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Dissensbearbeitung unter Gleichaltrigen – (k)ein Kontext für den Erwerb argumentativer Gesprächsfähigkeiten? Miriam Morek 1. Einleitung: Argumentationskompetenz und -erwerb Argumentieren stellt – aus interaktionsorientierter Sicht – ein sprachlich-kom- munikatives Problemlösungsverfahren dar. Es dient dazu, unterschiedliche Gel- tungsansprüche bzw. »Strittiges oder Unklares« (Spranz-Fogasy 2005, 146) zu ver- handeln, und zwar unter Rückgriff auf Begründungen und Plausibilisierungen, die die jeweilige(n) Position(en) stützen (Heller 2012). Beim Argumentieren geht es um den prozessualen, situativ angemessenen Umgang mit kontextuell und dialo- gisch eingebundenen Behauptungen, Widersprüchen, Einwänden, Konzessionen und anderer Aktivitäten der/des Opponenten. Mündliche Argumentationskom- petenz – verstanden als genrespezifische Ausprägung allgemeiner Diskurskompe- tenz (Quasthoff /Krah 2012; Grundler 2011; Krelle 2014) – stellt also eine inter- aktive Fähigkeit dar. Sie umfasst nach Quasthoff/Krah (2012) folgende Facetten: (1) Erkennen und kontextangemessenes Bearbeiten globaler, gesprächsstruktu- reller Aufgaben, die für Argumentieren konstitutiv sind (Kontextualisierung), (2) sequenzieller Aufbau auf inhaltlicher und pragmatischer Ebene (z.B. interne Strukturierung und Abfolge von Begründungen) (Vertextung), (3) Nutzung sprachlicher Formen zur Indizierung argumentativer Strukturen (Markierung). Neben Erwachsenen-Kind-Interaktion (Heller/Krah i.d.H.) wurde in jüngster Zeit zunehmend auch Peer-Interaktionen unter Kindern eine Rolle für den Erwerb von Diskurs-/Argumentationsfähigkeiten zugeschrieben (Zadunaisky-Ehrlich/ Blum-Kulka 2010; Cekaite et al. 2014; Morek 2014; Arendt i.d.H.). Plausibilisiert wurde diese Annahme bislang vorwiegend durch interaktionsanalytische Unter- suchungen zu Peer-Interaktionen von Vorschulkindern (vgl. Komor 2010; Zadu- naisky-Ehrlich/Blum-Kulka 2010; Arendt 2014). Diese zeigen, dass im Kontext von Spielaktivitäten schon früh auf eine Vielfalt argumentativer Mittel zurückgegriffen wird – von einfachen Oppositionshandlungen über Begründungen bis hin zur In- fragestellung gegnerischer Argumente –, um kinderkulturell verortete Zwecke zu bearbeiten (z.B. Aushandlung von Besitzansprüchen). Da sich Argumentations- kompetenz bis ins Jugendlichenalter hinein (weiter)entwickelt (Kline 1998) und Gleichaltrige unter sozialisatorischen Gesichtspunkten zunehmend wichtiger werden (Harring et al. 2010), stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern auch Peer- Interaktionen älterer Kinder ein Kontext für den Erwerb argumentativer Fähig- keiten sein können. Zwar haben Arbeiten zur Gruppenkommunikation (Prä) Adoleszenter durchaus Praktiken wie unernste Konflikte (Eder 1990; Schmidt 34

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Dissensbearbeitung unter Gleichaltrigen – (k)einKontext für den Erwerb argumentativerGesprächsfähigkeiten?

Miriam Morek

1. Einleitung: Argumentationskompetenz und -erwerb

Argumentieren stellt – aus interaktionsorientierter Sicht – ein sprachlich-kom-munikatives Problemlösungsverfahren dar. Es dient dazu, unterschiedliche Gel-tungsansprüche bzw. »Strittiges oder Unklares« (Spranz-Fogasy 2005, 146) zu ver-handeln, und zwar unter Rückgriff auf Begründungen und Plausibilisierungen, diedie jeweilige(n) Position(en) stützen (Heller 2012). Beim Argumentieren geht esum den prozessualen, situativ angemessenen Umgang mit kontextuell und dialo-gisch eingebundenen Behauptungen, Widersprüchen, Einwänden, Konzessionenund anderer Aktivitäten der/des Opponenten. Mündliche Argumentationskom-petenz – verstanden als genrespezifische Ausprägung allgemeiner Diskurskompe-tenz (Quasthoff /Krah 2012; Grundler 2011; Krelle 2014) – stellt also eine inter-aktive Fähigkeit dar. Sie umfasst nach Quasthoff/Krah (2012) folgende Facetten:(1) Erkennen und kontextangemessenes Bearbeiten globaler, gesprächsstruktu-reller Aufgaben, die für Argumentieren konstitutiv sind (Kontextualisierung), (2)sequenzieller Aufbau auf inhaltlicher und pragmatischer Ebene (z.B. interneStrukturierung und Abfolge von Begründungen) (Vertextung), (3) Nutzungsprachlicher Formen zur Indizierung argumentativer Strukturen (Markierung).

Neben Erwachsenen-Kind-Interaktion (Heller/Krah i.d.H.) wurde in jüngsterZeit zunehmend auch Peer-Interaktionen unter Kindern eine Rolle für den Erwerbvon Diskurs-/Argumentationsfähigkeiten zugeschrieben (Zadunaisky-Ehrlich/Blum-Kulka 2010; Cekaite et al. 2014; Morek 2014; Arendt i.d.H.). Plausibilisiertwurde diese Annahme bislang vorwiegend durch interaktionsanalytische Unter-suchungen zu Peer-Interaktionen von Vorschulkindern (vgl. Komor 2010; Zadu-naisky-Ehrlich/Blum-Kulka 2010; Arendt 2014). Diese zeigen, dass im Kontext vonSpielaktivitäten schon früh auf eine Vielfalt argumentativer Mittel zurückgegriffenwird – von einfachen Oppositionshandlungen über Begründungen bis hin zur In-fragestellung gegnerischer Argumente –, um kinderkulturell verortete Zwecke zubearbeiten (z.B. Aushandlung von Besitzansprüchen). Da sich Argumentations-kompetenz bis ins Jugendlichenalter hinein (weiter)entwickelt (Kline 1998) undGleichaltrige unter sozialisatorischen Gesichtspunkten zunehmend wichtigerwerden (Harring et al. 2010), stellt sich die Frage, ob bzw. inwiefern auch Peer-Interaktionen älterer Kinder ein Kontext für den Erwerb argumentativer Fähig-keiten sein können. Zwar haben Arbeiten zur Gruppenkommunikation (Prä)Adoleszenter durchaus Praktiken wie unernste Konflikte (Eder 1990; Schmidt

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Morek, Miriam (2015): Dissensbearbeitung unter Gleichaltrigen – (k)ein Kontext für den Erwerb argumentativer Gesprächsfähigkeiten? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 62 (1), S. 34–46.
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2004; Branner 2003) und Streitsequenzen (Goodwin 2006) als typische Interakti-onspraktiken des (frühen) Jugendlichenalters beschrieben – dies jedoch, ohnederen Potenzial für die Argumentationsentwicklung zu beleuchten. Vor diesemHintergrund geht der vorliegende Beitrag der Frage nach, ob sich in den Peer-Interaktionen von 10- bis 12-Jährigen interaktive Strukturen rekonstruieren lassen,die argumentativer Natur sind, und ob diese möglicherweise förderlich sein könnenfür den Argumentationserwerb.

2. Daten und Analysezugang

Datenbasis sind videographierte Interaktionen von 12 Cliquen, die im Rahmen desProjekts DisKo (»Diskursive Praktiken von Kindern in außerschulischen undschulischen Kontexten«, Leitung: U. Quasthoff) erhoben wurden. Bei den Cliquenhandelt es sich um Realgruppen mit je 3 bis 7 Mitgliedern im Alter von 10–12Jahren, die über Besuche in verschiedenen Schulklassen rekrutiert wurden (sechsGymnasial-, drei Gesamtschul- und drei Hauptschulcliquen; je hälftig Jungen- undMädchengruppen). Die Erhebungen fanden in Jugendzentren statt und beinhal-teten Gruppeninterviews sowie ungesteuerte Peer-Interaktion (beim Warten aufeine Pizzalieferung und während des Essens), bei denen die Forscher nicht anwe-send waren. Erstellt wurden die offenen Aufnahmen mit je zwei stationären Vi-deokameras.1 Für den vorliegenden Beitrag sind aus dem Gesamtkorpus (ca. 22Stunden) die 8 Stunden freier Peer-Interaktion relevant.

Bei der Identifikation und Beschreibung argumentationsträchtiger Sequenzenim Material konnte auf Erkenntnisse bisheriger gesprächsanalytischer Arbeitenzurückgegriffen werden (Spranz-Fogasy 2003; Heller 2012), die gezeigt haben, dassdem Argumentieren in Gesprächen eine mindestens vierschrittige Struktur inter-aktiv zu bearbeitender Gesprächsaufgaben zugrunde liegt. Ausgangspunkt ist dieinteraktive Etablierung von Dissens (z.B. durch das Äußern von Widerspruch)(Heller 2012, 70).2 Ob solche Dissense dann argumentativ, d.h. mit Hilfe von Be-gründungshandlungen bearbeitet werden, ist Resultat der interaktiven Aushand-lung der Gesprächsteilnehmer. Beim tatsächlichen Eintritt ins Argumentiereni.e.S. stellen sich die folgenden weiteren Aufgaben: (2) Etablierung von Begrün-dungspflicht, (3) Darlegungshandlungen (in Form von Begründungen, Einwänden,Konzessionen u.dgl.), (4) Abschließen (z.B. Ratifikation einer für gültig befunde-nen Position). Für die einzelnen Gesprächsaufgaben lässt sich jeweils bestimmen,mit welchen Mitteln (i.S. bestimmter Sprechhandlungen) und über welche verbalen,

1 Während die Aufmerksamkeit für die Kameras nach Abschluss der Gruppenin-terviews tw. hoch war (z. B. wurde vor den Kameras getanzt), nahm sie im Verlauf derWartezeit stetig ab und spielte während des Essens kaum noch eine Rolle.

2 Daneben kann auch das Aufwerfen von Fragen oder Problemen zum Argumen-tieren führen (Heller 2012, 70), was im vorliegenden Material jedoch nicht auftrat.

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para- und nonverbalen Formen ihre konkrete Realisierung bewerkstelligt wird (vgl.Hausendorf/Quasthoff 1996; Heller 2012). Diesen konversationanalytisch basier-ten Zugang nutzend, setzt die vorliegende Studie zunächst an den konversatio-nellen ›Problemen‹ an, die die Gesprächsbeteiligten füreinander konstituieren.Demgemäß wurde im Material eine Kollektion von 34 Fällen gebildet, in denenDissense an der Interaktionsoberfläche manifest werden. Anhand dieser Fällewurde dem Zug-um-Zug-Aufbau des Gesprächsverlaufs folgend rekonstruiert, wiedie Kinder typischerweise mit Dissens umgehen, und wie die vorfindbaren inter-aktiven und sprachlichen Strukturen jeweils funktional in lokale Kommunikati-onskontexte und -zwecke eingebettet sind (vgl. auch Deppermann 2003).

3. Ergebnisse

3.1. Dissens in der Clique: was, wie und wozu

Thematisch geht es bei den Dissensen in den untersuchten Cliquen vordringlich umGeltungsansprüche in Bezug auf a) Sachverhaltsdarstellungen/Behauptungen zufrüheren oder aktuellen Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Kategorisierungenvon Gruppenmitgliedern (z.B. Xaver hat früher immer geheult; Du bist ein Streber)sowie b) medienbezogene, pop- und jugendkulturelle Wissensbestände und Prä-ferenzen (z.B. Computerspiele). Dabei treten die Dissensmanifestationen und ihreBearbeitungen nicht isoliert auf, sondern eingebunden in übergeordnete sprach-lich-kommunikative Praktiken: Dies sind in erster Linie das – v.a. prahlerische –Erzählen von Ereignissen sowie spielerisch-gesichtsbedrohende Aktivitäten (Ne-cken bzw. Frotzeln und rituelles Beleidigen, s. 3.3). Dissens wird dabei i.d.R. sehroffensiv konstituiert: Modalisierungen finden sich nicht (z.B. ich glaube, vielleicht,Verzögerungsphänomene). Stattdessen wird der oppositive Charakter entspre-chender Äußerungen sogar sequenziell (z.B. durch Unterbrechen), sprachlich-formal (z.B. Negation, Teilwiederholung mit Korrektur eines Elements) und pro-sodisch (z.B. Kontrastakzent) noch hervorgehoben. Dissens wird also als »aggra-vated opposition« (Goodwin/Goodwin 1987, 206) hergestellt, und zwar im Ein-zelnen durch folgende typische Mittel:– Abstreiten (z.B. Das geht gar nicht.)– Widerspruch durch format tying (Goodwin 2006), d.h. negierte syntaktische

Parallelismen (z.B. Du hast immer geheult. – Ich hab nie geheult.)– ironisches Zustimmen zu vorgängerseitig getätigten Behauptungen oder (un-

ernsten) Anschuldigungen (z.B. Ja natürlich, Nadine!) oder »mock astonish-ment« (Goodwin 2006, 159) (z.B. Wow!),

– Infragestellungen der Glaubwürdigkeit (z.B. was laberst du; als ob!), Ver-ständlichkeit (z.B. hä?, hö was?!) oder mentalen Präsenz des Gegenübers (z.B.hallo?).

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Mit all diesen Mitteln werden Vorgängeräußerungen als falsch, nicht nachvoll-ziehbar oder abwegig dargestellt. Teilweise wird mit ihnen dem Gegenüber sogarGlaubwürdigkeit, Urteilskraft oder Kompetenz abgesprochen.

Sowohl die Art der Dissenskonstitution als auch deren Einbettung in peer-ty-pische Kommunikationspraktiken wie Erzählen und scherzhaft-spielerische Pro-vokationen weisen darauf hin, dass Dissensbearbeitungen in den untersuchtenCliquen aufs Engste mit der Aushandlung von Identitäten und Status innerhalb derGruppe verknüpft sind. Dissens wird gesucht, um Identitätsansprüche zu erheben,diejenigen anderer in Frage zu stellen und über die Bearbeitung von Dissenseninteraktiv auszuhandeln (vgl. auch Neumann-Braun et al. 2002; Eder 1990). Diesvermag das folgende, erste Beispiel3 sehr deutlich zu illustrieren. Vor Beginn desAusschnitts (Beispiel 1) wurde Tamara mit scherzhaften Bemerkungen verspottet;danach gibt Inga vor, man habe über eine andere Tamara gesprochen, eine DSDS-Kandidatin:

Als Geraldine die betreffende Kandidatin der Castingshow Deutschland suchtden Superstar als »dumm« (Z. 14) bezeichnet und ihr etwaiges Gesangstalent ab-spricht (Z. 16), bringen Tamara und Inga offensiv Nicht-Übereinstimmung zumAusdruck (Z. 17–18). Dieser Einspruch wird nicht mit einer (argumentativen)Verteidigung der in Frage stehenden Kandidatin expandiert (etwa: ›aber sie hatsich auch schwere Titel ausgesucht‹ o.ä.). Stattdessen wertet Tamara die Oppo-nentin (Geraldine) mit Hilfe eines Vergleichs (»die kann besser als !DU! singen;«)implizit ab. Geraldine reagiert darauf ihrerseits mit einer Äußerungsfortsetzung(»ja und besser als !DU!;«), mit der sie Tamara nicht nur ebenfalls abwertet, son-dern zugleich deren Attacke geschickt konterkariert. Der sich an der Interakti-onsoberfläche manifestierende Dissens – die divergierende Bewertung des Ge-sangstalentes einer Castingshow-Teilnehmerin – steht bei alledem für die Mädchenkeineswegs im Vordergrund, sondern dient als Vehikel für einen interpersonalenSchlagabtausch, der schon zuvor im Gange war: Es geht nicht darum, zu begründen,warum man der Kandidatin Talent zu- oder abspricht, sondern es geht darum, sichselbst in seinem medialen Wissen und als schlagfertiges Gruppenmitglied darzu-stellen, das sich zu behaupten weiß. Diese Verquickung von Identitätsaushandlung

3 Alle Beispiele sind nach GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert.

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und der – oft rituellen und/oder scherzhaft-spielerischen – Bearbeitung von Dissenserweist sich in allen untersuchten Cliquen als konstitutives Moment. Dabei spielena) die Aufrechterhaltung von Opposition (3.2) und b) der argumentative Umgangmit verbalen Angriffen zwischen Spaß und Ernst (3.3) eine zentrale Rolle.

3.2. »Aufschlagwechsel«: Aufrechterhaltung von Opposition

Nicht nur, aber vor allem in den Jungengruppen finden sich Fälle der Bearbeitungvon Dissens, die durch das fortgesetzte, teils vehementer werdende Behaupten derjeweils eigenen Position gekennzeichnet sind, ohne dass argumentative Stützungenins Feld geführt werden oder es zu einer Lösung käme. Beispiel (2) repräsentierteinen solchen Fall. Timo ist dabei, von einem Videospiel zu berichten, bei dem manüber das Auffinden einer großen Anzahl geheimer Geldkoffer sein Spielgeldgut-haben erhöhen kann (Z. 24–25).

Als sich Ignacio in Reaktion auf Xavers Nachfrage hin einschaltet, kommt es zueinem Dissens zwischen Timo und Ignacio über die Höhe des in den geheimenKoffern enthaltenen Geldbetrags. Timo behauptet, der Betrag beliefe sich auf12.500 (Z. 33), während Ignacio dies abstreitet und mit der Nennung eines anderenBetrags (»2.500«, Z. 31, vgl. zuvor Z. 28) eine Gegenbehauptung aufstellt. Dar-aufhin markiert Timo mit »hä« (Z. 33) das Vorliegen eines Erwartungsbruchs undwiederholt – mit Akzentuierung der betragsdifferenzierenden Silbe – seine Position(»ZWÖLF«): Er insistiert. Ebensolches tut auch Ignacio: Er bringt nonverbalNichtübereinstimmung zum Ausdruck und beharrt ebenfalls auf seiner Position (Z.

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35).4 An dieser Stelle schaltet sich Robbie ein. Er alliiert sich mit Ignacio, dessenBetragsnennung er wiederholt und durch eine Beleidigung Timos als »Spasti« er-gänzt (Z. 36). Daraufhin kommt es zu einem weiteren Schlagabtausch zwischenTimo und Robbie, in dem – wie bereits zuvor – die jeweiligen (Gegen)Behaup-tungen verbal und nonverbal vorgebracht werden.

Dissens konstituieren die Jungen hier also bezogen auf die Verfügung über einbestimmtes mediales Wissen. Unabhängig von der Frage, wie sich derartige Wis-sensbehauptungen argumentativ stützen ließen (denkbar wären etwa narrativeBelege oder das Anführen von Regularitäten innerhalb des Spiels), lässt sich be-obachten, dass keiner der Jungen Versuche unternimmt, seine jeweilige Positionanders als durch Insistieren (und Beleidigen, Z. 36) durchzusetzen. Über mehrereTurn-Folgen wird eine Serie wechselseitiger Widersprüche produziert, in der jeweilsAussage gegen Aussage steht. Es ergibt sich ein »[p]ingpong-artige[s] Hin und Hervon Dissens«, das mit Knoblauch (1995, 122) als »Aufschlagwechsel« bezeichnetwerden kann. Solche Aufschlagwechsel sind bereits sowohl für Vorschulkinder(Komor 2010) als auch für Präadoleszente (Goodwin/Goodwin 1987) beobachtetworden. Sie sind ein probates Mittel zur Aufrechterhaltung von Opposition. Et-waige Begründungspflicht wird dabei kontinuierlich ausgesetzt bzw. aufgeschoben(Knoblauch 1995, 121 f.).

Im Gegensatz zu Knoblauchs Beobachtung (ebd.) allerdings münden solcheAufschlagwechsel nicht in Streit. Im obigen Beispiel »Geldkoffer« vollziehen dieBeteiligten mittels Fallenlassen (Heller 2012, 155) den Ausstieg aus der Dissens-bearbeitung. Durch nonverbale (hier: leiseres Sprechen; Aufnahme der Trinktä-tigkeit) und verbale Verfahren (Wiederaufnahme des Ursprungsthemas durch dieunbeteiligte Partei) gelingt es ihnen, den Dissens nicht eskalieren, sondern ›ver-sanden‹ zu lassen, ohne dass einer der Beteiligten allzu offensichtlich als Sieger oderVerlierer des Schlagabtausches dastünde. Andere, cliquentypische Mittel desAusstiegs aus Aufschlagwechseln sind a) das betonte Display von Gleichgültigkeit(z.B. durch Schulterzucken, ironisches Zustimmen) b) spielerisch-scherzhafteAndrohungen oder Inszenierungen körperlicher Gewalt (z.B. Ausholen mitSchlaghand; willste dich mit mir anlegen?), c) scherzhafte Beleidigungen oderpersönliche Herabsetzungen des Gegners (vgl. Beispiel 1).

Insgesamt also werden solche Aufschlagwechsel keiner Lösung zugeführt undi.d.R. nicht mittels Begründungshandlungen vollzogen – und das, obwohl die10–12-Jährigen grundsätzlich durchaus über die Fähigkeit verfügen dürften, Be-gründungen und andere Mittel der argumentativen Stützung zu produzieren.5 DerClou solcher Aufschlagwechsel scheint geradezu in der konfrontativen Oppositi-

4 Die leisere Sprechlautstärke kann als abschlussindizierendes Mittel gesehen wer-den, das jedoch aufgrund der Einmischung Robbies nicht zum Abschluss führt.

5 Dies legen nicht nur entsprechende Befunde der Erwerbsforschung nahe (z. B.Kline 1998, Arendt 2014), sondern zeigen auch die Argumentationen der untersuchtenKinder im Rahmen der im DisKo-Projekt ebenfalls erhobenen Familieninteraktionen.

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onsaufrechthaltung zu bestehen, statt in einer etwaigen inhaltlich-argumentativenBearbeitung einer Quaestio. Die an der Interaktionsoberfläche manifest werdendeQuaestio (im Beispiel 2: Höhe des Geldkofferbetrags) tritt zurück zugunsten einer– wie Deppermann (2003) es nennt – »latenten Quaestio«, die im Aushandeln vonIdentitätsansprüchen besteht. Im obigen Beispiel etwa geht es für die Jungendarum, sich als jemand mit entsprechendem medienbezogenen Wissen und Er-fahrungen darzustellen und Aufmerksamkeit und Anerkennung für die eigeneWissensdemonstration zu erlangen. Eingebettet ist der Aufschlagwechsel in eineauf Übertrumpfung orientierte Serie von Erzählungen zu Computerspielerfolgen.Mit der Konstitution und Aufrechterhaltung von Dissens werden soziale Positio-nierung und epistemische Autorität (Mondada 2013; Morek i.Dr.) fortwährendwechselseitig in Frage und auf die Probe gestellt.

3.3. Argumentative Verteidigungen zwischen Spaß und Ernst

Ein weiterer, verbreiteter Typ der Dissensbearbeitung zeigte sich im Zusammen-hang mit Anschuldigungen, Provokationen und Beleidigungen, die durch eineAmbivalenz zwischen scherzhafter und ernsthafter Interaktionsmodalität ge-kennzeichnet sind. Dazu gehören v.a. das Necken oder Frotzeln und das rituelleBeleidigen.6 Dabei wird jeweils ein ›Opfer‹ Ziel bestimmter Unterstellungen oderKategorisierungen, welche sich im Wesentlichen auf sein Verhalten oder seineEigenschaften beziehen (z.B. Streber, verliebt in XY). Verteidigende oder recht-fertigende Handlungen stellen zwar nur eine unter mehreren beobachtbaren Re-aktionsmöglichkeiten auf solche verbalen Provokationen dar (Branner 2003;Günthner 1999; Neumann-Braun et al. 2002), aber diejenige Reaktionsmöglich-keit, die mit argumentativen Handlungen des Opfers verbunden ist. Daher disku-tiere ich solche Fälle im Folgenden anhand zweier Beispiele.

Thema des zunächst folgenden Ausschnitts (Beispiel 3, s. nächste Seite) ist Lunas(vermeintliche) amouröse Beziehung zu einem Klassenkameraden. Luna ist das›Neck-Opfer‹.

Zunächst ergibt sich für Luna mit Sophias Frage nach den Gründen der (ver-meintlichen) Trennung von Gregor Begründungspflicht. Ihre Reaktion darauf ist ingleich zweifacher Hinsicht ambig: Erstens kann ihr Kopfschütteln sowohl eineNegierung des ›Zusammengewesenseins‹ wie auch eine Zurückweisung der Legi-timität der Frage Sophias sein. Zweitens kann die hyperbolische, negative Kate-gorisierung Gregors als »VOLLtrottel« (Z. 44) sowohl als Angabe des Tren-nungsgrundes wie auch als Begründung dafür verstanden werden, dass überhauptgar keine Liebesbeziehung vorlag. In jedem Falle entledigt sich Luna mit der ex-

6 Diese Praktiken weisen eine große interaktionsstrukturelle und funktionale Nähezueinander auf, werden jedoch nach Graden ihrer Aggressivität oder Ernsthaftigkeit z. T.voneinander unterschieden (vgl. z.B. Günthner 1999, Branner 2003, 243– 244).

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tremen Abwertung des etwaigen Ex-Freundes weiterer Begründungspflicht, indemsie signalisiert, dass das Thema indiskutabel ist (und zwar im wahrsten Sinne desWortes!). Als allerdings Nele das Thema wieder aufnimmt und ihr mockierend(vgl. die abschließende Daumen-hoch-Geste) unterstellt, zwei Stunden mit Gregorzusammengewesen zu sein (Z. 45), muss Luna erneut reagieren: Mit dem anfäng-lichen Lachen trägt sie zunächst die scherzhafte Modalisierung mit. Dann allerdingsweist sie den Inhalt der Unterstellung entschieden zurück (Z. 47). Neles Insistieren(Z. 48 sowie danach in Z. 51) lässt sie mit einem schulterzuckenden, ironischenZugeständnis (»ja gut«) als nicht ernst zu nehmen abprallen, d.h. sie zeigt erneut an,dass sie das ›Bohren‹ der Freundinnen nicht der weiteren Elaborierung für wertbefindet.

Als Nele mit dem Anführen einer Quelle (Heller 2012, 88) auf ein aus Argu-mentationen bekanntes Mittel zurückgreift (Z. 52), das allerdings durch gedehntesSprechen und langsames Nicken wiederum als unernst markiert ist, steht Lunaerneut unter Zugzwang. Sie weist die Plausibilität des Belegs durch einen ent-sprechenden Blick (Z. 53) zunächst nonverbal zurück, entkräftet ihn mit dem iro-nischen Verweis auf die »!SO! DICke« Freundschaft zwischen Nele und Gregor (Z.55) und sucht durch ihren koalierenden Blickwechsel mit Sophia erfolgreich eineVerbündete. Als Nele daraufhin lacht und den Aufmerksamkeitsfokus auf die Pizzaverschiebt, ist die Neckerei beendet. Luna ist es gelungen, einen weiteren Ausbauder Necksequenz abzuwenden.

Kennzeichnend für diese und ähnliche Sequenzen, in denen Dissensbearbei-tungen im Rahmen von Neckaktivitäten auftreten, sind vor allem folgende As-pekte:– Die jeweiligen Unterstellungen der Neckenden sind ambivalent zwischen

scherzhafter und ernsthafter Interaktionsmodalität verortet und erfordern Re-aktionen, die mit dieser Doppeldeutigkeit umgehen.

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– Das ›Opfer‹ scherzhaft-spielerischer Provokationen ist unter Zugzwang,Rechtfertigungen, Infragestellungen, Ausräumungen o.ä. zu produzieren, umsich gegen die Unterstellungen zu wehren und diese gleichzeitig als haltlos bzw.nicht ernst zu nehmen darzustellen.

– Dabei können genuin argumentative Mittel erfolgreich zum Tragen kommen, dieden sachlichen Gehalt der Angreifer-Äußerungen ausräumen und zugleich derenscherzhafte Seite aufnehmen (z.B. durch den Einsatz von Ironie oder Über-treibungen).

Diese Merkmale und Anforderungen gelten in sehr ähnlicher Weise auch im Zu-sammenhang mit rituellen Beschimpfungen, wie an einem letzten Beispiel aufge-zeigt werden soll: Vor Beginn des Ausschnitts (Beispiel 4) hat Florian Bruno ab-wertend als ›Kurdenzigeuner‹ bezeichnet, was die übrigen Gruppenmitglieder mitGelächter als gelungenen Angriff würdigen. Mit einer Rückfrage (»was wieso«)sowie dem Widerspruch »junge ich KANN kein zigeuner sein« stellt Bruno Dissensbezüglich dieser ethnischen Kategorisierung her. In der hier aus Raumgründenausgelassenen Passage kommt es zunächst zu einem weiteren Verbalangriff durchFlorian, der Bruno wegen der angeblich falschen Aussprache des Wortes Zigeunerverspottet. Bruno schließt darauf eine ausgebaute Begründung gegen die Triftigkeitder Bezeichnung als Zigeuner an:

Bruno reagiert auf die spielerische Beleidigung, indem er sie in ihrem sachlichenGehalt aufgreift und ihre Angemessenheit widerlegt. Er führt ›dunkle Haut haben‹als Merkmal für Zigeuner an und impliziert damit den Schluss, dass er kein Zi-geuner sein könne. Sodann nutzt er ein übersteigertes, fiktives Szenario, mit dem erdie Unveränderlichkeit der natürlichen Hautfarbe stützt. Damit liefert er ein wei-teres Argument dafür, warum er (mit seinem sichtbar blassen Teint) kein Zigeunersein kann. Er nutzt illustrierende, hyperbolische Vergleiche (›zwanzig Jahre inRussland‹, ›keine Sonne‹, ›drei Tage im Sonnenstudio‹) und jugendtypische lexi-kalische Elemente wie ich schwör (Z. 11) und Alter (Z. 16, 17, 19). Damit gelingtihm der Balanceakt, die Beleidigung einerseits in der Sache zurückzuweisen, an-

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dererseits jedoch auch der peergroup-typischen Maxime »Sei witzig und vermeideErnsthaftigkeit« (Schmidt 2004) nachzukommen. Diese argumentative Verteidi-gung zwischen Spaß und Ernst erweist sich als erfolgreich: Milan, einer der nichtdirekt an der Beleidigungssequenz Beteiligten, gibt zu erkennen, dass er dieSchlagkraft von Brunos Argument nachvollziehbar findet (Z. 20) und würdigt dashumorvolle Moment des zu argumentativen Zwecken entworfenen Szenariosdurch Kichern (Z. 22). Der Angreifer, Florian, greift Brunos Argument implizit auf,indem er eine scherzhafte Erklärung darüber anschließt, warum ein gemeinsamer,offenbar dunkelhäutiger Bekannter »so BRAUN« sei (Z. 23). Letztlich steht nichtmehr Bruno als Beleidigungsobjekt im Fokus, sondern es wird der nicht anwesendeMustafa verspottet.

Die Beispiele »Volltrottel« und »Dunkle Haut« zeigen, dass Begründungs-handlungen ein interaktiv erfolgreiches Mittel der Angegriffenen darstellen kön-nen, um sich gegen den sachlichen Gehalt von verbalen Provokationen zu vertei-digen – sofern die Begründungen inhaltlich wie durch den Gebrauch entspre-chender Kontextualisierungshinweise als humorvoll oder scherzhaft gerahmt sind.

4. Peer-Interaktionen als Erwerbskontext für argumentativeFähigkeiten

Wie lässt sich nun nach den hier beschriebenen Befunden die Eingangsfrage be-antworten, ob Peer-Interaktionen von Präadoleszenten eine (Weiter)Entwicklungargumentativer Fähigkeiten ermöglichen oder fördern können?

Insgesamt muss zunächst konstatiert werden, dass die starke – wenngleich teilsspielerisch-scherzhaft gerahmte – Oppositionsorientierung, wie sie in der Art desEtablierens und Aufrechterhaltens von Dissens zum Ausdruck kommt, dem Be-mühen um argumentative Durchsetzung durch wechselseitiges Begründen gera-dezu entgegensteht. Hierin zeigt sich ein Unterschied zu Peer-Interaktionen vonjüngeren Kindern, bei denen Dissens primär im Zusammenhang mit praktischenSpielaktivitäten beschrieben wurde. Während dort das Streben nach einer Besei-tigung des spielverhindernden Strittigen eine vergleichsweise starke Lösungsan-strengung und das Anbringen zahlreicher Begründungen zeitigt (vgl. Komor 2010;Arendt 2014, Arendt i.d.H.), erscheinen die hier für 10–12-Jährige untersuchtenDissense, die sich im Rahmen des ›Sich-Unterhaltens‹ ereignen, gerade nicht aufinhaltliche oder praktische Lösungen zuzusteuern: So wird im Falle der beschrie-benen Aufschlagwechsel gar keine Begründungspflicht etabliert. Im Falle derVerteidigung gegen verbale Provokationen wird – durch den Vollzug der Vertei-digungsreaktionen der Angegriffenen – zwar Begründungspflicht relevantgesetzt.Diese gilt jedoch einseitig (vgl. Heller 2012), d.h. nur für den Angegriffenen.Folglich kommt es i.d.R. kaum zu ausgebauteren, dialogischen Argumentations-sequenzen. Für die Kompetenzbereiche der Vertextung und sprachlich-formalen

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Markierung (vgl. 1) von Argumenten scheint sich somit kaum Übungsraum zuergeben.

Anders jedoch sieht es für die Kompetenzdimension der Kontextualisierung aus:Zum einen müssen die interaktiven Gesprächsaufgaben, die mit Dissensbearbei-tungen und mit Argumentieren i.e.S. verbunden sind (z.B. Dissens etablieren,Abschließen), aufgrund der Nicht-Anwesenheit kompetenter Anderer in Personerwachsener Gesprächspartner ›in Eigenregie‹ von den Kindern bearbeitet wer-den. Hier gilt es abzupassen, wann und auf welche Weise Dissens angemeldetwerden kann und wann Begründungen mit Aussicht auf interaktiven Erfolg an-schlussfähig sind oder dem im Gange befindlichen Interaktionsspiel gerade nichtentsprechen. Zum anderen eröffnet die Cliqueninteraktion mit ihrer Einbettungvon Dissensbearbeitungen in übergeordnete kommunikative Praktiken (z.B. Er-zählen, Necken, verbale Duelle) und deren enger Verquickung mit dem Aushan-deln von Identitätsansprüchen einen spezifischen Anforderungsraum im Bereichder Kontextualisierung: So gilt es im Rahmen des Reagierens auf verbale Provo-kationen, die ambivalent zwischen Spaß und Ernst verortet sind, Ausräumungenund Begründungen zu produzieren, die inhaltliche Schlagkraft besitzen und zu-gleich die scherzhaft-spielerische Interaktionsmodalität mittragen (z.B. durch hu-morvolle, ironisierende Konter). Die Fähigkeit, ›schlagfertig‹ mit solchen doppel-ten Rahmungen im Zusammenhang mit Dissens und Kritik umgehen zu können(vgl. auch Eder 1990) und eine ernsthafte strittige Auseinandersetzung gerade nichtaufkommen zu lassen, kann auch in anderen Kontexten ein nützliches, zielführen-deres Verfahren zur Deeskalation von Konflikten sein als ein rein sachliches Ver-treten der eigenen Kontraposition mit argumentativen Mitteln. Gerade angesichtsder – etwa im Vergleich zur Familie – stetigen Dynamik und Fragilität sozialerBeziehungen in der Clique ist hier die Fähigkeit vonnöten, trotz oppositiver Ori-entierung letztlich gesichtsschonend und spielerisch mit der Austragung von Dis-sens umzugehen.

Geht man nun grundsätzlich davon aus, dass Argumentieren eine Vielfalt ver-schiedener argumentativer Gattungen umfasst (Deppermann 2003) und dass zumArgumentationserwerb auch gehört, zu wissen und zu erkennen, wann auf welcheWeise argumentiert bzw. begründet werden muss (Kern & Ohlhus 2012), bietet diePeer-Interaktion also eine Vergrößerung des kommunikativen Erfahrungsraumsum unernste, spielerische Formen des Argumentierens. Angesichts der Kontex-tualisierungskraft bestimmter sprachlich-kommunikativer Praktiken für bestimmteKontexte und auch im Lichte gegenwärtiger Erkenntnisse zur Kinder- und Ju-gendsozialisation (Brake 2010) ist davon auszugehen, dass Familie, Schulunterrichtund Gleichaltrigengruppe hier als komplementäre Diskurssozialisations- und -er-werbskontexte fungieren, die jeweils die Aneignung bereichsspezifischer argu-mentativer Gattungen ermöglichen. Eine kontextübergreifende Erwerbsaufgabevon Kindern und Jugendlichen besteht darin, zu lernen, dass Dissenskonstitutionnicht gleich Dissenskonstitution ist, sondern dass sich darauf verschiedene Reak-tionsmöglichkeiten eröffnen, die in unterschiedlichem Maße i.e.S. argumentativ

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sind. Dabei gilt es auch die Verfahren des Gegenübers wahrzunehmen, mit denenjeweils Dissens hergestellt wird (vgl. 3.1). So etwa kann ein sehr offensiv geäußerterDissens gerade darauf hinweisen, dass eine komplexe, argumentative Reaktiondem damit initiierten Interaktionsspiel nicht unbedingt gerecht wird, wohingegenvorsichtig angemeldete Zweifel eher zu einer sachlichen Erörterung von Gründeneinladen mögen. Insofern bedeutet ein Zuwachs an argumentativen Fähigkeitenvor allem auch die Erweiterung der Flexibilität und des Repertoires im Umgang mitsehr verschiedenen interaktiven Situationen der Dissensbearbeitung.

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Dr. Miriam Morek, TU Dortmund, [email protected]

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