzelfiguren und ihrer Zusammenarbeit. Bei dieser Interaktion wird aber nicht ein Komplexitätsniveau erreicht, das im Vergleich mit den realen Bedingungen außerhalb des Spiels aus Age of Em-pires etwas anderes machen würde als ein Mittel zum Eskapismus, bei dem die Freude an handlungs- und high-score-relevanten eigenen Handlungen im Mittelpunkt steht. Civilization hingegen ist im doppelten Sinne ein modernes Spiel, nämlich zum einen im Sinne von Münklers Odysseus, also in Bezug auf die Wichtig-keit von Planung und Organisation, und zum anderen im Sinne Webers, in-sofern die gespielte Welt entzaubert wird: Für Pathos ist etwa bei den in-strumentell auf den high score bezogenen Institutionen und der in einer Partie abnehmenden Auswirkungen einzelner Handlungen kein Platz, und einen Wiederverzauberungseffekt können gerade noch game-orientierte Spieler durch die Tatsache erfahren, dass sie in der komplexen Moderne am Ende einer Partie überhaupt noch strategisch handeln können.

Schluss

Mit der Beschreibung politischer Elemente in zwei Computerspielen sollte gezeigt werden, dass erst eine mediumspezifische Strukturbeschreibung von Spielen für die politische Theorie interessante Ergebnisse liefern kann. Mit dem high score und der besonderen Sequenz von Handeln und Erleben wur-den zwei Strukturelemente von Computerspielen identifiziert und beschrie-ben. Im Ergebnis wird sichtbar, dass durch die besondere Struktur von Spie-len Inhalte nicht ohne Weiteres mit ihren vermeintlichen Entsprechungen außerhalb der Spielewelt verwechselt werden dürfen. So ist die UNO bei Civilization nur dem Namen nach eine UNO und dadurch, dass sie im Er-zähluniversum und Möglichkeitsraum des Spiels eine systematische Position einnimmt und somit in einem frame steht, der bei der Herauslösung aus dem Spielkontext wegfällt, kann man nicht sinnvollerweise davon sprechen, dass die UNO im Spiel repräsentiert sei. Ähnliche Bedenken gegen das Herauslö-sen von Bedeutungsträgern aus ihren textuellen und medialen Kontexten ge-lten allerdings generell auch für fiktionale Texte und vielleicht auch für Theorien.

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Literatur

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Anmerkungen zur visuellen Kommunikation im Medium Videospiel aus politiktheoretischer Sicht oder Don Quijote und der Amoklauf der Bilder

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Zusammenfassung

Auch für Videospiele gilt McLuhans Satz: Das Medium ist die Botschaft. Der Kommunikationsmodus im Videospiel – vor allem mit seinem Rückgriff auf Bilder als Informationsträger – hält politiktheoretische Implikationen bereit, die sich vor dem Hintergrund anderer (vornehmlich visueller) Medien herausarbeiten lassen. Und tatsächlich erlauben Videospiele eine Art der Kommunikation, die gegenüber den Defiziten etwa massenmedialer Nach-richten – Interpretationsbedarf, Manipulationsverdacht usw. – weitaus funk-tionaler ist. Das freilich ist politiktheoretisch nicht unbedingt erfreulich – im massenmedialen Kontext aber durchaus verständlich. Die Nähe von Videospielen zu massenmedialen Inhalten und Konventionen, aber auch die Unterschiede zum massenmedialen Unterhaltungserleben auf-grund ihres Spielcharakters wurden bereits des Öfteren festgestellt. Von die-sem Befund ausgehend bietet es sich an, die "Botschaft" des Mediums Vi-deospiel (im Sinne McLuhans: The medium is the message), also ihren spezifischen Kommunikationsmodus, im systematischen Vergleich aus poli-tiktheoretischer Sicht zum massenmedialen Kommunikationsmodus heraus-zuarbeiten. Da am Ende der Untersuchung ein Ausblick darauf stehen soll, auf welche Weise Videospiele einen Beitrag zur Konstruktion politischer Realität leisten (können), wird zunächst der Beitrag anderer Medien zu dieser Konstruktion aus politiktheoretischer Sicht skizziert. Dazu werden system-theoretische ebenso wie semiologische Analysen herangezogen. Auf dieser Basis wird es möglich sein, die Bedeutung der Videospiele in dieser Hinsicht aufzuzeigen, die Dispositionen ihrer Kommunikation darzustellen und zu klären, inwiefern ihre oben erwähnte Nähe zu den Massenmedien strukturell bedingt ist.

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Die politische Realität der Massenmedien: Nachrichten und Unterhaltung

Der Beitrag, den die Massenmedien zur Konstruktion – oder Simulation (Baudrillard 1991, 112ff.) – von Realität liefern, ist kaum zu überschätzen: Fast alles, was wir über die "Wirklichkeit" wissen, wissen wir aus den Me-dien (Luhmann 2004, 9). Dass hierbei an die "direkte" Vermittlung von Wis-sen durch Nachrichten und Berichte gedacht wird, liegt auf der Hand. Doch auch der Bereich der Unterhaltung trägt zur indirekten Konstruktion politi-scher Realität bei (Luhmann 2004, 146ff.), und dies gilt vom Roman bis hin zu den Videospielen selbst, die wir hier ebenfalls als Unterhaltungsmedien und nicht in erster Linie als "Spiel"1 auffassen wollen. Damit wären bereits zwei der drei von Niklas Luhmann unterschiedenen Medienbereiche ge-nannt: Zu Nachrichten und Unterhaltung kommt als dritter Bereich noch die Werbung, die für uns aber weniger interessant ist (für ihren ebenfalls nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Konstruktion politischer Realität vgl. ebd. 145f.). Vollziehen wir jedoch nach, wie die Bereiche "Nachrichten" und "Un-terhaltung" auf die Konstruktion von Realität wirken – beides lässt sich für den Vergleich mit Videospielen fruchtbar machen. Nachrichten und Berichte bieten Informationen an, von denen im Allgemei-nen angenommen wird, dass sie wahr sind. Mit der Produktion von Informa-

1 Die Subsumption von Videospielen unter Spiele wie auch unter Sport bleibt diskutabel –

wir beschränken uns auf einige Randbemerkungen: Die Tatsache, dass man im Spiel als Handelnder unterhalten wird, sollte jedoch nicht per se zu dem Schluss verleiten, dass die "Passivität" bei anderen Arten der Mediennutzung negativ zu bewerten wäre. Denn das Handeln im Spiel ist letztlich wirkungslos (nicht wirk-lich), was eines der zentralen Defi-nitionskriterien von "Spiel" ausmacht. Auf der anderen Seite erscheint die Beschwörung einer durch Videospiele herbeigeführten Vita activa (vgl. Korn 2005, 241) mehr als frag-würdig. Luhmann nimmt ohnehin den Begriff des Spieles als "Metapher" für den gesam-ten Unterhaltungsbereich (2004, 96ff.): Damit ist er jedoch nicht mehr differencia specifi-ca, sondern das genus proximum, dem neben anderem auch die Videospiele zugerechnet werden müssen. Dazu passt die Feststellung Luhmanns, dass Unterhaltung insgesamt es erlaubt, die eigene Identität vor dem Hintergrund einer Fiktion zu reflektieren (ebd., 115f.) – das ist keineswegs ein Spezifikum von Videospielen, wie die neuere Literatur immer wieder glauben machen will. Freilich lassen sich auch ganz andere Definitionen in Anschlag bringen, denen wir hier aber nicht folgen wollen (vgl. etwa Schlütz 2002, 22ff. sowie 56ff.). Wendet man den Spielbegriff dagegen noch weiter gefasst an (etwa wie Röt-zer 1998), so droht er jeden heuristischen Wert zu verlieren.

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tionen wird jedoch zugleich ein Verdacht mitproduziert, der, in Catos Wor-ten, auf die Frage hinausläuft: cui bono? (Luhmann 2004, 78f.) Damit stehen die Massenmedien ständig im selbsterzeugten Manipulationsverdacht, ande-ren Interessen als dem – verallgemeinerbaren – Interesse der Wahrheit zu dienen. Insofern sie auf diese Weise dem systemintern produzierten Zwang ausgesetzt sind, ihre wahren Informationen möglichst widerspruchslos zu reproduzieren, verlagert sich die Kommunikation zunehmend von Worten auf Bilder, denen dann nicht mehr so leicht widersprochen werden kann (Luhmann 2004, 79f.). Dennoch bleibt mit dem Manipulationsverdacht die – vom Mediennutzer wohl nur selten aktualisierte – Anforderung, die darges-tellten Informationen kritisch zu hinterfragen und überhaupt: zu interpretie-ren.2 Massenmediale Kommunikation politischer Realität ist damit zerbrech-lich, und wer für die Erkenntnis dieser Tatsache nicht ohnehin empfänglich ist, wird letztlich durch die Reflexion des Manipulationsverdachtes durch die Medien selbst darauf verwiesen. Es gibt kein Entkommen, was den Verdacht angeht: die einzige Wahrheit massenmedialer Nachrichten ist die "ständig reproduzierte Aporie des hilflos-zweifelnden Informiertseins" (ebd. 80) – für das Individuum mit Sicherheit eine frustrierende Kommunikationserfahrung. Zugleich unterliegt die Möglichkeit, Informationen anzubieten, bestimmten Selektoren. Um nur einige zu nennen: die Informationen müssen neu sein, Konflikte und Quantitäten lassen sich gut darstellen, Handeln wird auf han-delnde Personen zugerechnet, die Normverstöße dieser Personen werden präsentiert und reproduzieren moralische Sensiblität (Luhmann 2004, 58ff.). All diese Selektoren laufen auf eine erhöhte Irritabilität der Gesellschaft hi-naus. Ständig werden Konflikte an Stelle von Konsens, Normverstöße an

2 Einen Beleg dafür bietet der Mitte Dezember 2006 vom belgischen Fernsehsender RTBF

vollzogene "Staatsstreich": Der Sender präsentierte überzeugende Bilder und fingierte Interviews, die den Zuschauern die plötzliche Trennung Flanderns vom wallonischen Teil Belgiens kommunizierten. Als nach einer halben Stunde der quotenträchtige Scherz auf-geklärt wurde, hatte er in der Wirklichkeit schon hohe Wellen geschlagen: Die ersten waren sogar schon für die Einheit Belgiens auf die Straße gegangen. Angeblich hatten 89% der Zuschauer der Nachricht geglaubt und offensichtlich den kurz eingeblendeten Hinweis zu Beginn: "Ceci est une fiction" übersehen. Vgl. hierzu http://www.n-tv.de/744243.html (15.02.2007) und

http://www.faz.net/s/Rub475F682E3FC24868A8A5276D4FB916D7/Doc~ED19406AFA4A44F048CE48C33F1BADF17~ATpl~Ecommon~Scontent.html (15.02.2007).

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Stelle von konformem Handeln und "aktuelle" Probleme thematisiert, so dass beim Mediennutzer der Eindruck eines dysfunktionalen politischen Sys-tems entsteht, das ständig Lösungen für Unvorhergesehenes hervorbringen muss und den Ereignissen hinterherhinkt (vgl. auch ebd. 141ff.). Aus dieser Eigengesetzlichkeit des massenmedialen Nachrichtenbereichs ergeben sich also weit reichende Implikationen für die Konstruktion politischer Wirklich-keit. Wie aber sieht es im Bereich "Unterhaltung" aus? Die Möglichkeiten, die massenmediale Unterhaltung bietet, lassen sich sogleich in Beziehung setzen zum Bereich der Nachrichten einerseits und andererseits der Konstruktion von Realität insgesamt. Denn im Gegensatz zu den "ernsten" medialen Inhal-ten bietet Unterhaltung eine "nicht konsenspflichtige Realität" an, bei der dem Mediennutzer Zustimmung und Ablehnung freistehen (ebd. 112). Damit ist zumindest die frustrierende Kommunikationserfahrung des ständig mit-kommunizierten Manipulationsverdachtes suspendiert. An ihre Stelle tritt die Unterscheidung von real und fiktional, die dem Einzelnen erlaubt, die Fikti-on auf das eigene Leben zu übertragen – oder auch nicht (ebd. 103). Das alles setzt jedoch einen besonderen Modus der Kommunikation in der Unterhal-tung voraus: "Unterhaltung heißt eben: keinen Anlaß suchen und finden, auf Kommunikation durch Kommunikation zu antworten." (Luhmann 2004, 107) Das bedeutet aber auch, dass der Rezipient sich ganz auf das Beobachten zweiter Ordnung einlassen und es so lernen kann. Wenn er auf diese Weise das Erleben und die Motive der Protagonisten beobachtet, wird ihm letztlich suggeriert, dass die gemachten Erfahrungen seine eigenen sind (ebd. 148). Aufgrund dessen wird der Unterhaltungskonsument in die Lage versetzt, sei-ne eigene Position in der Gesellschaft zu verorten und seine Identität an Hand von fiktionalen Identitäten zu entwickeln (ebd.115f.). An dieser Stelle muss jedoch eine Anfrage an Luhmanns Theorie gestellt werden:3 Bringt nicht auch der Bereich der Nachrichten den Mediennutzer in die Position eines Beobachters zweiter Ordnung4, gerade indem ihm der Ma-

3 Oder auch: eine Ergänzung. Die Aussagen, die ich im folgenden treffen werde, stehen

m. E. nicht im Widerspruch zu Luhmanns Theorie, zugleich aber lassen sie sich aus ihr auch nicht in generalisierter Form ableiten.

4 Natürlich nur, insofern dieser Mediennutzer es nicht vorzieht, gegen die Auflösung des belgischen Staates zu demonstrieren – s. Anmerkung 2.

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nipulationsverdacht des beobachteten Beobachters, also der Medien, mitge-teilt wird? Setzt nicht ebenso der Bereich der Nachrichten voraus, dass auf Kommunikation nicht geantwortet wird?5 Allein die Definition von Mas-senmedien scheint darauf zu verweisen: Interaktion ausgeschlossen (ebd. 11ff.). Wird darum hier nicht ebenso die Anschlussfähigkeit dieser Kommu-nikation und ihre Fortsetzung im System selbst erzeugt (ebd. 26)? Wenn dem so ist, dann entsteht so eine äußerst unausgeglichene massenmediale Kom-munikationserfahrung. Die Position des Beobachters zweiter Ordnung muss bezahlt werden: der Anschluss an Kommunikation bleibt dem beobachteten Beobachter, dem Mediensystem vorbehalten. Für diesen Befund macht es dann keinen Unterschied mehr, ob die Kommunikation im Bereich Nachrich-ten/Berichte oder im Bereich der Unterhaltung stattfindet. Ihr Modus selbst ist die "reale Realität" der Massenmedien (ebd. 13).

Der Amoklauf der Bilder

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum mediale Wirklichkeit als fatal für das Politische aufgefasst werden kann – es scheint gerade an ihrem Kommunikationsmodus zu liegen (vgl. hierzu die einschlägigen Theorien von Anders (2002), Horkheimer/Adorno (2003), Postman (1985), Baudrillard (1972, 1991, 2002)). Denn was die Kommunikation betrifft, wird der Medien-nutzer selbst zum eingeschlossenen Ausgeschlossenen, er ist das Ziel einer Kommunikation, in die er für gewöhnlich nicht einsteigen, auf die er also nicht antworten kann (das stellt auch Baudrillard fest, 1978, 91ff.). Es scheint auf der Hand zu liegen, dass das komplementäre Medium einer solchen Kommunikation viel eher das Bild als das geschriebene oder gesprochene Wort sein dürfte (siehe hierzu exemplarisch den Sammelband Bildpolitik – 5 Damit gelangen wir wieder zum Infotainment. Es ist jedoch wichtig, dass die schon zum

Allgemeingut medientheoretischer Forschung gewordene Feststellung, dass auch Nach-richten dem Imperativ der Unterhaltung unterliegen (vgl. hierzu u.a. de Kerckhove 1998, 189ff.), sich hier aus einem anderen Herangehen ergibt. Entscheidend ist für uns nämlich die alleinige Anschlussfähigkeit der Kommunikation im System der Medien selbst. Als Gegenprobe könnte man fragen, unter welchen Bedingungen Nachrichten nicht "unterhal-tend" sind: Nur dann, wenn sie eine handlungsrelevante Information enthalten. Das wird bei einem völlig pluralisierten Publikum meist nur für kleine Gruppen der Fall sein: Die einen (vermutlich die Mehrzahl) sind hervorragend unterhalten von der Teilung Belgiens, die anderen halten diese Information für handlungsrelevant und gehen demonstrieren – Unterhaltung adé.

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Sprachpolitik, Hofmann (Hg.) 2006). Auf seine geringere Anfälligkeit auf Widerspruch wurde oben bereits hingewiesen. Damit ist eine mögliche Form der "Antwort" bereits nahezu ausgeschlossenen: Widerspruch (Hofmann 2006, 158f.). Und mit ihm auch sein Gegenteil, denn Zustimmung zu Bildern erscheint absurd – wer würde sich angesichts einer Nachrichtensendung schon zu der Bemerkung hinreißen lassen, dass die gezeigten Bilder so "wahr" sind? Auf der anderen Seite sind Bilder als Kommunikationsmittel der – z. B. über strukturelle Koppelung – an die Massenmedien angeschlossenen Subsysteme der Gesellschaft aus eben diesen Gründen (zugespitzt: der Manipulation) of-fensichtlich recht beliebt, und diese Beliebtheit gilt auch für diejenigen, die sich "gegen das System" stellen. Terroristen, aber auch Umweltaktivisten und Bürgerrechtler sind gemäß der Eigengesetzlichkeit der Medienwelt auf die Erzeugung von wirksamen, kommunikationsmächtigen Bildern angewie-sen – und das geht sogar so weit, dass Tat oder Ereignis ohne Bilder gerade-zu inexistent sind (Trempler 2006, 119ff.). Das freilich macht jeden, der den Ereignissen durch die Wahrnehmung ihrer Bilder zur Existenz verhilft, zu ihrem unfreiwilligen Komplizen (ebd.). Im medialen Koma technischer Selbstamputation, McLuhans narzisstischer Narkose also (McLuhan 1968, 50ff.), wird er so das Opfer eines Amoklaufs der Bilder. Er kann in seiner massenmedialen Betäubung kaum auf sie antworten und wird dennoch ihr Zeuge. Das lässt die Verhältnisse deutlich werden, in denen das Schlagwort von der "Macht der Bilder" verwendet wird: Dem massenmedialen Bildzu-griff sind die Rezipienten weitestgehend machtlos ausgeliefert. Sie sind einem Effekt dessen preisgegeben, was Jörg Trempler mit dem sehr interessanten Begriff des "Bildwollens" zu fassen versucht hat. Dieses "ma-nifestiert sich im Wunsch nach Wiedergabe von tagespolitischen Ereignis-sen, die nicht mehr mythologisch überhöht, sondern nur noch in Größe und Auswirkung gesteigert werden. Es verbirgt sich hinter dem 'Bildwollen' der Wunsch nach authentischen Bildern, die ebenso unabhängig von Zweck, Ma-terial und Technik sind und sich bewusst gegen ihre Verwandten aus dem Kunstbereich abzugrenzen versuchen […]" (Trempler 2006, 128) Wir wollen hier nicht diskutieren, wie utopisch oder realistisch dieser Wunsch nach au-thentischen Bildern ist, vielmehr wollen wir den Begriff des Bildwollens aus

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politik- und kommunikationstheoretischer Sicht aufgreifen.6 Insofern das Bildwollen dazu angetan ist, Ereignissen mit Hilfe ihrer Verbildlichung ei-nen Platz in der Wirklichkeit zu verschaffen, wird es zum Korrelat unserer zerbrechlichen Auffassung von Wirklichkeit (Baudrillard 1992, 37, Welsch 1998, 240). In dem Maße, in dem wir im Modus massenmedialer Kommuni-kation von einem erfolgreichen Bildwollen abgeschnitten sind, mag uns die Welt sogar unwirklich erscheinen (vgl. hierzu Deleuze 1991, 224). Wer auf der anderen Seite authentisch wirkende Bilder produziert, sein Bildwollen also erfolgreich aktualisiert, der wird über die unidirektionale massenmedia-le Kommunikation unser Wirklichkeitsverständnis mitbestimmen.7 Wenn es einen Wunsch nach Authentizität gibt, dann können wir annehmen, dass er in den technischen Möglichkeiten von Photografie und Film seine Erfüllung findet: Beide geben ja vor, die Wirklichkeit zu denotieren. Die Art und Weise dieser Denotation ist jedoch recht unterschiedlich: In der Photo-grafie blickt uns etwas Dagewesenes an.8 Es kann uns anblicken, weil es kein Tabu kennt: In dem Moment, da es gesehen wird, ist das Abgebildete bereits Geschichte. Es blickt den Betrachter darum an und fordert ihn mit diesem Blick heraus – doch gerade aus diesem Grund sind der Gegenstand eines

6 Trempler geht in seinen Überlegungen davon aus, dass der Stil zunächst unabhängig vom

Medium ist, durch neue Medien aber sehr wohl neue Stile hervorgebracht werden können (2006, 127). Insofern mag die Forderung einer Unabhängigkeit von "Zweck, Material und Technik" plausibel sein – das heißt jedoch nicht, dass damit die Formbestimmungen des Inhaltes durch das Medium (also: das Medium ist die Botschaft) aufgehoben wären (da-gegen scheint auch der überwältigende Konsens hinsichtlich McLuhans Formel zu spre-chen – vgl. etwa den Sammelband von Vattimo/Welsch 1998, in dem sich fast jeder Arti-kel auf McLuhan beruft, siehe hier insbesondere Welsch 1998, 235f. und Krämer 1998, 27ff.).

7 Es scheint übrigens, als wären solche Foren wie YouTube ebenfalls ein Ergebnis des Bildwollens und vor allem des massenmedialen Kommunikationsmodus'. Ob die Unidi-rektionalität der Kommunikation allein auf Grund des Netzcharakters aufgehoben wird oder ob sie diese nicht einfach nur zu einem Vielfachen multipliziert, kann hier nicht dis-kutiert werden – doch scheint es für Euphorie nicht allzuviel Grund zu geben (Baudrillard 1992, 24).

8 Der Begriff des Blickes und des Anblickens ist hier in jener metaphorischen Tradition zu verstehen, in der er immer auch das Angehen, das Berühren, das Herausfordern meint. Ei-ne Photografie kann uns anblicken, ohne dass eine Person auf dem Bild uns ansieht oder auch ohne dass überhaupt eine Person darauf zu sehen ist – selbst Gegenstände können uns in diesem Sinne anblicken.

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photografischen Bildes und sein Sinn grundverschieden (Barthes 1990, 39, 1995, 1188f.). Und auf der anderen Seite: der Film. Im Fluss der Bilder hat der Blick aus dem Bild heraus keinen Platz. Die Illusion der Unmittelbarkeit, der Anwesenheit, die durch die bewegten Bilder entsteht, tabuisiert diesen Blick, der die Illusion selbst zerstören würde. Die Bilder selbst sind hier von einem ihnen eigenen Sinn abgeschnitten (vielleicht von einigen Ausnahmen bei Eisenstein abgesehen), sie produzieren Sinn vorrangig durch ihr Aufei-nanderfolgen, also ihre Narration, in der informativer Bildsinn und Bildge-genstand zusammenfallen (Barthes 1990, 47f., 64f.).

Don Quijote und die Bildkommunikation im Videospiel

Nach diesem langen Anlauf können wir uns nun endlich dem hier interessie-renden Thema zuwenden. Werfen wir zunächst einen Blick auf die Bild-kommunikation im Videospiel.9 Dieses Medium hat den oben unterschiede-nen Bildgenres aus Film und Photografie ein neues Genre hinzugefügt: Das des bewegten Bildes, dessen Gegenstand den Betrachter und Rezipienten (endlich) wieder anblicken darf. Das kommt einer kleinen Revolution in der visuellen Kommunikation gleich: Die Hypostase des Bildersinns in seinem Gegenstand (sujet) und die Bewegung des Ganzen als unmittelbare Anwe-senheit des Sinnes (im Gegensatz zum Stillstand der Photografie) läßt das, was hinsichtlich der Videospielwelten als virtuelle Realität verstanden wird, überhaupt erst möglich werden. Der im Bild dargestellte Gegenstand bewegt sich und darf dennoch aus dem Bild herausblicken. Neben die Feststellung, nach der Videospiele massenmediale Sehkonventionen übernehmen und ge-mäß einem naturalistischen Imperativ10 reproduzieren würden, tritt also eine gegenläufige Diagnose: Das Videospiel hat – im Prinzip unabhängig von seiner Digitalität11 – ein neues Bildgenre begründet, ein Genre, das alther-

9 Im folgenden wird der Begriff Videospiel verwendet – das soll dem Umstand Rechnung

tragen, dass es hier gerade um den Aspekt des video (lat. ich sehe) geht. 10 Dieser naturalistische Imperativ ergibt sich nicht in erster Linie aus Detailtreue gegenüber

dem, was real zu sehen wäre, sondern viel eher aus dem, was intuitiv Plausibilität beans-pruchen kann. Das ist freilich nichts als die Umkehrung des für die visuelle Politik formu-lierbaren Satzes: "Was immer plausibel sein soll, muss letztlich realistisch abbildbar sein." (Hofmann 2006, 160).

11 Die Digitalität des Bildes wurde theoretisch bereits eingehend gewürdigt, vgl. hierzu u.a. die unterschiedlichen Perspektiven bei Meyrowitz 1985 und Wiesing 2002.

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gebrachte massenmediale Sehkonventionen sprengt und zugleich Nutznießer ihrer Übersteigung ist. Das bedeutet aber auch, dass die Kommunikation ih-ren Anschluss nicht mehr in sich selbst suchen und finden muss, sondern dem "interaktiven" Mediennutzer (Klimmt 2006, 32) gestattet, an der Kom-munikation teilzunehmen. Das Bildgenre und der Kommunikationsmodus hängen auf das Engste zusammen. Mit dem Bildgenre des Videospieles wird das, was für massenmediale Kommunikation charakteristisch ist, umgekehrt: Die Interaktion unter Anwesenden (selbst wenn es nur ein Nutzer mit seinem Spielgerät ist) findet wieder statt, und zwar genau durch die zwischenge-schaltete Technik (Luhmann 2004, 11). Wenn das Bildgenre sich ändert, dann verändert sich auch der Bezug des Rezipienten zu dem Dargestellten. Der Sinn von Videospielbildern ist, inso-fern er auf eine gelingende Kommunikation zur erfolgreichen Realisierung des Spielerlebens absolut angewiesen ist, nicht mehr so fragil wie jener der massenmedialen Bilder. Dadurch, dass Bildgegenstand und -sinn zusammen-fallen und so jede Polysemie, jede Vieldeutigkeit des Bildes kollabieren las-sen, wird kognitive Kapazität für die dem Spieler ständig gebotene Reaktion frei. Darüber hinaus werden die produzierten Bilder selbst zum Zeugnis ge-lungener Kommunikation: Der Spieler selbst hat sie durch seine Eingaben im Verlauf des Videospiels verursacht. Er kann auf dem Wege dieser Verursa-chung sein eigenes Bildwollen verwirklichen, denn der für das Selbstwirk-samkeitserleben (Klimmt 2006, 77ff.) auf der Ebene der Eingabe-Ausgabe-Schleife konstitutive Effekt der unmittelbaren Wirkung wird vorrangig über Bilder kommuniziert, ebenso wie auch der Erfolg auf der Ebene der Spiel-episode häufig durch das Abspielen von Videosequenzen belohnt wird. Die vom Spieler wahrgenommenen Bilder dokumentieren ein Bildwollen, das stets erfolgreich ist, insofern die Produktion des Bildes einem Bildverursa-cher – dem Spieler – zugerechnet werden kann.12 Er macht seinen eigenen Film, ist dabei sein eigener Held – doch was entscheidend ist: er sieht sich dabei zu, indem er die Bilder konsumiert, die er selbst produziert. Wenn der Spieler auf diese Weise in diesem Kommunikationssystem agiert, dann wird man sagen dürfen, dass er selbst damit zugleich eine Prothese des Spielgerä-

12 So wie auch bei Klimmts Konzept des Selbstwirksamkeitserlebens kommt es nicht zuerst

darauf an, ob das Spiel erfolgreich verläuft, sondern dass der Spieler sich selbst als Verur-sacher (in unserem Fall also: als Bildverursacher) erfährt.

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tes ist. Systemtheoretisch irritiert er dieses ebenso wie es ihn. Doch wenn die Kommunikation in diesem Modus stattfinden soll, dann muss auch er selbst eindeutig und rein funktional kommunizieren und der eindeutigen visuellen Kommunikation seines Gegenübers entsprechen. Doch was bedeutet es, wenn Bilder nicht polysemisch sind, wenn ihr Sinn und ihr Gegenstand zusammenfallen und durch ihren Blick aus dem Bild obendrein unmittelbar zur Handlung auffordern? Kann das Dargestellte als derart "rein pragmatisch" aufgefasst werden, so dass es keines Hintersinnes mehr bedarf? Erinnern wir uns hier an Cervantes‘ Don Quijote, den Paten all jener, die ein Medium über die Maßen benutzt haben: Der Held der Ge-schichte hat zu viele Ritterromane gelesen und – so können wir in diesem Rahmen durchaus sagen – konstruiert darum eine völlig irrwitzige politische Realität und lebt aus vollem Herzen eine anachronistisch-phantastische Iden-tität aus. Don Quijote erkennt in dem, was er sieht (einfache Herbergen, Bauernmädchen und Galeerensklaven) nicht nur auf Grund der abwegigen Ähnlichkeiten ganz anderes (Schlösser, Prinzessinnen und zu Unrecht Un-terdrückte). Er sieht Menschen und Sachverhalte, die gerade diejenige Hand-lungsrelevanz für ihn besitzen, deren notwendige Existenz ihm beim Lesen der Ritterromane eingetrichtert wurde. Auch für ihn fallen die Gegenstände mit ihrem Sinn unmittelbar zusammen (und das macht Don Quijote semiolo-gisch so interessant13). Hierin könnte er als paradigmatischer Fall gelten, was

13 „Don Quijotte [sic!] ist das erste der modernen Werke, da man darin die grausame Ver-

nunft der Identitäten und Differenzen bis ins Unendliche mit den Zeichen und den Ähn-lichkeiten spielen sieht. Die Sprache zerbricht darin ihre alte Verwandtschaft mit den Dingen, um in jene einsame Souveränität einzutreten, aus der sie in ihrem abrupten Sein erst als zur Literatur gewordene wieder erscheinen wird. Die Ähnlichkeit tritt dort in ein Zeitalter ein, das für sie dasjenige der Unvernunft und Imagination ist.“ (Foucault 2002, 81) Zwei Anmerkungen: (1) Bei Foucault ist es die Sprache, die in "jene einsame Souve-ränität" eingetreten ist – bei uns sind es gemäß Barthes' Programm einer allgemeinen Se-miologie (1981) nun die Bilder in ihrer Bildsprache, die in eine solche Souveränität ein-treten. Diese konstituiert sich durch den Verlust einer Ähnlichkeit, die als Zeichenähnlichkeit verstanden werden muss: Der Sinn gibt sich nicht mehr in einer Ähn-lichkeit Preis. (2) Für die Semiologie der massenmedialen Bilder bedeutet dies, dass sie, indem sie ihre Handlungsrelevanz bereits verloren haben, auch noch ihr Signifikat ver-schwinden lassen und die massenmediale Hyperrealität nur durch die Signifikanten er-scheint (Baudrillard 1991, 112ff.). Die Bilder als Signifikanten werden souverän und los-gelöst von jedweder "Realität". Gerade das ruft freilich den "Irren" (Foucaults Irren) auf den Plan, der den Zeichen und Bildern eine pragmatische Bedeutung zurückgibt. Was

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die Videospiele angeht: Don Quijote hat schon weit vor der Zeit einiges von einem – freilich völlig überzeichneten – Videospiel-Konsumenten an sich. In die heutige Zeit transponiert müsste er in jedem Regierungsgebäude Terro-risten, unter jedem Gullideckel Monster und nach jedem Tod ein zweites Leben erwarten. Was uns als die Krankheit eines "Irren" (Foucault 2002, 81) vor über 400 Jahren belustigt, ist für die gegenwärtige Sozialwissenschaft jedoch Grund zur Besorgnis und kontroversen Diskussionen. Denn was macht ein Videospieler anderes, als ständig nach Zeichen mit pragmatischer Valenz Ausschau zu halten? Jeder Gegenstand soll seinen Sinn in sich tra-gen, jedes Zeichen soll seiner Bedeutung so nahe wie möglich sein. Die im Videospielbild dargestellten Gegenstände sind darum rein funktio-nell, sie haben keinen Eigenwert mehr, sondern nur noch eine universelle Zeichenfunktion (Baudrillard 2001, 84). Das – mitunter sogar photorealisti-sche – Bild im Videospiel repräsentiert einerseits also nichts mehr (vgl. Baudrillard 1994, 18, Poster 2000, 65, Wiesing 2000, 24f.) und lässt anderer-seits den Bildsinn mit einem – denotierten – Bildgegenstand zusammenfal-len. Darum bedarf es interpretatorischer Vigilanz in höchstem Maße, um zu begreifen, dass die Bilder eine Kultur zugleich naturalisieren und einem Funktionalismus unterwerfen und so ihre vieldeutigen Konnotationen in der scheinbar reinen, funktionalen Denotation perfekt verstecken können. Dass die pragmatische Valenz des Bildgegenstandes mit zunehmendem Photorea-lismus durch den Denotationscharakter des Bildes zusätzlich naturalisiert wird (vgl. Barthes 1990, 21), darf dabei politik- und demokratietheoretisch als äußerst fragwürdiger Erfolg gelten – wenn dieser stilistische Naturalismus von der Mehrzahl der Spieler auch begrüßt zu werden scheint.14 Denn ein Kommunikationsmodus, der seine Funktionalität nicht auf Interpretation aufbaut sondern auf Eindeutigkeit, wo es eigentlich gar keine Eindeutigkeit geben kann – im Bild –, wird auf diese Weise antidemokratisch und faschis-

massenmedial nicht mehr zu haben ist: eine pragmatische Valenz der Bilder, wird hier disponibel, allerdings nur, weil die Realität als Anspruch (in Cervantes' Fall ironisch) be-reits ausgeschaltet ist.

14 Je virtueller die Realität ist, um so eher wird sie der Authentizität den Status eines Fetisch verleihen – das ist auch schon bei Film und Fernsehen so. Je mehr der Zugriff auf die "Realität" verloren geht und mittelbar wird, um so höheren magischen Wert hat all das, was noch als "echt" erlebt werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint der Fetisch Authentizität als Alibi der Realität.

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toid. Behält man jedoch im Auge, dass Videospiele mit diesem "funktional-faschistoiden" Kommunikationsmodus vor allem ein Kontrastprogramm zur massenmedialen Nachrichten- und Unterhaltungswirklichkeit mit ihren "Fehlern" bilden, sollte dieser Befund nicht zu sehr beunruhigen. Er weist jedoch darauf hin, dass einer politischen Emanzipation (im Sinne der Aufklä-rung und der Postmoderne) des Individuums enge Grenzen gesetzt sind, was die Bereitschaft angeht, problematische Formen der Kommunikation zu be-wältigen. Die kompromisslose Funktionalität der visuellen Kommunikation im Videospiel eröffnet dagegen die Utopie einer handlungsfähigen Politik, die nicht auf Interpretation angewiesen ist, dafür aber ihre Funktionen rei-bungslos erfüllen kann – das Gegenmodell zu der Art und Weise, in der Nachrichten die politische Wirklichkeit konstruieren (s.o.). Die eigentliche Aufgabe der politischen Theorie bleibt wohl, darauf zu verweisen, dass eine solcherart funktionierende Politik mit all ihren Implikationen viel eher eine Dystopie ist. Wir haben gesehen, dass Videospiele sich im Kontext massenmedialer Kommunikationsformen analysieren lassen. Für den Bereich der Unterhal-tung lassen sich zwar weitreichende Ähnlichkeiten feststellen (Fiktionalität, Erprobung von Identitäten, Dominanz visueller Kommunikation), doch zu-gleich ändert sich durch die Möglichkeit, sein eigenes Bildwollen zu aktuali-sieren, der Modus der visuellen Kommunikation grundlegend, so dass er für eine Übertragung auf den Bereich Nachrichten/Berichte, dessen Kommuni-kationsmodus der seine diametral gegenübersteht, prekär erscheinen muss. Andererseits mag sich ein Bedürfnis nach diesem Kommunikationsmodus gerade aus den als problematisch empfundenen Kommunikationsmodi der "benachbarten" Massenmedien ergeben, und so wäre es angesichts dieser Einbindung wohl überzogen, in Videospielen ein neues Leitmedium zu se-hen, das als solches angesichts rapide wachsender Nutzerzahlen eine nicht zu überschätzende Bedeutung bei der Konstruktion von politischer Wirklichkeit gewönne. Auch im 16. Jahrhundert wurde – bei einer weit geringeren Me-dienformenvielfalt – nicht jeder, der Ritterromane las, zum Don Quijote, selbst dann nicht, wenn er in seiner lebensweltlichen Wirklichkeit derart un-zufrieden war wie der Protagonist in Cervantes' Roman. Man sollte die Be-deutung eines einzelnen Mediums und seiner Wirkung keinesfalls verabsolu-tierend überbewerten (vgl. hierzu auch Schmidt 1999, 299, Welsch 1998,

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242ff, Zielinski 2002, 17). Als Indikator für den Zustand von Bedürfnissen, die sich aus den dominanten Modi der Kommunikation politischer Wirklich-keit ergeben, können sie jedoch durchaus aussagekräftig sein. Und hier lässt sich lediglich wiederholen, was zuvor auch schon festgestellt worden ist: Es gibt vermutlich zahlreiche Menschen mit geringer Emanzipationsfähigkeit hinsichtlich Kommunikation bei gleichzeitigem Bedürfnis nach absoluter Funktionalität von Politik durch Eindeutigkeit – und das bedeutet letztlich immer gegenüber einer pluralen Gesellschaft mit einer ebensolchen Medien-kultur: vereinfachte Sinn- und Deutungsmuster politischen Handelns, ganz gleich im Rahmen welcher Ideologie (vgl. hierzu auch Schmidt 1999, 297). Auf der anderen Seite lassen Videospiele zumindest an der Produktion von Pseudo-Ereignissen im Rahmen ihrer Bildkommunikation teilhaben. Man partizipiert ein wenig am Amoklauf der Bilder, indem man selbst in den Rang eines Bildproduzenten aufsteigt. Damit freilich ist dem Einbruch der Wirklichkeit durch ein absolutes Ereignis (Baudrillard 2002, 11, 29) das Tor weit geöffnet: die Kolonisation des Imaginären durch virtuelle Welten in "Erwartung eines fatalen Szenarios" (Baudrillard 1992, 88) – wen hat es nicht einmal gereizt, beim Spiel mit dem Flugsimulator in ein Hochhaus zu flie-gen? – leistet ihm längst schon Vorschub.

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II. Spieleanalysen

Eine Reise zu fremden Völkern

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Eine Reise zu fremden Völkern

Wie ein japanisches RPG das Thema „Rassismus“ ins Spiel bringt

Michael Nagenborg

Zusammenfassung

Japanische Computerrollenspiele werden als Subgenre des Computerrollen-spiels wahrgenommen. Tatsächlich lassen sich Unterschiede zu den westli-chen Genrevertretern ausmachen, welche z. T. in Hinblick auf die verwen-dete Hardware erklärt werden können. Zu den Merkmalen gehört, dass die Protagonisten zumeist menschlich sind und keiner Fantasy-Rasse angehören. Das Spiel „Arc – Twilight of the Spirits“ (2004 in Deutschland für die PS2 erschienen) stellt eine bemerkenswerte Ausnahme dar, da einer der zwei Pro-tagonisten offensichtlich nicht menschlich ist. Eine Analyse der narrativen Ebene zeigt, wie es den Entwicklern gelingt u. a. Themen wie „Rassismus“, „Völkermord“ und „Vertreibung“ ins Spiel zu bringen. Dabei zeigt sich auch, dass in diesem Genre die narrative Ebene für die Würdigung des Spiel-inhaltes von entscheidender Rolle ist und nicht vernachlässigt werden darf.

Einleitung

Anhand des Beispiels "Arc the Lad: Twilight of the Spirits" (im folgenden "Arc: TotS" abgekürzt) soll untersucht werden, wie in einem japanischen Computerrollenspiel Politik im Allgemeinen und Fremdenhaß und Genozid im Speziellen zum Thema eines Spiels gemacht werden. Der Titel des Auf-satzes bezieht sich dabei sowohl auf die Reise der Protagonisten innerhalb der Spielhandlung als auch auf die Tatsache, dass wir es hier mit einem ja-panischen Spiel zu tun haben, welches seine Reise zu einem fremden Volk (nämlich: uns) angetreten hat. Bei meinem Fallbeispiel handelt es sich um ein

• japanisches Computerrollenspiel, das • für einen Spieler entworfen wurde und ausschließlich für die • Playstation 2 erschienen ist.

In der mir bekannten Literatur wird zwar auf den Unterschied zwischen PC-Titeln und Konsolen-Titeln hingewiesen, der Schwerpunkt liegt jedoch ein-

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deutig auf PC-Titeln. Dies lässt sich vielleicht dadurch erklären, dass die meisten Autoren ohnehin über einen PC verfügen und Konsolen-Titel aus technischen Gründen schwerer zu dokumentieren sind. Zudem wird zur Zeit den sog. Massive Multiplayer Online Roleplaying Ga-mes die meiste Aufmerksamkeit gewidmet, was angesichts des großen Er-folges von Spielen wie „World of Warcraft“ durchaus verständlich ist. Den-noch sollte dies m. E. nicht dazu führen, dass alle anderen Varianten nicht länger beachtet werden – und sei es auch nur, um die Popularität anderer Titel besser zu verstehen. Schließlich führt die Fokussierung auf Online-Spiele auf PC-Basis dazu, dass dem Subgenre des japanischen Rollenspiels kaum Beachtung geschenkt wird, dessen Heimat die Konsole ist. So wird etwa in dem sehr umfangrei-chen „Handbook of Computergame Studies“ (2005) nur ein einziges japani-sches Rollenspiel kurz erwähnt (nämlich „Final Fantasy“). Dabei erfreuen sich einzelne Vertreter dieses Subgenres (z. B. die Titel der „Final Fantasy“-Reihe) auch in Deutschland großer Beliebtheit. Vor allem werden die Spiele aber auch von einer kleinen Gruppe von Nut-zern als von ihnen als bedeutsam wahr genommener Teil der japanischen Popkultur intensiv rezipiert. Z. B. dienen die Figuren der Spiele als Vorlage für die sog. Cosplayer. Dabei dominieren zwar ganz klar die Charaktere aus der „Final Fantasy“-Reihe, allerdings lassen sich auch Beispiele finden, bei denen „Arc: TotS“ als Vorlage dient. Deswegen sollten japanische Rollen-spiele m. E. auch als ein Teil des symbolischen Universums betrachtet wer-den, das durch Animes und Mangas definiert wird. Die Rollenspiel-Reihe "Arc the Lad" wurde in den Jahren 1995-1999 für die "Playstation" entwickelt. Bei "Arc the Lad: Twilight of the Spirits" handelt es sich um den ersten Teil der Reihe, der für die "Playstation 2" entwickelt wurde. Es ist außerdem der erste Teil der Reihe, der in Europa veröffentlicht wurde. Dabei wurde der Titel von „Arc the Lad: …“ auf „Arc: Twilight of the Spirits“ verkürzt.1 Das Spiel ist in Japan und den USA 2003 erschienen, in Deutschland ist es seit dem 28. Januar 2004 erhältlich. Die USK gab das Spiel „ab 6 Jahre“ frei, was anzeigt, dass das Spiel trotz seiner düsteren Thematik und zahlreichen

1 Eine Übersicht zu den Titeln der Reihe findet sich z. B. auf http://www.mobygames.com/

game-group/arc-the-lad-series (abgerufen am 12.10.2006). Nicht erwähnt wird dort der Ableger „Arc the Lad: Monster Game with Casino Game“, der nur in Japan erschienen ist.

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Kampfelemente auf die Darstellung expliziter Grausamkeiten weitestgehend verzichtet. Für Sony waren die ersten Titel der Reihe für die Markteinführung der „Playstation“ von entscheidender Bedeutung, sollte es doch als eines der ers-ten Computerrollenspiele auf der neuen Hardware, die 1994 erschienen war, als Kaufargument für die Konsole dienen. Ulrich Wattenberg berichtet in seinem Aufsatz „Computerspiele in Japan“ (1998), dass bei Erscheinen eines neuen Titels der Reihen „Final Fantasy“ oder „Dragon Quest“ „… die Kin-der in großer Zahl die Schule schwänzten, um die ersten Käufer zu sein“ (Wattenberg 1998, 387).. Chris Kohler erwähnt in seinem Buch „Power up – How Japanese Video Games Gave the World an Extra Life“ (Kohler 2005, 87), dass dies 1988 zu einem Erlass des japanischen Parlamentes führte, in dem festgelegt wurde, dass neue Titel der „Dragon Quest“-Reihe nur am Sonntag oder während der Ferien erscheinen dürfen. Beide Reihen erschie-nen für Nintendos Konsolen „Famicom“ bzw. „Super Famicom“.2 Ein Anzeichen für die Popularität der Serie ist, dass auch eine TV-Serie zum Spiel produziert wurde, die 1999 in Japan ausgestrahlt wurde.3 Aufgrund dieser Vorgeschichte ist es nicht verwunderlich, dass der erste PS2-Titel der Serie mit entsprechender Sorgfalt produziert und von der Kritik auch positiv aufgenommen wurde.3 Obwohl es sich bei „Arc: TotS“ um den vierten Teil der Serie handelt, lässt sich das Spiel ohne Vorkenntnisse der ersten Titel spielen. Die Spielwelt ist zwar die gleiche, die Handlung ist jedoch mehrere hundert Jahre später an-gesiedelt. Die Geschichte, die in den ersten Teilen erzählt wird, ist in der Spielwelt des vierten Teils allerdings noch als Mythos relevant, der dem Spieler im Laufe der Handlung im wahrsten Sinne des Wortes offenbart wird. Außerdem wird den Spielern der ersten Teile mittels kleiner Anspie-lungen und Gastauftritten von Charakteren der Originalserie ein Mehrwert geboten.

2 Vgl. z. B. http://de.wikipedia.org/wiki/Dragon_Quest sowie

http://de.wikipedia.org/wiki/Final_Fantasy_%28Spiel%29 (abgerufen am 13.10.2006). 3 Vgl. z. B. http://www.tvrage.com/shows/id-870/ (abgerufen am 12.10.2006) sowie

http://en.wikipedia.org/wiki/Arc_The_Lad (abgerufen am 12.10.2006).

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Japanische Computerrollenspiele – kurz gefasst

Japanische Computerrollenspiele werden als Subgenre des Computerrollen-spiels wahrgenommen, wie z. B. der Eintrag „Japan-Rollenspiel“ und der Abschnitt „Japanisch (östlich)“ im Artikel „Computer-Rollenspiele“ in der deutschen Wikipedia belegen.4 Hinsichtlich japanischer Computerrollenspie-le lässt sich also eine bestimmte Erwartungshaltung der (potentiellen) Spieler ausmachen, die sich in Stichworten wie folgt umreißen lässt:

1. Sie haben eine inhaltlich und vor allem stilistische Nähe zu Mangas und Animes.

2. Sie haben eine unbeschwerte Grundstimmung bzw. die Charaktere werden als "niedlich" dargestellt (vgl. Kohler 2005, 94).

3. Sie sind vom Spielablauf her linear und bieten wenig Handlungsfrei-raum.

4. Sie legen statt dessen großen Wert auf eine ansprechende Präsentati-on, wobei

5. sie eine „epische“ Geschichte erzählen, bei dem es um alles, mindes-tens aber um die Rettung der Welt geht.

Hinsichtlich der Punkte 3, 4 und 5 ist zu betonen, dass die Ursprünge des japanischen Rollenspiels in den 80er Jahren liegen. Aufgrund der einge-schränkten Hardware musste damals – stärker als heute – eine aufwendige und im Details stimmige Präsentation mit Handlungsfreiheit erkauft werden. Ebenso wurde das Benutzerinterface auch aufgrund der üblichen Eingabege-räte (Joypad statt Tastatur) gegenüber dem US-amerikanischen Vorbild „Wizardry“ vereinfacht, das für Heimcomputer entwickelt worden war (vgl. Koch 2005, 85, 91). Die Entwickler zielte damit auf den japanischen Mas-senmarkt, der 1985 durch „Super Mario Bros.“ erschlossen worden war. Nach Ansicht der Entwickler von „Dragon Quest“ richtet sich das Vorbild „Wizardry“ nämlich zu sehr an technik-orientierte Computerfreaks (Kohler 2005, 86). Der Erfolg der ersten Spiele gab den Entwicklern nicht nur rück-blickend recht. Es gilt diesen ernormen kommerziellen Erfolg auch zu be-achten, um zu verstehen, warum sich hier ein eigenes Subgenre ausbilden konnte.

4 http://de.wikipedia.org/wiki/Japano-Rollenspiel, http://de.wikipedia.org/wiki/Computer-

Rollenspiel (abgerufen am 12.10.2006).

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Alle genannten Punkte treffen übrigens auch auf unser Beispiel zu, das in der Fachpresse deswegen auch als „ein sehr konventionelles Nippon-RPG“ (www.4players.de) beschrieben wurde. "Arc: TotS" bricht jedoch auch an einigen Stellen mit den Erzählkonventionen des Genres, insbesondere was das rollenspieltypische Konzept der Rassen betrifft. Typisch für Rollenspiele im Allgemeinen ist, dass die Charaktere verschie-denen Rassen angehören. Dass das Konzept der „Rasse“ für die Gattung in-sgesamt zum Merkmal wurde, lässt sich insbesondere mit der Entstehungs-zeit des ersten, kommerziell erfolgreichen Rollenspielsystems, „Dungeons & Dragons“ (1974), erklären: Dieses knüpfte an die damalige Popularität der Werke von J. R. R. Tolkien an und erlaubt es dem Spieler, die Geschichten als Mensch, Elfe, Zwerg oder Halbling zu spielen. „Halblinge“ sind dabei Mischrassen, bei denen ein Elternteil den Menschen zugehörig ist. Halblinge werden nach ihrem nicht-menschlichen Elternteil bezeichnet, eine „Halb-Elfe“ ist also das Kind eines Menschen und einer Elfe. Im Unterschied dazu tendieren japanische Computerrollenspiele dazu, Men-schen als Protagonisten zu wählen. Insofern ist es bemerkenswert, dass in „Arc: TotS“ der Spieler die Handlung aus der Sicht von zwei Protagonisten erlebt, von denen einer offensichtlich nicht-menschlich ist. Der Darstellung der Rassen wird dementsprechend auch mein Hauptaugenmerk in der Analy-se gelten.

Fallbeispiel: „Arc – Twilight of the Spirits“

Spielelemente

Bei „Arc: TotS“ lassen sich verschiedene Spielelemente ausmachen, wobei ich zwei Ebenen unterscheiden möchte: die rundenbasierten Kämpfe und die narrative Ebene des Spiels. Diese sind im Spiel deutlich voneinander ge-trennt, wobei der Übergang von der narrativen Ebene zum Kampf im Spiel auch audio-visuell inszeniert wird. Die Ebenen sind zwar miteinander ver-bunden, da der Spieler die Kämpfe bestehen muss, um z. B. zu einem ande-ren Ort zu gelangen, die Kämpfe haben aber ansonsten keinen unmittelbaren Einfluss auf die Geschichte des Spiels. Die eigentlichen Rollenspiel-Elemente sind in ihrer Auswirkung dabei auf die Kämpfe beschränkt. Die Attribute, welche die Charaktere in der für Rol-lenspiele typischen Art und Weise definieren, sind also auf solche Werte beschränkt, die für den Kampf entscheidend sind. Kritisch könnte man also

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anmerken, dass das Potential von Rollenspielen auch komplexe Formen der sozialen Interaktion zu simulieren in dem Spiel nicht im Ansatz ausgereizt wird. Es gibt z. B. keinen Wert wie „Charisma“, der über den Erfolg oder Misserfolg von Dialogen mit anderen Charakteren entscheidet. Deshalb werde ich mich im folgenden auf die narrative Ebene des Spiels beschränken, obwohl die zahlreichen Kämpfe sicherlich für den Spielenden ein wichtiges und dominantes Merkmal des Spielerlebnisses darstellen. Die Analyse der narrativen Ebene wird dabei durch den linearen Charakter des Spiels erleichtert, ist allerdings dennoch kein triviales Unterfangen, da der Spielumfang insgesamt ca. 60 Stunden beträgt. Ein sog. „Game Script“, in dem die wesentlichen Dialoge des Spiels wiedergegeben werden, und das von einem produktiven Fan im WWW verfügbar gemacht wurde, hat einen Umfang von 282 Druckseiten. Es war mir übrigens eine große Hilfe bei der Vorbereitung dieses Beitrages.5

Die Spielwelt

In der Spielwelt von „Arc: TotS“ lassen sich fünf Arten von Wesen unter-scheiden: Götter, Geister, Menschen, Deimos und Monster. Die Götter haben die Spielwelt schon vor langer Zeit verlassen und werden deswegen hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Über das Schicksal der Welt wachen seitdem die Geister, die im Laufe der Spielhandlung zum ersten Mal seit langer Zeit wieder direkt mit den Men-schen und Deimos in Verbindung treten. Wie der Untertitel des Spiels be-reits andeutet, geht ihre Zeit jedoch dem Ende entgegen: „Twilight of the Spirits“ = „Geisterdämmerung“ (in Analogie zu "Götterdämmerung"). Zentral für die Mythologie der Spielwelt sind die Menschen, die lange Zeit die Welt alleine bewohnten und unter der wohlwollenden Obhut der Geister lebten. Da die Menschen jedoch immer anspruchsvoller wurden, wendeten sie sich Wissenschaft und Technik zu, um zu mehr Wohlstand zu gelangen. Da sie dabei die Natur immer weiter zerstörten, wurde das Band zwischen Menschen und Geistern zerstört bzw. den Geistern ihre Existenzgrundlage entzogen. Die Geister hinterließen allerdings die „Geistersteine“ (die zentra-le Ressource in dem Spiel) und die fünf „großen Geistersteine“ (Sitz der Elementarkräfte der Geister).

5 http://db.gamefaqs.com/console/ps2/file/arc_the_lad_tots_script.txt (abgerufen am

04.10.2006).

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Die Menschen sind auch für die Existenz der Monster verantwortlich, die von ihnen als biologische Waffen gezüchtet wurden. Einige Monster, welche in der Nähe der großen Geistersteine leben, mutieren zu intelligenten Wesen, den Deimos. Da die Deimos aus den Monstern hervorgegangen sind, neigen sie allerdings von Natur aus zu Aggression und Gewalt und es fehlt ihnen an Mitgefühl. Sowohl Menschen als auch Deimos sind auf die Geistersteine als Ressource angewiesen, welche den Deimos als Grundlage ihrer Magie dienen und von den Menschen als Energiequelle für ihre Maschinen genutzt werden. Da die Geisterstein-Vorräte zur Neige gehen, dringen die Menschen immer weiter in das Land der Deimos, um neue Vorhaben zu erschließen. Deshalb droht ein kriegerischer Konflikt zwischen Menschen und Deimos. Dieser Konflikt tritt im Laufe der Erzählung allerdings in den Hintergrund, da das Dilzweld-Reich, eine Fraktion der Menschen, versucht, alle großen Geistersteine in ihren Besitz zu bringen. Denn es heißt, dass derjenige über unbegrenzte Macht verfügt, der alle fünf besitzt. Die primäre Aufgabe des Spielers ist zunächst, zu verhindern, dass die Steine in den Besitz des Dilz-weld-Reiches gelangen. Später bekommt der Konflikt noch eine weitere Dimension, da der Spieler herausfindet, dass der eigentliche Gegner der „Fürst des schwarzen Abgrun-des“ ist, der von den negativen Energien des Krieges zwischen Menschen und Deimos profitiert und hofft mittels der Geistersteine aus seinem Ge-fängnis dem Titel gebenden „Arc“ zu entkommen. Betrachten wir die Konstruktion der Spielwelt, so fällt auf, dass zwar die Menschen den Dreh- und Angelpunkt der Spielwelt bilden, das Spiel dabei jedoch zugleich der menschlichen Rasse gegenüber kritisch eingestellt ist: Die Menschen sind unzufrieden mit dem, was die Natur und die Geister ih-nen geben, sie streben nach immer mehr Wohlstand und zerstören dabei die Natur. Sie sind die Schöpfer der aggressiven Monster und damit indirekt auch für die aggressive Grundhaltung der Deimos verantwortlich. Auch der „Fürst des Schwarzen Abgrundes“ war ursprünglich ein Mensch. Insofern liegt dem Spiel als Grundaussage zugrunde: Wenn die Menschen so weiter-machen, dann werden sie die Welt zerstören. Aus dieser internen Logik be-zieht das Spiel dann auch seine Spannung, wie ich später noch ausführen werde. Bei Menschen und Deimos lassen sich dabei verschiedene Fraktionen bzw.

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Rassen unterscheiden: Bei den Deimos wird zwischen verschiedenen "Rassen" oder "Stämmen" unterschieden, wobei der Ausdruck „Rasse“ nicht eindeutig verwendet wird: Er kann die Deimos als Ganzes in Gegensatz zu den Menschen bezeichnen, er wird aber auch für bestimmte Formen der Deimos verwendet, also im Sinne von „Unterrasse“. Innerhalb der Spielhandlung treten vor allem die Stämme der Orca und der Drakyre in den Mittelpunkt. Bei den Menschen lassen sich insbesondere die Staaten der Weltallianz und das Dilzweld-Reich unterscheiden. Der Staatenbund der Weltallianz dient dem Ziel, Frieden und Sicherheit zu befördern. Das Dilzweld-Reich ist aus dem Staatenbund ausgetreten, nachdem dieser – nach Ansicht des Herrschers Darkham – nicht in der Lage war, effektive Unterstützung gegen die Deimos zu gewähren. Deswegen ist das Dilzweld-Reich nun bestrebt, die absolute Macht zu erlangen und die Rasse der Deimos endgültig auszulöschen. Dark-ham sagt z. B. an einer Stelle: „It’s not my ambition to take over the world. I just want to annihilate the Deimos.“ Menschen, die sich diesem Ziel in den Weg stellen, werden ebenfalls ver-nichtet. So auch der Rat der Weltallianz, der samt der Hauptstadt der Repub-lik Cathena, vernichtet wird. Obwohl der Rat vor den Bestrebungen des Dilzweld-Reiches gewarnt wurde, gelang es der als träge und bürokratisch dargestellten Institution nicht, effektiven Widerstand zu organisieren. Inso-fern bestätigt sich die skeptische Einstellung eines älteren Dorfbewohners, der gleich zu Beginn bezweifelt, ob sein Heimatland von seiner Mitglied-schaft in der Weltallianz profitiere, da die Entscheidungen im fernen Cathe-na getroffen werden. Das Schicksal der jeweiligen Rasse – bzw. der Welt – liegt im Spiel dabei in den Händen von einzelnen, entschlossenen Personen und ihren jeweiligen Verbündeten. Obwohl deren Handeln in das Weltgeschehen eingebettet ist, liegt doch der Fokus auf dem Handeln von Kleingruppen und überschauba-ren Gemeinschaften sowie deren Anführern.

Die Protagonisten

Ein zentrales Merkmal von Computerrollenspielen ist, dass der Spieler die Charaktere des Spiels weiterentwickeln, in vielen Fällen auch entwerfen kann. Das wird z. B. von Mark F. P. Wolf (2005, 202) als Abgrenzungs-merkmal insbesondere zum „Adventure“ vorgeschlagen. Die Art und Weise,

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ob und wie der Charakter weiterentwickelt wird, hat dabei einen Einfluss auf die Möglichkeiten zur Interaktion mit der Spielwelt und entscheidet somit mit über Erfolg oder Misserfolg des Spielers. Nach James Paul Gee (2003, 54ff.) lassen sich dabei drei Aspekte der Bezie-hung Spieler/Charakter unterscheiden, die er in dem Kapitel seines Buches „What does it mean to be a Half-Elf?“ am Beispiel der Halb-Elfe „Bead Bead“ in dem Computerspiel „Arcanum“ verdeutlicht. Zunächst ist da der Aspekt „James Paul Gee als Bead Bead“. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf demjenigen Aspekt der Beziehung, der vom Spiel vorgegeben ist, und auf den der Spieler keinen Einfluss hat: Als Halb-Elfe hat Bead Bead in der Spielwelt eben nur bestimmte Handlungsoptionen und Entwicklungsmög-lichkeiten. Der zweite Aspekt ist „James Paul Gee als Bead Bead“. Damit wird die Fra-ge nach der Identität des Spielers aufgeworfen, welche Einfluss auf seine Art „Bead Bead“ zu spielen hat – sich aber auch schon angesichts der Wahl ei-nes bestimmten Charakters stellen lässt: Was hat z. B. Gee dazu veranlasst, eine weibliche Halb-Elfe als Spielfigur zu wählen? Schließlich wird als dritter Aspekt „James Paul Gee als Bead Bead“ betont. Dabei wird der Fokus auf die Interaktion zwischen dem realen Spieler und dem virtuellen Charakter gelegt: Beide werden dabei als Wesen mit jeweils eigenen Handlungsrahmen gedacht. Z. B. möchte Gee als Bead Bead gerne einen Konflikt gewaltsam lösen. Würde er dies tun, dann würde er im Spiel scheitern, da Bead Bead in der Spielwelt nicht gewinnen kann. Deshalb sieht er die Notwendigkeit eine projektive Identität für dieses Spiel anzunehmen, in der sowohl den Möglichkeiten des realen Spielers als auch des virtuellen Charakters Rechnung getragen wird. Die Beziehung zwischen Spieler und Charakteren ist in unserem Beispiel auf den ersten Blick ungleich einfacher: Die Charaktere sind vorgegeben und auch auf ihre Weiterentwicklung hat der Spieler nur dadurch Einfluss, dass er in den Kämpfen bestimmte Charaktere teilnehmen lässt oder nicht. Hat ein Charakter im Kampf bestimmte Kriterien erfüllt (Gegner besiegt, Beute eingesammelt oder andere Charaktere geheilt) so steigt er zwar in die näch-ste Stufe bzw. Klasse auf, aber der Spieler hat keinen Einfluss darauf, wie der Charakter sich verändert. Dennoch lässt sich analog zu Gee fragen, was es bedeutet, ein Halb-Deimos zu sein?

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Den beiden Protagonisten ist nämlich gemeinsam, dass sie in einer Welt, in der ethnisch-homogene Gemeinschaften vorherrschend sind, als „Mischlin-ge“ agieren müssen. Sie sind Brüder, ihr Vater ist der Drakyr Windalf, ihre Mutter hingegen ein Mensch. Salopp ausgedrückt ist Kharg mehr nach der Mutter geraten, während Drac eher dem Vater ähnelt. Da die Beziehung zwischen den Eltern gegen das Gesetz der Deimos ver-stieß, wurde Windalf von seinem Vater, dem Herrscher der Drakyre, versto-ßen. Auf der Flucht wurden sie getrennt: Während Lady Nafia mit Kharg nach Yewbell zurückkehren konnte, verstarb Windalf, so dass Drac als Skla-ve einer wirklich bösen Deimos-Frau endete – bzw. als solcher das Spiel be-ginnt. Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden Protagonisten ca. 16-17 Jahre alt und wissen nicht, dass sie einen Bruder haben. Kharg ahnt nicht einmal, dass sein Vater ein Deimos war. Die Geschichte beginnt bei Kharg in Yewbell, der Hauptstadt des ehemali-gen Königreiches Nidellia. Lady Nafia hat dort nämlich kurz nach ihrer Rückkehr die Monarchie abgeschafft und alle Bürger für frei und gleich er-klärt. Diese Botschaft scheint allerdings noch nicht bei allen angekommen zu sein. So betont etwa der Kommandant des Schutzkorps, dass seine Aufgabe der Schutz der Nation und der königlichen Familie sei, die also in seinem Denken immer noch eine zentrale Rolle einnimmt. Dazu passt auch, dass von Beginn des Spiels an feststeht, dass Kharg (der ehemalige Prinz) später die Führung des Volkes übernehmen wird. Dennoch zeigen sich auch im Schutzkorps Modernisierungstendenzen: Das Büro befindet sich z. B. in der Gaststätte des Ortes, womit „Bürgernähe“ signalisiert werden soll. Den Bürgern des Landes geht es gut, da man sich gerade in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs befindet. Selbst die Tatsache, dass die Vorrä-te an Geistersteinen allmählich zur Neige gehen, kann den Fortschrittsopti-mismus der Bürger nicht bremsen. Allerdings stehen die Zeichen auf Krieg, als menschliche Minenarbeiter von Deimos angegriffen werden. Dieser Angriff im „Plumb Canyon“ wird später aus der Sicht der Drakyre als ein Akt der Selbstverteidigung gerechtfertigt, da „Plumb Canyon“ sich im-mer schon im Besitz der Drakyre befunden habe, ja ihre zentrale Geister-stein-Quelle darstelle. Insofern erscheinen die Menschen als Kolonialmacht, welche auf die Besitzansprüche der Deimos keine Rücksicht nimmt. Explizit sagt ein menschlicher Charakter: „This is Deimos territory. Legally, it doesn’t belong to anyone.”

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Die Ansicht, dass Deimos den Menschen unterlegen seien, ist im Spiel unter den Menschen weit verbreitet. Insbesondere Kharg ist nicht bereit die Dei-mos als gleichwertig zu akzeptieren – der Protagonist vertritt also einen kla-ren rassistischen Standpunkt in dem Sinne, dass äußerliche Unterschei-dungsmerkmale wie Hörner, Flügel und Schwänze relevante Merkmale für die Beurteilung einer Person oder Personengruppe darstellen. Auch auf der Seite der Deimos wird Drac seine Ansicht, dass Menschen aggressive und hochmütige Geschöpfe sein, im Wesentlichen nicht verändern. Eine friedliche Koexistenz zwischen den beiden Rassen wird am Ende von den beiden Protagonisten fast schon kategorisch ausgeschlossen: „Someday we’ll have to fight again...“, meint Kharg in der Schlusssequenz. „Some-day?“, fragt Drac und zieht sein Schwert. (Der Kampf wird dann aber doch vertagt.) „I like that about the game“, heißt es dazu in der Besprechung von Chi Phan, “It doesn't try to be political correct and have the two heroes start loving each other. This allows the character development to dig deeper into their hatred of the other races.”6 In dieser Besprechung wird dabei m. E. auch zu Recht betont, dass Vorurteile und Rassismus ein wesentliches Thema des Spiels sind. Dabei geben sich die Spiel-Entwickler große Mühe, die rassistische Grund-haltung der Charaktere zumindest auf individueller Ebene zu motivieren. So stirbt am Ende des 1. Kapitels der Kommandant der Schutztruppe Lloyd, nachdem er zuvor die Frau und das Kind eines Deimos namens Volk getötet hat, dem dann die Flucht gelingt. Kharg schwört nach dem Tod des väterli-chen Freundes: „The Deimos...! Damn them!! There’ll be no more victims! I will protect our country from now on!“ Und die Tochter von Lloyd, Paulette, die später an der Seite von Kharg kämpft, sagt: „… I’ll never forgive them. I will never forgive the Deimos...!“ Der Deimos names "Volk", der Frau und Kind verloren hat, wird hingegen später auf der Seite von Drac kämpfen. Auch hier sind die Fronten klar: „I made a solemn oath“, sagt Volk bei sei-nem ersten Treffen mit Drac: “On my name, on my guiding star, I swore I’d wipe out the human race! I can’t forgive what they’ve done.” In der Besprechung von intoliquidsky.net wird dann auch der verbitterte Rassist Volk als besonders negatives Beispiel für die stereotypen und kli-

6 http://www.rpgdreamer.com/arc4/arc4rev1.html (abgerufen am 13.10.2006).

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scheehaften Charaktere des Spiels hervorgehoben.7 Dies finde ich insofern interessant, als dass die beiden Portagonisten nicht wesentlich besser sind, was ihre Einstellung zur jeweiligen anderen Rasse angeht. Wie das Beispiel der Tötung eines Kindes zeigt, werden in dem Spiel durch-aus auch von Seiten der „Guten“ unmoralische Taten begangen. Diese Hand-lungen werden jedoch nicht vom Spieler ausgeführt, sondern in Zwischense-quenzen erzählt. Das Spiel zwingt den Spieler also z. B. nicht, das Deimos-Kind zu töten, fordert ihn aber wohl dazu heraus, einen Charakter zu spielen, der an der Tatsache keinen Anstoß nimmt, dass ein Kind im Kampf getötet wurde. Insofern glaube ich, dass das Modell von James Paul Gee für ein Spiel wie „Arc: TotS“ zu erweitern ist. Bevor ich dies ausführe, möchte ich aber noch eine weitere Episode des Spiels beschreiben, die m. E. für eine Bewertung des Spiels von zentraler Bedeutung ist: die Reise zur Insel Cragh. Wie ich bereits im Titel des Beitrages andeute, spielt das Motiv der Reise eine zentrale Rolle in dem Spiel. Die Reisen der Charaktere sind ohnehin ein typisches Element in Rollenspielen. Dies lässt sich zum einen dadurch erklä-ren, dass der Spieler gemeinsam mit seinen Charakteren neue Welten bzw. neue Aspekte der Welt entdecken kann. Zum anderen hat die Reise in frem-de Gegenden den dramaturgischen Vorteil, dass die neu entdeckten Welten sowohl dem Spieler als auch dem Charakter fremd sind. Der Wissensstand von Spieler und Charakter nähert sich auf der Reise an und Erklärungen zur Spielwelt erscheinen auch innerhalb der Spielwelt als motiviert, da auch der Charakter sich in der für ihn neuen Umgebung orientieren muss.8 Das Motiv der Reise ist dabei eng mit dem Thema „Kulturkontakt“ verbun-den, denn die neuen Orte, welche es zu entdecken gilt, müssen – gemäß des Motivs der „Entdeckung“ – als andersartig und fremd inszeniert werden. Folgt man Kulturtheoretikern wie z. B. Dirk Baecker (2003), so ist der Kon-takt mit dem Fremden eine wesentliche Grundlage für die Entstehung der Vorstellung vom jeweils Eigenen, insbesondere dann, wenn der Fremde uns ansonsten in vielerlei Hinsicht gleicht. Die moderne Vorstellung „Kultur“, so die These von Baecker, ist im Wesentlichen ein Produkt des Kontaktes zwi- 7 http://www.intoliquidsky.net/site/reviews/arc_the_lad_tots.html (abgerufen am

13.10.2006). 8 Würde die Handlung des Spiels sich auf einen Ort beschränken, welcher dem Charakter

bestens vertraut ist, hätte der Charakter einen deutlichen Wissensvorsprung. Ein Standard-trick um dieses Problem zu umgehen, besteht darin, dass der Charakter zu Beginn einen Gedächtnisverlust erleidet.

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schen Kulturen, wobei der Begriff der Kultur als Erklärung für die Unter-schiede zwischen verschiedenen Menschengruppen dient (Baecker 2003, 12). In einer Spielwelt wie derjenigen von „Arc: TotS“ kommt es nun nicht nur zum Kontakt mit verschiedenen Menschengruppen, sondern eben auch zum Kontakt zwischen Menschen und Deimos. Deren Gleichartigkeit wird vom Spiel jedoch auf zwei Ebenen inszeniert: Zum einen werden Vertreter von beiden Rassen von einem Spieler mittels eines einheitlichen Interfaces ge-spielt, zum anderen bietet das Spiel in der gesamten Spielwelt Konstanten, wie z. B. ein einheitliches Währungs- und Ressourcen-System, und auch die Verständigung zwischen verschiedenen Wesen wird durch eine einheitliche Sprache erleichtert. Insofern erscheinen die verschiedenen Wesen als glei-chartig und dennoch verschieden, so dass ein Anschluss an die Kulturtheorie möglich ist. Der Kontakt zwischen verschiedenen Kulturen und die damit verbundene Fremdheitserfahrung hat auch einen Einfluss auf das jeweils eigene Selbst-verständnis: Durch das Fremde wird der Mensch sich selbst fremd, weil er erkennen muss, dass Wesen, die ihm doch in vielerlei Hinsicht gleichen, sich anders verhalten. Somit wird die Selbstverständlichkeit des eigenen Han-delns in Frage gestellt und es wird auch erst beim Kontakt zwischen ver-schiedenen Kulturen notwendig, über die eigene Kultur nachzudenken, ja, überhaupt die Größe „Kultur“ für die Erklärung dieser Unterschiede einzu-führen. In dem Spiel führt die Entdeckung des Fremden jedoch eben nicht zu einem Überdenken des Eigenen, sondern zu einem hartnäckigen Beharren auf der eigenen Position. Dafür ist die Episode auf der Insel Cragh exemplarisch. Der Topos der Insel ist zumindest in der abendländischen Literatur mit ei-nem utopischen Gesellschaftsmodell verbunden. Die Insel Cragh steht in dieser Tradition: In der Spielwelt liegt sie außerhalb des Rahmens, in dem sich die Charaktere zumeist bewegen, und es erfordert einige Mühe, die Insel zu finden. Zuvor erfahren wir, dass auch Lady Nafia und Windalf auf ihrer Flucht die Insel besucht haben. Dort begegnen sich auch die beiden Protago-nisten, Drac und Kharg, wobei das Kapitel aus der Perspektive von Kharg erzählt wird. Als Kharg in Begleitung eines weiteren Charakters auf der Insel ankommt, macht er – ebenso wie der Spieler – eine überraschende Entdeckung: Die

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Fauliden, die auf dieser Insel leben, sind bekleidet und können sprechen. Die Fauliden wurden nämlich gleich zu Beginn des Spiels als Monster einge-führt. Für den Protagonisten legt dies nahe, dass er es hier mit Deimos zu tun hat. Diese sind für ihn nämlich Monster, die sprechen und Werkzeuge ver-wenden. Als die beiden den Fauliden in ihr Dorf folgen, machen sie eine weitere Entdeckung: Die Fauliden leben in Gemeinschaft mit Menschen. Das bringt nun das Weltbild des Protagonisten völlig durcheinander und er beginnt einen Dialog mit den Bewohnern:

Kharg: Why are you living with humans? You’re a Deimos, aren’t you? Slothian: ...Never thought about it... Kharg: And you? Why are you living with Deimos? Island Man: What do you mean, why...? Because we both live on this island, that’s why. Kharg: No, I mean, don’t you fight each other? Island Man: Why would we fight?

Wie wir später erfahren, unterscheiden sich die Menschen auf dieser Insel in einem entscheidenden Punkt von den Bewohnern der Kontinente: Sie haben sich nicht der Technik zugewandt. Dementsprechend wurde die Natur auf der Insel nicht in Mitleidenschaft gezogen, weshalb die Insel der Wohnort des letzten Geistes ist, der noch auf der Erde weilt: Des Geistes der Hoff-nung, dem die Protagonisten in der „Höhle der Wahrheit“ begegnen. In die-ser Höhle erfahren sie auch die Entstehungsgeschichte der Deimos und wei-tere Hintergrundinformationen, die ich bereits oben wiedergegeben habe. Während der Spieler nun erwarten könnte, dass die beiden Protagonisten aufgrund dieses Wissens und der Tatsache, dass Menschen und Deimos auf der Insel friedlich zusammenleben, nun ihre jeweilige Position überdenken, kommt es zu einer erneuten Auseinandersetzung zwischen den beiden Brü-dern, die von Lilia unterbrochen wird:

Lilia: Why can’t you understand Lady Nafia and Windalf’s wish...? They swore they had to make a world where humans and Deimos didn’t fight...! Kharg...You heard what the Spirit of Hope said. Surely... Kharg: That way of life would be too dangerous for us humans. Lilia: I can’t believe you...! Drac...You feel the same way? Drac: It would be best for all Deimos if I just killed him here and now...!

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Lilia: You, too...?! For goodness sake, stop fighting! You’re brothers! You two are the last hope. […] Drac: Shut up! I can’t listen to all your preaching!

Lilia ist in der Tat eine moralische Instanz im Spiel, welche einen Stand-punkt einnimmt, der denjenigen der Menschen und Deimos übergeordnet ist. Dies wird z. B. auch im Finale deutlich, indem Lilia bereit ist, ihr Leben zu opfern, um den Fürsten des Schwarzen Abgrundes zu besiegen. Bemerkens-wert ist, dass Lilia ein Non-Player Character (NPC) ist, d. h. der Spieler übernimmt nie die Kontrolle über die Figur. Da sie sowohl im Vor- wie auch im Abspann des Spiels als Protagonistin zu sehen ist, scheint es mir geboten, die Figur in der Beurteilung des Spielinhalts entsprechend zu würdigen. Zuvor soll jedoch die Episode auf der Insel Cragh zu Ende erzählt werden. Denn die Geschichte endet tragisch, als die Dilzweld-Armee auf der Insel landet, die Jagd auf Lilia macht, und alle Fauliden tötet. Beide Protagonisten sind über diesen Völkermord entsetzt, wobei Drac sich in seinem Urteil über die Menschen bestätigt sieht. Kharg reagiert auf dieses Urteil mit dem Hin-weis: „Humans aren’t all like the Dilzweld Army. Most of us just want to live quietly in peace.” Danach trennen sich die Wege der beiden Protagonis-ten wieder.

Analyse und Beurteilung

Rassismus als Thema

“Rassismus” und “Vorurteile” sind die zentralen Themen des Spiels, wobei wir im Spiel auf viele Charaktere treffen, die rassistische Ansichten vertre-ten. Wie wir gesehen haben, bilden die beiden Protagonisten dabei keine Ausnahme. Deswegen gilt es m. E. die Beziehung zwischen Spieler und Charakteren zu überdenken, wenn wir dem Spiel nicht unterstellen wollen, es ziele darauf ab, den Spieler seine rassistischen Tendenzen ausspielen zu lassen. Diese Unterstellung scheint mir aufgrund der zentralen Figur der Li-lia jedoch nicht gerechtfertigt. “Humans aren’t all like the Dilzweld Army”, stellt Kharg fest. Allgemeiner lässt sich feststellen, dass zwar rassistische Vorurteile sowohl bei den Men-schen wie bei den Deimos weit verbreitet sind, sich auf beiden Seiten jedoch auch gemäßigte Stimmen finden lassen. Lady Nafia mit ihrer Vision von einer Welt, in der Menschen und Deimos friedlich zusammenleben, stellt

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dabei sicherlich ein positives Ideal dar. Als ebenso wichtig erscheint mir aber, dass nicht alle Charaktere mit Nachdruck die Überzeugung vertreten, dass die jeweils andere Rasse ausgelöscht werden muss. Die beiden Protago-nisten etwa glauben nicht daran, dass ein endgültiger Frieden zwischen den Rassen möglich ist. Dennoch reagieren sie entsetzt auf die Vernichtungspoli-tik des Dilzweld-Reiches. Die Darstellung des Dilzweld-Reiches gehört zwar m. E. zu den Schwach-punkten des Spiels, denn als Ursache für die totalitären Tendenzen dieser Fraktion wird letztendlich nur eine mythologische Erklärung angeboten, da der Anführer selbst vom „Fürsten des dunklen Abgrundes“ verführt wurde. Gleichwohl markiert diese Fraktion den Gegenpol zu Lady Nafias Vision. Durch das Dilzweld-Reich wird zugleich verdeutlicht, dass „Rassimus“ nicht zwangsläufig in Vernichtungspolitik enden muss. Damit möchte ich keines-falls behaupten, dass rassistische Ansichten sich rechtfertigen ließen. Im Ge-genteil würde ich in Anschluss an Richard Rorty (2000) betonen, dass „Ras-sismus“ geradezu ein Musterbeispiel für eine Denkweise darstellt, in der Wesensmerkmale von Personen unberechtigt zur Begründung von Unter-schieden herangezogen werden (vgl. z. B. Nagenborg 2005, 171). Dennoch schließe ich mich auch der Position von Karin Priester (2003) an, die aus sozialhistorischer Perspektive zwischen drei Phasen des „Rassismus“ unterscheidet: Die erste Phase ist durch die Bildung von Vorurteilen gege-nüber Menschengruppen aufgrund von „Rassemerkmalen“ geprägt, welche in der zweiten Phase „zu einer Doktrin, zu einem in sich geschlossenen Ge-bäude der Weltdeutung mit geschichtspolitischen Anspruch [verdichtet wer-den]. … In der dritten Phase schließlich kommt es zur juristischen Institutio-nalisierung des Rassismus im politischen System. Der Diskurs führt zur politischen Aktion durch entsprechende Gesetzgebung, zur Vertreibung oder Liquidierung ethnischer Minderheiten“ (Priester 2003, 45). In der Spielwelt von „Arc: TotS“ ist lediglich das Dilzweld-Reich am Endpunkt der letzten Phase angelangt. Diese Form von Rassismus wird dann auch von den Protagonisten als falsch empfunden. Jedoch wird das faschistoide Dilzweld-Reich als externe Bedro-hung wahrgenommen, so dass die eigenen rassistischen Ansichten nicht in Frage gestellt werden. Die Problematik des Übergangs von rassistischen Vorteilen hin zu einer rassistisch motivierten Vernichtungspolitik wird auch

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deswegen nicht zur Darstellung gebracht, weil wir nur wenig über die Hin-tergründe des Dilzweld-Reiches erfahren. Dementsprechend werden die Kriegserfolge des Dilzweld-Reiches auf die Schwäche der Weltallianz zurückgeführt. Dies ist um so bedauerlicher, als dass auch ansonsten von den beiden Protagonisten die Ansicht vertreten wird, dass eine Gemeinschaft stark sein muss, um sich verteidigen zu kön-nen. Diese Tendenz hinterlässt zumindest bei mir angesichts der aktuellen Debatte in Japan um eine Veränderung der pazifistischen Verfas-sung einen etwas bitteren Beigeschmack. Bei aller Kritik an der vereinfachten Darstellung des Dilzweld-Reiches sollte man dem Spiel im übrigen auch anerkennen, dass es vor Themen wie Völ-kermord und Vertreibung nicht zurückschreckt. Dies gilt insbesondere dann, wenn Hartmut Gieselmanns Beobachtung aus dem Jahre 2002 noch zutrifft, dass in Kriegsspielen diese Themen weitestgehend ausgeblendet werden (Gieselmann 2002, 137f.). So spielt eine Episode z. B. in einem Flüchtlings-lager der vertriebenen Deimos. Auch ist die Tatsache, dass „Rassismus“ in einem japanischen Rollenspiel an sich zum Thema gemacht wird, durchaus beachtlich. So findet sich etwa bei Chris Kohler (2005, 207) der Hinweis, dass aufgrund der ethnisch homoge-nen Zusammensetzung der japanischen Gesellschaft die Verwendung von ethnischen Stereotypen in Videospielen kaum jemand Anstoß nimmt. Der offizielle „2000 Population Census“ (2001) weist für Osaka und Tokio einen Ausländeranteil von 1,94% bzw. 1,77% aus, was die beiden Städte zu denje-nigen mit dem höchsten Ausländeranteil in Japan macht. 40% der erfassten Ausländer stammten dabei aus Korea, 19.3% aus China.9 Die in Japan le-benden Ausländer sind überwiegend asiatisch. Das Problem der Existenz von verschiedenen Rassen insbesondere in Rol-lenspielen muss m. E. dabei nicht nur kritisch gesehen werden. Die Mög-lichkeit andere Rassen als die menschliche zu spielen kann als Möglichkeit zur Fremderfahrung auch positiv gedeutet werden. In diesem Sinne hat z. B. auch in „Arc: TotS“ die Sichtweise der Deimos eine kritische Funktion, weil sie die Selbstverständlichkeit des Standpunktes der Menschen (in der Spiel-welt) in Frage stellt.

9 http://www.stat.go.jp/english/data/kokusei/2000/kihon1/00/11.htm (abgerufen am

16.10.2006).

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Allerdings stellt sich auch die Frage, inwieweit die vorherrschende ethnische Homogenität der Gemeinschaften, welche der Spieler und die Charaktere auf ihrer Reise kennen lernen, nicht auch in Hinblick auf die Prägung der Spiel-welt durch die – in diesem Punkt – unreflektierte Alltagserfahrung der Ent-wickler zurückzuführen ist.10 Diese Frage stellt sich um so dringender bei anderen Vertretern des Subgen-res, in denen die Problematik von rassistisch motivierten Vorurteilen nicht so stark im Mittelpunkt steht. Anders ausgedrückt: Ich glaube, dass die Untersuchung des Subgenres „ja-panische Rollenspiele“ hinsichtlich der Konstruktion von „Rasse“ und „eth-nischer Homogenität“ ein interessantes Unterfangen darstellen könnte, und vermute, dass ein Urteil über diesen Aspekt der Spiele eher negativ ausfallen würde. Denn: Die bedrohte heile Welt der japanischen Rollenspiele ist eine Welt, in der ethnisch-homogene Gruppen getrennt voneinander existieren. Gerade deswegen erscheint mir „Arc: TotS“ jedoch als ein durchaus gelun-gener Versuch im Rahmen des Subgenres das Thema „Rassismus“ ins Spiel zu bringen. Dabei beschränkt das Spiel sich nicht nur darauf, durch verschiedene Cha-raktere verschiedene Standpunkte zum Thema zur Darstellung zu bringen, sondern durch den Charakter der Lilia wird auch die Botschaft des Spiels explizit gemacht, welche in der Spielwelt u. a. eine Überwindung des Ras-sismus einfordert. Das Spiel bezieht seine narrative Spannung dabei vor al-lem daraus, dass man sich als Spieler fragt, wie das Ganze enden wird, wenn die beiden Protagonisten ihre Ansichten nicht verändern, was gemäß des Wissens über die Spielwelt in deren Vernichtung enden muss.

Die Beziehung zwischen Spieler und Charakteren

Wie steht es überhaupt mit der Beziehung zwischen dem Spieler und den Charakteren? Sicherlich steht bei "TotS" die Beziehung „Spieler als Kharg/Drac“ im Mittelpunkt des Spiels:

10 Chan (2005, 25) zitiert in diesem Zusammenhang den Präsidenten der International Game

Developers Association: „We’re seeing, to a large extent, that the games that are being designed unconsciously include in biases, opinions and reflections of their creators.“ Vgl. auch Everett (2005: 312): “Because the video game industry privileges ‘boys in their pre- and early teen’ years …, I am acutely aware that my mature, black, and female body is marked and thus marginalized as a shadow consumer in the gaming industry’s multibil-lion dollar marketplace.”

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Spieler (von japanischen Rollenspielen)

als Kharg/Drac Wie wir gesehen haben, stellen sich aufgrund der Subgenre typischen Ein-schränkungen bestimmte Fragen nicht, die sich Gee in seinem Halb-Elfen-Beispiel stellen muss (weshalb diese Ausführungen auch nicht als generelle Kritik an dem Modell von Gee zu verstehen sind). So stellt sich für den Spie-ler nicht die Frage, warum er sich für eine bestimmte Rasse entschieden hat. Man kann allerdings fragen, warum die Entscheidung für ein japanisches Rollenspiel getroffen wurde, da mit diesem Subgenre eine bestimmte Erwar-tungshaltung verbunden ist (sofern es sich nicht um ein Geschenk, einen Zu-fallskauf o. ä. handelt). Ein entscheidender Punkt ist dabei m. E., dass es Teil dieser Erwartungshal-tung ist, dass es sich um ein narratives Spiel handelt, wobei dessen sorgfälti-ge Inszenierung durch eine eingeschränkte Handlungsfreiheit erkauft wird. Insofern kommt als weiteres Element die Geschichte hinzu:

Spieler (von japanischen Rollenspielen) erlebt eine Geschichte als Kharg/Drac

Die Auswahl eines Spieles aus dem speziellen Subgenre wäre also der erste Schritt, durch welchen der Spieler in die Beziehung zur Spielfigur eintritt. Da die Geschichte ein zentrales Element innerhalb des Subgenres darstellt, möchte ich sie als gleichgewichtiges Element in diesem Schema hervorhe-ben:

Spieler (von japanischen Rollenspielen) agiert als Kharg/Drac und erlebt eine Geschichte.

Wenn wir nun noch berücksichtigen wollen, dass die rollenspieltypischen Elemente bei „Arc: TotS“ vor allem in den rundenbasierten Kämpfen zum tragen kommen, die er bestehen muss, um die Geschichte bis zum Ende zu leben, dann lässt sich die Beziehung auch wie folgt darstellen:

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Spieler (von Japan-RPGs) muss als Kharg/Drac Kämpfe bestehen,

um eine Geschichte zu erleben. Nun wird die hier behauptete zentrale Rolle der narrativen Ebene von Auto-ren wie Jesper Juul bekanntlich in Frage gestellt (vgl. Juul 2005). Ich würde mich dieser Position insoweit anschließen, als der narrative Charakter von Computerspielen im Allgemeinen durchaus hinterfragt werden kann. Jedoch bedeutet dies eben nicht, dass Computerspiele nicht eine Geschichte erzäh-len können. Speziell bei japanischen Rollenspielen muss die Geschichte so-gar als wesentliches Element des Spielerlebnisses berücksichtigt werden. Reduziert man die Beziehung des Spielers zum Spiel im Falle von „Arc: TotS“ nämlich auf die Beziehung des Spielers zu seinen Charakteren, so könnte man zu dem Schluss kommen, dass hier der Spieler zur (partiellen) Identifikation mit rassistischen Charakteren aufgefordert wird. Dies wird dem Spiel aber insofern nicht gerecht, da es den Charakteren auf der narrati-ven Ebene in Form des NPCs Lilia widerspricht und durch seine Erzählweise gerade die eindimensionale Denkweise der Charaktere in Frage stellt.

Fazit und Ausblick

Bei der Darstellung und Analyse des Spiels „Arc: TotS“ habe ich mich in meinem Beitrag auf das Thema „Rassismus“ und „Rasse“ konzentriert, da es m. E. eines der wesentlichen Merkmale des Spiels ist, dass es in diesem Punkt mit dem Subgenre des „japanischen Rollenspiels“ bricht. Das bedeutet nicht, dass nicht auch andere Aspekte des Spiels einer genaue-ren Betrachtung würdig wären: Genannt wurden im Beitrag ja schon The-men wie Religion, Wissenschaft und Technik oder Politik. Interessant sind aber auch Aspekte wie die Züchtung von Monstern und die techno-biologische Veränderung von Deimos, welche vom Dilzweld-Reich betrie-ben wird (Life Science). Ein weiteres Thema, dem ich mich in diesem Beitrag nicht widmen konnte, ist die Frage nach der Identität der Charaktere. Hier würde ich vermuten, dass die Sturheit der beiden Protagonisten sich auch in Hinblick auf das ja-panische Konzept von personaler Identität erklären ließe (hierzu: Hackner 1999, Maneé 2005: S. 26ff.).

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Als ein wesentliches Ergebnis ist zu betonen, dass am Beispiel „Arc: TotS“ deutlich wird, dass die Geschichte für das Subgenre „japanische Rollenspie-le“ von zentraler Bedeutung ist. Weder darf die zentrale Bedeutung des Cha-rakters im Genre des Rollenspiels dazu führen, dass die Beziehung der Spie-ler zum Spiel auf die Beziehung Spieler und Charakter verkürzt wird, noch sollte übersehen werden, dass mit dem Subgenre „japanisches Rollenspiel“ von Seiten der Spieler eine bestimmte Erwartungshaltung verbunden ist. Deswegen scheint es mir auch geboten, die Ansichten der Spieler bei der Beurteilung mit einfließen zu lassen, was ich in meinem Beitrag stillschwei-gend gemacht habe, indem ich mich diverser Internetquellen bediente, insbe-sondere den kollektiv erarbeiteten Texten der Wikipedia, aber auch Einzel-besprechungen (hierzu: Nagenborg 2005a). Diese Erwartungshaltung ist dabei auch in Hinblick auf den größeren Zu-sammenhang mit der Rezeption von japanischer Popkultur insgesamt zu se-hen, legt m. E. aber auch eine genauere Untersuchung des Subgenres nahe. Denn wenn „Arc: TotS“ deswegen als interessanter Vertreter seiner Art er-scheint, weil er das Problem der Rasse aus verschiedenen Perspektiven ins Spiel bringt, dann muss auch vermutet werden, dass hier ein Aspekt betont wird, der bei anderen Spielen dieser Art kritisch zu hinterfragen wäre. Dabei sei hier noch einmal abschließend betont, dass das Spiel Themen wie Rassismus oder auch Flucht und Vertreibung ins Spiel bringt, was aber nicht bedeutet, dass wir es hier mit einer multimedial aufbereiteten Abhandlung zum Thema zu tun haben. „Arc: TotS“ ist ein intelligentes Spiel, aber es ist ein Spiel. Dementsprechend sollten wir maximal Denkanstösse zum Thema erwarten. Dabei ist es offensichtlich auch möglich, dass Spiel zu genießen, ohne Anstoß an dem Dargestellten zu nehmen. In einer Besprechung auf gameswelt.de kann man z. B. lesen, dass das Spiel „mit glaubwürdigen und rundum sympathischen Helden“ überzeugt.11 Während ich das Prädikat „glaubwürdig“ im Rahmen des Genres noch nachvollziehen kann, hat mich das Attribut „sympathisch“ doch etwas überrascht. Dabei ist zwar in Rechnung zu stellen, dass zwischen den phantastischen Rassen in der Rollenspielwelt und dem faktischen Rassismus zu unterschei-den ist. Allerdings ist auch zu beachten, dass selbst ein Spiel wie „Arc: TotS“ eine enge Beziehung zwischen den biologischen Merkmalen einer

11 http://gameswelt.de/konsolen/previews/a/arc-tots/fazit.php (abgerufen am 16.10.2006).

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„Rasse“ und ihrer Kultur unterstellt. Das ist aber eine Grundannahme des modernen faktischen Rassismus. Schließlich hoffe ich gezeigt zu haben, dass es sich lohnen könnte, über die Entstehung von bestimmten Spielen in einer bestimmten Kultur nachzuden-ken und sie nicht lediglich als Produkte eines globalen Medienmarktes zu betrachten, womit auch die Gefahr verbunden ist, eine Homogenität des internationalen Spielemarktes zu unterstellen. Ich plädiere also dafür, Spiele auch unter der Perspektive der transkulturellen Kommunikation zu betrach-ten. Denn nicht nur die Charaktere des Spiels begeben sich auf eine Reise zu fremden Völkern. Auch die Spiele selbst verlassen ihre Heimat und gelangen zu fremden Völkern.

Literatur

Baecker, Dirk (2003), Wozu Kultur? 3. Aufl., Berlin.

Chan, Dean, Playing with Race: The Ethics of Racialized Representations in E-Games, in: IRIE, Vol. 4, 12/2005, 24-30.

Everett, Anna (2005), Serious Play – Playing with Race in Contemporary Gaming Culture, in: Raessens/Goldstein (2005), 311-326.

Gee, James Paul (2004), What Video Games have to teach us about learning and literacy, New York und Houndsmills.

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2.1 Wikipedia-Artikel zu „Rollenspiele“: http://de.wikipedia.org/wiki/Japano-Rollenspiel http://de.wikipedia.org/wiki/Computer-Rollenspiel 2.2 „Wizardry“ (Spiel): http://de.wikipedia.org/wiki/Wizardry http://www.tk421.net/wizardry/ 2.3 “Dragon Quest” (Spiel): http://de.wikipedia.org/wiki/Dragon_Quest 2.4 “Final Fantasy” (Spiel): http://de.wikipedia.org/wiki/Final_Fantasy_%28Spiel%29 2.5 Bevölkerung in Japan: http://www.stat.go.jp/english/data/kokusei/2000/kihon1/00/11.htm

Geschichte in Bildschirmspielen

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Geschichte in Bildschirmspielen.

Bildschirmspiele mit historischem Inhalt

Stefan Wesener

Zusammenfassung

Historische Ereignisse werden sehr gerne in Bildschirmspielen verarbeitet, denn sie liefern eine vorgefertigte Spielwelt. Die aufwendige Erschaffung eines Rahmens in einer eigens für das Bildschirmspiel kreierten Science-Fiction- oder Fantasy-Welt entfällt in der Regel genauso wie teure Lizenz-gebühren für den Kauf eines vorgefertigten Spielhintergrundes. Der histori-sche Rahmen erzeugt bei entsprechend interessierten Käufern ein erstes Interesse an dem Bildschirmspiel. Kommen geschichtliche Anspielungen in Bildschirmspielen vor, entsteht dabei in jedem Fall ein Konstrukt, das sich als virtuelle Geschichte von den historischen Ereignissen abhebt. Dabei kön-nen Leerstellen mit Vermutungen gefüllt werden, oder durch eine offene Ausgangssituation in einem Bildschirmspiel mit historischer Kulisse entste-hen alternative historische Verläufe. Doch kommt virtuelle Geschichte durch die verkürzte Darstellung der Wirklichkeit der Alltagswelt in Bildschirm-spielen zustande. Die konstruierten Szenarien richten sich nur nach den Re-geln des Bildschirmspiels und werden vom Spieler aktiv gesteuert, der das Spiel gewinnen möchte. Dabei zustande kommende Transferprozesse regu-lieren, was der Spieler für die Bildung eines Geschichtsverständnisses mit in die reale Welt zurücknimmt. Gibt es Möglichkeiten, trotz der Schwächen der Bildschirmspiele mit historischen Verknüpfungen, deren positive Möglich-keiten für die Bildung eines Geschichtsverständnisses auszuloten?

1 Einleitung

Historische Ereignisse werden sehr gerne in Bildschirmspielen verarbeitet. Die Gründe dafür sind vielfältig. Historische Szenarien liefern einerseits eine bereits vorgefertigte Hintergrundhandlung und die Programmierer brauchen sich selbst keine auszudenken. Die aufwändige Erschaffung eines Rahmens in einer eigens für das Bildschirmspiel kreierten Science-Fiction- oder Fan-tasy-Welt entfällt in der Regel genauso wie teure Lizenzgebühren für den Kauf eines vorgefertigten Spielhintergrundes. Zum anderen erzeugt der be-

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kannte, historische Rahmen bei entsprechend interessierten Käufern ein ers-tes Interesse an dem Bildschirmspiel. Kommen geschichtliche Anspielungen in Bildschirmspielen vor, entsteht dabei in jedem Fall ein Konstrukt, das sich als virtuelle Geschichte von den tatsächlichen Ereignissen abhebt. Dabei hat die audiovisuelle Darstellung von Geschichte in Bildschirmspielen gleiche Effekte wie die Darstellung von Geschichte in Film und Fernsehen. Sie erzeugt durch die audiovisuelle Präsentation eine hohe Glaubwürdigkeit und gibt Historie als kontinuierlichen Zusammenhang wieder. Leerstellen jeder Art oder gar hypothetische Szenarien werden dabei mehr oder weniger glaubhaft ausgefüllt. Demgegenüber steht die herkömmliche Vermittlung von Historie in Büchern und Schule. Letztere hat das Problem, gegen die Bilder einer audiovisuellen Präsentation zu argumentieren, was immer ein schwieriges Unterfangen darstellt (vgl. Luhmann 1996, 79f.). Die wissenschaftliche historische Forschung stützt sich auf Quellen, um ge-schichtliche Ereignisse zu rekonstruieren. Dies können die Erinnerungen von Zeitzeugen, Aufzeichnungen aus der betreffenden Zeit oder Bild- und Ton-dokumente sein. Oft sind es auch Textzeugnisse oder archäologische Funde. Solche Quellen sind von ihrer Art her immer Fragmente, d. h. sie bilden nur einen Ausschnitt der vergangenen Wirklichkeit ab. Textzeugnisse enthalten auch immer eine bestimmte Sichtweise der Vorgänge. Dies ist besonders dann problematisch, wenn es zu einem historischen Ereignis nur eine Quelle gibt und keine alternativen Darstellungen, aus einer anderen Perspektive. Abhilfe schafft hier nur eine genaue Prüfung der zugrunde liegenden Quel-len. Einen zusammenhängenden Ablauf eines historischen Ereignisses zu rekonstruieren, stellt für die wissenschaftliche Arbeit des Historikers somit eine nahezu unmögliche Herausforderung dar1. Neue Erkenntnisse können jederzeit dazu führen, dass vermeintlich gut gesicherte Annahmen verworfen werden müssen. Die historische Forschung blickt seit dem Altertum auf eine lange Tradition der schriftlichen Darstellungen ihrer Ergebnisse zurück. Dementsprechend haben sich im Laufe der Zeit Standards für die schriftliche Präsentation der

1 Selbst bei bedeutenden Vorfällen mit vielen Augenzeugen in der jüngeren Vergangenheit

kommt es zu Problemen. So gibt es laut Joachim Fest beispielsweise vier widersprüchli-che Zeugenaussagen über den Selbstmord Adolf Hitlers im Führerbunker, die alle aus sei-ner engsten Umgebung kommen (vgl. Fest 2002).

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historischen Forschung in Wissenschaft und Lehre herausgebildet, mit dem Ziel einer möglichst beschreibenden und beobachtenden Geschichtsschrei-bung. Geschichtsbücher z. B. liefern für den interessierten Leser eine Zusammen-schau der verfügbaren Quellen und geben in strittigen Fällen Auskunft über alternative Versionen eines Ablaufs und bemühen sich daneben um eine Darstellung der Lebensverhältnisse, kulturellen Praktiken, etc. einer Epoche. Hier kann man sich als Quelle sowohl auf Funde, als auch auf schriftliche und bildliche Überbleibsel der vergangenen Zeit stützen. Die Leser erhalten dann einen kurzen Einblick in das Leben zur damaligen Zeit. Beschreibun-gen reichen z. B. von den Essgewohnheiten bis zum Verwaltungsapparat im alten Ägypten. Das Fernsehen und besonders der Computer haben erst seit neuerer Zeit Ein-zug in die Darstellung von Geschichte gehalten und machen von ihren Mög-lichkeiten, nüchterne Fakten spektakulär aufzubereiten, umfassend Ge-brauch. Dies veranlasst traditionelle Geschichtsforscher dem gegenüber zu einer skeptischen Einstellung, denn vor allem die kritische Quellenkunde bleibt hierbei oft auf der Strecke (vgl. Grosch 2002, 128-136). Effekthasche-rei wird in den neuen Medien gegenüber einer differenzierten Betrachtung gerne bevorzugt. Dies gilt auch für die Darstellung historischer Ereignisse in Fernsehdokumentationen, in denen oft eine mehrschichtige Sicht der Zu-sammenhänge fehlt, selbst wenn durch den Charakter und den Anspruch des Sendeformats Expertenmeinungen gegenübergestellt und verschiedene Sichtweisen des Ereignisses präsentiert werden können. Besonders der Anspruch von Bildschirmspielen mit historischen Anleihen geht dabei gar nicht in die Richtung der Dokumentation oder Information, sondern hat die Unterhaltung zum Ziel. Sie sind daher von ihrem Anspruch auf Genauigkeit in der Informationswiedergabe eher in der Nähe der histori-schen Romane und Filme zu verorten. Dennoch transportieren diese Bild-schirmspiele, wie Romane und Filme auch, historische Inhalte, die auf der Basis eines Transfers von z. B. Faktenwissen in den Wissensbestand ihrer Nutzer eingehen können und aufgrund ihrer großen Popularität möglicher-weise eine beeinflussende Wirkung auf das Geschichtsverständnis haben.2 Andererseits können die Möglichkeiten einer pädagogischen und didakti-

2 Zur Darstellung des Transfermodells für Bildschirmspiele (vgl. Fritz 2003a und 1997a).

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schen Nutzung in Betracht gezogen werden. Daher lohnt es sich, den Aufbau von Bildschirmspielen mit historischen Anleihen einmal näher zu betrachten.

2 Bildschirmspiele und Transferprozesse

Eine Untersuchung zur Einbettung von Historie in Bildschirmspielen muss zu diesem Zweck auf ein Modell zurückgreifen, das Lernprozesse in Bild-schirmspielen erklären kann. In seinen Arbeiten zu Transferprozessen in Bildschirmspielen führt Jürgen Fritz ein Transfermodell ein, das auf ver-schiedenen Ebenen die Übernahme von Wissen und Handlungen mit Bezug auf Lerntransfers erläutert und zwischen intermondialen und intramondialen Transfers unterscheidet, also zwischen Transferprozessen innerhalb der „Welt der Bildschirmspiele“ und von Bildschirmspielen in die „Wirklichkeit der Alltagswelt“3. Die Transferebenen beziehen sich auf Faktenwissen („Fachtransfers“), Handlungsroutinen („Skripttransfers“), Handlungsbe-standteilen („Printtransfers“), Sprachbilder („metaphorische Transfers“) und tiefenpsychologische Vorgänge („dynamische Transfers“)4. Es gilt zu beachten, dass es bei der nun folgenden Erörterung von Transfer-prozessen und Historie in Bildschirmspielen um die Übernahme eines wie auch immer gearteten Geschichtsbildes geht. Durch den Eindruck, der durch die Erklärung des Ablaufs von historischen Ereignissen entsteht, wird auch immer eine politische Weltdeutung vorgenommen5. Daher sind für die Ana-lyse von Historie in Bildschirmspielen vor allem Transferprozesse von Be-deutung, die Faktenwissen, Zusammenhänge und Abläufe darstellen (vgl. Fritz 1997). Denn Bildschirmspiele mit historischem Kontext vermitteln durch die Präsentation derselben immer Inhalte, seien sie nun richtig oder falsch. Das Gleiche gilt für die Vermittlung von Schemata, d. h. etwa die Sichtweise von Personen und Ereignissen. Skripte bestimmen vor allem die Vorgehensweise des Spielers in einem Bildschirmspiel mit historischem Be-zug. Der Spieler erarbeitet sich die Vorgehensweise selbst anhand seiner Er-

3 Um die Transfermöglichkeiten eines Bildschirmspiels durch die Spielstruktur noch weiter

zu bestimmen, wird in Teilen auf das System der makro-, meso- und mikrovirtuellen Wel-ten von Wesener (2004, 74-128) zurückgegriffen.

4 Die einzelnen Ebenen können an dieser Stelle im Detail nicht erläutert werden (vgl. Fritz 1997).

5 Wie stark Geschichtsauslegung (hier ohne den großen Einfluss der audiovisuellen Me-dien) politisches Handeln beeinflussen kann, zeigt sich beispielhaft in der „Dolchstoßle-gende“, als Erklärung für die Niederlage des deutschen Kaiserreiches im ersten Weltkrieg.

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fahrungen im Umgang mit Bildschirmspielen ähnlicher Machart und kann aufgrund seiner Spielstrategie eine neue Sichtweise des Ablaufs der ge-schichtlichen Situation erhalten. Die zentrale Frage ist hierbei, was und ob Historie in Bildschirmspielen dazu beiträgt, das Geschichtsbild und das Ge-schichtsverständnis ihrer Nutzer zu prägen.

3 Das Nachspielen von Historie in Bildschirmspielen

Historische Szenarien können in verschiedener Weise in das Programm in-tegriert werden. Es lassen sich grob drei Vorgehensweisen identifizieren. Der Spieler kann ein historisches Ereignis nachspielen und übernimmt die Rolle von bekannten Persönlichkeiten, wie z. B. von Alexander dem Großen, Napoleon oder Erwin Rommel. Genauso können dabei fiktive Charaktere die Hauptfigur sein, die ein historisches Ereignis durchleben, etwa die Invasion der Alliierten in der Normandie oder die Schlacht von Hastings. Dabei treten möglicherweise zwischendurch historische Berühmtheiten auf und spielen kurzzeitig eine bedeutende Rolle6. Ein tatsächliches Ereignis wird in solchen Spielen nachgespielt und in einen filmischen Rahmen eingebettet. In einer weiteren Art von Bildschirmspielen mit geschichtlichen Anleihen bildet der historische Hintergrund lediglich die Kulisse für ein Computer-spiel, das in diesem Rahmen seinen eigenen hypothetischen Ablauf inner-halb eines bestimmten Zeitrahmens in der virtuellen Welt des Bildschirm-spiels entfaltet. Das Spiel ist dann meist nicht an besondere Personen oder Ereignisse gebunden sondern entfaltet in der historischen Kulisse seine eige-ne Handlung, die von dem Spieler entscheidend beeinflusst wird. Beispiele sind die Spiele der Civilization-Serie, Pirates!, Hearts of Iron 2, Rome oder Operation Flashpoint. Als Letztes gibt es Bildschirmspiele mit Anleihen an Geschichte, wobei für das Spiel bestimmte Aspekte übernommen werden, etwa die mittelalterliche Kultur und Gesellschaft in Rollenspielen.

Einbettung der Historie in den Spielverlauf

Wie Historie im Bildschirmspiel präsentiert wird, hängt in großem Maße davon ab, wie die Handlung im Bildschirmspiel strukturiert ist. Der fast fil-mische Ablauf von linearen Bildschirmspielen lässt den Spieler mit seiner

6 Sie können im Spiel steuerbar sein, über besondere Talente verfügen (und sei es nur, dass

sie großartige Kämpfer sind) oder müssen das Spiel- bzw. Missionsende überleben.

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Spielfigur historische Ereignisse durchleben und auslösen. Der nichtlineare, regelgesteuerte Spielverlauf sieht den Spieler als Schöpfer seines eigenen historischen Schicksals. Im ersten Fall konzentriert sich alles auf den Spieler und seine Figur. Das Ereignis wird wie jedes andere (fiktive) Ereignis im Spiel behandelt und ist Auslöser der Spielhandlung und/oder treibt diese vo-ran.

Einbettung von Historie in nichtlineare Bildschirmspiele

Historie in nichtlinearen Bildschirmspielen7 ist immer in die Spielregeln des Computerspiels eingebettet. Dies hat Konsequenzen für die Darstellung bzw. den Ablauf von Historie im Computerspiel. Denn die Regeln und Wirkme-chanismen eines Computerspiels können die Realität nicht komplett abbil-den, so komplex sie auch ein mögen8. Stattdessen muss sie zwangsläufig auf die spielentscheidenden Zusammenhänge verkürzt werden und sich an den Regeln des Bildschirmspiels orientieren. Diese wirken sich dann auf den Spielverlauf aus. Der eigentliche historische Kontext wird somit auf wenige, spielrelevante Aspekte reduziert. So muss der Spieler sich in diesem histori-schen Rahmen bewähren, bei dem die Ausgangslage vorgegeben ist. Meist handelt es sich um ökonomische und militärische Konflikte in Strategiespie-len wie etwa „Rome: Total War“, „Age of Empires 3“ oder „Hearts of Iron 2“ mit einem Kampf um Ressourcen und Siedlungsraum. Wie in den meisten Bildschirmspielen geht es dabei um Macht und Kontrolle. Der Spieler er-reicht Kontrolle im Bildschirmspiel, indem er die Spielregeln und Mecha-nismen des Bildschirmspiels richtig deutet und einen Bezug zu den Wir-kungszusammenhängen herstellt. Daran richtet er seine Handlungen im Bildschirmspiel aus. Die Folge des Erreichens von Macht und Kontrolle be-deutet für den Spieler, dass er in der Spielwelt verbleiben darf und seine Ge-gner bezwingt. Diesem Mechanismus muss sich auch die Darstellung der Historie unterordnen. Je umfassender das Regelwerk des Bildschirmspiels die Realität simuliert, desto knapper werden die Teilbereiche des Spielkon-zeptes (Wirtschaft, Diplomatie, Krieg, Handel, Forschung, etc.) dargestellt. Historische Ereignisse sind für Bildschirmspiele nicht zwingend wichtig und

7 Bei nichtlinearen Bildschirmspielen handelt es sich in der Regel um Strategiespiele. 8 Wie oben gezeigt, ist ein historischer Ablauf nicht vollständig rekonstruierbar, daher ist

eine „realistische“ Abbildung natürlich nicht möglich. Hier ist der Ablauf gemeint, der dem aktuellen Stand der Forschung entspricht.

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können nur Randerscheinungen sein. Es kann aber auch passieren, dass wäh-rend des Spielverlaufs ein Ereignis eintritt, das den Spieler mit Veränderun-gen seiner Lage konfrontiert und Änderungen seiner Spielstrategie erforder-lich macht. Der Spieler schreibt seine eigene Historie und die Geschichte seines Sieges während des Spiels fort. Das Spiel hält diese in der Regel auch fest, so dass der Spieler z. B. nach seinem Sieg (oder seiner Niederlage) oder während des Spiels seine Errungenschaften begutachten kann. So hält „Ro-me: Total War“ entscheidende Schlachten als kleine, gekreuzte Schwerter auf der Karte fest. Auch andere Bildschirmspiele mit nichtlinearer Struktur führen über die Erfolge des Spielers Buch. Das Computerspiel „Pirates!“9 präsentiert eine Tabelle mit Errungenschaften, eine Karte der Karibik zur Navigation, aber auch mit verzeichneten Höhepunkten der Piratenkarriere sowie dazu passenden Kurzfilmen. Vollständig nichtlineare Bildschirmspiele wie „Civilization 4“ lassen es so-gar zu, dass der Spieler alle historischen Ereignisse während des Spielver-laufs selbst initiiert. Dies reicht dann von der Gründung einer Stadt über die Stiftung einer Religion bis zum Bau eines Weltwunders. Am Ende des Spiels werden dem Spieler seine Errungenschaften in der Weltgeschichte mit den Mitteln des audiovisuellen Mediums Bildschirmspiel vor Augen geführt. Er erhält eine Tabelle mit den größten Städten und ihren Sehenswürdigkeiten sowie einen Ablaufplan der Spielereignisse auf der Weltkarte im Zeitraffer.

Einbettung von Historie in lineare Bildschirmspiele

Lineare Bildschirmspiele können aufgrund ihres geradlinigen Ablaufes His-torie anders darstellen als nichtlineare Bildschirmspiele. Der Spieler steht bei diesen Spielen im Mittelpunkt des Geschehens und steuert meist eine Spiel-figur. Er braucht keine Ressourcen zu überwachen und die Spielmechanis-men beziehen sich eher auf seine unmittelbare Reaktion auf die Spielsteue-rung als auf die Beachtung umfangreicher Wirkungszusammenhänge. Mit der Zentrierung des Geschehens auf die Spielfigur wird Historie aus der Sicht der Spielfigur gezeigt. Dabei kann es dazu kommen, dass der Spieler historische Ereignisse durchleben (und oftmals auch einfach nur überleben) muss. Zudem kann er in seltenen Fällen historische Ereignisse auslösen, wenn er z. B. eine „prominente historische Persönlichkeit“ steuert und ihre Geschicke durch eine vorgegebene Handlung bewegt. Der Spieler ist entwe- 9 Eines der wenigen nichtlinearen Spiele, das kein Strategiespiel ist.

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der auf der einen Seite im Sog der geschichtlichen Ereignisse oder tritt auf der anderen Seite als deren Lenker in Erscheinung. Lineare Bildschirmspiele zentrieren das Geschehen auf den Bildschirmspielrepräsentanten des Spie-lers. Daher sind historische Verwicklungen immer Auslöser für den weiteren Handlungsverlauf im Bildschirmspiel oder werden durch Aktionen des Spie-lers ausgelöst.

4 Gemeinsamkeiten und Probleme von Bildschirmspielen mit historischer Kulisse

Alle Bildschirmspiele mit historischer Kulisse haben gemeinsam, dass sie mit audiovisuellen Mitteln die Ereignisse vergangener Zeiten wieder zum Leben erwecken. Dabei suggerieren die Bilder und die Kausalität der Zu-sammenhänge eine Genauigkeit, die in der traditionellen Form der histori-schen Forschung keine Entsprechung findet. Diese Genauigkeit wird durch die vermeintliche Überzeugungskraft der Bilder suggeriert. Der „Quellen-charakter“ des Gezeigten als sekundäre Quelle wird minimiert. Eine weitere anzusprechende Schwierigkeit liegt in der oftmals (nicht nur von Histori-kern) bemängelten Einseitigkeit der Widersacher im Bildschirmspiel. Diese werden gerne als gefährlich, machthungrig und einfältig portraitiert, um ein gewaltsames emotionsloses Vorgehen gegen sie zu rechtfertigen, dass für den Erwerb von Macht und Kontrolle und den weiteren Verbleib im Bild-schirmspiel unerlässlich ist (vgl. Fritz 1997b)10. Dies trifft auf viele Bild-schirmspiele zu und ist ein problematischer Aspekt der Fakttransfers in Bild-schirmspielen mit historischen Bezügen, da hier eine einseitige Portraitierung von Völkern, Parteien und Personen vorgenommen wird und eine um Beschreibung und Neutralität bemühte Haltung verlassen wird. Die Sichtweise des Spielers wird durch die Parteinahme zumindest für die Zeit, die er im Bildschirmspiel verbringt, beeinflusst. Fraglich bleibt, ob durch intermondiale Transfers Einstellungen in die Alltagswelt übertragen werden.

Die Faszination der historischen Kulisse

Für die Betrachtung von Historie in Bildschirmspielen ist es von zentraler Bedeutung zu wissen, warum die Programmierer diese in ihr Werk einbauen und weshalb Spieler solche Bildschirmspiele auswählen. Im Rahmen seiner

10 Einfältig sind die Gegner meist deshalb, um zu erklären, wie es dem Spieler möglich ist,

große Massen von ihnen auszuschalten.

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Forschungsarbeit hat Jürgen Fritz die Faszinationskraft von Bildschirmspie-len für den Spieler näher beleuchtet und in Anlehnung an konstruktivistische Theorien als „strukturelle Kopplung“ bezeichnet. Spieler suchen sich die Bildschirmspiele danach aus, welche Spielform sie bevorzugen und/oder was sie inhaltlich anspricht. Man kann also davon ausgehen, dass Nutzer von Bildschirmspielen mit historischem Inhalt diese wählen, weil ihnen das Spielgenre (z. B. Action oder Strategie) zusagt oder sie ein generelles histo-risches Interesse haben. Im ersten Fall ist das historische Computerspiel für den Spieler nur ein weiteres Programm in seinem Lieblingsgenre und die Handlung wird von ihm lediglich registriert. Er beachtet den geschichtlichen Hintergrund nur, wenn er die Zielvorgaben der Aufgabenstellung oder Sieg-bedingungen verfolgt. Es ist ihm gleichgültig ob er die Orks des „Herrn der Ringe“ oder amerikanische Soldaten in den Kampf führt, solange er keine moralischen Bedenken bei der historischen Kulisse und den damit verbunde-nen Aufgaben hat. Die Kopplung des Spielers an sein Lieblingsgenre wird von der Bildschirmspielindustrie sogar noch gefördert, da sie, wie überall, erfolgreiche und trendsetzende Produkte kopiert oder neu auflegt. Dies führt dazu, dass bestimmte Szenarien oder Sparten die Produktpalette der Bild-schirmspiele eine gewisse Zeit dominieren11. Durch das Setzen dieser Trends kann es passieren, dass Genrefans um ein historisches Szenario in ihren be-vorzugten Bildschirmspielen nicht mehr herumkommen. Für den „Genrefan“ liegt der Reiz eines Computerspiels in dem, was er darin tun muss. Je eher das Spiel eine Herausforderung für ihn bietet, desto interessanter ist es für ihn. Der Spieler mit Vorliebe für geschichtliche Szenarien hingegen wählt ein Computerspiel dieser Art, weil es seiner Neigung zum verarbeiteten his-torischen Inhalt oder einer bestimmten Epoche nachkommt. Für ihn steht nicht nur im Vordergrund, was er tun muss, sondern dass vergangene Zeiten vor seinem Auge zum Leben erweckt werden und er darin eintauchen kann. Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten die Faszinationskraft von Bildschirmspielen mit historischer Kulisse besprochen wurde, soll nun ein Blick auf die drei bedeutendsten Möglichkeiten der Einbettung von Historie in ein Bildschirmspiel geworfen werden.

11 Der Spielentwickler Bob Bates empfiehlt in seinem Buch „Game Design“ die Übernahme

bekannter Szenarien und Spielkonzepte als vergleichsweise geringeres Risiko gegenüber einer Eigenkreation (vgl. Bates 2002).

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Historische Anleihen in Bildschirmspielen

Das Computerspiel übernimmt einzelne Anleihen aus der Geschichte, My-thologie und verwendet sie als Grundlage für ein Szenario/Setting. Immer gerne genommen werden Zeitabschnitte wie das Mittelalter, der zweite Weltkrieg oder hypothetische Szenarien, wie Science-Fiction- oder Endzeit-visionen von der Welt nach einem Atomkrieg12. Die bevorzugten Genres in diesem Zusammenhang sind Rollen- und Strategiespiele. Bezüge zum histo-rischen Hintergrund bestehen vor allem aus Versatzstücken, d. h. der Aus-stattung/Ausrüstung der Spielfiguren, der sprachlichen Gestaltung und ge-sellschaftlichen Rollen. Durch das historische Szenario soll vor allem eine zusammenhängende, schlüssige Spielwelt geschaffen werden, was sowohl den Spielern als auch den Herstellern bei der Programmierung entgegen-kommt. In der Ausgestaltung der historischen Epoche im Bildschirmspiel folgen die Spiele den generellen Vorbildern aus Film und Literatur, bauen aber oftmals eine davon unabhängige, eigenständige Spielwelt auf. Die Handlung bzw. das Spielkonzept ist gerne angelehnt an Mythen und Mär-chen, in denen der Spieler als Held auftritt. Der historische Inhalt hat nur wenig Bedeutung, kommt nur zum Vorschein, wenn sich die Spieler ein Bild über die Wirkung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen machen und untereinander darüber austauschen. Nur in diesem Zusammenhang kann die Realität strukturierendes Faktenwissen, etwa über Gesellschaft und Kultur des Mittelalters, in den Transferprozess einfließen lassen13. Da diese Bild-schirmspiele Historie nur am Rand berühren, können Sie in der folgenden Betrachtung vernachlässigt werden. Wesentlich ergiebiger für die Auseina-dersetzung mit Historie in Bildschirmspielen sind Programme mit histori-scher Kulisse.

5 Bildschirmspiele mit historischer Kulisse

In Bildschirmspielen mit historischer Kulisse dient der Rückgriff auf die Ge-schichte als Rahmen für die Spielhandlung. Die virtuelle Welt wird meist in

12 Die Ideen zu hypothetischen Szenarien stammen aus modernen Zukunftsvisionen über das

Leben der Menschheit nach schweren Katastrophen oder haben eine Referenz an die Zeit des „kalten Krieges“ und der Angst vor einer nuklearen Auseinandersetzung der damali-gen „Supermächte“ als „historische“ Referenz.

13 Dies gilt z. B. für die Idealisierung des ritterlichen Kampfes in Rollenspielen, bei dem eine Figur problemlos gegen eine Vielzahl von Widersachern gewinnen kann.

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einer oder mehreren aufeinanderfolgenden historischen Epochen angesiedelt, übernimmt vor allem deren optisches Erscheinungsbild und simuliert gesell-schaftliche Teilbereiche, vor allem Wirtschaft und Militär. Der Schwerpunkt liegt in der Entwicklung einer stimmigen Atmosphäre. Der Spieler beginnt eine Partie mit einer mehr oder weniger historisch korrekten Ausgangssitua-tion. Auf dieser Grundlage entwickelt das Spiel dann seinen eigenen histori-schen Verlauf. Der Spieler erschafft während des Spiels die eigene Ge-schichte seiner Spielfigur(en) oder seiner Gruppierung/seines Volkes und tritt als Führungspersönlichkeit auf, die historische Abläufe kreiert oder ent-scheidend beeinflusst. Der Spieler stellt die Weichen in der virtuellen Welt, wenn er dort erfolgreich sein will und muss die Entwicklungen dort kontrol-lieren. Es ist für ihn nun kein Problem, das weströmische Reich in der Zeit der Völkerwanderung (in „Rome: Total War“) zu verteidigen oder auf deutscher Seite den zweiten Weltkrieg zu gewinnen (in „Hearts of Iron 2“). Die entscheidenden historischen Ereignisse löst der Spieler selber durch sein Spiel aus (z. B. wenn das deutsche Reich in „Civ4“ den Islam entdeckt und zur Staatsreligion erhebt). Tatsächliche historische Ereignisse können sich auf den Spielverlauf nur dann auswirken, wenn sie von den Programmierern in den Spielregeln eingepasst wurden. In manchen Fällen können sie sogar vom Spieler durch Handeln im Bildschirmspiel ausgelöst werden. Das Hauptproblem liegt bei solchen Spielen nicht nur in der Skepsis der his-torischen Forschung gegenüber alternativen Entwicklungen im Allgemeinen, die durchaus als Gedankenspiel ihren Reiz haben können (vgl. Demandt 2001, 15-21, 128-144). Durch die Einfassung in das Bildschirmspiel werden die Zusammenhänge im Ablauf der geschichtlichen Ereignisse verkürzt. Da-bei ist es dort unwichtig, ob es durch die verkürzten Mechanismen zu un-wahrscheinlichen Entwicklungen kommt. Die Wahrscheinlichkeit oder sogar Unmöglichkeit dieser Entwicklungen wird in der Regel im Bildschirmspiel nicht thematisiert. Denn damit jedes Bildschirmspiel und jede Partie auch seinen Reiz hat, ist das Spiel so angelegt, dass der Spieler es gewinnen kann. Abhängig ist der Ausgang dabei nur von den strategischen Entscheidungen und den Fähigkeiten des Spielers. Geschichte wirkt beliebig veränderbar und es gibt keine ausweglosen Situationen und keine tendentiell strukturellen Entwicklungen.

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„Rome: Total War“ - Ein Computerspiel mit historischer Kulisse

Um die Überlegungen zu Bildschirmspielen mit historischer Kulisse besser zu illustrieren, ist es hilfreich, einen Vertreter dieses Genres näher zu be-trachten und seinen Umgang mit Historie einmal exemplarisch darzulegen. Das bereits erwähnte Strategiespiel „Rome: Total War“ etwa hat den Zeit-raum vom ersten punischen Krieg bis zur Errichtung des Prinzipats zum Thema. Es handelt sich dabei um ein typisches Bildschirmspiel mit histori-scher Kulisse. In der Rolle der Römer, Griechen, Karthager, Gallier, Germa-nen, etc. versucht der Spieler ein Weltreich im Europa dieser Zeit aufzubau-en14. Die Startposition hängt dabei vom gewählten Volk ab, ebenso wie die militärischen und finanziellen Startvorgaben. Der Spieler muss sein Reich ökonomisch verwalten, verteidigen und mit Eroberungszügen ausbauen. Da-bei muss er darauf achten, mit seinen Goldreserven sowohl das Militär als auch den Reichsausbau zu fördern. Andere Rohstoffe als Gold sind nicht vorhanden. Der Spieler erhält es durch Erhöhung des Steuersatzes (was bei den Einwohnern natürlich zum Stimmungsverlust führt), Bau von Handels-plätzen und -häfen und die Eroberung fremder Provinzen, die sich nach der Besetzung natürlich wieder ausbauen und besteuern lassen. Die Zeit läuft in Runden ab, die jeweils ein halbes Jahr umfassen. Als zweites Spielelement neben der Planung von Eroberungszügen und Baumaßnahmen auf der strategischen Karte kommt es beim Aufeinandertref-fen von verfeindeten Armeen zu taktischen Gefechten in „Echtzeit“15, die die Schlachten antiker Armeen simulieren sollen. Hierbei handelt es sich um ein Spielelement, das den Ablauf eines altertümlichen Gefechtes veranschau-licht. Anders als in herkömmlichen Strategiespielen wird der Gegner im tak-tischen Kampf nicht frontal bekämpft. Es kommt vielmehr zu taktischen Manövern, denn die taktische Nutzung des Geländes, des Wetters und die Berücksichtigung der Truppenaufstellung sind von Bedeutung. Die Truppen haben die charakteristischen Merkmale und Fähigkeiten ihrer altertümlichen Pendants. So bilden etwa griechische Hopliten eine Phalanx, Gallier und Ge-rmanen brüllen einen Kampfschrei heraus. Der Spieler kann taktische Ma-

14 Die Römer teilen sich in drei Herrscherfamilien und den Senat auf. Letzterer vergibt Auf-

träge an die Familien, welche von diesen zur Steigerung der eigenen Popularität genutzt werden können. Früher oder später kommt es unter den römischen Seiten zum Bürger-krieg, bei dem eine Fraktion die Stadt Rom als Siegesbedingung erobern muss.

15 Im Sinne von „Echtzeitstrategiespielen“.

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növer durchführen, die dem Verlauf antiker Schlachten ähnlich sind. Er kann den Gegner mit Reitern einkreisen oder eine Phalanx von der schwachen Seite in Bedrängnis bringen. Sobald die beiden Schlachtreihen der Armee aufeinander prallen beginnt das Gefecht und es entscheidet sich nun, welche Formation der jeweiligen Armee standhalten kann. Dies kommt dem tatsäch-lichen Hergang einer antiken Schlacht nahe. Der Sieg wird hier wie dort durch das Vertreiben des Gegners vom Kampfplatz errungen. Die verwende-ten Taktiken in „Rome: Total War“ sind aus den zeitgenössischen Berichten über den Verlauf einer Kampfhandlung bekannt. Auch dort laufen die Rei-hen aufeinander zu und trennen sich wieder, bis eine davon in Panik gerät und flieht. Insbesondere die Kampferfahrung der Truppen spielt hier eine große Rolle. Diesem Umstand wird im Spiel ebenfalls Rechnung getragen; die Erfahrung der Truppen steigert sich von Kampf zu Kampf. Hohe Verlus-te auf einer Seite entstehen erst bei der Verfolgung der Flüchtenden durch die Berittenen. Die Umsetzung dieses Teils der historischen Thematik ist sehr gelungen. Die historische Kulisse bei „Rome: Total War“ setzt sich aus verschiedenen Komponenten zusammen, bestehend aus den antiken Völkern, den militäri-schen Einheiten und den Gebäuden der damaligen Zeit, aber auch den histo-rischen Ereignissen und Personen, die während einer Partie auftauchen kön-nen. Sie treten zum richtigen Zeitpunkt auf, haben aber nur dann Bedeutung, wenn ihre Auswirkungen in die Spielregeln eingearbeitet sind. So ist z. B. die Entdeckung der archimedischen Schraube unwichtig, da sie nicht in die Spielregeln eingearbeitet wurde. Eine Flut in Kleinasien hingegen kann Ge-bäude beschädigen und hat somit Auswirkungen auf den Spielverlauf. Das für das Spiel wichtigste Ereignis ist die Heeresreform von Gaius Marius16. Spieler der römischen Fraktionen können nach deren Inkrafttreten nicht mehr die Milizsoldaten der frühen römischen Republik, sondern die Berufs-soldaten der späten Republik bzw. des Prinzipats rekrutieren. Dieses Ereig-nis findet nicht zum historisch vorgesehenen Zeitpunkt statt, sondern wird durch eine Aktion des Spielers ausgelöst. Historische Personen wie Archimedes, Cicero oder Erathostenes schließen sich dem Gefolge von Generälen an und haben Auswirkungen auf dessen Fähigkeiten. Ihr Erscheinen hängt neben dem Zeitpunkt des Spiels auch vom Ausbau der Provinzen ab.

16 Dieses Ereignis ist als Einziges im Spiel abhängig vom Spielverlauf.

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Ein besonderes Augenmerk liegt bei „Rome: Total War“ auf dem Herrscher-haus der jeweiligen Spielpartei. Der Spieler startet mit drei bis vier Fami-lienmitgliedern. Durch heranwachsende Kinder, Adoption erfolgreicher Kommandeure oder Verheiratung der Töchter vergrößert sich die Ver-wandtschaft. Familienmitglieder fungieren als Generäle in der Schlacht oder als Statthalter einer Provinz. Ihre Eigenschaften helfen oder behindern sie bei erfolgreicher Pflichterfüllung. Während ihres virtuellen Lebens gewin-nen sie dabei positive und negative Eigenschaften hinzu. Eigenschaften wer-den sowohl durch Aktivität und Passivität der Charaktere im Spiel hinzuge-wonnen. Ein Familienmitglied, das viele Kämpfe gewinnt, wird zu einem hervorragenden Truppenführer und guten Redner (aufgrund seiner Anspra-chen vor der Truppe). Statthalter großer Handelsstädte werden geübter im Umgang mit Geld, können aber auch durch übermäßige Genusssucht deka-dent und träge werden. Wie sich eine Person entwickelt, ist an u. a. „Ge-burtsanlagen“ der Familienmitglieder gebunden, so kann z. B. ein „nüchter-nerer“ Charakter nie zu einem „Trinker“ werden. Auch können positive Eigenschaften bei einer Steigerung negative Nebenwirkungen haben. Ein „Gladiatorenfan“ ist zwar beim Volk beliebt und sorgt für Zufriedenheit, vernachlässigt aber wegen dieser Leidenschaft seine administrativen Pflich-ten, was die Einnahmen mindert. Auch das Gefolge der Charaktere wird ebenfalls durch Taten und Persönlichkeitszüge beeinflusst. Der Strategiemodus von „Rome: Total War“ hat viele bereits angeführte Schwächen von Bildschirmspielen mit historischer Kulisse. Dazu gehört zum einen der fehlende Perspektivenwechsel bei der Wahl eines anderen Volkes. Der Spieler kann die Seiten der Karthager und Germanen auswäh-len, aber das Spiel hat immer noch die gleichen Ziele, nämlich die Erobe-rung der Spielwelt. Es wird versäumt, hier die Ereignisse dieser Zeit aus Sicht dieser Völker spielbar zu machen. Zum anderen kommt die einseitige Verlagerung auf militärische Konflikte hinzu. Die Wirtschaft dient nur der Aufrüstung und Entlohnung der Armee. Handel und Technologietransfer der Völker spielen eine unwesentliche Rolle. Hinzu kommt die fehlerhafte Be-schreibung von militärischen Einheiten oder die erfundenen Gebäudetypen, wie die „barbarische“ Heldenhalle17. Die taktischen Gefechte jedoch geben

17 Die Gebäude haben neben ihrer tatsächlichen Gestaltung im Bildschirmspiel natürlich

auch eine symbolische Bedeutung (vgl. Fritz 2003b). So steht die fiktive Heldenhalle na-türlich für einen fortschrittlichen Siedlungsausbau der Barbaren und das Pantheon, wel-

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einen interessanten Einblick in die militärischen Operationen dieser Zeit, auch wenn die Truppentypen an einigen Stellen nicht immer der historischen Realität entsprechen. Spezielle Effekte von Kampfmoral, Ausrüstung und „psychologischer Kriegsführung in altertümlichen Schlachten (mit angstein-flößenden Truppen wie Elefanten oder wilden, tätowierten Kriegern) sind anschaulich wiedergegeben. Aufgrund der freien Spielentfaltung werden historische Abläufe nicht zwin-gend eingehalten. Der Spieler hat die Möglichkeit mit dem Spiel den ge-schichtlichen Verlauf zu verändern und etwa mit den Karthagern Rom zu erobern. Dabei werden die in der Geschichtswissenschaft umstrittenen alter-nativen Möglichkeiten, wie bereits angesprochen, nicht nach historischen Gegebenheiten, sondern anhand der Spielmechanik entwickelt. Dies betrifft vor allem die Entwicklung des Reiches, die Aushandlung von Bündnissen, etc. Die historische Kulisse sorgt zwar für ein atmosphärisches Spielerlebnis, ist inhaltlich aber auch ungenau. Im taktischen Part des Spiels gibt es den Versuch einer authentischen Simu-lation einer altertümlichen Stadt. Wenn auch einige Einheiten trotz ihrer An-bindung an den historischen Kontext in der Ausführung eher phantasievoll sind.18

6 Nachspielen von historischen Ereignissen oder daran an-gelehnte Handlungen

Bildschirmspiele dieser Art lassen den Spieler ein historisches Ereignis nachspielen. Er übernimmt die Rolle von bekannten Protagonisten (Alexan-der der Große, Napoleon, Erwin Rommel) oder trifft diese möglicherweise als „Nebenfiguren“ während des Spielverlaufs. Ausgangspunkt ist eine histo-rische Situation. Geschichte wird hier als kontinuierlicher Ablauf dargestellt. Leerstellen werden hin und wieder mit mehr oder weniger spekulativen Vermutungen gefüllt. Der fragmentarische Charakter von Geschichte entfällt und auch hier werden Vermutungen nicht als solche kenntlich gemacht. Als virtuelle Geschichte können in solchen Fällen die Aussagen bezeichnet wer-

ches wie der Circus Maximus nur in Rom vorhanden ist, steht für eine Verbesserung der Tempelanlagen oder der Wagenrennbahn. Nichtsdestotrotz können sie bei einem Fakt-transfer falsche Vorstellungen erzeugen.

18 Wie etwa die kreischenden Frauen auf germanischer Seite und die brennenden Schweine auf Seiten der Römer.

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den, die die Leerstellen im geschichtlichen Verlauf füllen. Ereignisse werden als kausale Abläufe präsentiert, die der Spieler miterlebt und in die er aktiv eingreift. An manchen Stellen löst er Ereignisse durch seine Handlungen aus. In anderen Fällen wird eine bedrohliche historische Kulisse heraufbe-schworen, die den Spieler vor eine Bewährungsprobe stellt, bei der er sich im Bildschirmspiel behaupten muss. In dieser Art von historischen Bild-schirmspielen herrscht ein filmischer Ablauf vor.

„Panzers: Phase One“ – historische Ereignisse im Computerspiel

Das Computerspiel „Panzers: Phase One“ versetzt den Spieler an den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Dabei kann er als Held der Kampagne sowohl auf der Seite der deutschen Wehrmacht als auch der Alliierten in das Geschehen eingreifen. Das Spiel ist in drei Kampagnen eingeteilt, die jeweils um eine zentrale Figur aufgebaut, um die sich eine kleine Handlung konstruiert. His-torische Ereignisse, besser gesagt die militärischen Entwicklungen des Krie-ges, werden während einzelner Missionen kurz angerissen und bekannte Fi-guren wie Erwin Rommel und General Guderian tauchen im Spiel auf und interagieren mit der zentralen Spielfigur, u. a. als Auftraggeber. Bei „Pan-zers: Phase One“ handelte es sich um ein Bildschirmspiel mit mesovirtueller Struktur (vgl. Wesener 2004, 89-105), d. h. es gibt eine Missionsstruktur, die der Spieler einhalten muss. Er kann aber in den Einzelaufgaben bis zu einem gewissen Grad nach eigenen taktischen Ideen vorgehen und ist dann nicht an einen vorgegebenen Ablauf gebunden. Nebenaufträge können erfüllt werden, sind aber zum Erreichen des Spielziels nicht nötig. Um in der virtuellen Welt erfolgreich zu sein, erlaubt „Panzers“ die Auswahl von unterschiedlichem militärischem Gerät, z. B. Artillerie, Panzer oder Infanterie. Das Erfüllen von Missionen und Nebenaufträgen sowie ein geringer Verlust von Soldaten und Maschinen geben dem Spieler Prestigepunkte, die den Einkauf neuer Einheiten erlauben. Die Missionen orientieren sich dabei am Verlauf des Zweiten Weltkrieges und binden historische Ereignisse ein. Auf Seiten der deutschen Wehrmacht wird ein Teil des Überfalls auf Polen, der Angriff auf Frankreich und der Russlandfeldzug nachgestellt. Im Unterschied zu Bildschirmspielen mit his-torischer Kulisse sind hier Ereignisse der Auslöser für das Spielgeschehen. Der Spieler ist in den historischen Prozess und in dessen Mechanismus ein-gebunden. Er kann den Ablauf des geschichtlichen Geschehens des Zweiten

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Weltkriegs nicht verhindern19. Um Kontrolle in „Panzers“ zu erreichen, muss der Spieler sich gegen seine computergesteuerten Gegner behaupten, also sein Bleiberecht im Spiel erkämpfen. Bezeichnend für ein mesovirtuelles Bildschirmspiel ist hier, dass der Spieler die Steuerung mehrerer Figuren übernimmt, inklusive eines Protagonisten. Neben seinen taktischen Variati-onsmöglichkeiten innerhalb einer Aufgabe wird das Geschehen immer wie-der von vordefinierten Ereignissen unterbrochen, die den Spielverlauf in be-stimmte Bahnen lenken. Die graphische Präsentation ist sehr detailliert. Effektreich werden Explosio-nen und Zerstörung in Szene gesetzt. Der einzige Grund für die detailreiche Präsentation besteht darin, den Spieler zum Weiterspielen zu bewegen und das Spiel von Konkurrenzprodukten abzuheben. Die Schrecken des Krieges und dessen bedrückende Atmosphäre kommen nur in wenigen Situationen zur Geltung.

7 Probleme in der Konstruktion von Gesellschaft(struktur) bei Bildschirmspielen mit historischem Inhalt

Bildschirmspiele mit historischem Bezug vermitteln vor allem Faktenwissen über die im Spiel behandelten Zeiträume, Ereignisse, etc. Sie kommen für die Bildung eines Geschichtsverständnisses genauso in Betracht wie Spiel-filme von der Machart eines „Gladiator“, „Der Soldat James Ryan“ oder „Der Untergang“. Dennoch ist die Tragweite der Bildung eines Geschichts-verständnisses durch historische Bildschirmspiele bisher nicht erforscht. Zwar ist ihr vordergründiges Ziel lediglich die Unterhaltung, aber gerade durch ihre Popularität können sie das Geschichtsbild von unbedarften Nut-zern via Transferprozess durch eine Art „heimlichen Lehrplan“ mitprägen. Für eine Entwicklung des Geschichtsverständnisses und der Konstruktion eines Geschichtsbildes tritt die sonst bei Bildschirmspielen immer gerne ge-führte Diskussion über virtuelle Gewalt in den Hintergrund. Bildschirmspie-le mit historischem Inhalt sind gerade wegen der in ihnen enthaltenen Infor-mationen und aufgrund der möglichen Transferprozesse auf der Fakt- und Skriptebene nicht unproblematisch. Das aus Bildschirmspielen konstruierte Geschichtsbild enthält Verkürzungen der Realität und eine daraus entwickel-

19 So heißt es sinngemäß, aber treffend in der Spielanleitung zu der Flugsimulation „Euro-

pean Air War“: Auch wenn Sie noch so gut fliegen, wird Deutschland den Krieg verlie-ren.

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te virtuelle Historie, die von den tatsächlichen Vorfällen stark abweichen kann. Aus dem Transfermodell von Jürgen Fritz geht hervor, dass gerade Skript- und Faktebene des Transfers dem Spieler deutlich bewusst sind (vgl. Fritz 1997a). Er weiß also genau, wann er Fakten aus einem Bildschirmspiel in seinen Wissensbestand aufnimmt. Dabei kann es sich um Fakten über Einzelheiten, Meinungen über ganz historische Epochen oder alternative Möglichkeiten der historischen Entwicklung handeln. Der Fakttransfer ließe sich für den Spieler relativ leicht überprüfen, sofern er dies überhaupt sein Wunsch ist. Ungenauigkeiten oder Fehler in den transferierten Fakten aus dem Bildschirmspiel lassen sich leicht durch alternative Informationsquellen finden. Das funktioniert aber nur dann, wenn sich der Spieler nur unzurei-chend informiert fühlt und an einer weiteren Auseinandersetzung mit der Thematik interessiert ist20. Ansonsten bleibt das fehlerhafte und fragmentari-sche Faktenwissen erhalten und wird zum Wissen über die Realität der All-tagswelt. Hier wäre also ein Ansatzpunkt für die pädagogische Arbeit mit solchen Bildschirmspielen zu finden. Neben den Fakttransfers sind für die Bildung eines Geschichtsbildes Skript-transfers von Bedeutung. Der Spieler nutzt sie bei intramondialen Transfers, um sich in Bildschirmspielen ähnlicher Machart zurechtzufinden und über-nimmt Spieltaktiken und Strategien. Intermondiale Transfers bei Bildschirm-spielen mit historischem Bezug geben dem Spieler Einsicht in die Funkti-onsweise bestimmter Abläufe/Prozesse in der Geschichte und veranschau-lichen diese. Dabei ist, wie eingangs erwähnt, zu beachten, dass hier auf-grund der Komplexität der realen Welt Reduktionen im Bildschirmspiel nö-tig sind. Hier kann es zu einer vereinfachten Sichtweise historischer und ge-sellschaftlicher Strukturen und Prozesse kommen. Konkrete Transfermöglichkeiten sowohl auf der Fakt- als auch auf der Skriptebene finden sich vor allem in der Darstellung von komplexen histori-schen Zusammenhängen und beteiligten Parteien/Völkern/Gruppier-ungen/Personen. Historische Abläufe werden in Bildschirmspielen aufgrund des Regelaufbaus als Verkettungen von kausalen Prozessen dargestellt. Da-bei liefert die virtuelle Welt des Bildschirmspiels für den Spieler eine mögli-che Deutung des historischen Ablaufs. Er übernimmt eine tragende Rolle

20 Das ist sicherlich der Fall, wenn sich historisch interessierte Spieler mit diesen Bild-

schirmspielen befassen, nicht jedoch wenn es für den Spieler nur ein weiteres Produkt in seinem Lieblingsgenre ist.

Geschichte in Bildschirmspielen

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und bleibt durch den Erfolg im Spielverlauf immer Sieger, auch wenn dies zu Ergebnissen, die von der Realität abweichen führt. Eine weitere Vereinfachung, die sich vor allem auch in intermondialen Skripttransfers zeigt, ist das so genannte „Gleichzeitige des Ungleichzeiti-gen“ (vgl. Grosch 2002). Die Handlungsroutinen/Skripte in Bildschirmspie-len richten sich nicht nach der Denkweise der portraitierten historischen Menschen und deren Wirklichkeitskonstruktion in der abgebildeten Epoche, sondern nach der Denkweise des heutigen Menschen, der das Bildschirm-spiel erfolgreich bestehen will und in ganz anderen Wertekategorien plant. Die Gedankenwelt der historischen Person und ihre Motive bleiben dem Spieler verschlossen, da sie auch nicht weiter im Spiel erläutert werden oder in die Spielmechanik eingebaut sind. Weltanschauungen und Weltkonstruk-tionen der damaligen Zeit werden dem Spieler nicht nahe gebracht. Vor al-lem, wenn historische Konflikte dargestellt werden, sind diese dadurch le-diglich auf den Kampf um Ressourcen und die militärische Sichtweise reduziert. Die Darstellung von Personen, Völkern, etc. in historischen Bildschirmspie-len ist sehr einseitig gehalten und entspricht meist den gängigen Vorurteilen. So sind z. B. in „Ego-Shootern“ die Soldaten der deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg allesamt tumbe Befehlsempfänger. Eine individuelle Cha-rakterisierung wird nicht vorgenommen und die Soldaten sind nur Hinder-nisse in einem Actionspiel, die es auszuschalten gilt. Die recht einseitig charakterisierten Völker treffen in den Konflikten von Strategiespielen häufig aufeinander. Dabei wird nach Waldemar Grosch in-direkt ein Kräftemessen der Völker herausgefordert, das den Spieler zu fal-schen Schlussfolgerungen über den Wert bestimmter Kulturen bzw. über die Überlegenheit bestimmter Völker führen kann (vgl. Grosch 2002, 128-136). Dem gegenüber ist es allerdings wesentlich wichtiger zu beachten, dass den meisten Bildschirmspielen mit historischen Komponenten der Wechsel der Perspektive auf das historische Geschehen fehlt, selbst wenn eine andere Seite gespielt wird. Zwar erlauben historische Bildschirmspiele in kleinem Rahmen den Wechsel der Perspektive durch die Übernahme eines anderen Volkes, doch die Siegbedingungen des Spieles bleiben mehr oder weniger dieselben. Der Spieler übernimmt mit der neuen Rolle also keine neue Sichtweise auf das historische Geschehen. Durch die Übernahme der ande-ren Seite im Spiel wechselt er lediglich die strategischen und taktischen

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Möglichkeiten. Eine andere Perspektive auf das Ereignis oder die Epoche (bei Bildschirmspielen mit historischer Kulisse) wird nicht angeboten und somit nicht eingenommen. Das Kernproblem von historischen Bildschirmspielen liegt allerdings in der Vermischung von Unterhaltung und Information. Während man von Infor-mationen mit Neuigkeiten über die Welt versorgt wird, baut Unterhaltung neben der bereits existierenden Realität eine zweite Wirklichkeit auf (vgl. Luhmann 1996, 96-116). Diese zweite Wirklichkeit, sei es nun ein Film, Buch oder ein Bildschirmspiel hat ihre eigenen Regeln und Wirkungszu-sammenhänge, die die Wirklichkeit der Alltagswelt nicht abbilden, sondern vereinfachen und verzerren. Wenn versucht wird, Unterhaltung mit Informa-tionen zu koppeln, führt dies bei historischen Bildschirmspielen zu den oben angesprochenen Problemen. Bildschirmspiele, die sich an Historie anlehnen, wollen den Spieler allerdings in erster Linie unterhalten und nicht informie-ren. Das bedeutet, dass für einen besseren Unterhaltungswert bewusst auf Genauigkeiten der historischen Darstellung verzichtet wird, um den Spiel-spass zu erhalten. Trotz allem müssen sich diese Spiele als Vermittler histo-rischer Fakten zur Diskussion stellen. Denn die virtuelle Spielwelt des Bildschirmspiels übt durchaus Einfluss auf das Geschichtsverständnis der Nutzer aus. Dafür sorgt die starke Einbindung der Spieler in das Bildschirmspiel per struktureller Koppelung. Vor allem auf der Faktebene kommt es zu Transferprozessen. Hierzu lassen sich Bestä-tigungen finden, vor allem innerhalb der Spielergemeinde. Die stichproben-artige Betrachtung von Internetforen zeigt, dass sich die Spieler mit histori-schen Begebenheiten, wie sie im Bildschirmspiel dargestellt werden auseinandersetzen und diese bewerten. Untersuchungen von Hartmut Gie-selmann zu den Spielerdiskussionen zum Computerspiel „Counterstrike“ in einschlägigen Internetforen haben gezeigt, dass die Spieler die Wirkung der im Spiel vorhandenen Waffen als Basis für Aussagen über deren Wirkung in der Realität nutzen (vgl. Gieselmann 2002, 88-91). Ähnliches gilt für die (kleine) Gemeinde der Fans von Kampfflugzeugsimulatoren (für neue und „historische“ Modelle). Sie vergleichen die Durchschlagskraft verschiedener Flugzeugtypen miteinander und stellen sich die Auseinandersetzungen dieser Flugzeuge in der Realität anhand ihrer gespielten Einsätze vor. In den Foren zum historischen Computerspiel „Rome: Total War“ findet sich eine Rubrik für so genannte „War-Stories“. Hier beschreiben Spieler ihren erfolgreichen,

Geschichte in Bildschirmspielen

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aber fiktiven Kampagnenverlauf und darin vorkommende entscheidende Schlachten. Ebenso werden Taktiken gegen bestimmte Truppenformationen diskutiert, wobei es sich hier um intramondiale Transfers handelt, da auf die Eigenschaften der Truppen im Bildschirmspiel Bezug genommen wird. Doch wie in den Foren zu „Counterstrike“ verlässt die Diskussion hin und wieder den Rahmen des Bildschirmspiels. Die Beiträge bewegen sich dann in die Richtung des intermondialen Transfers, bei dem die Spieler den histo-rischen Inhalt aus dem Kontext der virtuellen Welt des Bildschirmspiels in die Alltagswelt übertragen. Die Auseinandersetzung mit dem Bildschirm-spiel führt nicht nur zu angeregten Gesprächen innerhalb der Spielforen, sondern auch zu einer aktiven Veränderung des Bildschirmspiels. Für viele Bildschirmspiele (nicht nur für solche mit historischem Inhalt) hat sich eine „Modding-Community“21 entwickelt. Vor allem aber bei Bildschirmspielen mit historischem Bezug haben es sich die „Modder“ zur Aufgabe gemacht, das Programm in die Richtung der historischen Genauigkeit zu modifizieren und Details hinzuzufügen. Dies zeigt zum einen den Blick der Spieler für das Detail, aber auch eine aktive Auseinandersetzung mit dem historischen In-halt des Bildschirmspiels. Denn oftmals werden solche Modifikationen in Anleitungen, Beiträgen, etc. begründet.

8 Einsatzmöglichkeiten von historischen Bildschirmspielen

Historische Bildschirmspiele wollen in erster Linie unterhalten und haben keine in sich wohnende Lernabsicht. Also müssen sie zu pädagogischen und didaktischen Zwecken modifiziert werden, oder aber ihr Einsatz sollte von pädagogischem Personal begleitet sein. Fraglich bleibt, inwieweit das in Bildschirmspielen und anderen audiovisuel-len Medien präsentierte Geschichtsbild in Konkurrenz zu dem auf herkömm-liche Weise z. B. im Geschichtsunterricht vermittelten Geschichtsbild tritt. Es wird ergänzt durch das Wissen aus (Lehr-)Büchern mit historischem Be-zug. Dort besteht die Möglichkeit, auf Lücken und Unklarheiten hinzuwei-sen, die durch den Lerntransfer aus für Lehrer und Historiker bestenfalls oberflächlichen Bildschirmspielen entsteht.

21 Ein „Mod“ ist eine Veränderung (Modifikation) eines bestehenden Bildschirmspiels durch

Fans. Dies reicht von Einfügen neuer Grafiken, Einheiten oder Spielfiguren bis zur komp-letten Umarbeitung der Spielwelt und deren Regeln. Oft werden derartige Projekte von den Programmierern durch die Veröffentlichung von Editoren, etc. unterstützt.

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Trotzdem sollten historische Bildschirmspiele nicht pauschal als minderwer-tige Unterhaltungsware abgeurteilt werden. Vor allem durch den Aufbau einer lebendigen Atmosphäre haben sie die Möglichkeit, das Leben vergan-gener Zeiten auferstehen zu lassen. Dies lässt sich pädagogisch nutzbar ma-chen, indem die Beliebtheit dieser Spiele als Einstig in eine historische Thematik verwendet wird und sich die Kopplung des Spielers an das Bild-schirmspiels nutzbar machen lässt, etwa durch gemeinsames Spielen im Un-terricht22. Dabei kann ebenfalls nach einigem Fortschritt auf Ungenauigkei-ten/Verkürzungen in der Darstellung des Spiels hingewiesen werden. Für wirklich transferanregende virtuelle Welten mit historischem Bezug wäre es wünschenswert, dass Geschichtswissenschaftler und -didaktiker sich für die Mitarbeit an Spielen mit historischem Bezug begeistern, um diesen neben ihrer spielerischen Attraktivität eine fundierte historische Basis und ein noch höheres Maß an Authenzität zu verleihen, was sich durchaus auch positiv auf den Spielspass auswirken kann. Ein Ansatzpunkt lässt sich in der Struktur von Bildschirmspielen finden, die durch die technische Entwicklung in Gra-fik und Sound inzwischen zu virtuellen Spielwelten geworden sind. Bild-schirmspiele mit linearer Handlung, die eine insgesamt mikrovirtuelle Struk-tur aufweisen, können den Spieler in eine historische Situation versetzen und sie näher an ihn herantragen. So könnte man sich Bildschirmspiele vorstel-len, die nicht als „Killerspiele“ Karriere machen, sondern durch ihre be-klemmende Lebensnähe in der Darstellung von Kriegshandlungen als Auf-klärungsprogramm oder Antikriegspiel nutzbar sind. Bildschirmspiele mit makrovirtueller Struktur können umfangreiche historische Situationen ver-anschaulichen und den Fokus auf bestimmte Aspekte legen. Dabei reicht es allerdings nicht aus, vorhandene Bildschirmspiele per vorgefertigtem Szena-rio oder Modifizierungen an die Gegebenheiten der Situation anzupassen, denn die bisher verfügbaren Programme verkürzen die Realitätsmechanis-men zu stark und fokussieren zu sehr auf den Aspekt der Unterhaltung. Auch das in Bildschirmspielen geforderte Erreichen von Kontrolle und Macht hemmt den Lernprozess, da das Bildschirmspiel von seinem Aufbau auf den

22 Grosch führt hier an, dass die Ausstattung der EDV-Räume an Schulen und die Zeit einer

Unterrichtsstunde dazu nicht ausreicht. Ein Lösungsansatz hierzu wäre etwa, vorgegebene Spielstände zu erstellen, deren (historische) Spielsituation allen Spielern im Zuge einer Vorarbeit bekannt ist. Dabei können die Schüler in Gruppen arbeiten (vgl. Fritz 2003b).

Geschichte in Bildschirmspielen

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Sieg des Spielers ausgelegt ist.23 Die Möglichkeit, im freien Spiel die virtuel-le Welt, eine geschichtliche Epoche oder ein Ereignis zu entdecken, ist da-durch stark eingeschränkt. Denn zum Lernen muss der Spieler in der virtuel-len Welt des Bildschirmspiels Raum zur Entdeckung und Entfaltung haben. Eine Synthese in diesem Zusammenhang muss allerdings berücksichtigen, dass die historisch akkurate Darstellung durch ein Übermaß an Handlungs-optionen und Detailtreue die Spielbarkeit hemmen kann und die virtuelle Spielwelt zu einem zähflüssigen Langweiler wird. Denn die Spannung des Bildschirmspiels muss erhalten bleiben, um die Anbindung des Spielers zu erhalten und so Lerntransfers zu ermöglichen.24 An diesem Punkt können also Entwickler von Bildschirmspielen und Historiker (Didaktiker und Wis-senschaftler) zusammenarbeiten, um ein Produkt zu erstellen, das möglichst informationsreich ist und auch spielerisch zu begeistern weiß. Durch die Diskussion in den Foren von Bildschirmspielen mit jedweden historischen Bezügen ist bekannt, dass diese Spiele von den Käufern durchaus gewünscht werden. Eine Grundlage für Bildschirmspiele mit anspruchsvoller histori-scher Darstellung ist also bereitet, damit innovative Projekte dort entstehen können.

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23 Einen Vorschlag für den Unterrichtseinsatz von Civilization 3 machte Fritz 2003b. 24 Zum Erleben von Gefühlen in Bildschirmspielen und dem damit zusammenhängenden

Gleichgewicht aus Spannung, Anforderungen und Handlungen vgl. Fritz 1997c in Fritz, Fehr (Hrsg.) 1997 und Fritz 2003c in Fritz, Fehr (Hrsg.) 2003.

Stefan Wesener

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Wesener, Stefan (2004), Spielen in virtuellen Welten. Eine Untersuchung zu Trans-ferprozessen in Bildschirmspielen, Wiesbaden.

III. Konstruktivistische Zugänge

Das Soziale an Software

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Das Soziale an Software

Rekonstruktion impliziter Gesellschaftsmodelle bei der Entwick-lung des Computerspiels MyTown

Stefan Selke

Zusammenfassung

MyTown ist ein interaktives Computerspiel, in dem ein Student eine Woh-nung sucht. Das Spiel wurde von Studierenden des Faches Medieninformatik an der Hochschule Furtwangen (Fakultät Digitale Medien) programmiert. Im Rahmen einer Gruppendiskussion mit den EntwicklerInnen wurden die Grundannahmen, die in das Spielkonzept einflossen, mit der technischen Realisierung verglichen. Ziel der Untersuchung war es, die Denkmodelle zu erörtern, die als nicht-technische Voraussetzung sowohl den Produktions- als auch den Rezeptionsprozess limitieren. Diese exemplarische Rekonstruktion des Spielentwicklungsprozesses führte zu grundlegenden Einsichten über das prekäre Wirklichkeitsverhältnis von Computerspielen: Das Spiel stellt einer-seits auf der Ebene des Konzepts den Versuch dar, komplexe Grammatiken sozialer Interaktionen zwischen den Spielfiguren in ein einfaches Entschei-dungsmodell zu überführen. Es zeigt andererseits auf der Ebene der techni-schen Realisierung, dass kontingente realweltliche Prozesse der Herstellung von Sinnhaftigkeit sich nur sehr unzureichend durch algorithmische Prozesse simulieren lassen.

1 Spielentwicklung als Untersuchungsfeld: Ausgangsfrage und Zielsetzung der Studie zum Computerspiel MyTown

MyTown ist ein Computerspiel, bei dem es für den (studentischen) Spieler darum geht, eine Wohnung an einem neuen Studienort zu finden. Es wurde von Studierenden der Fakultät Digitale Medien an der Hochschule Furtwan-gen1 mit Hilfe einer Open Source Software2 programmiert. Die verwendete

1 Dieser Beitrag ist das Ergebnis bewährter interdisziplinärer Zusammenarbeit über Insti-

tutsgrenzen hinweg. Er basiert auf einem Vortrag von Daniel Fetzner (Hochschule Furt-wangen) und mir (PH/Uni Karlsruhe) anlässlich des Kongresses „Konstruktion von Poli-tik und Gesellschaft in Computerspielen?“ an der TU München. Ohne die Initiative von Daniel Fetzner, das Thema aufzugreifen und ohne den Zugang zu seiner Projektgruppe, die den Untersuchungsgegenstand bildete, wäre dieser Beitrag nicht denkbar. Ich danke

Stefan Selke

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Software bietet potenziell viele Möglichkeiten zur Programmierung eines Spiels. Aus der hier vertretenen Perspektive3 ist es daher nicht selbstver-ständlich und auch nicht trivial, welches Konzept letztlich entstand. Die spannende Aufgabe bestand darin, nach den Randbedingungen der Spiel-programmierung zu fragen. Sie sind „das Soziale“ an Software. Damit kann exemplarisch gezeigt werden, wie sich „Gesellschaft“ bei der Planung und Umsetzung eines Computerspiels in den Entwicklungsprozess einschreibt. Was dies über die „Mind Sets“ der Entwickler aussagt und wie diese sich in den verschiedenen Etappen des Entwicklungsprozesses auf Entscheidungen auswirken, ist Gegenstand der hier vorgelegten Studie. Vor allem wird damit die Frage beantwortet, ob es überhaupt möglich ist, mit Hilfe von Methoden der rekonstruktiven Sozialforschung (z. B. Bohnsack 2003) bzw. qualitativer Methoden der Medienforschung (z. B. Ajaß/Bergmann 2006) eine solche Analyse überhaupt vorzunehmen. In jedem Fall geht es dabei darum, das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen und die eigene (Produzenten-)Kultur zu befremden4. Dieser Beitrag ist das Ergebnis exemplarischer me-thodischer Befremdung der Kultur der Spielentwicklung.

Wesen des (Computer-)Spiels

Was macht ein Spiel zum Spiel? Warum spielen wir überhaupt? Spiele sind gleichermaßen Simulationen, Modelle und Projektionsflächen für Sehnsüch-te. Dies gilt nicht nur für die Alltagswelt sondern auch die Sinnsphäre der Wissenschaft.5 In beiden Sphären modellieren Spiele Wirklichkeiten, die

ihm daher für die die Möglichkeit zur Befragung, die intensiven inhaltlichen Diskussionen im Vorfeld des Kongresses sowie zahlreiche Anregungen, die ich hoffentlich konstruktiv im Text verarbeitet habe.

2 Einer sog. 3D-Engine. 3 Hintergrund dieses Beitrags ist das wissenssoziologische Paradigma, ausgedrückt z. B. in

folgenden Beiträgen, auf die jedoch nicht explizit eingegangen wird: Mannheim 1980; Berger/Luckmann 1996; Schütz 1971, 1972; Schütz/Luckmann 1984, 1995; Soeffner 1989, 1994, 2000; Knoblauch 2006.

4 Zur ethnographischen Befremdung „eigener“ Kulturen, die von Geschlechtskulturen, Bürokratiekulturen, Strafkulturen bis hin zu Wissenschaftskulturen reichen, vgl. Hirsch-auer/Amann (1997).

5 So erkannte John von Neumann schon 1928 aus der Analyse von Gesellschaftsspielen die Anwendbarkeit von Spielen zur Analyse wirtschaftlicher Fragestellungen und begründete die Spieltheorie – eine stark abstrahierte Modellierung von Wirklichkeit – wenn auch un-ter primär wirtschaftlichen Gesichtspunkten (von Neumann/Morgenstern 1973).

Das Soziale an Software

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vom Spieler „erlebt“ werden. Diese Modellierung von Wirklichkeit unter-liegt jedoch selbst wieder eigenen Gesetzmäßigkeiten. Spiele leben von der drastischen Vereinfachung der Wirklichkeit. Sie sind vereinfachte (teils ab-strakte) Abbildungen realer Systeme. Es macht also Sinn zu fragen, welche (bewussten und unbewussten) Vorannahmen in die jeweilige Konzeption dieser Abstraktion einfließen. Genau darin drückt sich der Einfluss impliziter Gesellschaftsentwürfe aus. Wesentlich am Spiel ist weiter, dass es Verände-rungen entlang einer Zeitachse enthält. Diese Straffung der Zeit ist eine der phänomenologischen Grundeigenschaften des Spiels. Die im Spiel enthalte-nen Akteure werden derart modelliert, dass ihr Handlungsspektrum in einem maßstäblichen Verhältnis zur Regelhaftigkeit sozialen Handelns in der Realwelt steht. Straffung der Zeit und regelhafte Modellierung von Verhal-ten sind Mechanismen der Reduktion von Komplexität, ohne die ein Spiel eben kein Spiel wäre.

Perspektiven des Forschungsfeldes „Computerspiel“

Der hier vorgestellte Beitrag reiht sich nicht in den Kanon der Literatur6 über Computerspiele ein, da nicht das Spielen selbst, sondern das Entwickeln des Spiels Gegenstand der Untersuchung ist. Beide Zugänge zum Spiel unter-scheiden sich radikal. In der Literatur wird oft darauf hingewiesen, dass Computerspielsoftware einen stärkeren Absatz findet, als Anwendungsprog-ramme (Fritz/Fehr 1999). Meist begegnet man daher unter dem platten (aber medienwirksamen) Stichwort „Medienverwahrlosung“ (Christian Pfeiffer) Computerspielen in kritischer Einstellung. In den Medienwissenschaften dominieren Untersuchungen zum (vermeintlichen) Zusammenhang von Spiel und Identität (Fritz/Fehr 1999), Spiel und Gewalt (z. B. Fehr 2002, Feibel 2004, Gesmann 2006, Strüber 2006) oder zum Illusionscharakter von Spielen und der damit verbundenen Gefahr des Realitätsverlustes (z. B. Gie-selmann 2002). In Studien, die sich an den bekannten kommerziellen Spielen (Ego-Shootern etc.) abarbeiten, wird der Zusammenhang von Fiktionalität und Realität kritisch untersucht (z. B. Schlüter 2007), teilweise explizit auf der Ebene der Akteurstypen, die dann als „fiktionale Helden“ (z. B. Busch-baum 2006) gebrandmarkt werden. Eine weitere Gruppe von Studien be-trachtet Computerspiele aus größerer Distanz als eine (neue) Form von Kul-

6 Aufgrund der Fülle an Literatur zu diesem Themenkomplex werden hier nur exemplari-

sche Bezüge hergestellt.

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tur (z. B. Butler 2007) oder versucht (konstruktiv) zu zeigen, wie spiele durch Einbindung narrativer Strukturen besser an die Lebenswelt der Spieler rückzubinden sind (Finsterbusch 2006). Die dritte Gruppe von Bei-trägen richtet sich an die Spielentwickler selbst. Zahlreiche Anleitungen zur Herstellung von Computerspielen sind auf dem Markt, die jedoch im We-sentlichen rein technische Aspekte der Programmierung mit der jeweiligen Software in den Mittelpunkt rücken (z. B. Habgood/Overmars 2006). Sie richten sich teilweise (durchaus widersprüchlich zur Verwahrlosungsthese!) explizit an Kinder (z. B. Schumann 2006).

Inversion der Untersuchungsperspektive – Spielentwicklung statt Spielen

In vielen Abhandlungen steht daher entweder der technische oder der im-mersive Modus7 des Spielens im Vordergrund, z. B. wenn Computerspielen als „Handlungsform“ untersucht wird (Klimmt 2006). Im immersiven Modus geht es darum, wie das Spiel „erlebt“ wird, wie also der Spieler darin „ein-taucht“. Davon handelt dieser Beitrag gerade nicht. Hier steht die symboli-sche Perspektive der Produzenten im Vordergrund. Das Spielen tritt hinter das Entwickeln des Spiels zurück. Untersucht wird, woher die Sehnsucht nach Simulation der Produzenten rührt und auf welche Faktoren sie sich gründet. Es geht, im Sprachstil der Soziologie, um deren „Weltsicht“ (klas-sisch dazu Luckmann 1988), Leitbilder, Prägungen sowie um implizite Wis-sensformen. Es ist nicht beabsichtigt, zu zeigen, welche Art von Gesellschaft das Spiel in seiner jetzigen Form illustriert, sondern um den Versuch, aus den retrospektiven Selbstdeutungsversuchen der EntwicklerInnen – die ihr eigenes Produkt und dessen Entstehungsgeschichte kommentieren – eine Deutungsebene zweiter Ordnung zu etablieren. Die Ausgangsfrage lässt sich dann so formulieren: Wie verhalten sich die technischen Möglichkeiten bei der Entwicklung und Programmierung eines Computerspiels zu den gesell-schaftlich geprägten, intersubjektiven Vorstellungen und Ideen der Entwick-lerInnen? Oder einfacher: Was sagt das Spiel über seine Entwickler aus? Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf eine einmalige Befragung der Produzenten und beanspruchen daher lediglich heuristischen Charakter.

7 Der Begriff des immersiven Modus wird hier analog zur modellhaften Darstellung der

Bildproduktion, -distribution und -rezeption benutzt, wie sie von Knieper (2003) entwi-ckelt wurde.

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Im Sommersemester 2006 bestand die Gelegenheit, eine Gruppendiskussion mit den sechs studentischen EntwicklerInnen (zwei Studentinnen, vier Stu-denten) des Spiels MyTown durchzuführen.8 Für die Befragung selbst wurde keine besondere Methode bevorzugt9. Eine Besonderheit muss gleich zu Be-ginn erwähnt werden: Das Spiel wurde nie fertig gestellt. Was bleibt, ist also die Möglichkeit zur Rekonstruktion des Konzepts. Diese Möglichkeit wurde genutzt. Den kritischen Stimmen, die nun vermuten, dass es ohne „einsatzfä-higes“ Spiel unmöglich sei, Zusammenhänge zwischen einem Computerspiel und Gesellschaftsbildern zu analysieren, lässt sich entgegnen: Man kann aus der Not auch eine Tugend machen. Es geht hier nicht um eine Studie über aktives Spielen, sondern um eine Untersuchung des Konzepts eines Spiels und die zugrunde liegenden gemeinsamen Überlegungen der Produzenten, die gemeinsamen Aushandlungsprozesse, die gemeinsam getroffenen Ent-scheidungen. Soweit diese rekonstruierbar sind, geben sie ausreichend Auf-schluss über die nicht-zufällige Verschränkung von Spielwelt und gesell-schaftlicher Wirklichkeit. Im ersten Teil des Artikels wird daher der Prozess der Spielentwicklung im Feld institutionalisierter Wissensvermittlung (Hochschule)10 rekonstruiert, um Faktoren aufzuzeigen, die dafür verantwortlich sind, dass das Spiel als Spiel letztlich seine (konzeptionelle) Form angenommen hat. Erst in einem zweiten Teil kann dann gefragt werden, welche dieser Faktoren auch als In-dikatoren für die „Einschreibung“ von Gesellschaft in den Prozess der Ent-wicklung gewertet werden können.

8 Ich danke den Studierenden an dieser Stelle herzlich dafür, dass sie sich die Zeit für die

Befragung genommen und engagiert an dieser teilgenommen haben. 9 Gleichwohl konnte als Orientierungsrahmen auf bereits vorliegende Erfahrungen mit der

dokumentarischen Methode zurückgegriffen werden. An deren Hauptkriterien wie Offen-heit, Selbstläufigkeit und Herausarbeitung einer Fokussierungsmetapher wurde die eigene Arbeitsweise ausgerichtet (vgl. zur Methodik ausführlich Loos/Schäffer 2001). Die Durchführung der Befragung und die Auswertung erfolgte mit vertretbarem Pragmatis-mus, d.h. unter Zuhilfenahme der Software für qualitative Datenverarbeitung MAXQDA.

10 Dieser Herstellungskontext unterscheidet sich wesentlich von anderen möglichen, z. B. dem einer kommerziellen Spielentwicklung.

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2 Institutionelle Rahmenbedingungen der Spielentwicklung – Übergreifende Rekonstruktion des Entwicklungsprozesses

Welche Bedeutung hat der äußere Rahmen für die Spielentwicklung? Wie verhalten sich Aufgabenstellung, Planung, Entscheidungsfindung und Kon-zepterstellung im Kontext des institutionellen Feldes Hochschule zueinan-der? Nur eine auf die Aussagen der Entwickler selbst gestützte11 Rekonstruk-tion des gesamten Entwicklungsprozesses – einschließlich seines Scheiterns – kann Aufschluss über den Einfluss impliziter Gesellschaftsentwürfe geben. Die Entwicklung des Spiels fand im Rahmen eines Projektstudiums über zwei Semester statt. Das Entwicklerteam bestand aus sechs Studierenden, die sich in drei Unterteams aufteilten: Grafik, Inhalt und Programmierung. Der Zusammenarbeit dieser Teams kommt im folgenden eine besondere Bedeu-tung zu. Die von den Lehrenden formulierte Aufgabenstellung war denkbar offen: Ein „reales“ Erlebnis sollte in eine „künstliche“ Welt übersetzt wer-den. Was entwickelte sich ausgehend von dieser Aufforderung? Im ersten Semester bestand die Herausforderung darin, die o. g. Aufgaben-stellung gemeinsam mit den Lehrenden und untereinander im Entwickler-team zu diskutieren. Dieser Projektabschnitt diente somit ausschließlich da-zu, das noch offene Rahmenkonzept mit plausiblen Inhalten zu füllen. Damit war eine Arbeitsweise vorgegeben, die Kreativität in den Mittelpunkt rückte: „Uns kam es am Anfang vor allem darauf an, erst mal eine Idee zu finden“ (GD, 4). Das Brainstorming selbst fand im Rahmen eines Workshops statt und war in der Erinnerung der Studierenden durch größtmögliche Offenheit gekennzeichnet: „Am Anfang konnten wir noch ein bisschen herum spinnen. Da wollte man dann eine Komplexität haben von der Szene“ (GD, 12). Die im Zitat angesprochene Komplexität zielte auf eine möglichst heterogene Ideensammlung ab, aus der durch eliminative Konkurrenz schließlich die Beste ausgewählt wurde12. Aus Sicht der Studierenden wirkte der Ideenfin-dungsprozess ergebnisoffen13: „Wir hatten ja nicht in dem Sinne irgendwel-

11 Auszüge aus den Interviews in Kursivschrift illustrieren diesen Artikel. GD steht für

Gruppendiskussion, die Ziffer für den Absatz im Datenprotokoll. 12 Dabei wurden fünf verschiedene Ideen bzw. Szenarien entwickelt: eine Reise durch den

menschlichen Körper, ein Endzeitszenario, der Einstieg in Parallelwelten über Terminals, eine Vater-Sohn-Problematik und letztlich das Szenario der Wohnungssuche in einer fremden Stadt.

13 Inwieweit die damit verknüpfte Aufforderung zum kontrafaktischen Denken tatsächlich

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che Vorgaben oder Zielsetzungen, sondern wir konnten ja wirklich alles bis ins Detail frei diskutieren“ (GD, 93-96). Das spätere Spielkonzept, die Suche nach einer studentischen Wohnung in einer fremden Stadt, wurde also in einem Aushandlungsprozess erarbeitet, wobei man insgesamt auf der Suche nach einer neuen Spielform war. Handlungsleitend war, aus Sicht der Ent-wicklerInnen, „eher so ein intellektueller Spielanreiz“ (GD, 246-248). Diese endgültige Einigung auf eine gemeinsame Kernidee begründen die Studie-renden wie folgt sehr schlüssig:

„Das ist eben eine Situation, die wir alle im Prinzip haben, wie 98 Pro-zent der Furtwanger Studenten […], dass man irgendwo hinkommt, wo man sich nicht auskennt und erst nach und nach sich die Stadt zu Eigen machen kann. Weil wir festgestellt haben, dass man sogar in einer Kleinstadt wie Furtwangen, die jetzt tatsächlich recht übersichtlich ist, sich am ersten Tag verlaufen kann und sich aber nach zwei Jahren nicht mehr vorstellen kann, wie das überhaupt funktioniert.“ (GD, 4).

Diese Äußerung liefert einen ersten Hinweis darauf, welche gesellschaftliche Wirklichkeit sich als mögliche Projektion im Konzept des Spiels wieder fin-den wird – die der eigenen Lebenswelt14, die im Kern durch zwei Konstanten zusammengehalten wird: dem Studienort Furtwangen im Schwarzwald und dem Studium an der Fakultät Digitale Medien. Schon zu Ende des ersten Semesters zeigten sich jedoch Umsetzungsprob-leme. Diese zogen sich wie ein roter Faden durch das Projektstudium und bestimmten damit das Ergebnis des Entwicklungsprozesses gravierend: „Wir hatten am Ende des Semesters ein ganz tolles Konzept mit unserem Spiel und den ganzen Ideen - spielen konnte man es aber nicht!“ (GD, 145-157). Lehrende wie Studierende hatten schlicht den zeitlichen Aufwand, inhaltli-chen Konsens zu erzielen, massiv unterschätzt. Dennoch begann im zweiten Semester die eigentliche Arbeit in den Einzelteams mit dem Ziel, ein Proto-

einen Möglichkeitsraum aufspannte, oder ob bereits an dieser Stelle hemmende bzw. för-dernde Faktoren zur Auswahl des hier zu diskutierenden Konzepts führten, kann an dieser Stelle nicht näher beleuchtet werden. Dazu wäre z. B. eine teilnehmende Beobachtung des Kreativprozesses notwendig gewesen.

14 Auf die Unterschiede zwischen den oft synonym gebrauchten Begriffen „Alltag“ und „Lebenswelt“ in der wissenssoziologischen und sozial-phänomenologischen Forschung kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Vgl. dazu ausführlich Grathoff (1995, 103ff.)

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typenkonzept aus dem vorhandenen Spielkonzept heraus zu entwickeln. Trotz intensiver Zusammenarbeit zwischen den drei Entwicklerteams konnte das Konzept des Spiels technisch nicht umgesetzt werden. Insgesamt fühlten sich die Studierenden durch den Versuch, ein komplettes Spiel zu program-mieren, überfordert. Auch der Versuch, mit einer 3D-Engine einen „funkti-onsfähigen“ Spielcharakter (die Spielfigur) zu erzeugen, der soziale Interak-tionen ausführt, scheiterte. Diese Überforderung hing vor allem mit der Modellierung der Spielakteure zusammen: In MyTown geht es darum, dass ein Wohnungssuchender in einer Stadt mit anderen Stadtbewohnern Gesprä-che führt, d. h. auf strategische Weise interagiert. Von der Qualität dieser Interaktion hängt dann der weitere Erfolg der Wohnungssuche ab. An dieser Stelle überschätzten die Entwickler sich, bzw. unterschätzen die Komplexität und Kontingenz sozialer Interaktionen. Es zeigte sich, dass die Modellierung sozialer Situationen, „mit allem, was damit zusammenhängt […] einfach ein bisschen viel“ (GD, 206-209) ist. Letztlich wurde das Spiel nur in einer sehr reduzierten Version mit extrem eingeschränkten Funktionalitäten realisiert. Das bedeutet konkret: „Es gab kein Leben. Es war kein Interaktionspartner da. Also alles, was man machen konnte, war ja im Prinzip durch eine leere Stadt laufen, durch eine tote Stadt laufen“ (GD, 216). Dennoch kann anhand der vorliegenden konzeptionellen Überlegungen eine Rekonstruktion von Einflussfaktoren auf die Spielentwicklung vorgenommen werden. Im näch-sten Abschnitt wird daher gezeigt, auf welchen Grundlagen das Konzept ba-siert und welche Einflussfaktoren hierbei eine Rolle spielten.

3 Grundelemente und Einflussfaktoren auf die Entwicklung des Spiels MyTown

Aus der Diskussion mit den Entwicklern kristallisierten sich einige grundle-gende Faktoren heraus, die Einfluss auf die Entwicklung des Spiels hatten und daher im folgenden im Zusammenhang vorgestellt werden.

3.1 Die virtuelle Stadt als Spielszene

Die Szene des Spiels (der Handlungsraum) sollte von Anfang an eine Stadt sein. Mit dieser Entscheidung ging die Überlegung einher, die Erlebnisviel-falt, Aufgabendichte und Interaktionsmöglichkeiten zu erhöhen:

„Es war einfach auch so […], wenn jetzt jemand ein Spiel sieht […], wo ein Haus drin ist, also in einem Haus, da kann man einfach nichts erle-

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ben. Das ist man auch einfach nicht so gewöhnt. Um halt nur die Spiel-interaktion zu haben und was erleben zu können, muss halt einfach der Spieler eine gewisse Bewegungsfreiheit haben in der 3D-Welt und nicht nur auf ein Haus eingeschränkt sein. Da kann man einfach schon von der allgemeinen Meinung her viel unterbringen“ (GD, 13).

Die Studierenden richten sich erkennbar am generalisierten Anderen (der „allgemeinen Meinung“) aus und antizipieren Akzeptanzkriterien eines po-tenziellen Spielpublikums. Ihnen schwebte eine große Stadt mit moderner Architektur vor. Sie sollte zudem „sehr aussagekräftige Orte“ (GD, 36) enthalten. Letztlich sah die Stadtszene dann vollkommen anders aus, als ge-plant:

„Also […] ursprünglich hatten wir wirklich so riesen Bürogebäude oder größere Bürogebäude mit Glasfassaden und ziemlich viel Stahlkonstruk-tion […] Dann wurde die Anzahl an sich auch runtergeschraubt […] Dann sind wir zu der Idee gekommen, das eben wie Las Vegas darzus-tellen, dass die Gebäude an sich nicht so zusammenpassen, aber gerade dass dieses Nicht-Zusammenpassen eben wieder ein Zusammenspiel er-gibt“ (GD, 174).

An diesem Punkt zeigt sich, dass der Entwicklungsprozess tatsächlich nicht ganz so ergebnisoffen war, wie es den Studierenden zuerst erschien. Bei nä-herer Betrachtung werden die institutionalisierte Deutungsmacht der Leh-renden und weitere, externe Einflussfaktoren sichtbar. Ein Diskussionsteil-nehmer erinnert sich: „Es gab lange Diskussionen auch mit den Professoren sozusagen, wie eine Stadt auszusehen hat und welche Umgebung die haben soll. Und da mussten wir […] auch völlig neu lernen“ (GD, 184). Die All-tagswahrnehmung der Studierenden reichte nicht aus, um eine komplette Stadt im virtuellen Raum zu planen. Die Definitionsmacht der Lehrenden führte dazu, dass das ursprünglich anvisierte Stadtkonzept radikal modifi-ziert wurden, bis letztlich das bestehende Modell – eine „Mischung aus Tschernobyl und Las Vegas“15 – herauskam. Mit Hilfe der Lehrenden konn-ten noch weitere aussagekräftige Quellen zum Thema Stadtplanung er-schlossen werden. Hiermit sind insbesondere filmische Darstellungen von Städten gemeint. Verbunden mit diesem szenischen Konzept ist auch die

15 Diese Bezeichnung stammt von einem der betreuenden Professoren.

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Idee der „Aneignung“ der Stadt. Die Stadt soll „zu seiner [der des Spielers] Stadt“ (GD, 196) werden. Aber wie wird die Stadt zur Stadt des Spielers? Indem er immer wieder „zum selben Döner-Mann geht“ und „nach und nach Leute kennen lernt“ (GD, 192). Aneignung geschieht also durch die Ver-dichtung16 der Interaktionen durch Wiederholungen. Implizites Ziel des Spiels war es daher auch, einen „Lebensraum“ (GD, 196) zu finden: „Ich glaube, das Spiel, diese Wohnung zu finden, ist automatisch das Ergebnis sich einen aktiven Lebensraum gestaltet zu haben“ (GD, 196). In dieser Wortwahl schwingt eine nicht unkritische Konnotation mit, auf die aber an dieser Stelle aus Platzmangel nicht näher eingegangen werden kann.

3.2 Die Spielaufgabe

MyTown ist letztlich eine Art Rollenspiel. Die Spielaufgabe besteht aus der Wohnungssuche in einer fremden Stadt, wobei dem Suchenden verschiedene andere Akteure begegnen, mit denen er interagieren kann. Auf der konzep-tionellen Ebene erhält die jeweilige Spielfigur „Lebenspunkte“ und „Cha-rismapunkte“17. Der Spieler muss durch sein (soziales) Handeln Aufgaben lösen, die ihn in der Welt des Spiels weiterbringen. Die Lösung der Aufga-ben ist an den Erfolg/Misserfolg bei der Wohnungssuche geknüpft, d. h. je nach individuellem Verhaltensmuster gibt es alternative Spielfortgänge. Da-bei ist die Anzahl der Verhaltenskategorien, die im Verlauf des Spiels be-wertet werden, endlich. Je nach der Höhe ihres Punktestandes reagiert die Umwelt dann entweder positiv-wohlwollend oder negativ-ablehnend. Eine positive Sanktionierung bedeutet, dass die Spielfigur z. B. Tipps für die Wohnungssuche erhält, eine negative Sanktionierung wirkt sich dahingehend aus, dass die Spielfigur z. B. eine bereits angebotene Wohnung letztlich nicht erhält.

16 Diese prozesshafte Aneignung sollte zwischenzeitlich durch Einfärbungen sogar visuali-

siert werden. 17 Der Begriff Charisma wird in der Rollenspielszene häufig im alltagssprachlichen Sinn

gebraucht, um Figuren mit abgrenzbaren Eigenschaften auszustatten. Charisma bezeichnet in diesem Zusammenhang die überdurchschnittliche Ausstrahlungskraft einer Person. Auf Grundlage dieser Ausstrahlung kann sich eine Figur im Spiel durchsetzen. Ganz unähn-lich ist diese Sichtweise dem soziologischen Begriff des Charisma nicht. Weber (1980, 140) klassifiziert Charisma als „außeralltäglich […] geltende Qualität einer Persönlich-keit“, mit deren Hilfe Herrschaftsansprüche durchgesetzt werden können.

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Hierin zeigt sich die eigentliche Spielidee, denn das Spiel soll der „Fortent-wicklung“ des Spielcharakters, wenn nicht gar seiner „Optimierung“ dienen. Die Entwickler stellten sich folgende Fragen: Was passiert mit der Entwick-lung des Studenten? Wie wirkt sich seine charakterliche Entwicklung auf das Ergebnis seiner Wohnungssuche aus? Wie verändert sich die Person durch ihre Handlungen? Durch die „Wandlung“ der Person – so die These – ver-bessern oder verschlechtern sich seine Chancen auf dem Wohnungsmarkt. In den Worten eines der Entwickler:

„Also wenn er jetzt immer nur pampige Antworten gibt, da hatten wir z. B. vorgesehen, dass er dann in Zukunft einfach auch eine schlechte Ausstrahlung hat und die anderen Menschen schon gleich negativer auf ihn reagieren, dass er es irgendwie schwieriger hat, irgendwelche In-formationen zu bekommen; währenddessen wenn er immer freundlich ist und hilfsbereit, dass er dann eben eine positive Ausstrahlung hat und andere Menschen eher bereit sind, ihm zu helfen“ (GD, 18).

Die Charakteroptimierung passiert durch „angemessene“ Dialoge: Jedes Ge-spräch wird nach einem Rankingverfahren und Algorithmus neu berechnet. Dazu dient im Hintergrund eine umfangreiche Datenbank mit (unterschied-lich bewerteten) Antwortmöglichkeiten. Das gleichermaßen technische wie sozialwissenschaftliche Problem hierbei sind die Indikatoren und deren Ska-lierung. Unklar bleibt, wie bestimmte Antworten bewertet werden (sollen). Damit ist das Kernproblem des vorgelegten Konzepts benannt: Wie können die komplizierten Einzelfaktoren, die zwischenmenschliches Zusammenle-ben ermöglichen (und bestimmen) in angemessene technische Parameter zerlegt werden? Wie können abhängige, unabhängige und intervenierende Variablen so definiert werden, dass sie in technische Parameter umgewan-delt werden können? Die Reduktion der realweltlichen Optionsparalyse durch ein Rankingverfah-ren ist zwar eine charmante Idee, letztlich jedoch Ausdruck eines technizisti-schen Weltbildes. Dem durchaus spürbaren intellektuellen Interesse an der sozialen Wirklichkeit und ihren Mechanismen, an Dialogen und Interaktio-nen, steht das Problem der Algorithmisierung sozialer Parameter gegenüber:

„Wir hatten es halt herunter gebrochen. Es gab Charismapunkte, es gab Essen, Sättigung. […] Geld. […] Auf diese drei Sachen hatten wir es im Prinzip herunter gebrochen. Das Geld hatte keine Auswirkung auf den

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Charakter, wohl aber wie hoch der Sättigungsgrad ist und wie halt das Charisma aktuell ist“ (GD, 44-49).

Letztlich erkennen die Studierenden die damit verbundenen Probleme selbst:

„Da haben wir auch relativ eindimensional gedacht. Da haben wir dann einfach gesagt, das eine sind minus drei Punkte, das andere sind plus ein Punkt. Das war dann einfach auch nur ein Zahlenstrahl im Prinzip“ (GD, 50).

Hier setzt sich eine Form „technokratischen“ Denkens durch. Der Erfolg auf dem Wohnungsmarkt ist kaum von der charakterlichen Verfassung oder gar Wandlung eines Suchenden abhängig, sondern von Markt- oder Informati-onsvorteilen.

3.3 Die Spielcharaktere – Exemplarische Stereotypen

An den Spielcharakteren zeigt sich besonders deutlich, welche Folgen die radikale Vereinfachung von Wirklichkeit im Computerspiel MyTown hat. Die realweltliche Heterogenität wird auf nur drei exemplarische Stereotypen reduziert. Als Spielfiguren wurden ein Informatiker, ein Betriebswirt und ein Sozialpädagoge konzipiert. Diese drei Typen repräsentieren die Kategorie „Studierender“ vor dem Hintergrund unterschiedlicher „Ontologien“ im stu-dentischen Milieu:

„Die starten mit verschiedenen Werten, haben verschiedene Bedürfnisse […] Also der Typus des Sozialpädagogen hatte sehr viele Allergien, war sehr kontaktfreudig, so ganz klischeehaft oder vielleicht Teilklischee, ich weiß gar nicht, ob man das so ganz allgemein sagen kann“ (GD, 88-97).

Die Reduktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf drei Sozialtypen sollte aus Sicht der Entwickler

„Komplexität der Wohnungssuche in die Figuren hinein implementie-ren18. […] so Sachen wie jetzt beispielsweise, dem Informatiker war immer sehr wichtig, dass seine zukünftige Wohnung auch auf jeden Fall

18 Ganz im Sinne des Sprachgebrauchs in der der Informatik wird hier der Begriff „Imple-

mentierung“ als Wechsel zu einer konkreteren Ebene verwandt.

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einen DSL-Anschluss hat, dafür nicht unbedingt Fenster. […] Dafür hat er weniger Charisma“ (GD, 88-89).

Hinter diesen vereinfachten Sozialfiguren steht ein vereinfachtes Menschen-bild (Spielfigur braucht Schlaf, muss essen, sich duschen), das sich auf eine behavioristische Auffassung von Wirklichkeit gründet. Menschliches Ver-halten wird dabei ausschließlich als Folge der Veränderung der äußeren Umwelt (Reiz-Reaktions-Schema) erklärt: Wenn die Spielfigur nicht genug zu essen bekommt, wird sie gereizter, führt Interaktionen auf einem anderen „Level“19 durch. Dies wirkt sich dann letztlich negativ auf die Aufgabener-füllung aus. Aber selbst diese scheinbar einfachen Kausalketten sind tech-nisch kaum umzusetzen. Selbst stereotypische Interaktionen besitzen noch unendliche viele Varianten. Diese müssen vorausgedacht, skaliert, bewertet und als Frage- und Antwortparameter in eine Datenbank abgelegt werden. Zudem wird von den Interaktionspartnern im Spiel (Menschen auf der Stra-ße, Mitstudierende vor dem schwarzen Brett, Gastronomiebetreiber) ein po-tenzieller „Codeswitch“ erwartet, d. h. sie müssen wie im realweltlichen All-tag unterschiedlich auf die drei exemplarischen Spieltypen reagieren. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Frage, auf welcher Wissensba-sis die Entwickler die Spielcharaktere modellierten. In der Diskussion wird sehr schnell deutlich, dass einer der wichtigsten Einflussfaktoren auf die Spielentwicklung der eigene lebensweltliche Hintergrund der Studierenden, ihre Selbstbeobachtungsfähigkeit und Erfahrung darstellt.20 Damit ist der Wunsch verbunden, „eben einfach mal unsere Erlebnisse sozusagen in dieses Spiel ein[zu]bringen“ (GD, 4). Die Entwickler studieren ein informations-technisches Fach und hatten sich vorher noch nie bewusst mit sozialen Inter-aktionen auseinander gesetzt. Sie haben sich daher auch nicht explizit mit (sozial-)psychologischen Theorien beschäftigt, die ihnen einen konkreten Anhaltspunkt für die Modellierung sozialer Prozesse liefern könnten. Woher kommt also das Wissen über den Ablauf zwischenmenschlicher Interaktio-nen? Es kann sich nur aus Selbstbeobachtungen und eigenen Erfahrungen speisen, auf deren Basis die Entwickler sich ihr eigenes Menschenmodell

19 Mit dem Begriff „Level“ wird in Computerspielen nicht nur der Schwierigkeitsgrad be-

zeichnet, sondern auch die Entwicklungsstufe in einem Rollenspiel. Hier zeigt sich ein weiterer Einflussfaktor auf die Spielentwicklung.

20 Zum Stellenwert von Erfahrungen im Sinne einer Beispielhermeneutik vgl. grundlegend Hahn (1994).

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„zusammenbasteln“.21 Es besteht aus Ableitungen erster Ordnung auf der Grundlage eigener Erfahrungen und ist Ergebnis von Selbstbeobachtung:

„Und so kamen wir halt drauf, dass wir so eine für uns erfahrbare Situa-tion […] nehmen, an vielen Punkten aber auch wirklich mit viel Humor versehen, weil gerade Wohnungssuche etwas Menschliches ist. Man sucht sich ja so ein neues Nest irgendwie.“ (GD, 36).

Die Entwickler erkennen den Einfluss der eigenen Umgebung unmittelbar an:

„Wenn man dann so in der Runde sitzt und sagt, so, wie sieht es denn hier bei uns in Furtwangen aus und wie fühlen wir uns denn, oder wie haben wir uns gefühlt, dann wird das natürlich auch teilweise in das Spiel oder die Konzeption hineinprojiziert“ (GD, 96).

Anhand dieses Einflussfaktors drückt sich ein mittelbares (aber nicht ver-wirklichtes) Ziel des Spieles aus, dass darin besteht, die Stadt Furtwangen (wohnungssuchend) besser kennen zu lernen: „Wir wussten auch alle nicht, wie Furtwangen aussieht, bevor wir hierher gekommen sind“ (GD, 181).

3.4 Die „sinnhafte“ Spielform in Abgrenzung zu „normalen“ Com-puterspielen

Das Konzept für MyTown entstand in expliziter Abgrenzung gegenüber „normalen“ Computerspielen. Studierende, die hier als Spielentwickler tätig wurden, sind nicht bloß naive Anwender, sondern auch bereit zu kritischer Reflektion:

„Man beschäftigt sich ja auch immer ein bisschen mit Computerspielen, wenn man sie selbst spielt, man kriegt ja immer mal was mit, dann hätte man schon gemerkt, dass es irgendwas Tolles, Neues gibt, was eben auf diese Art und Weise seinen Sinn macht“ (GD, 232).

Dazu war allerdings der oben beschriebene institutionelle Rahmen eines Pro-jektstudiums notwendig und hilfreich. Für die Entwickler besteht die Aufga-be, sich mit ihrem Konzept von einem „normalen“ Computerspiel abzugren-

21 Hier wird durchaus eine Kongruenz zwischen dem in den Sozialwissenschaften so be-

zeichneten „Sinnbasteln“ (z. B. Hitzler 1988) und dem unter Technikern üblichen „Mod-ding“ (Veränderung bereits vorhandener Komponenten) erkennbar.

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zen. Was aber ist ein „normales“ Computerspiel? Immer wenn der Begriff „normal“ gebraucht wird, gibt er einen Hinweis auf sozial relevante Wirk-lichkeitsentwürfe.22 Die Entwickler selbst entwerfen eine pragmatische Definition dieser Norma-lität. „Normal“ ist ein Computerspiel, „das man kaufen kann, das massenhaft verbreitet ist, das man persönlich kennt“ (GD, 188). Durch die „normalen“ Spiele werden Genre „gesetzt“ (Ego Shooter, Kolonialisierungsspiele etc.), die aber für den vorliegenden Entwicklungskontext (Projektstudium) nicht akzeptabel erschienen. Diese Spiele dienten jedoch ex negativo als Inspirati-onsquelle. Die Studierenden waren auf der Suche nach einem besonderen Element:

„Für uns war auch ziemlich wichtig, dass wir irgendwas haben, was es so noch nicht gibt. Und es gibt tatsächlich auf dem Markt ziemlich we-nige Spiele, die sich mit zwischenmenschlicher Interaktion tatsächlich jetzt auf der menschlichen Ebene befassen. Interaktion klar, aber dann immer nur, weil ein Charakter irgendwas möchte“ (GD, 223).

Keines der „normalen“ Computerspiele machte aus Sicht der Befragten „Sinn“. Sinnhaftigkeit war aber genau das Element, das sie suchten: Sinnhaf-tigkeit statt Fiktionalität. Ihr Spiel sollte auf keinen Fall ein Gewaltspiel, ebenso kein „Lern- oder Zei-gefingerspiel“ (GD, 246-248) werden. Die Entwickler grenzen sich ebenso von realitätsfernen oder fiktionalen Genres ab. Die Figuren sollten mit nor-malen, d. h. von uns allen geteilten Fähigkeiten und Möglichkeiten ausges-tattet sein, also keine Superhelden mit Superkräften darstellen. Dieses Merkmal der Entwicklung verdient besondere Beachtung, da alle Produzen-ten selbst erfahrene, aktive Spieler sind und sich gut mit fiktionalen Spielen auskennen. Was bedeutet es also, wenn im Rahmen eines institutionalisierten Lernprozesses gerade diese Erfahrungswelt auf der Suche nach „Normalität“ verlassen wird? Eine Reaktion auf die Gewöhnung an die bombastischen Übertreibungen in den üblichen Spielen? Oder eher eine grundlegende Kritik an der Realitätsferne, wie es dieser Diskussionsteilnehmer stellvertretend ausdrückt:

22 Daher ist gerade die Rekonstruktion dieser „Wirklichkeit der Alltagswelt“ (Ber-

ger/Luckmann 1997, 21ff.) bzw. das sinnhafte Verstehen einer (Wahl-)Handlung (Schütz 1993, 96ff.) in der Wissenssoziologie die vornehmliche Aufgabe.

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„Was mich immer […] sehr gestört hat, dass die Charaktere – okay, die können seitwärts laufen, vorwärts laufen, aber die können auch rück-wärts laufen. Die laufen 50 Meter rückwärts, bis sie an irgendeine Wand kommen und dann stehen sie da. […] Es geht nicht. Kein Mensch läuft irgendwie rückwärts und fällt nicht hin“ (GD, 249-253).

Die Kritik an den „normalen“ Spielen äußert sich auch in der Art der Zeit-straffung, wie sie einleitend als konstituierendes Element von Spielen be-schrieben wurde. In „normalen“ Computerspielen agiert die Spielfigur nur, um direkt Erfolg zu haben. Wird die vermeintlich „richtige“ Antwort gege-ben, geht das Spiel schnell weiter. „Das ist wirklich nur so eine kleine Hür-de, über die man springen muss“ (GD, 227). Stattdessen sollte sich in My-Town jeder Dialog auf den nächsten und übernächsten auswirken, um so die Latenz von Verhaltensmustern zu simulieren, wie sie ja aus dem Alltag be-kannt ist. Explizit suchten die Produzenten auf dieser Entwicklungsstufe nach Realismus. Dabei trennten sie scharf zwischen der Ebene der Gestal-tung und der des Inhalts: „Diese grafischen Sachen sollten eben nicht realis-tisch sein, aber das Inhaltliche sollte allerdings schon ans Leben angepasst sein“ (GD, 249-255). Sie suchten also nicht nach Foto-Realismus, sondern nach Sozial-Realismus. Es erschien ihnen als besonders reizvoll, sich mit sensiblen, komplexen sozialen Interaktionen zu beschäftigen. Damit gaben sie der inhaltlichen Ebene eine herausgehobene Stellung, vor der Ebene der technischen Realisierbarkeit. Sie zeigten Interesse für die variablen Formen und Bedingungen zwischenmenschlichen Zusammenlebens und zielten dar-auf ab, diese Formen und Bedingungen des Zusammenlebens technisch zu simulieren (ohne dies realisieren zu können).

4 Parellelwelt mit Limesfunktion – Zur Rekonstruktion impliziter Gesellschaftsmodelle bei der Konzeption des Computerspiels MyTown

Die Rekonstruktion der wesentlichen Elemente und Einflussfaktoren zeigt, wie vielschichtig der Entwicklungsprozess dieses Computerspiels ist. Was sagt also das Konzept des Spiels über die Haltung der Entwickler aus? Wel-che impliziten Gesellschaftsentwürfe sind darin vorborgen? Im letzten Ab-schnitt wird das bisher Erörterte noch einmal unter dieser Leitfrage verdich-tet. Da der Beitrag sich als heuristische Annäherung an die Fragestellung versteht, werden die Ergebnisse als Thesen formuliert.

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These 1: Die während des Entwicklungsprozesses erfolgte Änderung der Relevanzsetzung verdeutlicht die Suche nach Sinnhaftigkeit als bestimmen-den Anreizfaktor der Spielentwicklung. Die gesamte Spielentwicklung war geprägt von einem Klima latenter Über-forderung, der sich in der mangelnden Trennung zwischen konzeptioneller und technischer Ebene ausdrückte. Indem die Studierenden diesen Grund-konflikt erkennen, verschieben sich im Entwicklungsprozess anfangs gesetz-te Motivationsrelevanzen (vgl. Schütz 1982, 78ff.) derart, dass die folgende Planung sich neu ausrichten kann. Die Idee der technisch ausgefeilten Um-setzung einer komplexen Spielwelt wird aufgegeben, an ihre Stelle tritt das konzeptionelle Arbeiten, das „Basteln“ an der Spielidee. Dieses Plausibilitätskriterium steuert im folgenden den gesamten Entwick-lungsprozess. Seine deutlich zu rekonstruierende Dominanz ist das eigentlich Überraschende. Die technische Umsetzung der plausiblen Hintergrundge-schichte wird als nachgelagerte Entwicklungsaufgabe neu eingestuft und damit eigentlich abgewertet. Dabei schiebt sich das Plausibilitätskriterium „Sinnhaftigkeit“ immer deutlicher in den Vordergrund. Spielhandlungen, die in der Realwelt unmöglich sind, werden vehement ausgeschlossen, da sich die Entwickler stark von den bekannten fiktionalen Genres abgrenzen:

„Solche Gedanken sind aber immer wieder eingeflossen, wo wir uns ge-fragt haben, wieso wundert sich niemand, dass das in Spielen einfach geht, dass man da einfach Sachen machen kann, die man im echten Le-ben niemals macht“ (GD, 244).

Infolgedessen suchen sie nach realistischen Darstellungsmöglichen sozialer Interaktion. Genau an dieser Stelle kippt der Entwicklungsprozess. Die Su-che nach Sozialrealismus, nach Sinnhaftigkeit wird zum bestimmenden An-trieb der Entwicklung. Im Spiel MyTown geht es also weder nur darum, den Charakter der Spielfigur zu optimieren, noch darum, sich durch die geografi-sche Mobilität und die Dichte sozialer Interaktionen einen Lebensraum zu erschließen, sondern darum, „Sinn aufzubauen“ (GD, 235). Sinn meint: nachhaltige Beziehungen, spürbare Wirkungen sozialer Interaktionen. Einer der Studierenden fasst dies in einer anschaulichen Fokussierungsmetapher zusammen: „Wir wollten schon Realismus reinbringen an der Stelle“ (GD, 244). Wie aber kann Sinnhaftigkeit in ein Computerspiel „implementiert“ werden? Die Entwickler sehen sich gezwungen, sich mit der Matrix sozialer

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Prozesse auseinander zu setzen. Dies gelingt ihnen allerdings nur auf der Basis eigener lebensweltlicher Anschauungen und Erfahrungen, so dass der von ihnen gewünschte Realismus letztlich in eine technizistische Stereotypi-sierung mündet. These 2: Die Modellierung des Spiels als Arena kompetitiver Selbstdarstel-lung verdeutlicht die Wirksamkeit des Leistungsgedankens als implizitem Leitbild der Entwickler. Dem selbst eingeforderten Anspruch nach Realismus wird das Konzept auf den ersten Blick gerecht, denn die soziale Situation „Wohnungssuche“ könn-te nicht anschaulicher und plausibler sein. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Studierenden ein unabgeschlossenes Verständnis sozialer Prozesse besitzen und daher mit ihrem Spiel eine Arena kompetitiver Selbst-darstellung erdenken, die letztlich viel über die impliziten Vorannahmen der Entwickler aussagt. Zwei Konzepte konkurrieren dabei unbemerkt: In der ersten Konzeption geht es im Kern um eine Charakteroptimierung durch bewertete und selbstwertdienliche Dialoge. Der wohnungssuchende Spieler tritt in Interaktion mit den Bewohnern der Stadt, er stellt und beant-wortet Fragen. Seine Frage- und Antwortwahl wird zum Identitätsakt, da sie sich auf den weiteren Spielverlauf und -erfolg auswirkt. In diesem Konzept wird die Welt des Sozialen mit ihren komplexen und kontingenten sozialen Grammatiken auf ein sehr einfaches (man könnte auch sagen: durchschauba-res) System von Dialogen reduziert. Durch die technische Limitierung der Komplexität dieser Sprechakte wird entgegen des eigenen Anspruchs gerade kein Realismus ins Spiel eingebaut. Vielmehr ist das zugrunde liegende Konzept als Ausdruck eines technokratischen Menschenbildes zu werten, dass sich als ein weiterer Einflussfaktor manifestiert. Das zweite, eng damit verbundene Konzept, stellt vor dem Hintergrund einer prozessuralen Logik und der virtuellen Stadt als Experimentierraum das Thema der Erschließung von „Lebensraum“ in den Mittelpunkt. Aber auch dafür sind Interaktionen mit Menschen notwendig, Raum allein kann nicht sinnvoll erschlossen werden, worauf schon Simmel (1995, 218) hingewiesen hat: „Von allen Potenzen des Lebens ist der Raum am meisten die zur An-schauung gewordene Unparteilichkeit. […] Und dieser Unparteilichkeit des Raumes überhaupt nähert sich für die praktischen Verwertungen am meisten

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das unbewohnte, niemandem weiter gehörige Terrain, das eben sozusagen bloß Raum und weiter nichts ist“. Nur durch Interaktionen erhält der Einzel-ne die Möglichkeit, sich durch den Kontakt mit verschiedenen Gruppen eine Identität zu erschaffen, das, was Simmel (1989, 237ff.; 1992, 456ff.) klas-sisch die „Kreuzung sozialer Kreise“ und die daraus folgende „Bestimmtheit der Person“ nennt. Zwischen diesen beiden Konzepten, der Punktelogik der Charakteroptimie-rung und der Prozesslogik des Erschließens von Lebensraum herrscht eine ambivalente Spannung. Hinter beiden Konzeptionen aber zeigt sich der Ein-fluss eines impliziten Gesellschaftsbildes. Dieses kann in erster Annäherung mit dem Paradigma der Leistungsgesellschaft in Deckung gebracht werden. Die Spieler müssen etwas leisten, um etwas anderes zu bekommen.23 Hierin drückt sich eine spezielle – intersubjektiv verbindliche – Motivationsrele-vanz aus: „Denn das, was getan werden muss, ist dadurch motiviert, wofür es getan werden muss“ (Schütz 1982, 80). Charakteroptimierung und Selbst-verortung werden immer mehr zum notwendigen Handwerk im Überlebens-kampf einer Gesellschaft, in der wichtige Ressourcen wie Arbeit und soziale Anerkennung immer knapper werden. Die Entwickler haben die öffentliche Rhetorik um Selbstmanagement, Soft Skills und andere Parolen, die letztlich die Rückkehr zur Selbstverantwortlichkeit des Individuums ausdrücken, ver-innerlicht und verdeutlichen (wieder einmal) die schon von Beck (1986) postulierten Individualisierungstendenzen. In der virtuellen Welt des Spiels wird die realweltliche Logik nur noch radikalisiert: Dort einen Platz zu fin-den (=MyTown) bedeutet, sich den „normregulierenden“ Verhaltensanforde-rungen (Habermas 1988, 132ff.) von Vermietern, Mitschülern und anderen Protagonisten schon auf der sprachlichen Ebene perfekt anzupassen. Soziales Verhalten wird in der virtuellen Kopie der Leistungsgesellschaft zu einer Entweder-Oder Logik reduziert, während es im realweltlichen Pendant zu-mindest (noch) fließende Übergänge zwischen Inklusion und Exklusion, In-sidern und Outsidern gibt. These 3: Die Sehnsucht nach Simulation ist geprägt vom Wechselspiel zwi-schen kontingenter Sinnhaftigkeit und der Komplexität algorithmischer Pro-zesse.

23 Zum Stellenwert von Um-Zu-Motiven in der Alltagswelt vgl. Schütz (1992, 115).

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Gleichzeitig drückt dieses ambivalente Konzept von MyTown die Sehnsucht nach Beherrschbarkeit einer durch und durch unüberschaubaren Welt aus. Der Versuch, mittels einer Parameter-Logik die Optionsparalyse der Real-welt zu reduzieren, muss zwangsläufig scheitern. Technik in Form von Software wird zum Modell für Naturbeherrschung. Gleichzeitig scheitern die Entwickler an einem grundlegendem Problem: der Komplexität sozialer Vorgänge. Obwohl Computerspiele für viele User fester Bestandteil der eigenen Le-benswelt sind, die Spielwelt als Kommunikations- und Kontaktraum selbst-verständlich geworden ist, können realweltliche Vorgänge dort letztlich nur sehr holzschnittartig abgebildet werden. Auf die Komplexität sozialer Vor-gänge wies schon Simmel (1995, 209) hin, indem er behauptete, dass: „die wirkliche Struktur einer Vergesellschaftung […] keineswegs durch ihr socio-logisches Hauptmotiv allein bestimmt [wird], sondern durch eine sehr große Anzahl von Verbindungsfäden und Verknotungen“. Das Hauptmotiv „Woh-nungssuche“, so alltagstauglich es erscheint, reicht also noch nicht aus, um die realweltliche Heterogenität dieser „Verknotungen“ adäquat abzubilden. Die verschiedenen Kodierungsschichten, die in der realen Welt mittels Spra-che und vor allem auch parasprachlich transportiert werden, die Mehrschich-tigkeit sozialer Prozesse, die Kontextgebundenheit zwischenmenschlicher Kommunikation lässt sich im Spiel MyTown nicht angemessen herunter ska-lieren („downsizen“ in der Sprache der Entwickler). Es lässt sich daher fest-stellen, dass sich der Wunsch nach Sinnhaftigkeit und der damit verbunde-nen Konstruktion einer „Parallelwelt“ im Konzept zwar deutlich ausdrückt, technisch aber nicht plausibel umgesetzt werden kann und an einen Limes-wert stößt: Die Möglichkeiten zur technisch-algorithmischen Parametrisie-rung sozialer Prozesse verhalten sich umgekehrt proportional zur Kontin-genz sozialer Wirklichkeit. Fassen wir zusammen: Ausgangspunkt dieses Beitrages war das unstruktu-rierte „Feld offener Möglichkeiten“ (Schütz 1982, 52), den eine gegebene 3D-Engine für die Verwirklichung eines Computerspiels vorgibt. Dringend-ste Frage war, was innerhalb dieses Feldes an Bedeutung gewinnt und war-um, „wie und durch welches Verfahren […] einige der offenen Möglichkei-ten ausgewählt und in Beziehung zueinander gesetzt“ werden (Schütz 1982, 53). Diese Frage ist Ausdruck einer spezifischen Forschungshaltung, wie sie sich gerade in der Wissenssoziologie ausdrückt. Etwas Gegebenes derart

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anzuzweifeln bedeutet: „Einen Gegenstand […] zum Problem, zum Thema oder zur Aufgabe unseres Denkens zu machen, bedeutet nichts anderes, als ihn als zweifelhaft oder fragwürdig zu begreifen, ihn aus dem Hintergrund der fraglosen und unbefragten Vertrautheit […] herauszulösen“ (Schütz 1982, 56). Ziel der Untersuchung war es daher, die Denkmodelle zu erörtern, die als nicht-technische Voraussetzung sowohl den Produktions- als auch den Rezeptionsprozess limitieren. Der anfangs offene Entwicklungsprozess mündete in ein Konzept, das einen intersubjektiv bekannten Vorgang (Wohnungssuche) vor dem Hintergrund des eigenen sozialräumlichen Erlebens (Furtwangen) thematisiert. Das Kern-thema Wohnungssuche in einer fremden Stadt wird in die Form einer rudi-mentären Grammatik des Alltagslebens gebracht, die im Kern auf die Zerle-gung, wenn nicht gar Atomisierung des Suchprozesses in Form mechanistisch gedachter und instrumentell bewerteter Situationen und Inter-aktionen hinausläuft. Der Erlebnistransfer, der ja die ursprüngliche Aufgabe (aus Sicht der Lehrenden) darstellte, mündet darin, realweltliche Interaktio-nen algorithmisch zu parametrisieren und als bewertetes Frage-Antwortschema in eine Datenbank als Steuerungsinstrument zu transferie-ren. Diese exemplarische Rekonstruktion des Spielentwicklungsprozesses führt zu grundlegenden Einsichten über das prekäre Wirklichkeitsverhältnis von Computerspielen: Das Spiel stellt einerseits auf der Ebene des Konzepts den Versuch dar, komplexe Grammatiken sozialer Interaktionen zwischen den Spielfiguren in ein einfaches Entscheidungsmodell zu überführen. Es zeigt andererseits auf der Ebene der technischen Realisierung, dass kontingente realweltliche Prozesse der Herstellung von Sinnhaftigkeit sich nur sehr unzu-reichend durch algorithmische Prozesse simulieren lassen. Den vielen Mög-lichkeiten der Software stehen nur begrenzte Realisierungsformen gegenü-ber. Dies zeigt sehr deutlich die Aktualität einer der Kernthesen der Wissenssoziologie. Die Freiheit des individuellen Handeln ist begrenzt, Handlungsoptionen unterliegen vorstrukturierten Bedingungen, da wir alle nur ein „plug-in“ in einer Menge (Bloom 1999, 124) sind. Dennoch drückt das Spiel den Wunsch aus, der „Entdinglichung des Sozialen“ (Giesen 1991) entgegenzutreten. Denkt man das Konzept von MyTown konsequent weiter, so landet man schließlich in der Parallelwelt Secondlife (www.second-life.com), einer netzbasierten 3D-Welt, die von ihren inzwischen gut 3 Mil-

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lionen Bewohnern programmiert wird. Realweltliche soziale Interaktionen wird hier in (fast) vollem Umfang simuliert. Man kann Partner kennen ler-nen, sich binden und wieder trennen, Land kaufen und verkaufen. IBM hat in der Welt von Secondlife Geschäfte eröffnet, Schweden vor kurzem die erste offizielle Online-Botschaft im Cyberspace24. Wieso sich diese Spirale, basie-rend auf der Sehnsucht nach Simulation, immer weiter dreht, wäre eine eige-ne Untersuchung wert. Ein anderes Mal.

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Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

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Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen zur Darstellung von Politik in Computerspielen

Volker Hafner und Peter Merschitz

Zusammenfassung

Der Beitrag versucht mit Hilfe systemtheoretischer und konstruktivistischer Überlegungen Computerspiele und deren Wirkung auf Politik und Päda-gogik zu analysieren. Es wird vor allem in die Richtung argumentiert, dass junge Menschen in der Weltgesellschaft früh auf den Umgang mit Massen-medien vorzubereiten sind. Konstrukte und virtuelle Welten stehen in keinem prinzipiellen Gegensatz zur Realität, sondern sind Bedingungen für Kommunikationen mit vielen Teilnehmern. Politik und Massenmedien arbeiten daher von je her mit Kons-trukten und es ist daher für die Integration großer sozialer Gemeinschaften notwendig, dass möglichst viele Teilnehmer diese Logik auch verstehen. Nach den theoretischen Überlegungen wird das in der Praxis erfolgreich lau-fende Online-Politikspiel powerofpolitics.com, mit derzeit mehr als 35.000 aktiven SpielerInnen, inhaltlich vorgestellt.

Einleitung

Zahlreiche Klagen sowohl über Politikverdrossenheit der jungen Menschen als auch über von Computer Spielen ausgehende Risiken, haben in den ver-gangenen Monaten und Jahren wiederholt zu Schlagzeilen geführt. Mit Hilfe dieser beiden Themenkomplexe haben Massenmedien auch weiterreichende pädagogische Problemstellungen thematisiert und somit auch in Politik und Wissenschaft entsprechende Irritation erzeugt. Da dieser Beitrag aus einer systemtheoretisch-konstruktivistischen Perspek-tive verfasst ist, ist der Begriff Irritation durchaus als Einfluss mit produkti-ven Aussichten zu werten. Allerdings sollte gleichzeitig unbedingt Bedacht darauf genommen werden, wissenschaftliche Überlegungen von zu weitrei-chenden Beeinflussungen der massenmedialen Betrachtung, die ent-sprechend ihrer Funktionslogik weitgehend über Aktualitätskriterien selek-tiert sind, unkritisch zu übernehmen. Die Wissenschaft bedient sich einer anderen Unterscheidung als es Politik und Massenmedien tun. Aus der jeweiligen Perspektive ist dann alles andere

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Umwelt, mit der man zwar zu rechen hat, deren Sicht man sich aber nicht anschließen muss. Ein weiterer zentraler Aspekt, der aus dieser theoretischen Perspektive zu berücksichtigen ist, ist eine Beschreibung von Gesellschaft als Kommuni-kationssystem, woraus folgt, dass alle Kommunikation nur Reaktion(en) auf Kommunikation ist. Ein Kommunikationssystem wie die Wissenschaft, aber auch Massenmedien und Politik, kann in andere Kommunikationssysteme nicht direkt eingreifen und Mitteilungen von der jeweils anderen Seite wer-den nach jeweils systeminternen Logiken verarbeitet. Das bedeutet auch, dass wir Ereignisse wie z. B. Gewalttaten, die mit Computerspielen in Ver-bindung gebracht werden, nur über Kommunikation vermittelt bekommen und daher auch nur mit Kommunikation reagieren können. So dramatisch solche Vorfälle auch immer sein mögen, müssen wir dennoch bedenken, dass wir es im Normalfall zunächst mit vermittelter Kommunikation zu tun haben. Diese Behauptung soll aber keineswegs auf eine Bagatellisierung des Problems hinauslaufen, sondern ganz im Gegenteil auf Komplexität verwei-sen, um vor emotional motivierten Vereinfachungen entsprechend nach-drücklich zu warnen. Kritische Distanz gegenüber unmittelbaren Handlungs-forderungen oder Benennungen von möglichen Schuldigen trägt sich oftmals den Vorwurf emotionaler Kälte ein, kann aber umgekehrt kontinuierliche und nicht nur anlassbezogene Behandlung von Problemstellungen dieser Art für sich verbuchen.

Komplexe Problemstellung

Man könnte diese eben geschilderte Diskrepanz auch als Komplexitäts-problem beschreiben. In diesem Zusammenhang könnte gefragt werden, ob auf komplexe Problemstellungen eher mit einfachen oder mit komplexen Programmen geeignet reagiert werden kann. Wenn die Entscheidung zu Gunsten von Komplexität ausfällt, zieht dies die Notwendigkeit ausführlicher Begründung nach sich. Es bieten sich einerseits psychologische Überlegungen an, die sich z. B. mit Fragen von Aggres-sionsabbau oder Zornregulation (Sloterdijk 2006, 22) beschäftigen, an die wir in unserem Beitrag allerdings nicht anknüpfen wollen und andererseits gesellschaftstheoretische, die wir nun weiter verfolgen wollen. Computerspiele als ein Phänomen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz und insbesondere die Entwicklung zu einem wichtigen Kommunikations-

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medium ist, zumindest im Vergleich zu anderen Kommunikationsmedien, doch etwas sehr Neues. Insofern ist es verständlich, dass dieser Themen-komplex noch nicht in allen Details theoretisiert ist und daher auch (zumin-dest in Bezug auf manche Aspekte) nur wenige verbindliche Anschlussmög-lichkeiten vorzufinden sind. Ähnlich wie in der Frühzeit des Buchdrucks oder des Fernsehens stehen zunächst Befürchtungen z. B. bezüglich der Konkurrenzfähigkeit der traditionellen Kommunikationsmedien oder gar Bedenken, die den Realitätsverlust der KonsumentInnen erwarten, im Zent-rum der öffentlichen Diskussion. Solche radikalen Erwartungen können, auch positiv formuliert, als Fortschritt kommuniziert werden, sind aber unse-rer Ansicht entsprechend genauso überzogen wie die genannten katastrophi-schen Befürchtungen. Darstellungsversuche, die mit eindeutigen Wertungen arbeiten, sind meist von dem Motiv getragen, Komplexität zu reduzieren, um dadurch An-schlusskommunikationen wahrscheinlicher zu machen. Insofern zeigt sich die Notwendigkeit, zwischen Trivialisierung und Aufrechterhaltung von haltloser Komplexität entsprechend Balance halten zu müssen, um gleich-zeitig der Materie möglichst gerecht werden zu können und trotzdem für an-dere verständlich bzw. anschlussfähig zu bleiben. Diese Form der Kommunikation über Computerspiele scheint insbesondere deshalb angemessen, da Computerspiele selbst nach diesem Schema kon-struiert sind. Wir wollen nun den Versuch unternehmen Computerspiele als Kommuni-kationsräume zu beschreiben und mit nicht virtuellen Kommunikations-systemen vergleichen. Die soziologische Systemtheorie beschreibt die Ge-sellschaft als ein in Subsysteme differenziertes System, wobei die einzelnen Subsysteme an der Erbringung von Funktionen für die Gesellschaft zu iden-tifizieren sind (Luhmann 1982a, 9). Die Subsysteme werden jeweils über eine binäre Codierung stabil gehalten, die es ermöglicht eine Form zu errich-ten, um zwischen Innen/Außen bzw. Anschlusswert/Umwelt1 unterscheiden zu können. Wenn nun durch diese Theorieperspektive auch die nicht virtuel-le Gesellschaft als Konstrukt beschreibbar wird, das nach einer binären bzw.

1 In einigen Systemen wird jedoch auch an den negativen Wert angeschlossen, wenn durch

die Negation Information über das zu Bezeichnende gewonnen werden kann. Grundsätz-lich geht es aber darum, dass die binäre Codierung dazu dient, eine Form zu konstituieren, um überhaupt erst zu markieren, wovon die Rede ist.

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digitalen Logik funktioniert, fällt es in Folge nicht mehr so leicht nach dem Schema real/fiktiv den Unterschied zwischen Spielen und anderen Kommu-nikationssystemen überzeugend darzustellen. Und die Empirie scheint Über-legungen in diese Richtung durchaus zu bestätigen, wenn die Entwicklungen aktueller Computerspiele beachtet werden, die zu immer mehr Kopplungen zwischen dem Spielablauf und der Außenwelt führen. Das Spielgeschehen entzieht sich zunehmend der Möglichkeit von zentraler Steuerung und ge-winnt so an Realitätsgehalt. Und dazu kommt es nur dadurch, dass die dahin-ter liegende Matrix immer weniger Komplexität reduziert, als das etwa bei älteren Computerspielen oder z. B. bei Brett- oder Kartenspielen der Fall war. Das heißt, die Reduktion des Abstraktionsniveaus auf der Seite der Spielregeln eröffnet auf der anderen Seite (des Spielverlaufs) immer komp-lexere Abläufe, die teilweise so weit reichen, dass sie von anderen „realen“ Funktionssystem mit der gleichen Verbindlichkeit wahrgenommen werden müssen, als würden sie von einem anderen „realen“ Funktionssystem stam-men. In Anbetracht dieser Entwicklung wäre es naiv anzunehmen Compu-terspiele oder auch nur jedes einzelne Spiel, zumindest ohne entsprechenden Referenzpunkt (d. h. kontextfrei), nach einem gut/böse-Schema oder Ähnli-chem sinnvoll beurteilen zu können. Die am ersten Blick als Selbstverständ-lichkeiten erschienenen Ansichten, über die es zunächst nahe liegend er-scheinen mag sich der Materie zu näheren wie z. B. eine Beurteilung nach dem Vorkommen von Gewalt, erweisen sich als nicht ausreichend. Die Ent-wicklung ist zu weit fortgeschritten, um mit Generalisierungen sinnvoll vor-ankommen zu können. Wir müssen uns also umsehen, um besser geeignete Anhaltspunkte zu finden.

Suche nach Möglichkeiten Computerspiele zu beurteilen

Durch die Theoriewahl haben wir uns auch schon ein Stück weit festgelegt, insofern wir strikt zwischen Kommunikation und Phänomenen dahingehend zu unterscheiden haben, dass wir anerkennen müssen, dass uns nur die Kommunikation als Operationsrahmen zur Verfügung steht und daher auch die Erwartungen entsprechenden Limitationen unterliegen. Die Weltgesellschaft ist kommunikativ über Massenmedien integriert, ob man das nun begrüßt oder ob einen das erschreckt, es ist keine grund-sätzliche Alternative in Sicht.

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Wie sich das Erschrecken darüber ausdrücken lässt, hat in besonders berüh-render Weise z. B. Günter Anders in seinem bereits 1956 erschienenen Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“ dargestellt. Wenn er z. B. in Bezug auf die Massenmedien feststellt:

Dann bedeutet nämlich unsere Behauptung, daß die künstlichen Modelle von ‚Welt‘, als deren Reproduktionen die Sendungen uns erreichen, nicht nur uns und unser Weltbild prägen; sondern die Welt selbst, die wirkliche Welt; daß die Prägung einen bumerang-haften Effekt hat; daß die Lüge sich wahrlügt, kurz: daß das Wirkliche zum Abbild seiner Bil-der wird. (Anders 1980, 22).

Aber auch dieser tief greifende, hoch sensible Kommentar kommt im We-sentlichen zu keiner anderen Diagnose als die soziologische Theorie sozialer Systeme. Dieser Hinweis soll darauf reagieren, dass der Systemtheorie oft affirmative Tendenzen bzw. ein technokratisches Gesellschaftsbild unters-tellt werden und sie deshalb von zahlreichen Autoren mit kritischen Theo-rien kontrastiert wurde. Dem gegenüber soll hier auf den Gewinn an Einsicht verwiesen werden, der sich aus dem distanzierteren Blickwinkel ergibt, der seine Distanz durch Verzicht auf unmittelbare Lösungs- oder Heilungsangebote gewinnt. Die Möglichkeiten auch für kritische Reaktionen werden dadurch letztlich erheb-lich gesteigert2. Statt nach dem Schema Problem und Lösung oder Problem und Empörung die jeweils auf einer gut/böse-Unterscheidung bauen, das heißt letztlich mo-ralisch stabilisiert sind, kann dann zwischen Selbst- und Fremdbeschreibung von sozialen Systemen unterschieden werden.

Sind Computer-Spiele Massenmedien?

Die Entscheidung dieser unbestreitbar kühleren Perspektive Vorrang zu ge-ben resultiert aus der Überzeugung, dass es keine produktive Alternative zu einer über Massenmedien integrierten Weltgesellschaft gibt. Die Kontin- 2 Eine Theorie, die über Sachverhalte, die sich als Selbstverständlichkeiten ausgeben, bzw.

von den entsprechenden Subsystemen in diesem Modus kommuniziert werden, eine so genau, Analyse erarbeitet die sich noch dazu nicht an die Selbstbeschreibung dieser Kommunikation gebunden fühlt, eröffnet dadurch erst die Möglichkeit die behaupteten Selbstverständlichkeiten als kontingent zu erkennen und zwischen Selbst- und Fremd-beschreibung unterscheiden zu können.

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genz, mit der wir konfrontiert sind, ist demnach nicht, vermittelte versus un-vermittelte Kommunikation, sondern vermittelte Kommunikation als solche fassen und begreifen zu können, oder nicht. Es muss also darum gehen zu lernen in einer Welt mit Massenmedien zu leben, deren Notwendigkeit zu respektieren, aber auch deren Unzulänglichkeiten einschätzen zu können. Genauso wie die Entwicklung in Richtung zunehmender Integration der Weltgesellschaft vorgezeichnet ist, ist auch die anhaltende strukturelle Ver-änderung von Massenmedien eine daraus resultierende evolutionäre Ent-wicklung. Analog wie bei Kommunikation unter Anwesenden nicht in erster Linie danach getrachtet wird, über irgendwelche Sachverhalte, möglichst unter Verzicht von Interpretation, Wahrheiten mitzuteilen, sondern ein an-schlussfähiges Gespräch zu stabilisieren, werden die Freiheitsgrade der Kommunikation auf massenmedialer Ebene umso größer, je leichter der Zu-gang zur aktiven Beteiligung wird. Wenn nun dieser Gewinn an Freiheit und die Möglichkeit zur Inklusion von einer ständig steigenden Zahl an Men-schen nicht durch irgendwelche zentralen Steuerungsinstanzen unterbrochen werden soll, muss akzeptiert werden, dass das Funktionssystem der Mas-senmedien ständig an Unabhängigkeit von anderen Funktionssystemen ge-winnt.3 Anders formuliert bedeutet das, dass die notwendige Selektionsleis-tung von institutionalisierten Einrichtungen auf die/den Einzelne/n übertragen werden. Wenn nun diese Entwicklung als gegeben anerkannt wird, bietet sich als sinnvolle Reaktion nur die Möglichkeit an, sich Fähig-keiten anzueignen, um entsprechende Selektionsleistungen selbst erbringen zu können.

3 Diese Entwicklung wird in der Systemtheorie als zunehmende Ausdifferenzierung der

einzelnen Funktionssysteme beschrieben und gilt daher nicht nur für das Funktionssystem der Massenmedien. Dieser Prozess ist am ehesten als Wechselwirkung zwischen den Funktionssystemen zu verstehen, insofern Zunahme an Spezialisierung in einem Funkti-onssystem für alle anderen eine Zunahme an Komplexität ihrer Umwelt bedeutet, wo-durch dort, um den Anschluss nicht zu verlieren, ein weiterer Bedarf an Spezialisierung entsteht. Alte Erwartbarkeiten verlieren ihre Gültigkeit, wie z. B. in der Politik das Sche-ma konservativ/progressiv zunehmend an Schärfe verliert (in Bezug auf Erwartbarkeit, wer was sagen wird) oder eben Massenmedien, die externe Erwartungen dadurch unter-brechen, dass nicht mehr so klar absehbar ist, wer Sender bzw. Empfänger ist. (Luhmann 1991, 158ff.). Das deutet daraufhin, dass die Autopoiesis der Funktionssysteme so stabil geworden ist, dass die Notwendigkeit auf die Bestätigung von Erwartungen externer Beo-bachter abnimmt.

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Die Plausibilität bzw. Akzeptanz dieses Vorschlages ist wahrscheinlich sehr stark von der wissenschaftstheoretischen Position abhängig – für logische Empiristen oder auch für Idealisten erscheint es vielleicht sogar als unakzep-table Zumutung. Wenn nun „lernen“ ohnehin nicht als ein Prozess von Aneignung von Fakten sondern als eine Entwicklung zur Ausbildung von kognitiven Fähigkeiten, um auf eine kontingente Umwelt erfolgreich reagie-ren zu können, verstanden wird, bekommt diese Sicht jedoch eine sinnvolle Basis (Luhmann 1982b, 40). Es geht also zunächst, wenn diese Überlegungen legitimiert werden sollen, um den Versuch, diese über ein wissenschaftstheoretisches Paradigma abzu-sichern.

Konstruktivismus und Erziehung

Wir schlagen hier eine Position vor, die darauf verzichtet sich über externe Referenzen (wie z.B. Grundwerte, oder moralische Imperative) rückzuversi-chern. Dadurch kann einerseits Verantwortung nicht mehr so leicht delegiert werden (von Foerster 1985, 29). Andererseits geht Übersichtlichkeit verlo-ren, da bewährte Schematisierungen – zumindest in Bezug auf ihre Verbind-lichkeit– nicht mehr übernommen werden können. Die aktuelle Entwicklung von Onlinespielen, insbesondere durch die Zunahme von sich selbst repro-duzierenden Spielverläufen mit der Fähigkeit „reale“ Systeme zu beeinflus-sen, scheint konstruktivistische Theorien nicht nur als geeignetes Instrument zu bestätigen solche Vorgänge abstrakt beschreiben zu können, sondern auch umgekehrt, der Theorie die Möglichkeit zu bieten, die Verbindlichkeit ihrer Aussagen unter Beweis stellen zu können. Es stellt sich zumindest die Frage, welcher Weg sonst noch zur Verfügung stehen könnte, der nicht dazu zwin-gen würde, Grenzüberschreitungen zwischen Spiel und Realität als Parado-xie beschreiben zu müssen, die somit eigentlich gar nicht vorkommen dürf-ten. Aus konstruktivistischer Sicht scheint es daher angebracht junge Menschen mit solchen Entwicklungen möglichst früh vertraut zu machen, was natürlich viele in der Pädagogik verbreitete Ideale nachhaltig in Frage stellt. Das Ver-hältnis zwischen Sozialisierung und Individualisierung muss jedenfalls neu überdacht werden. Der Anspruch, Mitteilungen in Bezug auf ihre Verbind-lichkeit zu überprüfen, wird jedenfalls massiv gesteigert, wodurch Forderun-gen nach Rehabilitierung von autoritären Erziehungsmethoden jedenfalls als

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absurd zurückgewiesen werden müssen, was aber umgekehrt auch keines-falls als Plädoyer für laissez faire Methoden zu verstehen ist. Sozialisierung, verstanden als Übertragung von Erfahrungen von einer Generation auf die Nächste (Luhmann 1987, 173) stößt jedenfalls umso früher an Grenzen, je rascher sich die Umwelt ändert und daher diese Erfahrungen keine zurei-chende Problemlösungskompetenz mehr vermitteln können. Auch wenn wir entsprechend der hier zugrunde liegenden Theorie davon auszugehen haben, dass auch traditionelle Massenmedien immer schon aus-schließlich Konstrukte vermittelt haben, so sind diese in der alltäglichen Kommunikation nicht als solche behandelt worden. Es war auf der (bisher leicht unterscheidbaren) Seite des Publikums üblich, Mitteilungen prinzipiell als Informationen aufzunehmen4. Wenn aber diese unkritische Weise von Konsumation als ohnehin sehr problematisch eingeschätzt wurde, so wie das sowohl von der Systemtheorie, als auch von kritischen Theorien bereits von jeher gesehen wurde, dann kann das offen-zu-Tage-Treten dieses Umstandes durchaus auch positiv beurteilt werden. Wenn ohnehin davon ausgegangen wird, dass die zu erlernenden Fähigkeiten nicht durch Akkumulation von fixiertem Wissen zu erreichen sind, sondern es vielmehr um Orientierung in zukunftsoffenen Kommunikationssystemen geht, muss die frühzeitige Erfahrung, sich auf Mitteilungen nicht verlassen zu können, wahrscheinlich sogar als notwendig anerkannt werden. Ander-erseits ist auch das Erziehungssystem auf die Notwendigkeit Stabilität auf-recht zu erhalten verwiesen, wodurch sich traditionelle Methoden, selbst wenn weitgehender Konsens über ihre Nachteile besteht, dennoch weiter erhalten lassen. Es muss auch hier berücksichtigt werden, dass autopoie-tische Systeme nicht von Außen fremdgesteuert werden können. Aber gera-de deshalb ist es als externer Beobachter mögliche Irritationen von Systemen weniger dramatisch zu werten als aus Systemperspektive. Die beiden Be-hauptungen erklären sich einerseits darüber, dass innerhalb von Systemen stabile Kommunikationsstrukturen herrschen, am konkreten Beispiel be-trachtet bedeutet dies, dass ein/e Pädagoge/Pädagogin nicht auf Grund von theoretischen Ratschlägen von einem Tag auf den anderen alle seine/ihre etablierten Beziehungen zu seinen/ihren SchülerInnen oder KollegeInnen verändern kann, ohne dadurch dort unüberbrückbare Irritation zu erzeugen,

4 Die Notwendigkeit, nicht jede Mitteilung als Information zu behandeln, ist für die Sys-

temtheorie eine Grundlage.

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und andererseits ergibt sich aus dieser Feststellung, dass gerade dadurch alle Veränderungen, die die jeweils Betroffenen als Irritation verbuchen müssen, für alle anderen (externe Beobachter) dadurch entschärft werden, dass die Betroffenen trotz der Irritation zunächst (aus den genannten Stabili-tätserfordernissen) an Überkommenem (zumindest vorläufig) festhalten müssen. Irritationen wirken also zeitlich verzögert und müssen, um strukturelle Kopplungen5 generieren zu können, selbst Stabilität ausbilden. Das stark über normative Erwartungen stabilisierte Erziehungssystem konnte sich da-her lange Zeit gegen konstruktivistische Irritationen immun zeigen und auch für den Fall, dass einzelne dort agierende Personen dies als Fehler wahrge-nommen haben, diese dazu zwingen, weitgehend an traditionellen Methoden festzuhalten. Wie kann nun eine Irritation Stabilität entwickeln? Die Wahr-nehmungswissenschaften bzw. die Neurophysiologie bieten eine entspre-chende Grundlage, indem dort Fragen nach Plausibilitätskriterien behandelt werden. Plausibilität bekommt für Menschen eine Sache (z. B. eine Hypo-these) unter anderem dadurch, dass diese auch mit anderen Sinnen wahrge-nommen werden und ganz besonders wenn eine große Zahl von anderen Be-obachtern diese Wahrnehmung teilen (Roth 1997, 114, 209). Der Konstruktivismus konnte aber, da er sich eben gerade dadurch auszeichnet unmittelbare Wahrnehmung in Frage zu stellen und auch noch auf Komple-xität verweist, lange Zeit keine Unterstützung von Bestätigungen dieser Art für sich in Anspruch nehmen (von Foerster 1985, 29). Erst Verfahren, die virtuelle Konstrukte visualisieren konnten, boten erste Anhaltspunkte dafür, wie das zunächst nur kognitiv nachvollziehbare Theorem auch mit anderen Sinnen wahrgenommen bzw. bestätigt werden kann. Die Vermittlung von Welt konnte im Bildungssystem weiter auf Annahmen bauen, die von einer fixierten Umwelt ausgehen, und die Leistungen der SchülerInnen konnten auf einer einfachen (Noten-)Skala beurteilt werden,

5 Als strukturelle Kopplungen werden Irritationen, das heißt Einwirkungen von einem Sys-

tem auf das andere, dann bezeichnet, wenn diese dort zu Veränderungen führen. Diese Bezeichnung verdankt ihren Sinn durch die Unterscheidung von funktionaler Kopplung, welche aber nur innerhalb eines Systems möglich ist bzw. wenn die Möglichkeit neu ent-steht. Dies führt dazu, dass die auf diese Weise gekoppelten Systeme sich zu einem verei-nen würden. Beispielsweise kann die Politik das Recht durch Beschluss neuer Gesetze ir-ritieren aber nicht in die Rechtssprechung eingreifen. Würde sie das doch tun, gäbe es kein Recht mehr und man würde vom Ende des Rechtsstaates sprechen.

Volker Hafner und Peter Merschitz

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die darüber Auskunft gab, wie genau die Anpassung des Wissens an die Tat-sachen bereits fortgeschritten ist. Über bewährte Erkenntnisse, die auf diesen Weg nicht einsehbar zu machen sind, aber auf Grund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung nicht vollständig negiert werden konnten, wie z. B. Relati-vitätstheorie oder Psychoanalyse, wurde in einem Modus von Sakralität kommuniziert, um die Performanz der bestehenden Definition von Wissen stabil zu halten. Die Stabilität der traditionellen Erziehungsmethoden, sei es auch gegen bes-seres Wissen, kann aber niemandem personal zugerechnet werden, sondern erklärt sich viel eher aus der funktionalen Differenzierung. Da auch das Er-ziehungssystem – um seine Stabilität zu garantieren – nicht nur über einen Code, sondern auch über davon strikt getrennte Programme verfügt, hat es die Fähigkeit, Umwelteinflüsse zumindest teilweise zu absorbieren. „Der Code liefert die Struktur für die Kontingenz des Systems; die Programme erst begründen das, was im System unter der Bedingung seines Codes als richtiges Verhalten akzeptiert werden kann.“ (Luhmann 1987, 192.) Das Bildungssystem ist darauf verwiesen einerseits intern Leistungen einem Co-de zuzuordnen, als auch Anschlusswerte für externe Beurteilung auszubil-den, d. h. die Schulnoten müssen z. B. für Personalchefs oder höhere Bil-dungseinrichtungen eine verarbeitbare Information darstellen. Zu den internen Codewerten entstehen durch die Bildungsideale einerseits und durch die genannten Anschlussbedingungen andererseits zwei Reflexions-werte. Um sich gegen den Überschuss an Reflexionsmöglichkeiten zu schüt-zen, ist der Anspruch an interne Stabilität der Codes also nochmals gestei-gert6. Das hat aber den erheblichen Nachteil, dass innerhalb des Systems Komple-xität so radikal reduziert werden muss, dass die interne Kommunikation we-nig Spielraum für Differenzierungen offen hält. Diese hoch abstrahierte Kommunikation mit den SchülerInnen lässt sich, um die Problemstellung besonders pointiert darzustellen, entsprechend dem von Heinz von Foerster entworfenen Modell einfacher Maschinen darstellen (von Foerster 1985, 192) Einfache Maschinen sind solche, die keine variablen inneren Zustände haben, sondern immer nach einem klaren Input/Output-Modus funktionieren,

6 Wenn die aus der Umwelt einwirkenden Forderungen uneindeutig sind, sind sie dadurch

weniger informativ und die daraus resultierenden Unklarheiten müssen via interner Struk-turen abgefangen werden.

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

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während nicht triviale Maschinen in Folge variabler, selbst generierter, inne-rer Zustände auf Input zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich rea-gieren. Da nun wahrscheinlich von niemandem bestritten werden kann, dass Kinder keine trivialen Maschinen sind, wird durch diese Darstellungsweise die Problemstellung mehr als deutlich. Wenn nun das erklärte Ziel, mündige DemokratInnen heranzuziehen, weiter verfolgt werden soll, muss erheblicher Zweifel angemeldet werden, ob mit Hilfe traditioneller Erziehungsmethoden die Bildungseinrichtungen einen produktiven Beitrag leisten können. Es stellt sich außerdem die Frage, wie Politik überhaupt darstellbar ist. Selbst die Politikwissenschaft verfügt über keine verbindliche Definition, was denn Politik überhaupt ist. Zumindest demokratisch entworfene politi-sche Systeme müssen sich als zukunftsoffen darstellen und es wäre daher gar nicht möglich entsprechende Definitionen zu erarbeiten. Um diese Offenheit dennoch kommunikativ behandelbar zu machen, wird häufig von Werten oder Grundwerten gesprochen, was aber letztlich wieder nur darauf verweist, dass etwas das dazu dient zukünftige Entscheidungen offen zu halten, nicht gleichzeitig in der Gegenwart konkretisiert werden kann. (Luhmann 2005, 349) Um sich diese Problemstellung zu verdeutlichen, kann man sich z. B. vor Augen führen, wie unterschiedlich die Lehre in der Politikwissenschaft und der Rechtswissenschaft ausgerichtet ist. Das positive Recht, das davon lebt, dass es für alle verbindlich ist, kann vorgetragen und anschließend ab-geprüft werden und die Behandlung der Studierenden wie „Einfache Ma-schinen“ wird auch im Allgemeinen widerstandslos hingenommen. Wenn nun über Politik in einem Modus, der sich weitgehend auf materielle Gege-benheiten beschränkt, kommuniziert wird, kommt man aber der Absicht, das demokratische Prinzip einsehbar bzw. nachvollziehbar zu machen, wahr-scheinlich nicht wesentlich näher, da eben gerade die Differenz zwischen der Akzeptanz von Gegebenem und der Aufforderung zur aktiven Beteiligung und Gestaltung die Demokratie von anderen Organisationsformen untersch-eidet. Demokratische politische Systeme müssen ihre Umwelt in wesent-lichen Teilen selbst produzieren, wie z. B. WählerIn7 oder Höchstgerichte

7 Es kann z. B. an Diskussionen über Wahlaltersenkung oder AusländerInnenwahlrecht

explizit beobachtet werden, dass das Politische selbst entscheiden muss, wer Wähler/in ist oder auch nicht.

Volker Hafner und Peter Merschitz

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akzeptieren, obwohl diese nicht a priori vorhanden sind, sondern erst durch politische Entscheidungen generiert bzw. definiert werden.

Virtuelle Welt als Form und Wahrnehmung

Auch wenn diese Problemstellung spätestens seit Max Weber bekannt und auch operationalisiert ist, sind Fragestellungen in diesem Zusammenhang außerhalb von explizit wissenschaftstheoretischen Kontexten bis zuletzt nur wenig behandelt worden. Dies hat möglicherweise auch mit den bereits er-wähnten wahrnehmungswissenschaftlichen Erkenntnissen zu tun, die darauf verweisen, dass Sachverhalte, um wahrnehmbar bzw. verständlich kommu-nizierbar zu sein, auf Referenzen angewiesen sind, um nicht in der Form ei-ner Tautologie, das heißt als Paradoxie zu erscheinen. Im konkreten Fall würde das bedeuten: Demokratische Politik ist offen und daher nicht konkre-tisierbar. Dies ist in einer zweiwertigen Logik prinzipiell nicht auflösbar, wenn A nicht gleichzeitig non A sein darf. Um aus dieser Paradoxie heraus-treten zu können, ist eine andere, eine (Außen)Perspektive erforderlich. Lan-ge Zeit waren offene Systeme nur in Gedanken innerhalb von Bewusst-seinssystemen konkretisierbar, weswegen es unmöglich war, durch andere als kognitive Wahrnehmungsweisen Referenz über deren Funktionsweise zu erhalten. Mittlerweile sind aber Computerprogramme, die in der Lage sind solche Systeme nachzustellen und visuell darzustellen, einer breiten Öffent-lichkeit zugänglich gemacht geworden. Insofern wird ein hochabstraktes wissenschaftstheoretisches Konstrukt, indem es als Form in sich selbst ein-getreten ist, so deutlich markiert, dass es für nahezu jedermann erkennbar gemacht worden ist. Konstrukte (nur durch ihre innere operative Ge-schlossenheit bestehende Sachverhalte) können (ohne zu beanpruchen, Wirklichkeit zu sein) bestehen und sich vor einer zureichend großen Zahl von Beobachtern so weitgehend bewähren, dass diese genötigt werden kön-nen, strukturell anzuschließen. Es ist z. B. (selbst für den standfestesten Posi-tivisten bzw. empirischen Realisten) nicht sinnvoll möglich, Geld, das in einer virtuellen Welt erwirtschaftet wurde, aus diesem Grund nicht als real anzuerkennen. All diese Überlegungen dürfen uns aber nicht davon abbringen, nach-zuweisen, dass dennoch eine klare Differenz zwischen realer und virtueller Welt besteht, die man auch möglichst unmissverständlich darstellen können

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

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muss. Anderenfalls würden wir die eingangs beschriebenen Befürchtungen, die wir ja entschärfen wollen, noch weiter dynamisieren. Es geht vielmehr darum, aufzuzeigen, dass die Grenze zwischen virtueller und realer Welt, nicht aus der Natur (oder von sonst woher) ableitbar ist, sondern in der Kommunikation reproduziert wird. Das heißt, man kann sich das nirgends abschauen, also nicht auf materielle oder ontologische Gege-benheiten als Indikator zurückgreifen, sondern muss auf die Wirkung achten, um feststellen zu können, was real und was virtuell ist. „Die Virtualität pflegt ein Verhältnis zum Wirklichen, das nicht auf Referenz, sondern auf Rekursion abzubilden ist (…).“ (Baecker 1999, 133). Virtualität ist also durch Verweise auf etwas zuvor Geschehenes stabilisiert, das selbst auch keine materiellen Eigenschaften hat, kann aber in der zeitoffenen Richtung (Zukunft), durchaus an materielle Sachverhalte anknüpfen. In diesem Zu-sammenhang bietet es sich an, auf das Indikationskalkül von George Spen-cer-Brown (auch explizit) zu verweisen. Dies besagt, ganz grob zusam-mengefasst, Möglichkeiten als Aufforderungen auffassen zu können (Baeck-er 1999, 127, 133). Auch dieses Kalkül bekommt nun aus der Computerwelt leichter einsehbare Grundlagen, wenn Spiele8 ohne definiertes Ziel pro-grammiert werden und dennoch funktionieren und sinnvoll gespielt werden können. Die erste Aufforderung heißt demnach: „triff eine Unterscheidung“ (Spencer-Brown zit. nach: von Foerster 1999, 25); wenn diese Unter-scheidung getroffen ist, ist bereits eine Form mit zwei Seiten entstanden und es kann auf der bezeichneten Seite Kommunikation angeschlossen werden, in die dann die Unterscheidung, durch die die Differenz von Innen und Au-ßen erst generiert wurde, z. B. als Definition, wieder eintritt.9 Was da ent-standen ist, entspricht dann der oben genannten Definition von Virtualität, denn es wird eben nicht auf (materielle) Referenzen verwiesen, sondern nur durch Rekursion auf die zuvor gefasste Unterscheidung Stabilität erzeugt. Wir müssen nun noch eine Prämisse berücksichtigen, wenn wir im folgenden auch konkret über virtuelle Konstrukte sprechen wollen, nämlich dass die Unterscheidung, die den virtuellen Raum eröffnet und sich gegen alles ande-re abgrenzt für uns, wenn wir eine Beobachterrolle einnehmen wollen, nicht zur Verfügung steht. Das heißt, wir müssen selbst eine Unterscheidung tref-

8 Der Begriff hat, wenn das genannte Kalkül akzeptiert wird, folglich seine ursprüngliche

Schärfe eingebüßt. 9 Wird im Original als re-entry der Form in die Form ausgedrückt.

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fen, um uns nicht an die Programme der Spiele ausliefern zu müssen. Und genau das ist wahrscheinlich künftig einer der wichtigsten Kompe-tenzen, die man erwerben muss, um sich in einer Welt, in der Virtualität eine immer wichtigere Rolle spielen wird, gut zurechtfinden zu können. Oder genauer: in einer Welt, in der es zunehmend zur gängigen Praxis wird, an virtuelle Kommunikationen ohne explizite Benennung des Überganges, auch auf der nicht virtuellen Seite anzuschließen.

Was bedeutet das für die Wahrnehmungen durch Sinnesorgane?

Wesentliche Teile unserer Wahrnehmung werden über Sinnesorgane über-mittelt, die über den Evolutionsprozess dahingehend selektiert wurden, phy-sischen Einwirkungen hohe Relevanz bei der Informationsverarbeitung bei-zumessen (Roth 2001, 246). Auf der Ebene des Bewusstseinssystems können aber, und das ermöglicht es den Menschen virtuelle Kommunikation zu be-treiben, funktionale Äquivalente generiert werden, die von anderen Be-wusstseinssystemen dann analog zu physischen Reizen verarbeitet werden. Das ist eine Konsequenz aus Beobachtung zweiter Ordnung. Forscher, die beobachtet haben, wie menschliche Wahrnehmung funktioniert, haben zu-nächst die Möglichkeit postuliert, indem sie Wahrnehmung nicht als Abbil-dung oder interne Reproduktion einer Außenwelt, sondern weitgehend als Eigenleistung des Gehirns, das nur auf externe Irritationen reagiert, be-schrieben haben. Diese konstruktivistische Position in der Hirnforschung findet ebenfalls durch die genannten Entwicklungen eine zureichende Bestä-tigung, um als Faktum anerkannt werden zu können. Wenn nun, z. B. von kommunitaristisch-anthroposophisch eingestellten PolitikerInnen die Forde-rung erhoben wird, lebensweltlich orientierte Bereiche zu schaffen, um vor solchen Irritationen zu schützen, widerspricht das nicht nur dem Kalkül von Spencer-Brown, sondern wirft vor allem (ganz lebensweltlich) die Frage auf, wer das machen soll. Eine dafür notwendige Bedingung wäre, dass manche, die über das entsprechende Wissen dieser Möglichkeiten verfügen, es ande-ren, die es noch nicht wissen, z. B. ihren Kindern einfach nicht mitteilen. Oder dass eine Instanz geschaffen wird, die erlaubtes und verbotenes Wissen reguliert. Da dies alles weder realistisch noch wünschenswert klingt, soll hier das Gegenteil vorgeschlagen werden. Menschen so früh wie möglich mit Virtualität vertraut zu machen, um entsprechende Unterscheidungs-fähigkeiten zu fördern. So wie es uns allen, die wir mit Theater und Film

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

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vertraut sind, möglich war, zwischen Schauspiel, Werbung usw. zu unter-scheiden, wird es künftigen Generationen in ungeahntem Ausmaß möglich sein, zwischen virtueller und nicht virtueller Kommunikation zu wechseln, oder vielmehr wird diese Fähigkeit notwendig sein, um nicht den Anschluss an die Kommunikation im Weltsystem zu verlieren. Unsere Strategie schlägt also Egalisierung beim Zugang zum Verständnis virtueller Konstrukte vor, um mögliche Risiken zu neutralisieren. Diese Herausforderung wird uns ei-niges an Bereitschaft zu lernen abverlangen und es ist sicher nicht so, dass romantische und idealistische Erziehungsideale zureichende Anleitungen bereithalten werden. Auch die oft in solchen Zusammenhängen bemühten humanistischen Ideale werden uns zumindest nicht vollständig die Basis da-für bieten, um Menschen auf hoch abstrahierte und oft anonymisierte Kom-munikation vorzubereiten. Jedenfalls werden aber gerade auch die anderen pädagogischen Zielsetzungen an Bedeutung gewinnen, weil auch die Anfor-derungen an die emotionale Stabilität steigen, je unübersichtlicher die Welt wird. Aber nochmals: Die Zunahme der Unübersichtlichkeit ist eine Folgeer-scheinung der zunehmenden kommunikativen Integration der Welt-gesellschaft und daher nicht vermeidbar. Vieles deutet daraufhin, dass das (Ich-) Bewusstsein ein durch Wechsel-wirkung mit sozialen Umwelten stark kulturell geprägtes Konstrukt ist, das mit all dem gut zu Recht kommt, was es als erwartbar einschätzen kann (Singer 2002, 73) Demnach verhält es sich nicht so, dass es umweltun-abhängig förderliche oder schädliche Einflüsse gibt, sondern nur angemes-sene oder unpassende. Genauso wie das eben Gesagte nicht bedeuten soll, dass es nicht sehr wichtig wäre Kindern sinnliche Erfahrungen zukommen zu lassen, scheint auch umgekehrt nichts dagegen zu sprechen schon frühzei-tig darauf vorzubereiten, dass wir in einer hochtechnisierten Welt leben, in-nerhalb derer es auch große Kommunikationsstrukturen gibt. Wenn wir Eu-ropäer heranziehen wollen, die sich in erster Linie in einer Gemeinschaft mit ca. 500 Millionen anderen Menschen geborgen fühlen sollen, kann es nicht sinnvoll sein, Heranwachsenden vorzugaukeln, die Gesellschaft wäre durch dörfliche Strukturen integriert. Für menschliche Kommunikation ist es sehr wichtig, sich in Andere hinein-versetzen zu können und Erwartbarkeiten abzuschätzen. Dies erfolgt bei Kommunikation unter Anwesenden vor allem über das Senden und Empfan-gen sinnlich wahrnehmbarer Signale (durch Gestik, Mimik und Stimmlage),

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und auch hier wird nicht immer die Wahrheit gesagt. Wer das rechtzeitig lernt, hatte dadurch immer schon einen Startvorteil und konnte Routine ent-wickeln die dann von externen Beobachtern (wie z. B. Personalmanagern) als Kommunikationsstärke oder soziale Kompetenz gelobt wird. Ein solcher Mensch wird sich dadurch auch immer wohler fühlen und kann mit wech-selnden Umwelten besser zu Recht kommen. Für die Zukunft wird es aber wichtig sein, auch in Kommunikationen, die nicht diese sinnlichen Orientie-rungsangebote bereithalten, sich sicher fühlen zu können.

Was bedeutet das für die Demokratie?

Auch hier scheint es zunächst angebracht wieder auf die systemtheoretische Unterscheidung von Fremd- bzw. Selbstbeschreibung zurück zu kommen. Das politische System muss sich als für alles zuständig erklären und seine diesbezüglichen Limitierungen kommunikativ möglichst verdecken. Parteien müssen Wahlen gewinnen und werden daher immer mehr versprechen, als sie halten können. Würden PolitikerInnen immer die Wahrheit sagen müssen oder tatsächlich sagen, würde das die Offenheit von zukünftigen Entschei-dung so erheblich einschränken, dass es so betrachtet gar nicht mehr wün-schenswert erscheinen kann. Auf die Diagnose von möglicher Politikver-drossenheit junger Menschen, mit der Forderung nach mehr Ehrlichkeit in der Politik zu reagieren, kann daher nicht als ausreichende Reaktion verstan-den werden. Oder auch Befragungen von jungen Menschen was sie sich denn von der Politik wünschen, sind insofern beschränkt sinnvoll, als sie zu stark von der Selbstbeschreibung des politischen Systems getragen sind, die davon ausgeht, die Politik könne zentral die gesamte Gesellschaft steuern. Es wird dadurch vor allem kein Verständnis von der Funktionsweise und den komplexen Zusammenhängen vermittelt, durch das Politik und ihre Ent-scheidungsfindung nachvollziehbar würde. Wir gehen davon aus, dass ein/e „gute/r“ DemokratIn jemand ist, der/die gelernt hat, dass gebrochene Versprechen notwendig zur Politik gehören und eben keinen Grund dafür bieten dürfen, die Demokratie in Frage zu stellen, sondern es vielmehr als Herausforderung zur aktiven Beteiligung verbuchen. Genauso wie Spiele, die man immer gewinnt, oder Gesprächspartner, die immer zustimmen, keine besondere Herausforderung darstellen, sollte Poli-tik als das vermittelt werden was es ist: ein kommunikativer Prozess, an dem sehr viele teilnehmen und daher für den/die Einzelne/n entsprechende Limi-

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tierungen gibt, die aber umgekehrt die Freiheit vor Willkürentscheidungen anderer garantieren. Auf Politikverdrossenheit mit Analogien zu Verkaufs-strategien von Wirtschaftsunternehmen, das Kunden verloren hat, zu reagie-ren, kann daher wenn überhaupt, nur ein sehr kurzfristig Erfolg versprechen-der Ansatz sein. Die Enttäuschungen werden durch solche Verfahren nochmals dupliziert, weil demokratische Politik niemals so einfach ablaufen können wird, wie durch solche Analogien aber suggeriert wird. Insofern erachten wir es für wesentlich realitätsnäher, Politik über interakti-ve Spiele zu vermitteln, besonders deshalb, weil dort immer auch mit nicht kalkulierbaren Entscheidungen anderer zu rechnen ist; dieser Umstand ist für das Wesen von Politik wesentlich mehr konstitutiv, als es eine formalisierte Beschreibung von Institutionen alleine je vermitteln könnte. Diese These kann in Bezug auf die hier zur Verhandlung stehende Frage-stellung natürlich als eine recht – vielleicht sogar zu – eindeutige Antwort verstanden werden. Sie muss daher insofern eingeschränkt werden, als damit kein Exklusivanspruch erhoben werden darf, und auch das realistischste On-line-Spiel kann nur einen Baustein im Prozess politischer Bildung darstellen und eben auch nur gewisse Aspekte der Politik abbilden. Der besondere Wert ist aber nach unserem Dafürhalten der, dass gerade jene Aspekte der Politik, die in anderen Medien unterbelichtet bleiben müssen, auf diesem Weg übermittelt und deutlich dargestellt werden können.

Wechselwirkungen

Eine andere Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt ist, wie weit umgekehrt zu erwarten ist, dass Online-Welten Einfluss auf das politische System nehmen werden. Wenn davon auszugehen ist, dass PolitikerInnen durch die Möglichkeit soziale Interaktionen aus einer anderen Perspektive beobachten können und dadurch neue (Selbst-)Reflexionsmöglichkeiten ent-stehen, könnten sich weitere Kopplungen zwischen realer und virtueller Welt ausbilden. Auch die meist hierarchiearmen Strukturen von Foren, die eigent-lich zu jedem Online-Spiel angeboten werden, können Rückkoppelungen zum politischen System darstellen. Wenn jeder/e die Möglichkeit hat, sich offen zu den Leistungen der PolitikerInnen zu äußern und dies auch für Poli-tikerInnen einsehbar ist, fällt die hoch problematische Barriere weg, die sich auf Grund des Machtgefälles zwischen PolitikerInnen und Publikum gestellt hatte. Damit kann vielleicht sogar eine seit der Antike bestehende und oft

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thematisierte Problemstellung entschärft werden. Nicht zu vergessen ist selbstverständlich die massive Irritation von autoritären Regimen, die durch Online-Kommunikation entstanden ist. Wenn durch Angebote, spielerisch verschiedene Regierungsformen auszuprobieren (wie das auch in nicht ex-plizit politischen Spielen oft möglich ist), angenommen wird, dann schärft das sicherlich auch den Blick von weniger politisch interessierten Menschen. Interesse und nicht unerfüllbare Ideale, scheint überhaupt das Wichtigste zu sein, was das politische System für sich in seiner Umwelt erzeugen muss. Die Hoffnung, die mit der hier vertretenen Perspektive zum Ausdruck kommt, zielt ganz klar auf technische Entwicklungen, die nicht bekämpft sondern verstanden werden sollen, um sie kontrollieren zu können. Im Ge-gensatz zu idealistischen Vorstellungen, die auf Konsens hoffen, oder zu kommunitaristischen, die auf Re-Regionalisierung hoffen, halten wir es für möglich und auch erstrebenswert, dass die Weltgesellschaft Kommuni-kationsmedien entwickelt, die es ermöglichen produktive Konflikte auszu-tragen und auf diesem Weg weitere Entwicklungen evolutionär generiert werden, die aus heutiger Perspektive überhaupt nicht absehbar sind. Aus die-ser Sicht sind dann Horrorszenarien weniger beunruhigend, obwohl wir auch Beiträge von dieser Seite in ihrer Wirkung als funktionales Äquivalent zu Immunsystemen nicht unterschätzen wollen. Bevor wir im nächsten Kapitel ein konkretes Beispiel eines Online-Spiels vorstellen, das sich explizit zur Aufgabe gemacht hat auch als pädagogisches Medium einsetzbar zu sein, um jungen Menschen die Funktionsweise von Politik zu verdeutlichen, werden zunächst die Thesen zusammengefasst:

• Politik ist nicht durch Ideale oder durch Definitionen zu vermitteln. • Konstruktivismus kann offene Kommunikationssysteme erklären. • Konstrukte und virtuelle Welten stehen in keinem prinzipiellen Ge-

gensatz zur Realität, sondern sind Bedingungen für Kommuni-kationen mit vielen Teilnehmern. Politik und Massenmedien arbei-ten daher von je her mit Konstrukten und es ist daher für die Integra-tion großer sozialer Gemeinschaften notwendig, dass möglichst viele Teilnehmer diese Logik auch verstehen.

• Rückwärtsgewandte Problemlösungsstrategien sind unrealistisch und auch nicht wünschenswert.

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

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Die Umsetzung eines Online-Politikspiels

Die Zielgruppe im Spiel und ihr Verhältnis zur Politik

Junge Menschen zwischen 15 und 25 Jahren haben im Vergleich zu früheren Generationen viele Möglichkeiten unterschiedliche Interessen zu entdecken und ihnen nachzugehen. War Politik bis spät in die 70er Jahre ein wesentli-cher Teil öffentlicher Kommunikation, so hat sich ihre Bedeutung – nicht zuletzt durch das Aufkommen von Massenmedien – deutlich verringert. Die aktuelle Studie EUYOUPART 2003 – 200510 hat mit ihren sowohl quan-titativen als auch qualitativen Untersuchungsmethoden einige bemerkens-werte, aber nicht unbedingt erstaunliche Fakten ans Tageslicht geholt. So spielt die Schule neben dem Elternhaus, den Freundeskreis und dem Me-dienkonsum eine herausragende Rolle bei der Erziehung zur politischen Par-tizipation. Gerade politische Diskussionen im Klassenzimmer und/oder die Mitgliedschaft bei Schülerorganisationen überzeugen die Jugendlichen vom Sinn der Politik. Deshalb sind auch jene Jugendlichen nach dem Schul-abschluss und in ihrer Freizeit politisch aktiv, die sich bereits in der Schule politisch betätigt hatten. EUYOUPART zeigte auch, dass nur ein Fünftel der Jugendlichen aus poli-tisch sehr aktiven Familien stammt, 30% der Jugendliche Freunde haben, die sich für Politik interessieren und lediglich 16% in Freundeskreisen verankert sind, in denen starkes politisches Engagement gelebt wird. Aber auch der Medienkonsum hat mit einer möglichen politischen Beteilig-ung Jugendlicher zu tun. Wer Zeitungen liest oder sich über das Internet in-formiert, ist eher politisch aktiv als jemand, der den Großteil der Nachrichten über das Fernsehen verfolgt.

Das Onlinespiel Powerofpolitics.com

Nach einer Entwicklungszeit von knapp eineinhalb Jahren startete im No-vember 2005 das Browserspiel und Informationsportal www.power-ofpolitics.com. Für die Entwicklung zeichnen sich die CU-Media Agentur von Tim Preuster, der unter anderem auch das Portal des Österreichischen Kulturinstituts in New York entworfen hat, und dem Politikwissenschafter

10 EUYOUPART (2003-2005) ist ein von der EU-Kommission gefördertes länderübergrei-

fendes Projekt. Ziel dieses Projekts war die Entwicklung eines neuen Messinstruments für das politische Partizipationsverhalten Jugendlicher in Europa.

Volker Hafner und Peter Merschitz

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Peter Merschitz, langjähriger Herausgeber und Verlagsleiter der Winside VerlagsgmbH, verantwortlich. Ziel war es, erstmals Virtualität und Realität in einem modernen und ziel-gruppenadäquaten Browserspiel zusammenzuführen. Durch die Integration von mehr als 250 realen deutschsprachigen Medien, ist es den Spielent-wicklern gelungen, tagesaktuelle Themen als wesentliche strategische Kom-ponenten real einzubinden. Damit hebt sich das Spiel von herkömmlichen Browserspielen ab indem es die Grenze zwischen Realität und Virtualität entschärft und dies auch zu erkennen gibt. Das Ziel für den/die SpielerIn ist es, in der virtuellen Welt Macht zu erringen. Dies gelingt vor allem durch richtiges Einschätzen von wirklichen Ereignissen. Um diesen Eindruck noch zu verstärken, wurde die Spielwelt in das heutige Österreich, Deutschland, Schweiz und Liechtenstein mit all ihren politischen Bezirken darüber liegenden Bundesländern und tatsächlichen Ein-wohnerzahlen, projiziert. Den Betreibern war es wichtig, sich nicht an parteipolitische Inhalte zu bin-den und auch den Wettbewerb im Spiel nicht analog zu ideologischen Konf-liktlinien ablaufen zu lassen. Dadurch können SpielerInnen, unabhängig von ihren eigenen politischen Vorstellungen, mit allen anderen SpielerInnen, mögliche Koalitionen und Verbindungen eingehen, ohne dass parteipoliti-sche Inhalte kommuniziert werden können oder müssen. Insofern steht die spezifische Kommunikationslogik des politischen Systems im Zentrum der Betrachtung und es wird dadurch ermöglicht, diese, und das Zustandekom-men von Entscheidungen zu reflektieren. In Zeiten einer zunehmenden Entpolitisierung und einer damit oft einher-gehenden Politikverdrossenheit bietet powerofpolitics.com Bedingungen, junge Menschen wieder näher an das Thema Politik heranzuführen, ohne aber Wertigkeiten und Ideologien vorzugeben. Schlussendlich bleibt es für die Spielteilnehmer eine spannende virtuelle Unterhaltung. Die Auseinan-dersetzung mit Politik ist dadurch nicht an die Limitationen der Selbstbe-schreibung der Politik gebunden, sondern zeigt, dass die Anschlussfähigkeit von Kommunikation, das heißt ihr Erfolg, durch das vorkommen unter-schiedliche Positionen dynamisiert wird.

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

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Wesentliche Elemente des Spiels sind: • ein Flash-Interface • über 2000 echte Schlagzeilen täglich von mehr als 250 deutsch-

sprachigen Medien • 18 Themenbereiche, in denen man Wissens- und Öffentlichkeits-

punkte sammeln muss • reale Bezirks-, Landes- und Bundesgrenzen als battle-ground • reale Wählerschaften laut Statistischen Zentralamt • Gründen einer eigenen Partei • regelmäßige Wahlen • täglich abgerechnete Meinungsumfragen • Wahlkampfteams, die je nach Meinungsumfragen Aufträge erhalten

müssen • mehr als 120 Termine, um die Popularität in der Bevölkerung zu

steigern • Auftritte bei TV-Diskussionen gegen politische Kontrahenten • jeden Wahlsonntag Hochrechnungen und Wahlergebnisse live • Koalitionsverhandlungen, um Teil der Regierung zu werden • Gesetzesbeschlüsse zu den 18 Themenbereichen

Volker Hafner und Peter Merschitz

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Abb. 1: Politikerbüro in PowerofPolitics.com

Wer spielt PowerofPolitics.com?

2%

1%

2%

5%

8%

20%

29%

33%14 bis 19 Jahre

20 bis 24 Jahre

25 bis 29 Jahre

30 bis 34 Jahre

35 bis 39 Jahre

40 bis 44 Jahre

45 bis 49 Jahre

50 + Jahre

Abb. 2: Altersstruktur der PoP - Spieler

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

215

29%

28%

24%

19%

Derzeit Student/in

Derzeit Schüler in AHS/BHS

Sonstiges

Berufstätig

*10 %

Matura

jetzt berufstätig

--------------------------

*10 %

Pflichtschule

jetzt berufstätig

--------------------------

*9 %

Abgeschl. Studium

jetzt berufstätig

Abb. 3: Ausbildungsstand bzw. derzeitige berufliche Tätigkeit

Vorteile des Spiels für die Zielgruppe der 16- bis 29-jährigen aus pädagogischer Sicht

Förderung der politischen Bildung

Der Kampf gegen Politikverdrossenheit – gerade in der jüngeren Zielgruppe – sollte bereits in einer frühen Phase der politischen Sozialisation begonnen werden. Politik wird im Rahmen des Spiels als notwendiges, spannendes und unberechenbares Instrumentarium der Machtentfaltung wahrgenommen. Be-reits nach der ersten eigenen Regierungsbildung erfährt der junge Mensch die Schwierigkeiten des Verhandelns und des Kompromissfindens. Dadurch werden die Schwierigkeiten unterschiedliche Positionen zu integrieren, sehr deutlich vermittelt. Auch die Offenheit kommunikativer Abläufe werden verdeutlicht, da jeder SpielerIn bekannt ist, dass der weitere Erfolg, von kei-ner Seite zentral gesteuert werden kann, sondern von Umwelteinflüssen, wie dem Verhalten anderer SpielerInnen, oder von der Berichterstattung der Massenmedien abhängt. Durch das Erkennen parallel und ähnlich ablaufender Entscheidungsmuster, sowohl im Spiel als auch im realen politischen Leben findet er/sie das not-wendige Interesse am politischen Tagesgeschehen.

Volker Hafner und Peter Merschitz

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Förderung von gewaltfreien Online-Spielen als taugliche Unterhal-tungsmedien

powerofpolitics.com sieht sich als gewaltfreie Spielalternative, die langfris-tig unterhalten kann. Strategisches Handeln und intelligentes Taktieren ste-hen hier im Vordergrund.

Förderung der Meinungsvielfalt und der freien Verfügbarkeit von In-formationszugängen als allgemeines Recht

powerofpolitics.com bietet den SpielerInnen aktuelle, europarelevante Infor-mationen von rund 250 deutschsprachigen Medien. Dadurch lernt er/sie Themen, Inhalte und Interessenslagen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und neu einzuschätzen.

Förderung des gemeinsamen europäischen Gedankens und der ge-meinsamen europäischen Identität

Im Spiel werden europäische Themen als solche wahrgenommen und die notwendige gemeinsame Identifikation über Länder hinweg kann stattfinden. Durch die Gleichschaltung internationaler Medien und der darin enthaltenen europäischen Themen innerhalb des Spiels werden eigene nationale Proble-me auch als europäische Probleme erkannt, da ähnliche Probleme auch in anderen europäischen Ländern existieren.

Förderung von sozialer Verantwortung und Solidarität.

Die SpielteilnehmerInnen sind in Parteien organisiert. Durch das rasche Ver-stehen, dass Erfolg nur im gemeinsamen Handeln erreicht werden kann, entwickelt sich nahezu automatisch eine Verantwortung für andere Partei-mitglieder, da eine Kette nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Neu dazukommende SpielerInnen werden von den schon routinierten und sich länger im Spiel befindlichen SpielerInnen ins Spiel eingeführt und ge-leitet. Da eine Partei auch immer eine soziale Gruppe darstellt, die an sich und für sich existiert, grenzt sie sich durch verbale und nonverbale Aktionen von anderen Gruppen ab. Angriffe von anderen Parteien, werden in einem be-wusst solidarischen Akt gemeinsam abgewehrt. Dadurch sollen Signale nach außen, aber auch nach innen gesendet werden, die die Dichtheit der Gruppe nochmals erhöhen.

Systemtheoretisch-Konstruktivistische Überlegungen

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Förderung von Konfliktlösungskompetenz

Die SpielerInnen lernen innerhalb des Spiels sehr schnell, dass ein Weiter-kommen und Weiterentwickeln nur durch einen breiten Konsens erreicht werden kann. SpielerInnen und Parteien, die in ihrer Kommunikation agg-ressiv, forsch und teilweise beleidigend auftreten, werden bei Regier-ungsbildungen meist nicht berücksichtigt und gemieden. Erst durch das Ein-schwenken in das allgemein akzeptierte Konsensverhalten entsteht die neuerliche Möglichkeit Erfolg zu haben. Bei Gesetzesverabschiedungen innerhalb des Spiels muss auf die unter-schiedlichen Wünsche und Ziele der Koalitionspartner eingegangen werden. Nur durch ein vorsichtiges Abtasten des anderen und den Willen diesen auch zu verstehen können Konflikte vermieden und ein gemeinsamer Erfolg in der Regierungsarbeit garantiert werden.

Literatur

Anders, Günther (1980), Die Antiquiertheit des Menschen. 5. Aufl., München.

Baecker, Dirk (1999), Organisation als System, Frankfurt/Main.

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Foerster von, Heinz (1985), Einführung in den Konstruktivismus, München.

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Luhmann, Niklas (1982a), Interaktion, Organisation, Gesellschaft, in: Soziologische Aufklärung Bd. 2, 2. Aufl., Opladen, 9-21.

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219

IV. Computerspiele als gesellschaftliches Phänomen

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

221

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Ge-sellschaft und Politik durch eSport

Jörg Müller-Lietzkow

Zusammenfassung

Die nachfolgende Untersuchung stellt sich die Frage, wie zukünftig das wettkampfmäßige Spielen von interaktiven digitalen Unterhaltungsprog-rammen, also Computer- und Videospielen, in den Kanon von Medienaktivi-täten einzuordnen ist. Vieles spricht dafür, von einem neuen Sport, dem e-Sport, auszugehen. Um allerdings ein Gleichheitszeichen zwischen eSport und Sport zu setzen, bedarf es einer entsprechenden Analyse des Ist-Standes. Anhand einer empirischen Erhebung (n=195) sowie einer über sieben Ver-gleichsebenen angelegten Analyse wird eine definitorische Einordnung des eSports vorgenommen. Die Quintessenz an dieser Stelle ist, dass es sich bei eSport eindeutig um eine moderne Form von Sport handelt, die 2050 ebenso wie heute Fußball oder Tennis, ganz normal sein dürfte. Die Folgen dieser Gleichsetzung sind u. a. die Auswirkungen in der Gesellschaft sowie der Po-litik, die eSport als Sport entsprechend bewerten und gratifizieren bzw. sank-tionieren müssen.

1. Einleitung

Sport – Spiele (Sportspiele) sind seit Jahrtausenden eine gesellschaftlich be-liebte Form der Unterhaltung. Dabei steht sowohl das aktive Sporttreiben als auch das passive Zuschauen beim Sport hoch in der Gunst der Gesellschaf-ten. Frühe Olympische Wettbewerbe zeugen von der historischen Bedeutung und noch heute zelebrieren wir die Olympischen Spiele als Höhepunkt des Pluralismus des globalen Weltspitzensports. Auch die Politik hat Sport schon lange und früh in ihre Mitte aufgenommen. Sei es in der Antike (Pa-nem et circenses) oder in der Neuzeit, wie jüngst die Fußballweltmeister-schaft im eigenen Land – Politik nimmt sowohl in der Finanzierung, als auch bei der Gestaltung massiven Einfluss auf den Sport. Dafür nutzt Politik auch durchaus Sport als Vehikulum um Sportwerte und Leistungen sich zu eigen

Jörg Müller-Lietzkow

222

zu machen, Leistungsfähigkeit zu demonstrieren und Öffentlichkeit zu gene-rieren.1

Zugegeben, heute ist für viele der Begriff eSport noch sehr weit von dem Verständnis herkömmlichen Sports entfernt, wenn überhaupt ein Wissen über diese neue Art von Sport besteht.2 eSport wird dabei häufig zu Unrecht von den Kritikern gleichgesetzt mit einfachem Computer- und Videospie-len3. Dabei unterscheidet sich die Motivlage grundlegend. Beim eSport steht der Leistungsgedanke im Vordergrund, beim einfachen Spiel die Befriedi-gung des Spieltriebs bzw. die Gratifikation durch den Fortgang des Spiels (vgl. Schlütz 2002). Der Forschungsstand (insbesondere in der deutschspra-chigen Literatur) zum eSport ist grundsätzlich (Stand Mitte 2007) sehr ge-ring. Bisherige, allgemeine Nutzerstudien zu digitalen Spielen4 konzentrier-ten sich vor allem auf drei wesentliche Fragestellungen: Die Wirk-ungsfragestellung von realer und virtueller Gewalt; die Frage des (Lern-) Transfers und die Frage der Spielerpräferenzen (inkl. Konsumentscheidun-gen), wobei hier vielfach die Grenzen zwischen Wissenschaft und Marktfor-schung verschwimmen. Als Erklärungsmuster zur Faszination wird sehr häu-fig auf den Flow-Ansatz (Csikszentmihalyi 2002) verwiesen (z. B. Sherry 2004; Sweeter & Wyeth 2005). Aktuell konzentriert sich auch ein Teil der Forschung auf Online-Rollenspiele (MMORPGs5; zur Übersicht Castronova 2005), wobei hier sowohl die Sozialbeziehungen als auch die Frage nach Immersion und Sucht im Mittelpunkt stehen. eSport: Grundsätzlich wird das wettkampfmäßige Spielen von Computer- und Videospielen als eSport bezeichnet. Dies geschieht in mannigfaltigen Formen und führt zur Bildung von neuartigen Vereinsstrukturen (Clans) und Trainings- und Wettkampfformen (Vermengung virtueller und realer Wett-kampfmodelle). Sieht man zusätzlich die Fakten, schaut über den „Teller-rand“ hinaus und beobachtet global die Entwicklungen im eSport, so stellt 1 Hinweis: Der Aufsatz basiert in Teilen auf einer stark verkürzten Darstellung und Fassung

aus dem Jahr 2006 (erschienen in merz Wissenschaft 12/2006). 2 Eine Umfrage von Sozioland (2005, 106f.) zeigt allerdings, dass mittelfristig die Compu-

ter- und Videospieler immerhin zu 61% glauben, dass sich eSport zum Sport der Zukunft ausweiten wird (n=8.000).

3 Zu den Grundlagen über die Geschichte und Genres von Computer- und Videospielen vgl. u. a. Kirriemuir (2006); Demaria & Wilson (2004); Kent (2001).

4 Der Begriff digitale Spiele wird synonym für Computer- und Videospiele verwendet. 5 Unter MMORPGs werden Massively Multiplyer Online Role Playing Games verstanden.

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

223

man schnell fest, dass vor allem in Asien, aber auch in Nordamerika eSport inzwischen dem normalen Sport immer mehr gleichgestellt wird (Stars, staatliche Förderung, Aufnahme in den nationalen Spitzensport etc.).6 In Ko-rea besuchen regelmäßig über 100.000 Zuschauer Live-Wettkämpfe und drei Fernsehsender berichten rund um die Uhr über eSport. Gespielt werden Ac-tionspiele (Ego-Shooter), Strategiespiele (Echtzeitstrategiespiele) sowie Sport- und Rennspiele (Fußball, Autorennen) sowohl in Einzel- als auch Teamdisziplinen. In Deutschland schätzt der deutsche eSportbund (eSB7) die Anzahl der Aktiven heute auf ca. 1 bis 1,5 Mio. Spieler, die in Ligen (z. B. Electronic Sports League (ESL), World Cyber Games (WCG) etc.) aktiv gegeneinander antreten. Der größte Europäische Ligabetreiber (ESL bzw. Turtle Entertainment Group) hat zudem jüngst partiell den Fernsehsender Giga (ehemals NBC) übernommen und wird zukünftig auch in Deutschland eSport intensiv medial übertragen (Satellit und IPTV). Damit hat die gesam-te Entwicklung eindeutig international relevante gesellschaftliche und kultu-relle Bedeutung.8 Trotz dieser Fakten ist die Frage offen: Ist eSport eigentlich Sport? Eine Überprüfung soll anhand von sieben Dimensionen sowie einer empirischen Erhebung in diesem Beitrag vorgenommen werden. Der Artikel ist wie folgt untergliedert: Das zweite Kapitel beschäftigt sich umfassend mit der Fragestellung ob e-Sport Sport ist. Dabei wird jenseits eines rein physiologischen Diskurses über Sport auf einer Metaebene ausgehend von der Definition, was Sport eigentlich ist, anhand sieben zentraler Kriterien (Physiologie, Psychologie, Strukturen, Wettkampfsysteme, Gesellschaft, Medialisierung, Technisie-rung) überprüft, ob eSport die Kriterien klassischen Sports erfüllt. Empirisch basiert dieser Vergleich auf sechs explorativen Experteninterviews (Ligabe-treiber, Spieler, Funktionäre) sowie zwei Umfragen (Erhebung Herbst 2005 und Sommer 2006) unter eSportlern (n=195 und n=500). Quintessenz ist

6 Experten-Schätzungen gehen heute z. B. soweit, von annähernd 20.000.000 eSportlern in

ganz Asien auszugehen. Allerdings werden hier häufig Online-Spieler und eSportler gleichgesetzt.

7 Der deutsche eSportbund ist der zweite Anlauf die Ligen in Deutschland zu bündeln. Ziel-stellung ist die langfristige Integration des eSports in das deutsche Sportsystem (Website: http://www.e-sb.de, 5.7.2006).

8 Nicht zuletzt die 2008 erstmals in Deutschland stattfindenden World Cyber Games (O-lympischen Spiele des eSports) verdeutlichen die interkulturelle Komponente von eSport.

Jörg Müller-Lietzkow

224

eine an die empirischen Ergebnisse angelehnte Definition von eSport. • Der dritte Abschnitt nähert sich den Konsequenzen der Identifikation von

eSport im Kanon des traditionellen Sports. Hierbei werden die mögli-chen Auswirkungen auf die angesprochenen Dimensionen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft diskutiert. Im Mittelpunkt steht dabei auch die Frage, ob eSport ein gesellschaftlich und politisch gewünschtes Bild des Sports zeichnet.

• Der vierte Abschnitt widmet sich dem Zusammenhang von Medien (dem im Profisport relevanten Kommunikationssystem) und eSport als rekur-sivem Phänomen. Auffällig ist die hohe Interaktionsdichte, die im Ver-gleich zum eher passiv rezipierten Zuschauersport neuen Dimensionen des Sporterlebens erlauben. Auch bildet sich eine neue Kaste von „Sportstars“ heraus, die nicht im Zusammenhang mit „Bildern“ bisheri-ger Modellathleten als typische Vorbilder dienen.9

• Im fünften und letzten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein kurzes Fazit gezogen. Die Arbeitsergebnisse sind dabei die Klä-rung der Forschungsfrage, ob eSport als Sport betrachtet werden kann, mögliche Auswirkungen und Schlussfolgerungen im gesellschaftlichen Kontext sowie die Folgen für die mediale Verwertung. Insbesondere die Erkenntnis der Notwendigkeit weiterführender empirischer Forschung wird hervorgehoben.

2. Empirische Forschung und Vergleichsebenenanalyse zum traditionellen Sport

Wie in der Einleitung schon ausgeführt, weiß man aus wissenschaftlicher Sicht heute noch recht wenig über eSport.10 Um sich dem Phänomen zu nä-hern und zunächst grundlegend die Frage zu klären, ob es sich überhaupt um Sport handelt, soll in zwei Stufen vorgegangen werden. Erstens wurden e-

9 Nicht zuletzt sehr kryptische Namen (z. B. „Grubby“; „Forest“ oder als Team „Fnatic“

sind die Namen der Spieler / Teams des Jahres 2006, ausgezeichnet durch ESL bei der Games Convention 2006) deuten auf dieses veränderte Bild hin (vgl. auch http://www.esl.eu/de/css/news/27184/, Stand: 29.8.2006).

10 Wichtig an dieser Stelle zu erwähnen ist, dass es durchaus Forschung zu Mehrspielerev-ents gibt, die aber nicht mit eSport verwechselt werden sollten. (Berichte über Online-Rollenspiele und vereinzelte Beiträge zu LAN-Events) (Jansz & Martens 2005). LAN-Events können als „lokale“ eSport Events angesehen werden. Dies greift aber zu kurz, da eSport sowohl LAN als auch andere netzwerkbasierte Spielformen betrifft.

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

225

Sportler befragt zu Training, Wettkämpfen, Kommunikation und Rahmen-bedingungen11 und zweitens wird ein Vergleich über sieben Ebenen, die man als Rahmenbedingungen für Sport identifizieren kann, durchgeführt, der darüber Aufschluss geben soll, ob es sich überhaupt um Sport im herkömm-lichen Sinn handelt.

2.1 Empirische Erhebung und wichtigste Ergebnisse

Im Herbst 2005 wurde im Rahmen eines umfassenden Forschungsvorhabens zu Computer- und Videospielen eine Befragung12 bei eSportlern durchge-führt. Der Fragebogen wurde auf Basis von vorher geführten explorativen Expertengesprächen13 (vgl. hierzu Hopf 2003; Hoffmann 2005; Lamnek 2002) entwickelt und in der Auswertung codiert und anonymisiert ausgewer-tet. Im Vordergrund der Befragung standen Daten zur Nutzung bei eSport-lern als Intensivspielern.14 Ein besonderer Fokus wurde u. a. auf die Trai-ningsaktivitäten gelegt. Der Fragebogen wurde in einem zweifach geschichteten Verfahren zufällig an eSportler via Download verteilt. Die erste Auswahl fand in Abstimmung mit dem deutschen eSportbund statt, in-dem dieser vier führende eSport-Community-Websites angeschrieben hat. Die weitere Verteilung oblag dann in der zweiten Schicht den vier Commu-nity-Seiten (u. a. http://www.readmore.de; http://www.clanforums.com), welche Ihre Mitglieder angeschrieben bzw. informiert haben.15 Die Stichpro-benauswahl ist dabei nicht zufällig, sondern selbstselektiv in dem Sinn, als dass natürlich nur Leser der Websites Zugriff auf den Fragebogen hatten. Auch konnte so nicht gesteuert werden, dass aus allen Ligen Mitglieder be-fragt wurden. Der Rücklauf (n=220) kann aufgrund eines recht kurzen Be-fragungszeitraums (14 Tage) als gut erachtet werden. Vollständig ausgefüllt und somit auswertbar waren n=195 Fragebögen. Trotz der beschränkt zufäl-

11 Der Fragebogen wurde u. a. auf Basis von sechs explorativen Expertengesprächen sowie

entsprechenden Literaturrecherchen zum Sport und dessen Training entwickelt. 12 Grundlegend wurde zur Entwicklung der Befragung auf Diekmann (2001) zurückgegrif-

fen. 13 Befragt wurden Spieler, Funktionäre, Ligabetreiber, Hersteller von Computer- und Video-

spielen. 14 Von Intensivspielern wird in dem Sinn gesprochen, als dass eSportler im Normalfall min-

destens mehrmals innerhalb einer Woche aktiv für eine längere Zeit spielen. 15 Einige Community-Mitglieder haben den Fragebogen auch noch auf weitere Homepages

gestellt.

Jörg Müller-Lietzkow

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ligen Auswahl kann dieser Rücklauf als repräsentativ angesehen werden. Dies kann damit begründet werden, dass ähnlich angelegte Studien (z. B. Game Research 2002, Jansz & Martens 200516) entsprechende Ergebnisse bei alternativen Vorgehensweisen aufweisen (insbesondere Deckungsgleich-heit im Bezug auf Alter, Geschlechtsverteilung, Geräteausstattung (PC), Internetzugang (100%), Spielzeiten und Präferenzen). Darüber hinaus be-steht auch aufgrund der herrschenden Unübersichtlichkeit des Forschungs-feldes sowie der großen Grundgesamtheit kaum eine Möglichkeit durch standardisierte Stichprobenverfahren (z. B. geschichtet o. ä.) derzeit präzise-re Informationen als die gesammelten zu erhalten.17 Die zweite Erhebung war eine offene mit lediglich der Rahmenfragestellung, wie eSportler trainieren. Die Frage wurde an die Mitglieder der ESL als größten europäischen Ligabetreiber gestellt. Die teilweise sehr ausführlichen Antworten bestätigten die Ergebnisse der ersten Befragung. Eine qualitative Auswertung zeigte vor allem die hohe Korrelation von Spielerfolg und Trai-ningswissen. Zuerst fällt bei der Auswertung der vorliegenden Daten der ersten Erhebung ein starker Bias in Richtung von männlichen Teilnehmern auf (193/195).18 Im Schnitt waren die Befragten 21-22 Jahre alt und zu über 80% noch in Ausbildung (Schule und/oder Berufsausbildung). Damit erklärt sich leicht, dass 87 % der Befragten kein größeres verfügbares eigenes Einkommen ha-ben (unter 1.000 € pro Monat). Das teure Hobby eSport wird insofern von Eltern mit finanziert. Die meisten Spieler betreiben seit ca. 3-4 Jahren e-Sport, wobei der PC mit Abstand (99%) das am meisten (zumindest „regel-mäßig“) verwendete eSportgerät ist. Mit großem Abstand nutzen Spieler die Xbox (Onlinefähige Spielkonsole von Microsoft, 30%), wobei hier primär Renn- und Sportspiele im eSport gespielt werden.

16 Jansz & Martens haben direkt bei einer LAN-Party Daten erhoben, die Mitglieder der

Game Research Gruppe haben Fragebögen direkt verschickt. 17 Im Rahmen einer zweiten Erhebungswelle (2006/2007) soll anhand identifizierter Spieler-

typen allerdings mit alternativen Stichproben gearbeitet werden, die ein genaueres Bild für die einzelnen Spielerklassen erlauben.

18 Neben der Tatsache, dass ohnehin mehr Jungen/Männer als Mädchen/Frauen Computer- und Videospiele spielen, zeigt die Sozioland Studie aber, dass gerade eSport heute über-proportional von männlichen Spielern bevorzugt wird. Bestätigt wurde dieses Ergebnis durch die Game Research Studie ebenso wie durch Jantz & Martens, bei denen der Anteil männlicher Spieler ebenfalls jeweils weit über 90 % lag.

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

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Die am meisten regelmäßig betriebenen Spiele sind in Deutschland Ego-Shooter (65%), dicht gefolgt von Strategiespielen (64%). Sport- und Renn-spiele werden hingegen von nur ca. 25% der Spieler regelmäßig betrieben, wobei diese Größe mit der Konsolennutzung (XBox) stark korreliert. Über 50% spielen seit mehr als 2 Jahren in einer Liga und spielt regelmäßig e-Sport-Turniere (LAN-Parties). Die üblichen Trainingszeiten einer Trainingseinheit liegen zwischen zwei und vier Stunden (ca. 65%) und die meisten Spieler spielen drei bis vier Trainingseinheiten pro Woche (ca. 63%). Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem kooperativen Training, wobei hier Internettraining bevorzugt wird. 85% betreiben Taktiktraining, aber nur 15% auch ein entsprechendes Mentaltrai-ning. Videos zur Vorbereitung schauen etwa 65% und die aktive Kommuni-kation mit Teammitgliedern üben knapp die Hälfte (44%). 50% betreiben regelmäßig Ausgleichssport und immerhin 36% ein spezifischen Koordinati-onstraining (Auge-Hand). Grundsätzlich wissen über 88% der Befragten et-was über Trainingsprinzipien (z. B. Belastung und Erholung), halten sich aber nicht zwingend daran. Bezogen auf die Wettkämpfe herrscht ein wahrhaft olympischer Geist, denn 92% ist das gemeinsame Erlebnis wichtig, aber nur gut der Hälfte der Be-fragten der Turniersieg oder der Sieg in einer Liga. Auf Schiedsrichter mei-nen die eSportler, trotz der Tatsache, dass so genanntes „Cheaten19“ vor-kommt, verzichten zu können. Nur bei offiziellen Lanpartyturnieren erscheint ein solcher notwendig, den Rest sollen „Anticheattools“ (Software-lösungen) erledigen. Über 85% der Befragten stuften sich als Fortgeschritte-ne, Profis oder internationale Spitzenspieler ein. Damit kann davon ausge-gangen werden, dass die Befragten prinzipiell zu den Experten bezüglich eSport zählen und über hinreichende Erfahrungen verfügen.

Zusammengefasst kann der prototypische eSportler als männlicher Schüler oder Auszubildender (Durchschnittsalter 21/22) mit einem geringen Monats-einkommen (kleiner 1.000 €), dafür aber einem entsprechend höheren Zeit-budget identifiziert werden. Höheres Trainingsvolumen korreliert dabei ein-deutig (alpha=0,01; r=0,3 bei allen Befragten, wobei nicht alle die Zeitfrage

19 Unter Cheaten werden Regelverstöße durch den Einsatz technologischer Mittel (Software)

verstanden. Cheaten führt bei wiederholter Ausführung bei vielen Ligen zum Ausschluss der Spieler. Am ehesten vergleichbar ist Cheaten mit dem Foulspiel im Sport.

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korrekt beantwortet haben) mit einem höheren Wettkampfniveau, wobei die Spieler im Schnitt seit ca. 5 Jahren eSport betreiben, aber einen Vorlauf von weiteren 5 Jahren aktiven Computerspielens ausweisen. eSportler weisen dabei, wie der freie Antwortteil zeigte, eine sehr stark ergebnisorientierte Einstellung zu ihrem Hobby als Sport auf.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine dänische Studie (Game Re-search 2002). Man kann daher sogar zumindest für Europa davon ausgehen, dass eSport ähnlich betrieben wird und die Ergebnisse der vorliegenden Be-fragung auch internationale Relevanz haben.20 Die Erhebungsergebnisse ent-sprechen des weiteren den Erwartungen an Training und Wettkampf, die aus Sicht der traditionellen Trainingslehre vorherrschten.

2.2 Ähnlichkeiten und Unterschiede – ein Vergleich anhand von sieben Punkten

Will man sich der Frage, ob eSport tatsächlich Sport ist nähern, so bietet es sich neben der vorgestellten empirischen Erhebung an, jenseits einer reinen Definitionsanalyse von Sport21 (welche laut Tiedemann (2002, o. S.) ohnehin sehr problematisch ist) eine Ebene tiefer einzelne Segmente, die Sport heute charakterisieren, zu vergleichen. Hierzu werden nun anhand von sieben Ver-gleichsdimensionen die Positionen von Sport und eSport miteinander kont-rastiert.22 Die sieben Vergleichsdimensionen sind dabei nicht abschließend und vollständig, konzentrieren sich aber auf die zentralen Aspekte, um die es sowohl aus Sicht des Sports als auch des eSports gehen dürfte:

• Physiologie (körperliche Leistungsfähigkeit) • Psychologie (mentale Leistungsfähigkeit) • Strukturen (organisatorische Gestaltung zur Sportausübung) • Wettkampfsysteme (Leistungsvergleich)

20 Eine weitere, noch differenziertere Auswertung des umfangreichen Datenmaterials ist in

Vorbereitung. 21 Ansätze zur Definition von Sport vgl. u. a. Volkamer (1984); Cachey (1990); Heinemann

& Schaible (1990); Güldenpfennig (2000); Digel (1990). 22 Die Vergleichspunkte wurden aus verschiedenen Quellen zur Sportwissenschaft insofern

destilliert, als dass vor allem die Frage der inhaltlichen Diskussion im Vordergrund stand. Um einen weiteren Abgleich zu bekommen, wurden die Vergleichspunkte dann mit Top-Leistungssporttrainern (Bundestrainer Badminton) und Trainerausbildern (u. a. ehemali-ger Ausbilder an der deutschen Trainerakademie) diskutiert.

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

229

• Gesellschaft (institutionelle Verankerung) • Medialisierung (Präsentation des Sports in den Medien) • Technisierung: (Weiterentwicklung von Kleidung und Ausrüstung)

Physiologie

Mit Sport wird traditionell physische Ertüchtigung assoziiert (grundlegend zur Physiologie im Sport De Marées 1994). Diese findet allerdings zumeist in sehr unterschiedlichen Formen statt. eSport wird grundsätzlich mit techni-schem Sportgerät ausgeführt. Normalerweise wird er im Sitzen bzw. Stehen betrieben. Als Spielgerät stehen Eingabegeräte, wie Tastaturen und Mäuse oder Joysticks und Gamepads zur Verfügung. Der Spieler spielt häufig unter starkem Zeitdruck. Spieler müssen also a) sehr schnell ihr Spielgerät bedie-nen (Aktions- und Reaktionsschnelligkeit) und darüber hinaus b) sehr präzi-se agieren (Auge-Hand-Koordination).23 Schließlich dauern die Spiele unter-schiedlich lang. Entsprechend benötigen die Spieler eine gute Grundphysis für Turniere (LAN-Parties24). Hierzu betreiben insbesondere Spitzenspieler bewusst Ausgleichssport und Konditionstraining (auch bestätigt in der zwei-ten Erhebung). Vergleicht man die physischen Anforderungen z. B. allge-mein mit Schießsport, erscheint es so, als ob eSport sogar eine anspruchsvol-le physische Belastung bedeutet und sich keinesfalls vom traditionellen Sport unterscheidet. Auch die gezielte Beherrschung des Spielgeräts auf ei-ner bewegungsmotorischen / koordinativen Ebene bestärkt diesen Eindruck. Gemessen werden z. B. heute schon die APM (Actions per Minute) von en-gagierten eSportlern und das Training wird eindeutig auf eine Steigerung von der Geschwindigkeit und der koordinativen Fähigkeiten ausgelegt.

Psychologie

Die Komplexität der eSportspiele (alle Genres) überwiegt bei weitem nor-male Gesellschafts- aber auch Sportspiele. Entsprechend sind die Konzentra-tionsphasen während der Spiele sehr hoch. Die Handlungsfreiheit erlaubt es den Spielern teilweise komplexere Spielzüge als bei Realsportarten vorzu-

23 Grundlegend zu den koordinativen Fähigkeiten: Mechling 1994; Neumeier 1999; Meinel

& Schnabel 1998, insb. Kapitel 5. 24 LAN-Parties bedeuten, dass an einem Ort sehr viele Spieler (bis zu 2.000) zusammen

kommen und meist über ein Wochenende zahlreiche Spiele gegeneinander über ein loka-les Netzwerk austragen.

Jörg Müller-Lietzkow

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nehmen (z. B. ein Warcraft III-Match ist wesentlich anspruchsvoller in der Spielgestaltung als ein 110m Hürdenlauf). Taktik (verstanden als kurzfristige Handlung) und Strategie (verstanden als Wettkampfgestaltung) dominieren eSport, welcher somit z. B. dem Schachsport aber auch den strategischen Zügen beim American Football ähnlich ist. Vor allem die Teamwettkämpfe erfordern dabei zusätzlich den Einsatz (digitaler) Kommunikation (z. B. via Headset, Tastatur etc.). Umgekehrt zeigte gerade die erste empirische Unter-suchung, dass die eSportler aber auch die Sportpsychologieexperten sich bisher kaum aufeinander zubewegt haben, kaum Erkenntnisse über Training vorliegen. Im traditionellen Sport ist die Sportpsychologie elementar inte-griert und erforscht (grundlegend z. B. Hahn 1992; Gabler 1992). Somit kann eSport als „unentdecktes Land“ für die Sportpsychologie betrachtet werden.

Strukturen

eSport hat sich in seiner kurzen Existenz inzwischen sehr stark durch einen professionell organisierten Wettkampfbetrieb ausdifferenziert. Die Angebote werden von kommerziellen Anbietern aufgebaut (z. B. ESL, WCG, NGL, Gigaliga, Gamestarliga etc.). Diese Ligasysteme25 erlauben sowohl den Wettkampfbetrieb über das Internet als auch zusätzliche Lan-Turniere. Ne-ben den Ligen gibt es eine ganze Reihe von freien Turnieren und auch sehr viele Aktivitäten (freie Communities) ohne straff organisierten Spielbetrieb, die am ehesten mit Breitensport o. ä. vergleichbar sind. Im Gegensatz zum traditionellen Sport ist bislang aber noch immer nicht ein entsprechender Konsens über nationale und internationale Spitzenverbände und Strukturen erreicht worden, so dass bisher das „Box“-Phänomen (mehrere Verbände WBA, WBC etc. krönen ihre Weltmeister in zahllosen Gewichtsklassen) anzutreffen ist. Auch die Frage Haupt- und Ehrenamt (Digel 2002, 153) ist vor dem Hintergrund der professionellen Ligabetreiber nur bedingt im e-Sport aufzufinden. Dies ist aber gerade im Zusammenhang mit dem deut-schen Sportsystem ein nicht zu unterschätzendes Strukturphänomen.

25 Die ESL spielt dabei in so genannten Serien (Advanced Ladder, Amateur Series und Pro

Series). Je nach System wird man automatisch herausgefordert und muss, wie beim realen Sport, entsprechende Pflichtspiele absolvieren.

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

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Wettkampfsysteme

Die Wettkampfsysteme des eSport sind denen des tradierten Sports sehr ähn-lich. Auch im eSport dominieren Ligasysteme oder (modifizierte) KO-Wettkampfsysteme (z. B. bei Lan-Partys). Internetwettkämpfe werden dabei ebenso wie im realen Sport nach einem entsprechenden Terminplan ausge-tragen. Die Wettkämpfe basieren auf einem Leistungsprinzip (Bettes-Code von Sieg und Niederlage26 gilt auch hier; vgl. Bette 1992, 99f.) und werden auch durch Schiedsgerichte betreut. Problematisch ist allerdings, dass es mehrere Ligabetreiber gibt. Entsprechend können Spieler in unterschiedli-chen Ligen parallel antreten. Es liegt kein einheitliches Regelwerk über alle Ligen hinweg vor und Doppelstarts werden (noch) nicht überprüft. Auf internationalem Niveau hat sich, wie in vielen anderen Sportarten auch, ein Turnier, die World Cyber Games, als inoffizielle Weltmeisterschaft durchge-setzt. Die Wertung von Turnieren orientiert sich dabei immer mehr an den auch im Profisport üblichen Preisgeldsystemen.

Gesellschaft

Die zentralen gesellschaftlichen Funktionen des Sports (z. B. Integration, Gesundheitsförderung etc.) sind hinlänglich bekannt und werden als allge-mein akzeptiert. Entsprechend stark ist der Sport auch in der Gesellschaft institutionell, politisch und wirtschaftlich verankert. Der eSport ist bisher gesellschaftlich wenig anerkannt, wird allenfalls toleriert, vielfach aufgrund von Unkenntnis und auch politischer Meinungsmache aber auch abgelehnt. Zwei zentrale Gründe spielen hier eine Rolle: Erstens wird eSport gleichge-setzt mit einfachem Computer- und Videospielen, welches ohnehin in der Gesellschaft umstritten ist (z. B. durch die Gewaltdebatte). Zweitens ist e-Sport derzeit nicht kompatibel mit den tradierten Gesellschaftsstrukturen und weder politisch noch sozial im Kanon des traditionellen Sports verortbar. Auch führt die fehlende Transparenz auf struktureller Ebene zu Verwirrung und Ablehnung, denn Informationen sind rar bzw. nur Insidern bekannt. eS-port wird als Jugend- (und Jungen-)phänomen abgestempelt, ohne dass man sich über die rapiden Veränderungen und die deutliche Abkopplung vom normalen Spielprozess klar wird.

26 Der Code von Sieg und Niederlage im Sport nach Bette impliziert Auf- und Abstieg, bzw.

die Dichotomie des Sports als Selektionsmuster.

Jörg Müller-Lietzkow

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Medialisierung (Präsentation des Sports in den Medien)

Bis auf die Fachmedien (Computerspielzeitschriften, Spezial-TV) und spezi-fische eSport-Websites (z. B. Readmore) ist eSport bisher nur vereinzelt in die traditionellen Massenmedien vorgedrungen. Noch kann man z. B. nicht regelmäßig in der FAZ am Montag im Sportteil lesen, wer ein wichtiges Turnier gewonnen, wer Tabellenführer in der Bundesliga o. ä. ist.27 Aller-dings erleiden heute viele Randsportarten das gleiche Schicksal. Z. B. weiß man von Kanuten erst, seit es olympische Spiele gibt. Wer kennt sich aus beim Speedskating (trotz zahlloser internationaler Erfolge deutscher Athle-tinnen und Athleten), der nicht in der Szene ist? Selbst ein Europameisterti-tel (Dameneinzel), der größte Triumph des Deutschen Badminton seit 30 Jahren, ist kaum mehr als eine Randnotiz. Mit einem Blick in die Zukunft lässt sich aber interessanterweise prognostizieren, dass eSport, im Gegensatz zu zahlreichen anderen Sportarten, gute (Aufmerksamkeits-)Potenziale mit sich bringt. Nicht zuletzt die Entscheidung des Deutschen Sportfernsehens, eSport wöchentlich einmal zu übertragen kann als Indikator dafür gesehen werden (das Format wurde aber zunächst wieder eingestellt). Auch trägt hier dazu bei, dass eSport eine Dualität von Struktur (Giddens 1997, 215ff.) auf-weist, wie sonst nicht üblich beim Sport.

Technisierung (Weiterentwicklung von Kleidung und Ausrüstung)

Gerade vor dem Hintergrund der sehr starken Technikorientierung des tra-dierten Sports (Heinemann 2001, insb. 79ff.) zeigt sich eine hohe Kompati-bilität. Ähnlich anderen stark technologiegetriebenen Sportarten (Bob, Rad, Sportschießen, Ski oder Schlägerrückschlagspiele) hat die Weiterentwick-lung der Spielgeräte einen starken Einfluss auf das Spielgeschehen. Damit ist nicht nur unmittelbar das physische User-Interface (z. B. Maus oder Game-pad), sondern auch die Weiterentwicklung der Spielplattformen (genauer hierzu Müller-Lietzkow et al. 2006) gemeint (z. B. Grafik). Da High Tech heute auch den traditionellen Sport dominiert, kann insofern eine klare Paral-lele gezogen werden.

27 Zur Übersicht vgl. Schauerte & Schwier (2004, 164ff.).

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

233

Tabelle 1: Vergleichsübersicht traditioneller und eSport

Legende: ++ starke Übereinstimmung bis – keine Übereinstimmung (++, +, 0, -, --) Quelle: Müller-Lietzkow 2005, o. S.

Wiegt man nun die Vergleichsdimensionen miteinander ab und berücksich-tigt die Indikatoren der weiteren Entwicklung im eSport, so lautet mein Fa-zit, dass eSport aufgrund der mannigfaltigen Übereinstimmungen mit dem

eSport Sport Trend

Physiologie Präzisions- und Reakti-onsfähigkeit

Körperliche Leis-tungsfähigkeit

- 0 + Ambivalent

Psychologie Konzentrationsfähigkeit, Psychoregulation

Mentales Training, Stressbeherrschung

0 „Unbekanntes Land“ für den

eSport

Strukturen Bundesverband, (int.) Ligen, Clans

IOC, Weltverbände, Bundesverbände, Vereine, Profisport

+ bis ++ Strukturell kom-

patibel

Wettkampf-systeme

Turniersport, Ligasys-teme

Turniersport, Liga-systeme

++ Sehr starke Über-einstimmung

Gesellschaft „Randgebiet“, schlechte Akzeptanz

Politische Veranke-rung, gesellschaftliche Ak-zeptanz

0 eSport wird nicht als Sport wahrge-

nommen

Medialisierung Starker Fokus auf „neue Medien“, hohe Internetpräsenz

Starke Fernsehfixie-rung, regional und lokal starke Pressefixierung

++ In unterschiedli-chen Medien

großes Angebot

Technisierung

Stark technologiegetrieben (Spiele) – Technologie als Grundvoraussetzung

Technologie beein-flusst bei vielen Sportarten die Weiterentwicklung

+ Ohne Technik kein eSport

Jörg Müller-Lietzkow

234

realen Sport in den Kanon des „normalen“ Sports gehört.28 Auch das empi-risch skizzierte Bild des prototypischen eSportlers stimmt mit dem Bild der leistungsorientierten Sportler überein. eSport ist Sport!

2.3 Arbeitsergebnis und eine vorläufige (Leistungs-) eSportdefi-nition

Eine Definition von eSport soll an den aktuellen Diskussionsstand der Sportwissenschaft, die sich selbst mit der Definition, was eigentlich Sport genau ist, schwer tut (Tiedemann 2002), anknüpfen. Aufgrund der empiri-schen Ergebnisse beider Erhebungen, zeichnet sich heute (2007) ein stark leistungsorientierter Fokus der eSportler ab. Die hier gewählte Definition von eSport richtet sich am internationalen Wettkampf- bzw. Leistungssport und soll als enger Ansatz verstanden werden.

„eSport: Der Begriff eSport (englisch kurz für electronic sport) bezeich-net das wettbewerbsmäßige Spielen von Computer- oder Videospielen im Einzel- oder Mehrspielermodus. eSport versteht sich entsprechend des klassischen Sportbegriffs und erfordert sowohl Spielkönnen (Hand-Augen-Koordination, Schnelligkeit), als auch strategisches und takti-sches Verständnis (Spielübersicht, Spielverständnis, planvolles Han-deln).

So ist es keine Seltenheit mehr, dass Spieler oder Teams für Geld spie-len (Progaming). Die Spieler trainieren und es gibt internationale Ligen und Nationalteams. Teilweise werden Teams von Trainern unterstützt, die ihnen taktisches Verständnis und Techniken im ausgereiften Trai-ningsprozess vermitteln.

Hauptsächlich werden Wettkämpfe in den Disziplinen Ego- und Tak-tikshooter (Counterstrike, Battlefield 1942, Quake) und Echtzeitstrategie (Warcraft 3, Starcraft) ausgetragen. Es haben sich aber auch schon

28 Auch greift hier der Vergleich mit dem Schachspiel zu kurz. eSport ist kein reiner Denk-

sport, da vor allem Reaktionsfähigkeit, Koordinationsfähigkeit und Ausdauer typische physiologische Merkmale des eSports sind, die man so nicht beim Schach, und wenn höchstens bei Sonderformen wie Blitz- oder Simultanschach, findet. Darüber hinaus sollte auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass auch bei anderen Sportarten, wie z. B. Schützen, nicht der Physisaspekt dominiert, diese aber dennoch im olympischen Kanon als Sport anerkannt und akzeptiert werden.

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

235

Sportspiele und Rennsimulationen auf Wettkampfebene in diesem Ka-non international profiliert.“ (leicht modifiziert nach Müller-Lietzkow 2006, 29f.)

Ein alternativer Definitionsansatz von Wagner (2006a, o. S., 2006b, o. S.) konzentriert sich im Kern als Training von Informations- und Kommunikati-onstechnologien (vgl. auch Johnson 2006 und Prensky 2006). Er wird als weiter Ansatz gesehen, der zusätzliche Entwicklungstrends (z. B. eSport als Betriebssport) aufgreift:

„Ich selbst habe (…) einen etwas abstrakteren Zugang gewählt in dem ich eSport als einen Überbegriff von Sportdisziplinen betrachte bei de-nen die Spieler und Spielerinnen „mentale oder physische Fähigkeiten im Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien trai-nieren“ und diese Fähigkeiten im Wettbewerb mit anderen Spielern und Spielerinnen nach vorgegebenen Regeln vergleichen.“ (Wagner 2006a; Wagner 2006b, o. S).29

Langfristig muss man sicherlich inhaltlich zwischen Breiten- und Freizeit- sowie Wettkampfsport unterscheiden. Nach meinem Verständnis ist eSport als Wettkampfsport prinzipiell heute eher mit dem leistungsorientierten bzw. Leistungssport vergleichbar, der durch regelmäßiges Training und das Ge-winnmotiv geprägt ist.

3. Gesellschaftliche Konsequenzen der Anerkennung von eSport als Sport

Aus einer gesellschaftlichen Perspektive erscheint der vorgestellte Diskurs aus mehreren Perspektiven gehaltvoll. Erstens ergibt sich damit eine neuarti-ge kulturelle und gesellschaftliche Verankerung. Diese Einordnung bedeutet eine in ein gesellschaftlich akzeptiertes, politisch gewolltes und honoriertes Subsytem (vgl. auch Güldenpfennig 2000), welches in mannigfaltigen For-men auch in gesellschaftlichen Institutionen seine Verankerung findet (z. B. Schulen, Ausbildungssysteme etc.). Zweitens bedeutet eine Akzeptanz, dass über eine Eingliederung in finanzielle und strukturelle Förderstrukturen dis-kutiert werden muss, die der Sport heute in unserer Gesellschaft erfährt (Substitutionsprinzip). Wenn die Athleten, wie empirisch gezeigt, unter den

29 Version vor Drucklegung.

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Rahmenbedingungen von Spitzensportlern leben, trainieren und arbeiten, wäre es überlegenswert, auch im eSport entsprechende Förderstrukturen ein-zuführen, wie sie der Deutsche Olympische Sportbund vorsieht. Nimmt man z. B. die Anzahl internationaler Titel, die deutsche eSportler innerhalb der letzten vier Jahre gewonnen haben, könnte man durchaus erwarten, dass staatliche Förderung gestellt werden würde (z. B. eine „Bundestrainerstelle“ oder Sporthilfe). Dies erscheint vor allem auch deshalb überlegenswert, da zahlreiche Wettkämpfe international ausgerichtet sind und ggf. entsprechen-de nationale Interessen durch die Spieler vertreten werden. Weiterhin sind einige interessante Beobachtungen zu machen, die sich ggf. auch auf andere Lebens- und Gesellschaftsbereiche beziehen lassen:

• Der Wettkampf dominiert die Grundidee des eSports wie des Sports: eS-port ist also ein Leistungsfeld und somit ebenso geeignet (oder ungeeig-net) wie andere Leistungsvergleichsfelder. Somit schafft eSport Identifi-kations- und Leistungskontrollpotenzial. Im Sinne der Motivationspsychologie wird hier ausdrücklich die Leistungsmotivation angesprochen (Heckhausen 1989, 231ff.), um die es auch für Hochleis-tungen im eSport geht.

• Der eSport hat schneller als viele traditionelle Sportarten zuvor zum Sportsystem kompatible Strukturen ausgebildet30, die Anschlussfähigkeit sicherstellen (z. B. durch einen Dachverband; vgl. http://www.e-sb.de). Die Folge ist, dass die eSportler Sozial-, Medien- und Technologiekom-petenzen durch Betätigung erwerben können und entsprechende Sport-organisationsstrukturen auch auf Vereinsebene (Clans) herausgebildet werden können.

• eSport ist durch das Internet weitestgehend „barrierefrei“31. eSport er-möglicht somit nahezu jedem die Option teilzuhaben. Entsprechend

30 Vertiefende Übersichten zum Deutschen Sportsystem bietet der Deutsche Olympische

Sportbund, der als Dachorganisation der einzelnen Fachsportverbände agiert. Detailin-formationen über weitere Institutionen des Sports (z. B. Deutsche Trainerakademie) fin-den sich ebenfalls dort verlinkt (http://www.dosb.de).

31 Unter Barrierefreiheit wird im Internetkontext grundsätzlich der Zugang auch körperlich behinderter Menschen (z. B. Blinde) verstanden. Im Kanon des eSports kann man so weit zwar nicht gehen, aber unter Barrierefreiheit wird vor allem verstanden, dass auch körper-versehrte Menschen (z. B. Rollstuhlfahrer) ohne Beschränkungen am eSport teilhaben können.

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schafft eSport sogar Integrationspotenzial z. B. auch für körperbehinderte Sportler über einen virtuellen Raum.

• Auch nationale Grenzen spielen weitestgehend (außer Sprachbarrieren) keine Rolle bei Internetbasierten Spielformen. Durch die Virtualisierung32 (grundlegend zur Virtualitätsthematik vgl. z. B. Cadoz 1994, 7ff.) des Sportspiels ergibt sich faktisch die Option internationale Turniere ohne physische Präsenz auszutragen (im Gegensatz zu LAN-Parties). Auch hier wirkt eSport integrierend.

Im Zusammenhang mit Computer- und Videospielen werden auch immer wieder gesellschaftliche Problemfelder erörtert, die ebenfalls in die Diskus-sion Eingang finden sollen. Ohne die Darstellung ausufern zu lassen, sollen stichpunktartig einige dieser Felder mit ihrem spezifischen Bezug zum eS-port erwähnt werden:

• Suchtpotenziale: Grundsätzlich wird für Online-Rollenspiele ein (starker) Eskapismus mit gleichzeitiger Vernachlässigung des realen Lebens (vgl. Taylor 2006) identifiziert. Für eSport kann dies nur in beschränktem Ma-ße gesehen werden. Sowohl die Untersuchung von Jansz & Martens (2005) als auch die eigene empirische Untersuchung zeigten ein Stunden-spielmittel aktiver eSportler von täglich ca. 2-2,5 Stunden, was in etwa dem durchschnittlichen Engagement von ambitionierten Sportlern ent-spricht.

• Virtuelle und reale Gewalt: Die kommunikationswissenschaftliche Wir-kungsdiskussion konzentriert sich vielfach auf die Frage der Wirkung von virtueller Gewalt auf das reale Lebensverhalten.33 Die Diskussion bleibt, wie einige Metaanalysen der vorliegenden empirischen Studien zu The-matik dokumentieren (z. B. Kunczik & Zipfel 2004, 183ff.), bisher un-beantwortet. Besonders das Spiel „CounterStrike“, ein auch im eSport häufig als Wettkampf veranstaltetes Teamspiel, wird hier immer wieder als Problemfall34 genannt. Nach bisherigen Erkenntnissen legen eSportler keinen Wert auf Blut und Gewaltorgien. Dies zeigen nicht nur zahlreiche Spiele ohne oder mit wenig Gewalt, sondern auch, dass z. B. Spitzenspie-

32 Virtualisierung wird abgeleitet vom lateinischen „virtus“. 33 Stellvertretend für die umfassende Diskussion Gieselmann (2002); Ladas (2002). 34 Dies gilt allerdings heute nur für Deutschland. International wird hierzu kaum eine

ernsthafte Diskussion geführt.

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ler bei CounterStrike Bluteffekte ausschalten, um höhere „Frame-Raten“ zu erzielen.35

• Gesundheitliche Nachteile: Generell wird diskutiert, ob intensives Com-puter- und Videospielen zu gesundheitlichen Problemen (z. B. Bewe-gungsarmut, ungesunde Ernährung etc.) führt. Zumindest aus der vorlie-genden Befragung ist bekannt, dass grundsätzlich über 50% der eSportler mindestens eine weitere Sportart als Ausgleichssport (teilweise intensiv) betreiben. Daher bleibt zu vermuten, dass die Gesundheit von eSportlern nicht stark von der anderer Menschen differiert (weder positiv noch nega-tiv).

• Isolation: Eine weitere häufig formulierte Befürchtung im Zusammen-hang mit Computer- und Videospielen ist eine soziale Isolation der Spie-ler.36 Für eSport, der vielfach in Teams, auf LAN-Partys bzw. im privaten Rahmen in kleineren Gruppen (neben Internetligen) stattfindet, kann em-pirisch dieser Tatbestand nicht festgestellt werden. Sowohl die Game Re-search Studie (2002) als auch die vorliegende Untersuchung zeigen, dass nahezu 80% der aktiven eSportler regelmäßig am Sozialleben teilnehmen. Entsprechende Sozialkontakte konnten in der empirischen Studie sogar als eines der wichtigsten Ziele von eSport identifiziert werden und zei-gen, dass eSportler aktiv sozialen Anschluss suchen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen von Jansz & Martens (2005), die bei 85 % der Befragten diesen Wunsch als einen der wichtigsten Aspekte im Rahmen des Spie-lens bei LAN-Partys herausfiltern konnten.

Zusammengefasst kann konstatiert werden, dass es aus einer gesellschaftli-chen Perspektive lohnenswert ist, trotz vermuteter Probleme, eSport als Lern- und Leistungsfeld zu akzeptieren und integrieren.

35 Unter Frame-Raten werden die Bildwiederholungssequenzen innerhalb einer Sekunde

verstanden. Grundsätzlich geht man davon aus, dass ab 25 FPS ein flüssiges Sehen (ohne Ruckeleffekte) möglich ist. Bei Computerspielen werden meist grundsätzlich höhere Fra-me-Raten bei höherer Auflösung angestrebt, da dann im eSport z. B. Gegner früher er-kannt werden können.

36 Satirisch hierzu z. B. Daniel Schenk in seinem Film „A Gamer´s Day“ http://www.danielpschenk.com/ (Stand: 20.8.2006).

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

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4. Medien und eSport

Die bisherigen Überlegungen konzentrierten sich auf die Frage, ob eSport als Sport im Kanon der Gesellschaft verankerbar ist. Bisher bewusst ausgeblen-det wurde der Zusammenhang von eSport und Medien. Hierbei handelt es sich eindeutig um ein rekursives Phänomen im strukturationstheoretischen Sinn (Giddens 1997, 245ff.). eSport basiert auf Medien bzw. Mediennutzung (Computer- und Videospiele). Diese Mediennutzung wiederum ermöglicht neue Nutzung von eSport als Mediensport (bzw. Handlung seitens der An-bieter von eSport). Daraus folgt zusätzlich die Suche nach anderen Spielen, die im Rahmen des eSports stattfinden können.37 Dieser rekursive Kreislauf führt zu einer stetigen Erweiterung des Handlungsrahmens von eSport. Die Dualität der eSportstruktur und entstehender Handlungsoptionen ermöglicht die Weiterentwicklung und Stabilisierung von eSport in der Gesellschaft und den Medien. Digitale Spiele als Medien ermöglichen durch das zusätzliche Element des Leistungsvergleichs im Wettkampf weitere und neue mediale Verwertungsstufen, z. B. durch Übertragungen der Spiele im Internet und Fernsehen. Normale Computer- und Videospiele erfüllen diese Funktion a priori nicht. Die Folgen sind, dass es, ganz wie im traditionellen Sport, Stars, Werbung, Journalisten, Reporter etc. gibt.38 Die Spielehersteller reagieren darauf ebenso, wie die Anbieter der Ligen – Handlung wird also durch Struktur ermöglicht und umgekehrt. Die Integration der Medien bedeutet im Kontext des eSports weit mehr als „nur“ die Nutzung der Medienplattform zum Spielen. Vielmehr bedeutet die Integration von Medien eine weitere Öffnung und gesellschaftliche Anschlussfähigkeit in einem rekursiven Pro-zess. Eine zweite Frage im Zusammenhang von eSport und Medien ist die Me-dienkompetenz. Was wird im eSport vermittelt und welche Voraussetzungen benötigt man an Medienkompetenz, um aktiv teilzuhaben. Verkürzt zeigte sich empirisch, dass die Spieler sehr schnell interaktives virtuelles Zusam-menarbeiten bei komplexen, unter hohem Zeitdruck gestellten Aufgaben er-

37 Zentral dabei sind die Genres, nicht die Einzelspiele. So kann es durchaus vorkommen,

dass ein Spiel seitens der Ligabetreiber nur ein bis zwei Jahre angeboten und dann wieder aus dem Kanon gelöscht wird.

38 Zur Sport-Medienspirale vgl. Stein (1988); Müller-Lietzkow (2005).

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lernen.39 Darüber hinaus bringen die meisten eSportler notwendige Medien-kompetenz mit, da sie im Schnitt schon mindestens fünf Jahre aktiv ter- und Videospiele nutzen (dies entspricht eher dem erweiterten Ansatz von Wagner). Medienkompetenz wird also durch eSport stark erweitert und bereichert (insbesondere im Bezug auf die Fähigkeit zur virtuellen nikation und digitalisierten Interaktion) und im Vorfeld intuitiv, durch Spiel-erfahrung, erlernt. Es schließen sich an dieser Stelle zahlreiche weitere Fragen zum Zusam-menhang von eSport und Medien logischerweise an (z. B. die Veränderung von Internetnutzung), die vor allem im Zusammenhang u. a. vor dem Hin-tergrund der Stellung der Medien in modernen Staatssystemen und deren Unterhaltungsfunktion zu thematisieren wären. Dies bleibt aber einer weite-ren Arbeit überlassen. Sicher ist auf jeden Fall, dass politisch motivierter Symbolismus auch über eSport transportierbar ist.

5. Offene Forschungsfragen und Fazit

Wägt man die hier vorgestellten Aspekte zum eSport aus gesellschaftlicher Sicht ab, so zeigt es sich, dass die Entwicklung des eSports, nicht zuletzt aufgrund der hohen aktiven Teilnehmerzahlen, die kaum von anderen Sport-arten in Deutschland erreicht werden, zum gesellschaftlichen Phänomen entwickelt, und somit aus einer Nische (wie es noch im Sozioland Report 2005 gestanden hat) herausgekommen ist. Insgesamt ist zu überlegen, ob das gesellschaftliche Interesse an eSport schon ein Niveau erreicht hat, welches eine vertiefte Integration in staatliche (und politische) Institutionen auch vor dem Hintergrund finanzieller Aufwendungen wie in traditionellen Sport-strukturen (insbesondere olympischen Sportarten) rechtfertigt. Die nachfol-gende Vier-Felder-Matrix, die sich an das in der Betriebswirtschaftslehre bekannte SWOT-Schema anlehnt, fasst verkürzt eine Potenzialanalyse, die aber auch als Forschungsaufforderung verstanden werden kann, zusammen.

Stellvertretend für die zahllosen bisher ungeklärten Fragen sollte erforscht werden, welche positiven gesellschaftlichen Effekte eSport haben kann. Hierzu sei nur kurz skizziert, dass unabhängig davon, welches Definitions-verständnis man wählt, offensichtlich wird, dass vor allem neben dem Spiel

39 Dies entspricht grundsätzlich den Anforderungen an virtuelle Teams (vgl. Lipnack &

Stamps 1997).

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(ganz im Sinne des Homo Ludens nach Huizinga 2004/1938 oder auch Fritz 2005), vor allem große Lernpotenziale durch strukturiertes und gezieltes Training, ganz wie im traditionellen Sport, durch eSport zu erreichen sind. Durch eSport können sowohl Konzentrationsfähigkeit, Koordination aber auch komplexe Problemlösefähigkeit trainiert werden. Damit kann eSport nicht nur als Sport, sondern, ganz im Sinne von Prensky (2006) oder auch Johnson (2006), auch als Lernfeld für Kinder und Jugendliche verstanden werden. Im Kontext von Lerntransfer (Wesener 2004) sollten grundsätzlich alle digitalen Spielformen diskutiert werden. Auch zunächst unabhängig vom Organisationsgrad der Spieler (also Einzelspieler oder Teams) können Transfer- und Sozialkompetenzfragen erörtert werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass gerade teambasierte Lerneffekte eben nur gemein-schaftlich erreicht werden können.

Tabelle 2: SWOT-Analyse über Potenziale und Forschungsfelder des eSports

Stärken Schwächen

• Sportähnliche positiv bindende (Sozial-) Strukturen

• Lernpotenziale • Hoher Internationalisierungs-

grad durch Internetwettkämpfe • Wettkampf- und Leistungsfeld • Hoher Professionalisierungs-

grad der Ligen

• Nur bedingt körperliche Schulung

• Kaum gesellschaftliche Anerkennung

• Unberechtigte scharfe politi-sche und medial inszenierte Kritik

• Teilweise hoher Zeitaufwand • Teure Grundausstattung • Kein Schulsport • Fehlendes Grundverständnis

bei Eltern und Erziehern

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Chancen Risiken

• Erlernen digitaler Team- und Arbeitsorganisationsformen

• Grundverständnis von Wir-kungszusammenhängen (insb. durch Strategiespiele)

• Sozialkompetenz in der Team-führung

• Generierung neuer Sportarten im Bereich augmented gaming

• Abhängigkeit • Vernachlässigung der Le-

benswelt (Eskapismus) • Gesundheitliche Risiken bei

exzessivem Spiel (Haltungs-schäden, Augenschäden etc.)

• Zu starke Kommerzialisierung und ausschließliche Nutzung zur Konsumsteigerung und Werbung

Damit ist aber nur ein offenes Feld skizziert. Weitere wären u. a. die sozio-logischen Auswirkungen von eSport, Fragen der Rezeption von Gruppen in Spielen aus Sicht der Psychologie oder die neuen ökonomischen Märkte, die durch eSport entstehen. Gerade die Bedeutung ökonomischer Fragestellun-gen, die absichtlich nicht in die Überprüfung der Sportdimensionen einge-bunden wurde, kann angesichts hoher Preisgelder und Profitum weitere Auf-schlüsse über das Phänomen eSport liefern. Hier wäre z. B. auch die Motivationslage der Spieler zu überprüfen. Ebenso vernachlässigt wurde wissentlich das gesamte Feld des Sportrechts, welches auch einen großen Einfluss auf den Sport hat, nicht aber konstituierend wirkt und entsprechen-den Sekundäruntersuchungen überlassen bleiben soll. Schließlich offen ist auch die Eingliederung in den Kanon der Wissenschaft an sich. Die ab-schließende kleine, unvollständige Übersicht soll zeigen, wo akuter For-schungsbedarf herrscht.

Eines erscheint allerdings auch klar: Der traditionelle „Sport“ wird eSport weiter ablehnen – nicht zuletzt aus Angst vor den Konsequenzen aber auch aufgrund der noch mangelnden Professionalisierung und Ausdifferenzierung auf struktureller Ebene sowie fehlenden Traditionen. Hier wird sicherlich ein Großteil der Arbeit seitens des eSport zu leisten sein, denn nur wenn Brei-

ten- und Leistungssport bei freiem Zugang ermöglicht werden, ist die Wahr-

Die Veränderung des traditionellen Sportbildes in Gesellschaft und Politik

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scheinlichkeit gegeben, gesellschaftliche und politische Akzeptanz mit den dazugehörigen Rechten und Pflichten zu erhalten.

Tabelle 3: Vergleichsübersicht bisher nicht überprüfter Felder zwischen traditionel-lem Sport und eSport

eSport Sport Trend

Ökonomie Profispieler; Profiteams; kommerzialisierte Ligen

Amateur und Profisport; stark medial vermittelter Profisport

- 0 + Ambivalent. Offensichtlich starke Annäherung an den Profisport

Sportrecht Kaum allgemein verbindliches Regel-werk; keine internationale Rechtssprechung; keine Grundstruktur

Ausdifferenziertes Rechtssystem innerhalb einzelner Sportarten; Ausdifferenzierte internationale Sportge-richtsbarkeit

-- „Unbekanntes Land“ für den eSport

Wissenschafts-system

Neues Feld, kaum empirische Forschung bekannt, stark inter-disziplinär geprägt

Etabliertes und stark ausdifferenziertes For-schungsfeld

-- Im Vergleich weiß man nichts über eSport

Legende: ++ starke Übereinstimmung bis – keine Übereinstimmung (++, +, 0, -, --)

Trotz dieses eher offenen Ausblicks sowie den umfassenden Forschungsfel-dern für die nahe Zukunft ergibt sich zwangsläufig die Prognose, dass m. E. 2050 eSport vielleicht sogar die dominierende Form aktiven Sporttreibens mit neuen, stärker physisch orientierten User-Interfaces (z. B. WII) und ent-sprechenden virtuellen Sportstätten (Cybersportstudios) und Geräten sein könnte. Berücksichtigt man die sehr hohe Entwicklungsgeschwindigkeit al-lein in der letzten Dekade erscheint hier nichts mehr unmöglich. Die mediale und gesellschaftliche Aufmerksamkeit wird dieses Phänomen sicherlich ge-nießen.

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Autoren

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Autoren

Dr. Tobias Bevc, Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Neueren und neuesten Geschichte in Augsburg und London. Promotion 2004 in Poli-tikwissenschaft mit der Arbeit „Kulturgenese als Dialektik von Mythos und Vernunft. Ernst Cassirer und die Kritische Theorie“. Seit 2004 wissenschaft-licher Angestellter am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft der TU Mün-chen. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte, Visuel-le Politik, Computerspiele und Politik, Kontakt: [email protected] Volker Hafner, Politikwissenschafter in Wien. Derzeit Dissertant am Insti-tut für Philosophie in Wien. Julian Kücklich ist Doktorand am Centre for Media Research der Universi-ty of Ulster, wo er sich im Rahmen seiner Dissertation mit Formen des Re-gelbruchs in digitalen Spielen beschäftigt. Das Thema Computerspiele bilde-te bereits den Mittelpunkt seiner Magisterarbeit, die auf http://playability.de veröffentlicht ist. Seit 2000 erschienen von ihm zahlreiche Aufsätze zur Ästhetik und Kultur von Computerspielen. Er ist Mitherausgeber der Son-dernummer von Fibreculture zum Thema "Gaming Networks". Kontakt: [email protected]. Dr. Jörg Müller-Lietzkow ist wissenschaftlicher Assistent an der Professur für Kommunikationswissenschaft, insbesondere Ökonomie und Organisation der Medien. Er beschäftigt sich mit der Erforschung der Grundlagen von digitalen Spielen sowohl aus kommunikationswissenschaftlicher, organisati-onstheoretischer als auch ökonomischer Perspektive. 2006 hat er zusammen mit Prof. Dr. Ricarda Bouncken und Prof. Dr. Wolfgang Seufert eine umfas-sende Untersuchung zur Computer- und Videospielindustrie in Deutschland veröffentlicht. Er hat Wirtschaftswissenschaften (Wuppertal) und Sport (Köln) studiert sowie in Betriebswirtschaftslehre (Bamberg) promoviert. [email protected]

Autoren dieses Bandes___________________________________________

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Peter Merschitz, Politikwissenschafter in Wien. Betreiber des Online-Politikspiels www.powerofpolitics.com und Dissertant am Institut für Poli-tikwissenschaft in Wien. Mitglied der Bewertungskommission der österrei-chischen Bundesstelle für Positivprädikatisierung von Computer- und Kon-solenspielen des Bundesministeriums für soziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz Dr. Michael Nagenborg, Jahrgang 1968, hat Philosophie, Literaturwissen-schaft und Kunstgeschichte an der Universität Karlsruhe studiert, wo er 2003 mit dem Thema „Privatheit unter den Rahmenbedingungen der IuK-Technologien“ promovierte. Mit Computerspielen hat er sich zum ersten Mal im Rahmen seiner Anstellung in dem Forschungsprojekt „Sichtbare Gewalt“ (1997-1998) wissenschaftlich beschäftigt. Privat spielt er seit Mitte der 1980er Jahre. Kontakt: www.michaelnagenborg.de, [email protected] Dr. Stefan Selke, Studium der Soziologie, Philosophie, Anthropologie und portugiesischen Literatur, Promotion in Soziologie. 2002. 2004 bis 2006 Vertretung einer Professur für Soziologie an der Fachhochschule Villingen-Schwenningen. 2004 Mitbegründer des Zentrums für Bild-, Raum- und Interaktionsforschung (www.isic-furtwangen.de). Seit 2006 Wissenschaftli-cher Angestellter für Soziologie an der PH Karlsruhe. Arbeitsschwerpunkte: Mediensoziologie, Wissenssoziologie, Visuelle Me-thoden, Empirische Bildwirkungsforschung. Kontakt: [email protected] Alexander Weiß hat in Hamburg, an der Purdue University und in Paris Po-litische Wissenschaften, Philosophie und Neuere deutsche Literaturwissen-schaft studiert, war anschließend DFG-Stipendiat in einem europäischen Graduiertenkolleg in Dresden und Paris und promoviert in Göttingen bei Walter Reese-Schäfer mit einer Arbeit über eine Theorie der Parlamentsöf-fentlichkeit. Forschungsschwerpunkte: Parlamentarismus- und Demokratietheorien und politische Kommunikation. Kontakt: [email protected]

Autoren

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Dr. Stefan Wesener, geb. 1973, Studium der Erziehungswissenschaft, So-ziologie und Psychologie in Düsseldorf. Mitarbeiter des Kolpingbildung-swerks Neuss. Lehrbeauftragter an der Heinrich-Heine Universität Düssel-dorf im Studiengang Medien- und Kulturwissenschaft. Freier Referent für Medienpädagogik beim ASG-Bildungsforum in Düsseldorf. Kontakt: [email protected] Holger Zapf, Studium der Politikwissenschaft an der Hochschule für Politik München, z. Zt. Lehrbeauftragter für Politische Theorie am Seminar für Po-litikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Visuelle Politik, Politische Theologie, Kultur-semiotik; Promotionsprojekt zu Baudrillards Zeichen- und Symboltheorie des Politischen; Kontakt: [email protected]