Post on 16-Jan-2023
Jenseits von Phänomenologie und Dialektik
Das Heilige und Plötzliche bei Martin Heidegger
Dissertation
Zur
Erlangung des Doktorgrades
der
Philosophischen Fakultät
der Eberhard- Karls-Universität zu Tübingen
vorgelegt
von
Zenon Tsikrikas
aus
Istiaia
2
Hauptberichterstatter: Prof. Dr. Georg Wieland
Mitberichterstatter: Prof. Dr. Anton Friedrich Koch
Dekan: Prof. Dr. Günter Figal
Tag der mündlichen Prüfung: 21.11.2001
3
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung ................................................................................................................................. 8
II. Der direkte und am Dasein endende Anspruch des Seins auf eine fehlende und nicht zu entwerfende Wahrheit beim frühen Heidegger........................................................................... 13
1. Der Anspruch des Weltenden auf das Sein des Daseins ..................................................... 13 1. 1. Das In-der-Welt-sein nicht als Geworfensein in einer umfassenden Welt, sondern als Ausgesetztsein des Daseins in dieser. Das Dasein ist in sich transzendent. .......................... 13 1. 2. Das Weltende weltet die Welt. Das Weltende setzt einen Anspruch auf einen modus essentialis und ist nicht innerweltliches Sich-zeigen in kategorialer Form ............................ 16 1. 3. Das faktische Leben er-lebt im Eigenen das weltende ansprechende Geschehen........ 17 1. 4. Das Dasein ist linguistisches Haben und Er-Leben und nicht optisches Anschauen .... 18 1. 5. Es geht nicht um den Vorrang in der Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern um das Ausgesetztsein des Daseins im geschehenden Welten der Welt........................................... 20
2. Die Transzendenz vor der Intentionalität. Kein intentionales Erlebnis und Akt des Bewußtseins, sondern Lebenshorizonte des angesprochenen Daseins ................................... 21
2. 1. Nicht einfacher Bezug von Subjekt und Objekt und deren Abstand, sondern das Dasein in der Transzendenz ........................................................................................................... 21 2. 2. Die Transzendenz ist Voraussetzung der Intentionalität. Das Sein des Gegenstandes wird nicht als absolute Position intentional angetroffen, sondern leibhaftig als Sein überhaupt im Dasein ermöglicht. Die Differenz zwischen Sein und Seiendem .................... 22 2. 3. Die Transzendenz ist Voraussetzung für Intentionalität. .............................................. 23 2. 4. Die Transzendenz ist nicht bloßer Abstand und ein Nicht-Bezug, sondern das Geworfensein und unvermitteltes, konstitutives Existenzial des Daseins.............................. 27 2. 5. Die Transzendenz ist nicht Raum für das Sich-zeigen des Daseins, sondern dieses „mißt“, und erleidet jene.................................................................................................... 28 2. 6. Das Dasein ist in sich transzendent, nicht weil es eine Gegenständlichkeit konstituiert, sondern weil es selbst Transzendenz und modus essentialis für den weltenden Anspruch des Weltenden ist ..................................................................................................................... 29
3. Die Wahrheit des Weltenden ist ein ruhender Anspruch und kein Sich-zeigen ................... 30 3. 1. Ziel der Phänomenologie Heideggers sind nicht die Sachen selbst als letzte Elemente der Welt, sondern das geschehend Weltende. .................................................................... 31 3. 2. Das Bedeutsame bedeutet sich selbst und weltet so. Die Welt ist weder ein Worinnen für das Sich-zeigen noch das Ganze von Beziehungen ....................................................... 33 3. 3. Die Phänomenologie ist strenges An-eignen des Weltenden und nicht dialektische Methode............................................................................................................................. 35 3. 4. Die Wahrheit des Weltenden zielt nicht auf ein weiteres Sich-zeigen, sondern versammelt sich im direkten Anspruch am Dasein. Welten als Ruhen. Das Wi(e)derkehren der Frage in den Ursprung des ansprechenden Weltenden................................................. 36 3. 5. Im direkten Anspruch des Weltenden wird am Dasein etwas Inadäquates verlangt, das nicht innerweltlich gezeigt werden kann.............................................................................. 38 3. 6. In der Sorge geht es um das verantwortliche Sein des Daseins als Endes und Ortes des ruhenden Anspruchs der Wahrheit ..................................................................................... 39
4. Der Anspruch und der Fehl des Seins und der Logos der Phänomenologie ....................... 41 4. 1. Wozu der Anspruch der Sachen? Buchstabieren der Wirklichkeit oder etwas mehr? Was kann das Dasein dem weltenden Anspruch anbieten? ........................................................ 41 4. 2. Sein und Wahrheit ist radikales Verlangen von Sein des Daseins und kein einfaches Sich-zeigen oder Disponiert-werden ................................................................................... 43
5. Der Zirkel des Verstehens als Direktheit des ruhenden Anspruchs am Dasein läßt die methodische Wiederholung der Seinsfrage aus ...................................................................... 48
4
5. 1. Die Phänomenologie Heideggers ist keine Methode, die einem vorausgesetzten Ende dient. Der weltende Anspruch des Seins am Dasein auf Wahrheit hat kein weiteres Wohin 48 5. 2. In welchem Sinne ist der Mensch fundamentum inconcussum veritatis? ..................... 51 5. 3. Der Zirkel und die Wiederholung ............................................................................... 53 5. 4. Die innere Motivation des Lebens. Die Immanenz des Lebens als Möglichkeit, Notwendigkeit und Freiheit ................................................................................................ 57 5. 5. Nur das direkt Befragte kann ins Gefragte führen, den Fehl der Wahrheit erleidend verstehen und nicht aus einer schwebenden Frageposition heraus durch eine vorhandene Antwort beantworten.......................................................................................................... 58 5. 6. Der Strom von Lebenskategorien. Das Denken als Gedachtes aber nicht als sich wissendes Wissen ............................................................................................................... 59 5. 7. Kein Anders-verstehen aus einer äußeren Position und kein bewußt ästhetischer Schein ................................................................................................................................ 60
6. Die Wahrheit am Dasein als Ermöglichung auch von Unwahrheit ist keine Verwirklichung und Energie eines sich zeigenden Ontologems, sondern das Entspringen einer noch nicht existierenden Wahrheit und „Qualität“................................................................................... 61
6. 1. Das ruhend Weltende und sein Verstanden-werden am Dasein selber. Kein perspektivistisches Anschauen ............................................................................................ 62 6. 2. Kein inneres Wahrnehmen, sondern An-ihm-selber-sich-selbst-zeigen als Verstehen des Fremden im Eigenen. Wahrheit und Unwahrheit im Dasein selber..................................... 63 6. 3. Die existentia als Verwirklichung und Wirklichkeit. Reaktion und nicht Ermöglichung. Der Entzug der Wahrheit und die Ermöglichung einer neuen Qualität................................ 65 6. 4. Die innere Grenze der d…malir letÇ k¡cou ............................................................. 66
7. Entfremdung wie bei Hegel? Muß die Idee erscheinen? ..................................................... 68 7. 1. Das Dasein ist keine Idee, welche in die Welt als Wirklichkeit fällt, sondern selbst das alles in sich ruhend übertreffende Transzendente, welches den Fehl der Wahrheit erleidet und an sich selber diese ermöglicht .................................................................................... 68 7. 2. Die Wirklichkeit soll nicht von einer Idee aufgehoben und bewahrheitet werden, sondern sie ist selbst das Erleiden des Fehls der Wahrheit und das am Tod Sich-übertreffen für diese ............................................................................................................................. 70
8. Die Wahrheit des Dasein ohne öffentliches und allverbindliches Kriterium......................... 72 8. 1. Das Vollziehen der Wahrheit ist nicht weltende und ruhende Wahrheit am Dasein .... 72 8. 2. Nur das Wahre als Ermöglichung des Fremden kann ein Ganzes für alle sein. ........... 74 8. 3. Die Wahrheit einer wissenschaftlichen Gemeinschaft hat zwei Vorussetzungen: 1. Den weltenden Anspruch des Seins. 2. Die direkte Erschloßenheit der Wahrheit am Sein des Daseins. Diese Wahrheit ist selbst Wahrheit und das Spiel von Wahrheit und nicht auf eine überhistorische Wahrheit gerichtet...................................................................................... 75 8. 4. Ist Ende und Wesen der Wahrheit ihr Vollzug von einem bzw. von jedem Subjekt? Warum kommt der Philosoph in die Höhle zurück?............................................................ 78 8. 5. Die ruhende Wahrheit ist nicht vollzogene Wahrheit einer Idee, sondern erlittene Wahrheit des Leibes ........................................................................................................... 79
9. Das Angebot Heideggers bis zu „Sein und Zeit“ ................................................................. 80 III. Das Sein „ist“ das Seiende ................................................................................................... 82
1. Das Sein kann bei Heidegger keine fundamental-ontologische Bedingung des Seienden sein.............................................................................................................................................. 82 2. Das Sein als gefragtes Kategoriales und nicht als Ontologem beim frühen Heidegger......... 84
2. 1. Das Sein ist kein Ontologem, sondern kategorialer Übergang des Seienden............... 84 2. 2. Das Sein ist für die Metaphysik Substanz und Wirklichkeit, welche in der Idee aufgehoben werden soll ..................................................................................................... 85 2. 3. Das Sein ist bei Heidegger kategorialer Übergang, verbindlich mit einem Seienden verknüpft und kein vorausgehender Sinn und bzw. Bedingung der Erfahrung.................... 85
5
2. 4. Das Sein entspringt aus dem Seiendem und ist so Differentes. Es ist kein Grund des Seienden. Das Sein ist kein Ontologem, keine Bekundung, keine Grenze und keine Gegenständlichkeit ............................................................................................................. 87 2. 5. Das Seiende und sein Absprung zum Sein. Das Seiende gehört zu seinem Differenten, und es wird von diesem gebraucht ..................................................................................... 87 2. 6. Das Sein ist nicht intentional als leerster Sinn des Seins gegeben, sondern als geschehendes Nichtsein und Aufgabe an der Transzendenz des Daseins. Es ist Prinzip als Aufgabe. Das Dasein ist direkt vom Sein zu seinem Nichtsein entgegengeworfen............... 89 2. 7. Das Sein wird am Seienden befragt, aber nicht als freischwebender Sinn................... 91 2. 8. Der Aufsatz über das Kunstwerk. Erde und Welt. Ins-Werk-setzen der Wahrheit......... 92
3. Die Frage des Seins, sofern es kein Worinnen, kein Ontologem und keine „Wirklichkeit“ ist.............................................................................................................................................. 93
3. 1. Sein als Position des Verhaltens. Kein dritter Inhalt. Es geht aus dem Seienden als Anzeige-Frage, nicht als Ontologem hervor ........................................................................ 93 3. 2. Kein Erfassen der Wirklichkeit im Ganzen .................................................................. 94 3. 3. Das Sein ist nicht intentional Differentes als Anderes des Seienden, sondern der Fehl am Seienden. Inadäquatheit. Ver-fehlen am Seienden und nicht Eintreten einer bestimmten Negation ............................................................................................................................ 95 3. 4. Die Behandlung der ontologischen Differenz in „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ (SS 27). Der Seinssinn als das Ermöglichende und nicht als wirklicher Entwurf .............................................................................................................................. 96 3. 4. 1. Letztendlich soll Sein aus keinem Woher und nicht leer-intentional verstanden werden. .............................................................................................................................. 97 3. 4. 2. Das Licht als Ermöglichendes und nicht als Entwurf ............................................... 98 3. 4. 3. Der Sinn ist nicht letzter intentionaler Horizont universalen Seinsverständnisses, sondern Überschlag des Seins-zu in sein Nichtsein, welches am Dasein direkt entgegengeworfen und verlangt wird. Das Sein ist der Werfer und das Dasein erhält den Auftrag ............................................................................................................................... 99 3. 4. 4. Die Zeitlichkeit des Daseins als angesprochene und entgegengeworfene Transzendenz des Seins.................................................................................................... 102 3. 4. 5. Das vorontologische Verstehen ist als Frage und Anspruch Ermöglichung des Begegnens von Seiendem und des Verstehens von Sein und nicht logische Bedingung derselben.......................................................................................................................... 106 3. 4. 6. Die Zeitlichkeit des Daseins in den Kant-Vorlesungen........................................... 107 3. 4. 7. Der vorontologische Unterschied.......................................................................... 111 3. 5. Die ontologische Differenz als Unter-scheiden des Seins........................................... 113 3. 5. 1. Das Sein ist nicht reaktives Mitanwesen, sondern entbergend-bergende Unterscheidung seiner selbst............................................................................................. 113 3. 5. 2. Das Sein als existentia und actus purus ist nicht das Sein als Enteignis und Bewahren seiner Wahrheit im sich enteignenden Ermöglichen des Unterschiedenen innerhalb seiner selbst. Das Sein zwischen „noch-nicht“ und „nicht-mehr“. Der neue Ursprung des Seins . 115
IV. Die Diagnose der Metaphysik und des Nihilismus. Tod oder Fehl Gottes?.......................... 119 1. Der Tod und der Fehl Gottes ........................................................................................... 119
1. 1. Der Tod Gottes als Moment der dialektischen Aneignung und der Fehl am Dasein selbst ................................................................................................................................ 119 1. 2. Der Nihilismus schafft nicht Raum für die Überwindung der Metaphysik .................. 119
2. Genealogie des Nihilismsus als Vollendung der Metaphysik, welche aber Geschichte der Wahrheit des Seins ist .......................................................................................................... 123
2. 1. Nihilismus ist Fall der obersten Werte. Enttäuschung. Der Wertcharakter der Metaphysik....................................................................................................................... 123 2. 2. Der Gang der Vollendung der Metaphysik................................................................ 124
6
2. 3. Der Nihilismus ist nur die vollendete Logik der Metaphysik, nicht ihre Auflösung..... 128 2. 4. Der Nihilismus denkt nicht das Nichts....................................................................... 130 2. 5. Die Metaphysik denkt nicht das Nichts als das Sein .................................................. 131 2. 6. Die anfängliche Entscheidung über das Wesen des Nihilismus ................................. 133 3. Das Wesen der Metaphysik, das nichtende Sein und das In-der-Wahrheit bzw. In-der-Unwahrheit-sein - als Existenzial des Daseins ................................................................... 135 3. 1. Das Nihil und der Nihilismus west nicht im Subjekt, sondern ist das Monent des Negierens eines Scheins ................................................................................................... 135 3. 2. Die Metaphysik denkt nicht das Sein, und der Nihilismus denkt nicht das Nichts...... 135 3. 3. Das Sein ist das Nichts als Ermöglichung des fehlenden Möglichen und seiner Wahrheit, aber auch Unwahrheit...................................................................................... 136 3. 4. Die Wahrheit des Seins, zu der die Metaphysik auch gehört, ist Existenzial des Daseins und nicht seine Konstruktion. Das mitgeborene Nichts und der innere Schmerz des Fehls 137 3. 5. Das Problem der Aneignung der Idee bei den Linkshegelianern............................... 142 3. 6. Ist das Menschliche in einem circulus vitiosus deus befangen?.................................. 143
4. Die Wahrheit als Erschloßenheit und Verstehen des Daseins. Das Nichts als Endlichkeit des Seins und das Gehören der Unwahrheit in der Wahrheit. Die Metaphysik als Unwahrheit in der Wahrheit und die „Kehre“ Heideggers als Ankunft des Un-Gedachten................................. 145
4. 1. Das Sein als Sein-zu ermöglicht seine Wahrheit, sein Nichtsein. Die Un-verborgenheit......................................................................................................................................... 145 4. 2. Das Nichts gehört zum Sein. Eine höhere Wahrheit wird in der Unwahrheit verborgen intendiert und nicht im ontologisch-dialektischen Wechselspiel von Wahrheit und Unwahrheit ...................................................................................................................... 146 4. 3. Eine seynsgeschichtliche Phänomenologie der „unreinen Vernunft“ kann „denkender“ ihr Ungedachtes denken. Die Wahrheit kommt aus dem Ungedachten des Gedachten und nicht aus einem gereinigten Ich ........................................................................................ 149 4. 4. Der Nihilist als unbedingtes Subjekt seiner Geschichte ist selbst keine Geschichte und so braucht er eine Abbildlichkeit, einen bewußt ästhetischen Schein .................................... 151
V. Die Wahrheit des Seins. Vier Schritten beim Verstehen von Wahrheit................................. 156 1. Die Maßlosigkeit der Wahrheit......................................................................................... 156
1. 1. Das Dasein wird nicht zur richtigen oder besseren Erkenntnis aufgefordert, sondern es ist schuldig ohne verschuldetes Maß. Das am Dasein innerlich wesende Nichtsein des Seins......................................................................................................................................... 156
2. Das vortheoretische Sich-verhalten des Daseins als mitgehende Weltlichkeit.................... 158 2. 1. Das vortheoretische, phänomenologische Verhalten als Zusammengehören des Daseins zum weltenden Anspruch des Seins auf Wahrheit............................................................. 158
3. Die vier Schritte im Verstehen von Wahrheit.................................................................... 161 3. 1. Wahrheit als Unverborgenheit oder “eher” als Unverborgenheit .............................. 162 3. 2. Die Direktheit und Gründung der Wahrheit am Dasein ............................................ 170 3. 2. 1. Die Wahrheit ist nicht einfach Originalität, sondern der verlangende Anspruch des entzogenen Seins an einem Da und die Erfüllung eines erleidenden Fehls und nicht eines dirigierenden oder regulativen Kriteriums ......................................................................... 170 3. 2. 2. Das Dasein ist das Gedachte und die Wahrheit des Seyns.................................... 171 3. 2. 3. Die Wahrheit des Seyns ist nicht seine Verwirklichung, sondern sein Entspringen an seiner entgegengeworfenen Grenze .................................................................................. 173 3. 2. 4. Der Zeit-Raum...................................................................................................... 174 3. 2. 5. Das Zögern und der neue Anfang......................................................................... 176 3. 2. 6. Das Sichversagende kommt aber so nicht als der erste Anfang, sondern als wesende Möglichkeit und Schenkung aus einer inneren Fuge......................................................... 177 3. 2. 7. Der Tod als exzentrische Mitte des Daseins .......................................................... 178 3. 2. 8. Die direkte Frage des Seyns an das Dasein und sein Entspringen aus dem Nichts 180
7
3. 2. 9. Das Erleiden des Fehls als Reichtum im „Harmonischentgegengesetzten“............ 181 3. 3. Die Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Unwahrheit ....................................... 184 3. 3. 1. Der Eintritt der Unwahrheit. Das Fehlen an Erfüllung........................................... 185 3. 3. 2. Die Wahrheit ist die Un-wahrheit, weil sie keine Verwirklichung und kein Sich-zeigen ist, sondern ihr Einwesen und Entspringen am Fremden .................................................. 187 3. 3. 3. Die Dialektik und Unbedingtheit des Nihilismus als Vollendung der Metaphysik... 188 3. 3. 4. Die negative Dialektik des Scheins bei Nietzsche und Adorno .............................. 191 3. 3. 5. Die Wahrheit aus der Not..................................................................................... 194 3. 3. 6. Die zu sich zurückkehrende und direkte Frage sucht keine Antwort, sondern sie erleidet den Fehl der Wahrheit. Die Bewahrung des Gesetzes .......................................... 195 3. 3. 7. Die Wahrheit ist nicht, sondern sie west aus der Verbergung................................ 196 3. 4. Exkurs: Heidegger und die Theologie....................................................................... 197 3. 4. 1. Heideggers Ausgangangspunkt ist die Theologie und nicht die Phänomenologie Husserls............................................................................................................................ 198 3. 4. 2. Der Glauben als thlipsis, als Warten und Vollzugszussammenhang gegen jeden Gehalts- und Bezugszusammenhang ................................................................................ 201 3. 4. 3. Das Christliche bei Heidegger in „Phänomenologie und Theologie“ .................... 206 3. 4. 3. 1. Christentum und Christlichkeit ......................................................................... 206 3. 4. 3. 2. Die Christlichkeit entscheidet über das Christentum ......................................... 207 3. 4. 3. 3. Christlichkeit ist der gläubige Glaube an den geoffenbarten Gott...................... 208 3. 4. 3. 4. Die Dialektik des Glaubens............................................................................... 209 3. 4. 3. 5. Das äußerste Ende der Offenbarung und die Abgeschlossenheit der Geschichte......................................................................................................................................... 210 3. 4. 3. 6. Die Theologie ist historische Wissenschaft, weil sie keine Geschichte hat ......... 211 3. 4. 3. 7. Die dialektische Theologie ist Vertiefung der historischen Methode. Die Theologie ist systematisch, weil sie historisch ist................................................................................ 212 3. 4. 3. 8. Die radikale Freiheit des Glaubens und die formal korrektive Anzeigung der Philosophie ...................................................................................................................... 213 3. 4. 3. 9. Die Theologie des gläubigen Glaubens ist Theodizee Gottes und nicht seine Darstellung ....................................................................................................................... 214 3. 5. Das Heilige und Plötzliche ........................................................................................ 217 3. 5. 1. Die Wahrheit aus der Einzigkeit. Lichtung und Verbergung als Eines und keine Dialektik. Das Heilige und Plötzliche ................................................................................ 217 3. 5. 2. Das Wahre ist nicht dialektische Vermittlung des Anfangs .................................... 220 3. 5. 3. Die innere und unscheinbare Fügung und die Phänomenologie des Unscheinbaren......................................................................................................................................... 224 3. 5. 4. Der Traum und das Erwachen.............................................................................. 228 3. 5. 5. Kosmogonie, Theogonie und Anthropogonie ....................................................... 231 3. 5. 6. Jedes Da ist Ort des Entspringens. Die Rettung des Gewesenen........................... 233
VI. Nachwort ........................................................................................................................... 234
VII. Bibliographie..................................................................................................................... 238 Primärliteratur .................................................................................................................. 238
Sekundärliteratur ................................................................................................................. 240
8
I. Einleitung
Martin Heidegger hat sich im Laufe seiner langjährigen Werktätigkeit sehr gravierend fortent-
wickelt. Auf den ersten Blick tritt er auf der Bühne der Phänomenologie auf. Ist er aber in seinem frü-
hen Werk Phänomenologe? Wie könnten wir andererseits sein späteres Denken der seynsgeschichtli-
chen Philosophie bezeichnen? Als Rückkehr in die Ontologie und Metaphysik? Ist Heidegger ein Phä-
nomenologe, der Husserl korrigiert und dadurch übertrifft, daß er die Phänomenologie nicht im gerei-
nigten Bewußtsein, sondern im Sein des Daseins ansetzt? Geht Heidegger also bei der Frage nach dem
Sinn des Seins viel fundamentaler als Husserl vor? Zielt seine Phänomenologie auf die Wahrheit als
Entdecktheit? Ist diese die aus dem Sein des Daseins resultierende phänomenologische Unmittelbar-
keit der Sache selbst? Gelangt dann Heidegger in seinem späteren Werk aus einer existenz-
fundamentalen und transzendentalen Konstituierung des Seins aus dem Sein des Daseins zu einer me-
taphysisch-ontologischen Setzung des Seins und seiner Geschichte?
Diese Fragen werden in der Heidegger-Forschung - wenn auch aus unterschiedlichen Motivati-
onslagen heraus - zumeist positiv beantwortet. Andererseits müßte aber auch die Frage erlaubt sein, ob
wir das Wesen der Wahrheit beim frühen Heidegger, ihre immanenten Voraussetzungen und ihren
Sinn doch so verstehen könnten, daß Wahrheit eben nicht phänomenologische Unmittelbarkeit ist,
sondern sich in einheitlicher Wesensentwicklung im gesamten Werk Heideggers darstellt? Könnten
wir dann diesen Sinn von Wahrheit im späteren Heidegger herausholen und nicht die Aufhebung und
Vermittlung der Geschichte der Wahrheit im vorausgesetzten Sein, das sich auf der letzten und leers-
ten Stufe einer noologischen Reflexion ergibt?
Dann wäre aber diese Wahrheit weder phänomenologische Unmittelbarkeit noch dialektische
Vermittlung in einem sich entziehenden Anfang, welcher sich am Ende als der erweist, der er ist. Die-
sen immanenten und einheitlichen Sinn von Wahrheit bei Heidegger herauszuarbeiten, hat sich die
vorliegende Arbeit als Aufgabe gesetzt. Das Wesen dieser Wahrheit ist weder unmittelbarer Anfang
noch Vermittlung des unverfügbaren Anfangs in seinem Ende, sondern das Heilige und Plötzliche als
das Letzte aus der Mitte des Weges.
Thema der Arbeit ist nicht die sogenannte „Kehre“ Heideggers, sondern der das ganze Werk
Heideggers durchziehende immanente Sinn von Wahrheit - ein Sinn, der im Spätwerk auf den Namen
des Heiligen und des Plötzlichen hört. Thema ist die Kehre insofern, als dass eine Forschung über die
Kehre geradezu zwangsläufig Heideggers gesamten Gang und seine Übergänge zu untersuchen hat.
Daher kann man auch bei Beiträgen zur Kehre die Frage nach dem anfänglichen Sinn der Wahrheit bei
Heidegger, nach seiner Wesensumwandlung und seinem Vollzug formulieren und den Versuch unter-
nehmen, eine immanente und alle Perioden Heideggers umfassende Entwicklungslinie zu erfassen,
welche entweder immanent progressiv und einheitlich oder in eine ganz andere Periode übergehend
9
oder zu einem anderen Ansatz umkehrend, der dann auch als Rekonstruktion des ersten Ansatzes ge-
sehen werden kann, sein mag.
So sehen manche Forscher, wie z.B. O. Pugliese, W. Marx, F. W. von Hermann, P. L. Coriando,
in Heideggers „Kehre“ das Wiederholen des nun mit der Seynsgeschichte versehenen Anfangs und
daher einen Versuch, welcher sich wieder rekonstruktiv, phänomenologisch und transzendental im
Dasein ergibt. Dagegen ist für andere1, wie C. F. Gethmann oder D. Thomä, bei Heidegger eine wirk-
liche Kehre hin zu einer metaphysisch-ontologischen Voraus-setzung des Seins eingetreten und die
endgültige Aufgabe jeden phänomenologisch-transzendentalen Versuchs aus dem Sein des Daseins
vollzogen.
Demgegenüber fragt die vorliegende Arbeit nach dem immanenten Sinn und Wesen der Wahr-
heit beim frühen und späteren Heidegger, welcher sowohl von der phänomenologischen Unmittelbar-
keit und Entdecktheit als auch von der Aufhebung und Vermittlung der Geschichte der Wahrheit im
Sein als einem Ende und einer Teleologie des sich entziehenden, aber eigentlichen Anfangs verschie-
den ist und als immanente und höhere Wahrheit des Da-Seins, als das Heilige und Plötzliche, west und
aufbricht.
Im ersten Teil wird der Sinn des Stehens des Daseins in der Welt und in der Wahrheit erörtert.
Es wird untersucht, wie das Weltende, das die Welt darstellende und weltende Sein der Dinge der
Welt, nicht ein innerweltliches Sich-zeigen eines ersten Wesenselements für die Phänomenologie ist,
sondern ein einen radikalen Anspruch direkt an das Sein des Daseins stellendes und so einen modus
essentialis verlangendes Weltendes ist. Der Anspruch des die Welt Weltenden als seine eigene Wahr-
heit ist Anspruch an das welthafte Sein des Daseins und nicht ein innerweltliches adäquates Sich-
zeigen. Was das Weltende aus dem Dasein verlangt, kann nicht innerweltlich und kategorial gezeigt
werden, sondern stellt die Frage einer welterschließenden Darstellung dieses Anspruchs. Das Dasein
ist weiterhin nicht einfach transzendental in einer vorliegenden Trennung zwischen dem Subjekt und
der Welt der Objekte, sondern vielmehr in sich transzendent und selbst die entgegengeworfene Trans-
zendenz des weltenden Anspruchs auf Wahrheit. Das Dasein erhält einen direkten und auf das Dasein
gerichteten und endenden Anspruch des Weltenden und vermittelt nicht bloß die Aufgabe für das ori-
ginäre und rein-phänomenologische Entdecken der Sache selbst. Der Anspruch auf Wahrheit wird auf
das Dasein entgegengeworfen, in diesem versammelt er sich und schließt seine Bewegung ab.
In diesem Sinne ist der Logos der Phänomenologie nicht der Vermittler für das Sich-zeigen des
Seins, sondern steht im direkten und vorontologischen Anspruch des Seins auf eine nicht adäquate und
nicht eine „Idee“ entwerfende Wahrheit. Dieser Anspruch spricht aus einem Fehl her an, welchen das
direkt angesprochene Dasein erleidet und nicht vorstellend und entwerfend erfüllen kann. Das Dasein
selbst ist der Ort der Wahrheit, und zwar ihres Fehls, und befindet sich schon in der Wahrheit oder
1 In der Heidegger-Forschung hat sich die Auffassung etabliert, Heidegger habe eine wirkliche "Kehre" vollzo-gen. In den meisten Beiträgen lassen sich diesbezügliche Argumentationen finden. In anderen wird die "Kehre"
10
auch Unwahrheit des Seins, die beide ein Existenzial des Daseins sind und niemals eine äußere Leis-
tung des Daseins, eine Konstruktion, ein Schein, welcher kritisch-dialektisch destruiert oder aufgeho-
ben werden könnte. Die Wahrheit wird am Ort des Daseins erlangt und ist keinesfalls die Verwirkli-
chung oder das Erscheinen einer Idee. Sie entsteht und ist be-wahrende Erfüllung und Darstellung im
und aus dem Ort ihres Anspruchs und des Erleidens ihres Fehls und ist nicht die erscheinende Bewäh-
rung einer Idee oder eines Subjekts.
Im zweiten Teil wird der Bezug zwischen Sein und Seiendem und die Stelle des Daseins in die-
sem untersucht. Beim frühen Heidegger - bis 1927 - ist das Sein keinesfalls fundamentalontologische
Bedingung oder transzendentallogische Intentionalität für das Begegnen des Seienden, sondern Frage,
Postulat, Sinn vom Sein aus dem Seienden. Das Sein ist kein Ontologem für das Seiende; es ist weder
transzendentallogische Bedingung und Gattung noch seine Essenz oder seine Grenze, sondern Motiva-
tion und gestimmtes Postulat aus dem Seienden. Seit der Vorlesung des SS 27 und den Kantvorlesun-
gen wird das Sein nicht nur als Frage aus dem Seienden, sondern auch als vorontologisches Ermögli-
chendes verstanden. Es ist nicht transzendentallogische Bedingung, sondern das Sich-am-Seienden-
Unter-scheidende und am-Seienden-neu-Gefragte und -Entspringende. Das Sein und die Zeit sind
nicht intentionale Bedingung und letzter leerster Horizont für das Haben des Seienden, sondern das
Ermöglichende, der Auftraggeber, der am Ort Seienden direkt gestellte Anspruch an das Dasein. Das
Seiende ist nicht existentia des Seins als Realität und Wirklichkeit und wird auch nicht im Sein aufge-
hoben, sondern ist der Ort des neuen Ursprungs des sich Unter-scheidenden und innerhalb seiner
selbst das Seiende als Fremdes ermöglichenden Seins.
Im dritten Teil wird unter Anwendung von Heideggers Verständnis und dessen Konsequenzen
für die dieser Arbeit zugrundeliegende Interpretation die Geschichte der Metaphysik als Geschichte
der Wahrheit des Seins herausgearbeitet. Die Geschichte der Metaphysik erweist sich bei Heidegger
als eine Genealogie des Nihilismus. Es ergibt sich ein dialektischer Prozeß des Negierens der äußeren
Bedingungen, welcher als Unbedingtheit des eigentlichen Subjekts vollzogen wird. Der Tod Gottes ist
daher das Moment der Negation in der Methode, im Gang der Aufhebung, und niemals ein im Sein
und im Subjekt wesendes Nichts. Daher unterscheiden sich Tod und Fehl Gottes radikal voneinander.
Während das Dasein selbst Ort der Wahrheit, aber auch der Unwahrheit ist, ist das Subjekt ein reines
und punktuelles Ich oder das eigentliche dialektische wahre Subjekt, welches den unwahren Gott au-
ßerhalb seiner und in seinen Leistungen und in seinem Schein tötet. Der Fehl Gottes ist dagegen der
tote Gott innerhalb des Daseins. Aus dem Erleiden eines solchen Fehls fängt nach dessen Verenden
nicht wieder ein circulus vitiosus deus an, sondern der letzte Gott kann auferstehen und entspringen. In
diesem Zusammenhang erweist sich das Projekt des Nihilismus und der Säkularisierung als unvoll-
ständig. Auf dasselbe weist auch der Linkshegelianer M. Stirner mit seiner Kritik an die Vertreter des
posthegelianischen Aneignens und Aufhebens der Idee im eigentlichen menschlichen Subjekt hin. In
als gültig vorausgesetzt. Hier werden nur Autoren und Werke erwähnt, welche die "Kehre" Heideggers einge-
11
diesem Sinne steht der letzte Gott als der tote und gekreuzigte Gott, welcher aus dem Tod, der Un-
wahrheit und dem Erleiden des Fehls an Wahrheit aus einem Dasein entspringt und aufersteht, einem
immer wieder anfangenden circulus vitiosus deus und Dionysos, welcher den Tod als einen Moment
aufhebt, entgegen.
Im vierten Teil schließlich nähern wir uns in vier Schritten dem Sinn und dem Wesen der Wahr-
heit, wie sie sich uns im Gesamtwerk Heideggers offenbaren, an. Die Wahrheit ist erstens Entdecktheit
und Unverborgenheit, aber nicht nur das. Sie ist zudem Erschlossenheit des Daseins, welches schon
vorontologisch in der Wahrheit oder Unwahrheit ist. Die Wahrheit entsteht am direkten Anspruch des
Seins auf das Dasein. Der Anspruch des Seins erhält einen Gegenstoß, einen Ort des Ruhens und der
Zögerung und wird nicht weiter und innerweltlich entworfen. So ist zweitens die Wahrheit in einem
entgegengeworfenen und vom Sein direkt beauftragten Dasein gegründet, verwickelt und versammelt.
Solcher ist schon der logos der Phänomenologie. Dieser ist der Ort des Erleidens eines Fehls an Wahr-
heit, welcher kein adäquates Entwerfen auf ein weiteres Wohin sein kann. Das Dasein als Ort der
Gründung der Wahrheit des Seins ist drittens Ort der Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Un-
wahrheit, welche keine negative Dialektik des Scheins wie bei Nietzsche und Adorno annehmen kann
- es ist demgegenüber das Wesen einer immanenten, fehlenden und erleideten Wahrheit.
Aus dieser Verbergung im entgegengeworfenen Da, aus dem Erleiden des Fehls der Wahrheit
am Ort ihres Anspruchs und nicht als Bewährung und Verwirklichung einer Idee wird viertens diese
verborgene und fehlende Wahreit als das Heilige und Plötzliche entspringen. Vor dieser Behandlung
liegt ein Exkurs über den fünffachen theologischen Ansatz Heideggers: 1. Deutung der Transzendenz
als Bezogenseins des existenten Anspruchs zweier Weltender und nicht als Abstands punktueller Sa-
chen. 2. Der Vollzug der Welt aus der Not und der Trübsal und nicht durch eine reaktive und inner-
weltliche Dialektik. 3. Phänomenologie und Theologie. 4. Die Metaphysik als Onto-theo-logik (wie
sie aber in Teil III erörtert wird). 5. Die sogenannte „seynsgeschichtliche Theologie“, welche in die-
sem Teil thematisiert wird.
Letztlich ist das Wesen der Wahrheit als das Heilige und Plötzliche das Entspringen und Sich-
Darstellen der Wahrheit aus der Verbergung in einem angesprochenen und sie erleidenden Da und
nicht die Verwirklichung und Bewährung einer erscheinenden Idee. Das Sein ist nicht absolute Positi-
on, summum ens, Subjekt, Ich, das nur prädiziert und nicht dargestellt werden kann, sondern es ist
Darstellung, reales Prädikat, inhaltliche Erfüllung und Konstituierung der Welt. Gott ist nicht das Hei-
lige, sondern das Heilige ist Gott. Es geht um die Umkehrung des Satzes und der Ordnung und der
Bewegung zwischen Subjekt und Prädikat.2 Besonders in den Hölderlin-Vorlesungen entspringt der
Strom aus dem Meer und ist nicht am Anfang zu Hause. Der letzte Gott entspringt aus der Unwahrheit
und ihrem Erleiden der Wahrheit, aus dem Tod als Ge-birg der Wahrheit und ist nicht der Gott des
hend untersuchen. 2 Allerdings nicht wie bei L. Feuerbach im Sinne der dialektischen Aneignung des menschlichen Subjekt als eines vom göttlichen Subjekt abgerissenen Prädikats.
12
Anfangs, welcher seinen Tod und seine Unwahrheit als Momente in diesem eigentlichen Anfang auf-
heben könnte. Das Letzte, das Heilige und Plötzliche ist nicht das Ende, die Teleologie des Anfangs,
sondern es entspringt aus der Mitte des Holzwegs, aus dem Fehl innerhalb des Seins und ist niemals
seine Energie (actualitas). Das Wesen der Wahrheit bei Heidegger als das Heilige und Plötzliche liegt
sowohl außerhalb einer phänomenologischen Unmittelbarkeit als auch einer dialektischen Vermitt-
lung.
Der Verfasser hat letztendlich das Gefühl, dass seine Interpretation „möglicherweise“ zu einem
besseren Verständnis Heideggers beiträgt. Inwieweit dieses Gefühl gerechtfertigt ist, kann nur der
Leser entscheiden. Zuweilen benötigt man jedoch einen gewagten Interpretationsversuch, welcher
mittelbar das Verständnis Heideggers fördert, auch wenn er eventuell nicht das einzig Richtige fest-
stellt.
13
II. Der direkte und am Dasein endende Anspruch des Seins auf eine fehlen-de und nicht zu entwerfende Wahrheit beim frühen Heidegger
1. Der Anspruch des Weltenden auf das Sein des Daseins
1. 1. Das In-der-Welt-sein nicht als Geworfensein in einer umfassenden Welt, sondern als Ausge-setztsein des Daseins in dieser. Das Dasein ist in sich transzendent.
Die Beziehung zwischen „Dasein“ und „Welt“ ist sowohl im Werk Heideggers selbst als auch
für sein Verständnis grundlegend. Das Dasein befindet sich in der Welt, und seine eventuelle setzende
Absolutheit, aber auch seine Geschlossenheit in sich sind abgebrochen. Das Dasein ist kein endliches
Ich, welches die Dinge setzt und deren Gehalt mit seinen Vorstellungskategorien vereinigt. Das Da-
sein kann bei Heidegger kein endliches Ich mit kritischem und apriori geltendem Vermögen sein. Es
ist der Welt ausgesetzt und so von der Ichheit im kritisch-idealistischen Sinne abgebrochen. Seine
Endlichkeit bedeutet allerdings das Abgebrochensein jeder Aprioriotät und kritischer Wesensumgren-
zung im eigenen, gereinigten verbindenden Ich-Raum. Insofern bedeutet Endlichkeit Abgebrochensein
des Ich, zugleich aber - und das ist wichtig - Ausgesetztheit des Daseins in der weiten Offenheit der
Welt: Un-endlichkeit.
Der Abbruch des Daseins ist ein Ausgesetztsein, eine Herausforderung, ein Verfallensein an die
abbrechende Welt. Vom Abbrechenden mitgenommen, steht das Dasein diesem zugleich gegenüber.
Das Abgebrochensein führt nicht zu einer kritischen Umgrenzung3 des Ich, sondern entläßt das Dasein
in die Welt, von und zu den Dingen. Der Abbruch entsetzt das Dasein aus sich und setzt es inmitten
dieses Bruches. „Dasein ist nie «zunächst» ein gleichsam in-sein-freies Seiendes, das zuweilen die
Laune hat, eine «Beziehung» zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt
ist nur möglich, weil Dasein als In-der-Welt-sein ist, wie es ist“ (S. u. Z., S. 57). Das Dasein ist, sofern
es zu den Gegenständen ist, sofern es sich diesen zeigt. „Die Art und Weise, in der das Selbst im fakti-
schen Dasein sich selbst enthüllt ist, kann man dennoch zutreffend Reflexion nennen, nur darf man
hierunter nicht das verstehen, was man mit diesem Ausdruck versteht: eine auf das Ich zurückgeboge-
ne Selbstbegaffung, sondern einen Zusammenhang, wie ihn die optische Bedeutung des Ausdrucks
>Reflexion< kundgibt. Reflektieren heißt hier: sich an etwas brechen, von da zurückstrahlen, d.h. von
etwas her im Widerschein sich zeigen“ (Grundprobl. der Phän., Bd. 24, SS 27, S. 226).
3 Aus einer kritisch-subjektiven und weltgeschichtlichen Position sieht K. Axelos, daß das Dasein wie der Kommunismus die Wirklichkeit nie auflösen und aufheben kann, und daher es nur eine ewige (weltbildende und spielende) Bewegung des unendlichen Aufhebens des jeweiligen Zustands gibt. Das jeweilige "Ich" oder Dasein soll der welt-spielenden Objektivität gewachsen sein und diese immerfort in einem offenen Prozeß aufheben (K. Axelos, Einführung in ein künftiges Denken, Tübingen 1966, S. 13 ff., 31 ff.).
14
Das Dasein ist aber solcherweise nicht inmitten des Seienden als ein weiteres Seiendes zu ver-
stehen. Diesen Abbruch und dieses Gefallensein kann das Dasein nicht als ein vorhandenes Seiendes
zwischen anderen unter derselben Lage so einfach durchgeführt und überstanden haben, sondern es
soll gerade diesen Abbruch in seiner Existenz aufnehmen und austragen. Das In-der-Welt-sein deutet
keineswegs auf einen Wechsel vom Idealismus zum Realismus und Existenzialismus4 hin. „Gewiß,
aber die so gefaßte Intentionalität macht doch nicht begreiflich, inwiefern wir uns in den Dingen wie-
derfinden. Das Dasein >transponiert< sich doch nicht an die Stelle der Dinge und versetzt sich doch
nicht als ein Seiendes ihrer Art an ihre Gesellschaft, um sich als dort vorhanden nachträglich zu kons-
tatieren. Allerdings nicht. Aber nur aufgrund einer vorgängigen >Transposition< können wir doch von
den Dingen her auf uns selbst zurückkommen. Die Frage ist nur, wie diese >Transposition< zu verste-
hen und wie sie aus der ontologischen Verfassung des Daseins möglich ist“ (Grundprobl. der Phän.,
SS 27, S. 229). Deswegen: „Was aber ursprünglich transzendent ist, d.h. transzendiert, sind nicht die
Dinge gegenüber dem Dasein, sondern das Transzendente im strengen Sinne ist das Dasein selbst. Die
Transzendenz ist eine Grundbestimmung der ontologischen Struktur des Daseins. Sie gehört zur Exi-
stenzialität der Existenz. Transzendenz ist ein existenzialer Begriff“ (a.a.O., 230).
Die Transzendenz ist Existenzial5 des Daseins, weil dieses endlich ist und zu den Dingen in der
Welt geworfen ist, und nicht weil es als Absolutes jede Grenze überschreitet oder demgegenüber im
eigenen transzendentalen Erkenntnisvermögen kritisch verbleibt. Folglich ist es das ganz Andere der
kantischen Endlichkeit. Nur das Endliche kann absolut sein. So heißt es beispielweise in einer Kant-
Vorlesung: „Angewiesen auf das Seiende, das er nicht ist, ist er zugleich des Seienden, das er je selbst
ist, im Grunde nicht mächtig. (...) Existenz ist als Seinsart in sich Endlichkeit und als diese nur mög-
lich auf dem Grunde des Seinsverständnisses“ (Kant und das Problem der Metaphysik, Bd. 3, SS 28,
228). Das Dasein ist seiner selbst nicht mächtig und trotzdem dem Seinsverständnis ausgesetzt und
überantwortet. Es ist geworfen und dem Bruch und der Transzendenz überantwortet. Es regelt und
4 Über das Mißverständnis, Heideggers S.u.Z. als Subjektphilosophie zu halten, siehe: G. Figal, Martin Heideg-ger, Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a. M. 1988, S. 18 ff., und H. Mörchen, Adorno und Heidegger: Untersuchung e. philos. Kommunikationsverweigerung, Stuttgart 1981. 5 K. O. Apel wirft Heidegger Reflexionslosigkeit vor. "..., daß Heidegger sich schon bei der Analyse der >Vor-struktur< des verstehenden >In -der-Welt-seins< in Sein und Zeit keine transzendentalreflexive Rechenschaft von dem unaufgebbaren universalen Gültigkeitsanspruch und den Präsuppositionen seiner eigenen philosophi-schen Analyse der (existenzialontologischen) Strukturen des In-der-Welt-seins gegeben hat. Statt dessen >ver-fiel< gewissermaßen seine Analyse unmittelbar auf die - freilich bis dahin kaum bemerkten - kontigentgeschicht-lich bedingten Strukturen der >Faktizität< des >je schon< verstehenden In-der-Welt-seins als eines >geworfenen Entwurfs< ...", K. O. Apel, Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung, in: M. Heidegger: Innen- und Außen-ansichten, hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1989, S. 168. Das Dasein ist aber keine abgebrochene Vorhandenheit in der Welt. Die Transzendenz des In-der-Welt-seins ist sein Existenzial. Es reflektiert sich nicht als ein autonomes und in sich geschlossenes Ich. Es ist aber höchst reflek-tiert in der Welt als geworfener Entwurf. Seine "Reflektiertheit" erreicht das höchste "Niveau" des Seins zu Tode und des Schuldig-seins. Das In-der-Welt-sein ist nicht ein nachträgliches Moment eines reflektionlosen Ich, sondern die Existenz des Daseins und deswegen Durchsichtigkeit und Übernahme der Position des Daseins, welche aber keine ich-geschlossene ist, sondern der Transzendenz ausgesetzt und schuldig als Existenzial des Daseins. Das Dasein ist nicht einfach in sich reflektiert, sondern vielmehr überantwortet und hat sein Sein aus dem Nichts entschieden zu sein.
15
mißt nicht aus seinen Grenzen eine vorhandene und perfekte Form der Welt, sondern es ist selbst das
endliche, geworfene ungeformte Maß der Welt.
„Aber der Mensch ist nie unendlich und absolut im Schaffen des Seienden selbst, sondern er ist
unendlich im Sinne des Verstehens des Seins. Sofern aber, wie Kant sagt, das ontologische Verständ-
nis des Seins nur möglich ist in der inneren Erfahrung des Seienden, ist diese Unendlichkeit des Onto-
logischen wesensmäßig gebunden an die ontische Erfahrung, so daß man umgekehrt sagen muß: Diese
Unendlichkeit, die in der Einbildungskraft herausbricht, ist gerade das schärfste Argument für die
Endlichkeit. Denn Ontologie ist ein Index der Endlichkeit. Gott hat sie nicht. Und daß der Mensch die
exhibitio hat, ist das schärfste Argument seiner Endlichkeit“ (a.a.O. S. 280).
Heidegger sieht im Auslassen der Einbildungskraft als der eigentlichen Wurzel der beiden Er-
kenntnisvermögen in der zweiten Ausgabe der „Kritik der reinen Vernunft“ ein Versäumnis.6 Demge-
genüber konzipiert er selbst das Dasein zeitlich, räumlich und weltlich als geworfenes und zugleich
konstituierendes Maß der Welt und nicht als ein transzendentales Ich innerhalb der absoluten und un-
darstellbaren Form einer geometrischen Welt. Das Ausgesetztsein des Daseins an die Welt - seine
Endlichkeit - ist selbst sein Transzendieren7 im Ganzen.
Das Dasein ist nicht ein kritisch-idealistisches Subjekt in der Transzendenz der Welt, sondern
erhält und enthält die werfende und geschehende Transzendenz der sich am Dasein darstellenden
Welt.
6 Hierzu siehe auch K. O. Apel in a.a.O., S. 144 ff. 7 In dieser Hinsicht könnten wir beim späten Heidegger die "Gelassenheit" verstehen. Das Dasein hat nicht eine innerweltliche Perspektive aus der Welt, sondern es ist dieser ausgesetzt und hat in sich dieses Fallen und Gefal-lensein übernommen. Deswegen will es nicht aus der Welt reaktiv herauskommen, sondern es läßt die Welt an ihm selber welten. Über die Gelassenheit siehe: U. Guzonni, Das Denken der Gelassenheit und der Bezug des Seins zum Menschenwesen (In: U. Guzonni (Hrsg.), Wege im Denken. Versuche mit und ohne Heidegger, Mün-schen-Freiburg 1990, S. 203 ff.).
16
1. 2. Das Weltende weltet die Welt. Das Weltende setzt einen Anspruch auf einen modus essenti-alis und ist nicht innerweltliches Sich-zeigen in kategorialer Form
Das In-der-Welt-sein ist keine reflexiv-endliche Blickposition innerhalb eines allumfassenden
Ganzen, sondern ein Welten der Welt. Die Welt weltet; sie ist nicht das Ganze von Bezugszusammen-
hängen oder die Realität und erste Substanz wie die res extensa bei Descartes. Die Welt ist Welten und
das heißt Geschehen, Sich-darstellen und neues Qualifizieren der Welt in jedem Da.
„Dieses Umweltliche (Katheder, Buch, ...) sind nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeu-
tungscharakter, Gegenstände, und dazu noch aufgefaßt als das und das bedeutend, sondern das Be-
deutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne jeden gedanklichen Umweg über ein Sacher-
fassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall und immer, es ist alles welthaft, «es weltet»,
(...)“ (Zur Bestimmung der Philos., 1919, S. 72 f.).
Dieses Welten der Welt kann nicht versachlicht und theoretisiert werden. Es stellt alles seinem
geschehenden Anspruch8 und seinem weltenden Aufreißen unter. Das weltende Umweltliche braucht
nicht einen depotenzierten und abbildenden Status seines Anspruchs, sondern als weltendes Gesche-
hen einen modus essentialis, das Sein des Angesprochenen selbst. Was weiterhin das Weltende aus
dem Dasein verlangt, kann nicht innerweltlich gezeigt werden, sondern stellt die Frage der welter-
schließenden Darstellung seines Anspruchs. Das Dasein erlebt in seinem Sein dieses ansprechende
weltende Bedeutsame.
„(...), es ist ein Erlebnis eigens für mich, und so sehe ich es auch; es ist aber kein Vorgang, son-
dern ein Ereignis (nicht Vorgang, im Frageerlebnis ein Rest von Ereignis). Das Er-leben geht nicht vor
mir vorbei, wie eine Sache, die ich hinstelle, als Objekt, sondern ich selbst er-eigne es mir, und es er-
eignet sich seinem Wesen nach. Und verstehe ich es darauf hinblickend so, dann verstehe ich es nicht
als Vor-gang, als Sache, Objekt, sondern als ganz Neuartiges, ein Ereignis. (...) Er-eignis besagt auch
nicht, als würde ich mir das Er-lebnis von außen oder irgendwoher an-eignen; >außen< und >innen<
haben hier sowenig Sinn wie >physisch< und >psychisch<. Die Erlebnisse sind Er-eignisse, insofern
sie aus dem Eigenen leben und Leben nur so lebt. (Ereignischarakter hiermit noch nicht voll be-
stimmt.)“ (a.a.O., S. 75).
Ein Ereignis des Weltens ist kein Vorgang vor dem Dasein, sondern ein Er-leben aus und in sei-
nem „Eigenen“, welches das Weltende aus dem Dasein braucht und er-eignet! Es ist noch zu früh, aber
die Intention, die nach 1927 zur vollen Entfaltung kommt, zeichnet sich schon hier, im Frühwerk Hei-
deggers ab. Das Dasein wird von der Wahrheit gebraucht und bietet sich aus und in seinem „eigenen“
Leben an, es er-lebt die Wahrheit, welche ein Er-eignis des Daseins ist. Das Leben hat die Möglich-
8 Der Anspruch des Weltenden schließt in sich Nähe und Ferne ein. Der Anspruch am Dasein liegt so nah, aber das Weltende wird nicht anderswoher thematisiert und so kommen und gehen sein Anspruch und es selbst in die Ferne - es weltet im Ganzen. Über Ferne und Nähe als Bezug und Unverfügbarkeit beim späten Heidegger siehe:
17
keit, das weltende Geschehen in einem modus essentialis sich ereignen zu lassen. Das Erleben ist dar-
stellende Erschließung des weltenden ansprechenden Geschehens und nicht Depotenzierung in einem
erklärenden und die Welt abbildenden innerweltlichen Modus. „Versuche ich, die Welt theoretisch zu
erklären, dann fällt sie in sich zusammen. Es bedeutet keine Steigerung des Erlebnisses, kein Besser-
Erkennen der Umwelt, (...)“ (a.a.O., S. 87). Das Aneignen und Er-eignen der Sache selbst, wie es Hei-
degger in dieser Periode fordert (wie hier oder in Phän. 19/20, S. 68, 110, 119), bedeutet in erster Linie
nicht das Haben einer Sache in ihrer eigenen Klarheit und Originalität, sondern vielmehr das Aneignen
der Sache im und aus dem Eigenen des Daseins und somit das geschehende Welten des Weltenden im
modus essentialis des Daseins. Das Aneignen bedeutet das Gebrauchtwerden des Daseins beim welt-
enden Geschehen der Welt und nicht ein subjektives Erfassen des Objekts. So bezeichnet das Leben
ebensowenig das Vitale, Unzurückführbare, Lebendige oder Immanente der Lebensphilosophie, wie
darin das Erlebnis im Sinne des Habens einer Sache in fundamentalen Motiven ausgedrückt ist. Viel-
mehr läßt es sich als das Anbieten des Seins des Daseins und dessen Gebrauchtwerden beim welten-
den Geschehen der Wahrheit der Welt auffassen. Insofern ist das Leben das Aus-sich- und In-sich-
welten-lassen des Anspruchs des Weltenden auf seine welterschließende und nicht innerweltliche Dar-
stellung und Wahrheit.
1. 3. Das faktische Leben er-lebt im Eigenen das weltende ansprechende Geschehen
Heidegger kommt in der im WS 21/22 gehaltenen Vorlesung „Phänomenologische Interpretati-
on zu Aristoteles“ sehr oft auf die Verbindung des faktischen Lebens mit dem Gegenstand der Philo-
sophie zu sprechen. Wir würden sagen, daß das faktische Leben, welches - sich selbst verbrauchend -
in einem Verhältnis zur Seinsfrage steht, nicht einfach das Kontigente ist, sondern das Tragen der Ver-
antwortung aus und in seinem eigenen Da.
„(...) auf den Menschen selbst im Wie seines Seins (sc. hier fragt sich H., ob im Wie des Men-
schen auch sein Schein gehört, d.V.), (...) daß sich ein Gegenstand und ein Seinssinn eines Gegenstan-
des vom Charakter des faktischen Lebens nur erschließt im Zugang zu ihm, bzw. in einem faktischen
Zugangsversuch und Wagnis; (...) kein beliebiges, frei für sich laufendes Kenntnisnehmen von Mög-
lichkeiten, sondern faktisches Verstehen im Angesicht der faktischen Sorgens- und Bekümmerungszu-
sammenhänge des eigenen Lebens und seiner Vergangenheit und seines Kommenden; eine Bereit-
schaftsbildung und Voraneignung der Vorgriffe, die jeden Schritt eines zu vollziehenden Philosophie-
rens sollen vollzugsmäßig bestimmen können;“ (Phän. Interpr. zu Aristot., Bd. 61, S. 167-169).
Das In-der-Welt-sein des Daseins ist für das weltende Geschehen der Wahrheit jedes Umweltli-
chen ein Leben als modus essentialis. Das schrittweise Wachsen der phänomenologischen Methode
U. Guzonni, Das Denken der Gelassenheit, a.a.O., S. 223 ff. Daher ist das einzelne Ding nicht in sich geschlos-sen, sondern quasi bedingt im Ganzen (S. 206, 212).
18
von einem Anfang zu einem Ende weist auf keine methodische Echtheit hin, sondern ist das aus dem
eigenen Sein des Da-seins hervorgehende Er-leben des Weltenden. Das Primäre, was sich phänomeno-
logisch ergibt, sind nicht radikal theoretisierte und entlebte Wesenselemente wie bei Husserl (Zur Be-
stimmung der Philos., SS. 19, S. 109-117), sondern das Weltende und Er-lebbare. Das Originäre ist
nicht ein innerweltliches Wesenselement als radikales Etwas der Theorie, sondern das ansprechende
Weltende, das die Welt überhaupt darstellende und qualifizierende Geschehen. Sein Er-leben am Da-
sein weist eine innere strömende Einheit auf und ist rück-, vorgreifend und weltdarstellend und nicht
punktuell innerweltlich und analytisch verbindbar. Das originäre Phänomen ergibt sich im Er-leben
und Behalten des die Welt ansprechenden Weltenden. „Das bemächtigende, sich selbst mitnehmende
Erleben des Erlebens ist die verstehende, die hermeneutische Intuition, originäre phänomenologische
Rück- und Vorgriffsbildung, aus der jede theoretisch-objektivierende, ja transzendente Setzung her-
ausfällt. Allgemeinheit der Wortbedeutungen besagt primär etwas Originäres: Welthaftigkeit des er-
lebten Erlebens“ (Zur Best. der Philos., SS. 19, S. 117).
Das phänomenologisch Primäre ist das Weltende, welches das Er-leben des Daseins direkt an-
spricht. Das Er-leben behält das die Welt darstellende Weltende und stellt ihm in dessen Anspruch
einen modus essentialis zur Verfügung - das Sein des Daseins -, statt es theoretisch zu erklären und auf
ein Drittes zurückzubeziehen. Der weltende und die Welt darstellende Anspruch des Weltenden ver-
langt; er fragt das Sein des Daseins direkt nach seiner welterschließenden Darstellung und nicht nach
einer innerweltlichen, kategorialen und theoretischen Erklärung und Adäquation innerhalb einer logi-
schen weltlichen Form.
1. 4. Das Dasein ist linguistisches Haben und Er-Leben und nicht optisches Anschauen
Das In-der-Welt-sein des Daseins ist kein optisches Anschauen und eidetisches Haben einer Sa-
che. Das Er-leben ist ein in und aus sich heraus Sich-entwerfen. Das Erleben steigert sich in sich und
modifiziert sich nicht in fremden, entlebten, depotenzierten und abbildenden Formen. Das Erleben
markiert ein „Haben“ des Seins des Umweltlichen in seinem Welten und nicht in einer herkömmlichen
Form und Kategorie. Das Dasein entwirft nicht das Weltende auf ein (ab)bildendes Drittes, sondern
auf sich selber und ist eigentlich ein Sich-entwerfen. Das Erleben des weltlichen Daseins hat daher
nicht eine auf einen äußeren Vorgang gerichtete optische Form, sondern eine in sich ruhende linguisti-
sche. Die Sprache als deskriptive und erzählende und gerade nicht als formalisierende, worauf noch
später eingegangen wird, ist auf ihr eigenes Er-Leben und auf die Steigerung des Weltenden fixiert
und nicht auf Erklärung und Symbolisierung.
„Die Explikation ist die kenntnisnehmend erzählende, aber im Grundstil des faktischen Erfah-
rens, des vollen Mitgehens mit dem Leben (Fußnote zu diesem Satz: „Umwelt - das so Umgrenzte
immer wieder lebendig erfahrbar, weil das Leben >mächtiger< ist als das theoretische Erkennen und
19
seine Begriffe! Keine Begriffe, sondern bedeutungsmäßig Sinn nach!“)“ (Phän. 19/20, WS. 19/20, S.
111).
In diesem Sinne ist die Sprache als Leben kein Mittel und kein Organ des Geistes oder Aus-
druck eines immanenten und optischen Habens einer Sache, sondern sie lebt aus sich heraus und ist
Er-leben9, der Ort des Versammelns des Weltenden. Die Sprache ist das „Sein und Werden des Da-
seins“ (Einf. in die phän. For., WS. 23/24, S. 16). Das Dasein selbst ist sprachlich und schaut nicht die
Sache aus seiner Immanenz selbst an, sondern es ist der modus essentialis des weltenden Geschehens
des Umweltlichen. Solches wird in der oben erwähnten Vorlesung von WS 23/24 und in der So-
phistes-Vorlesung von 24/25 behandelt. Heidegger ist schon „unterwegs zur Sprache“.
Aus dem bisher Gesagten lassen sich folgende vier Motive entnehmen:
1. Das Dasein ist nicht einfach abgebrochen, reflektiert und in der Welt gefallen, sondern vielmehr
dieser ausgesetzt und dem Geschehen dieser werfenden und die Welt darstellenden Transzendenz
überantwortet.
2. Die Welt ist nicht das Ganze und die logische Form von Bezugszusammenhängen und Tatsachen,
sondern das weltende und sich darstellende Geschehen und das neue Qualifizieren der Welt über-
haupt aus jedem Da. Dieses erfordert aus dem Sein des Daseins seine gefragte welterschließende
Darstellung und nicht einen innerweltlichen und abbildenden Begriff für sein Sich-zeigen. Es geht
nicht um das Haben einer Sache selbst als eines inneweltlichen Elements.
3. Das Dasein bietet sich als Er-leben an. Leben des Daseins ist gerade das in und aus seinem ge-
brauchten „Eigenen“ Welten-lassen des weltdarstellenden Geschehens.
4. Das Dasein schaut nicht optisch auf die Sache selbst, sondern er-lebt und steigert das Weltende in
und aus seinem Sein, z.B. linguistisch. Das Weltende versammelt sich im linguistischen Dasein als
einem logos.
9 H.-G. Gadamer sieht den Bezug des Menschen mit der Sprache wie das Ich-Du-Reflexionsverhältnis. Dieses Verhältnis ist kein unmittelbares. Das Ich antizipiert und reflektiert den Anspruch des Du (Wahrheit und Metho-de, Tübingen 1990, S. 365). Wir könnten aber sagen, daß H. G. Gadamer diesen Zusammenhang aus dem Blick einer Dialektik betrachtet, in welcher die Sprache die vorausgehende Aufhebung und Verschmelzung beider ist (z.B. a.a.O., S. 383), während bei Heidegger die Sprache das Haus und das Rufen des Seins ist und nicht eine schwebende Einheit und Aufhebung des Seins. In diesem Sinne würden wir sagen, daß bei Gadamer die Sprache eine dialektisch vermittelte Unmittelbarkeit ist, in welcher die Frage eine instrumentelle und operative Funktion hat (siehe a.a.O. S 368-383), während bei Heidegger die Frage, wie wir später sehen werden, nicht nur notwen-dige, sondern hinreichende Bedingung der Wahrheit ist. Deswegen ist das Verstehen bei Gadamer ein dialekti-sches "anders Verstehen", während bei Heidegger das Verstehen monologisch, innerlich dialektisch und inner-halb des Hauses der Sprache entsteht (z.B. im "Unterwegs zur Sprache", 1950-59, S. 18 ff, 85 ff.), welches schon als vorgängige Metasprache das Andere nicht anders versteht, sondern rufend als Ungedachtes des Gedachten ermöglicht. Die Sprache ist nicht Aufhebung, sondern Unter-schied (Unterwegs zur Sprache S. 22 ff.), ähnlich der Als-Aussage, welche die Struktur des Daseins hat.
20
1. 5. Es geht nicht um den Vorrang in der Subjekt-Objekt-Beziehung, sondern um das Ausge-setztsein des Daseins im geschehenden Welten der Welt
Der Abbruch von den Dingen in der Welt bedeutet, daß das Dasein dem Weltenden keinen drit-
ten und erklärenden Gehalt geben kann. Es geht nicht einfach um den Vorrang in der Beziehung des
Menschen zu den Gegenständen, sondern vielmehr darum, daß mit dem Abbruch das Sein beider
selbst in ihrem Verhalten zueinander und nicht aufgrund einer innerweltlichen logischen Form auf-
geht. Es geht nicht um die Relativierung eines Ich oder der Gegenstände oder um das positive und
kritische Bestimmen der Wesensmöglichkeiten des Ich, sondern um das Ausgesetztsein beider in einer
ansprechenden Verwicklung, in welcher das Wesen beider aufgeht. Das ist entscheidend für das Ver-
ständnis des revolutionären „Begriffs“ des In-der-Welt-seins. Das In-der-Welt-sein als Abbruch des
Daseins bedeutet nicht dessen Einschränkung in sich selbst beziehungsweise in seinen kritisch gerei-
nigten Grenzen innerhalb einer undarstellbaren logischen weltlichen Form, sondern seine Geworfen-
heit und sein Ausgesetztsein in der Welt im Ganzen, welche sich in jedem Da abspielt und darstellt.
Das In-der-Welt-sein hat sozusagen nicht nur den negativen Charakter des Brechens einer idea-
listischen Subjektivität, sondern ebensosehr den positiven Charakter des Verwickelns und Herausge-
fordertseins in der Welt im Ganzen. Außerdem geht es weder um das Ausrichten der Dinge auf unsere
Fähigkeiten noch um das eigene Ausrichten auf vorhandene Dinge. Es gibt keine vorhandenen und
abgeschlossenen Substanzen an sich als Urelemente oder Tatsachen in einer Welt. Das Dasein verhält
sich weder rezeptiv noch aktiv zu einem innerweltlichen vorhandenen Ding, sondern einzig zum Sein
des Dinges als eines die Welt Weltenden.
Heidegger läßt das Dasein und die Dinge ihrem Wesen nach in Beziehung zueinander treten, in
ihrem Sein, daß sie sind und nicht nicht sind, d.h. in ihrem ursprünglichen Welten der Welt. Das In-
der-Welt-sein bedeutet somit die Ausgesetztheit10 und Überantwortung des Daseins im Ganzen der
Welt. Das Weltende beansprucht das Sein des Daseins. Es zeigt sich nicht innerweltlich in einem An-
deren aufgrund und innerhalb einer weltlichen logischen Form, die ihm erlaubt, das zu sein, als das es
10 Ein bekannter Vorwurf gegen Heidegger dreht sich um die Unmittelbarkeit des Seins. Das bedeutet zweierlei: Zum einen, daß das Dasein zu seinem Sein oder zu Sein überhaupt als zu einem unmittelbaren und substanzhaf-ten steht, und zum anderen, daß das Sein von der Jemeinigkeit des Daseins erstritten wird, ohne die kollektive Vermittlung einer mehrdimensionalen und über das Sein perspektivistischen Verständigungs- und Kommunika-tionsgemeinschaft. Erstes trifft nicht auf Heidegger zu und ist ein großes Mißverständnis. Das zweite wird in Kapitel 8 dieses Teils behandelt, hier ist nur vorläufig zu sagen, daß es um eine quasi transzendentale Metakritik geht, welche die Analyse des In-der-Welt-seins ist, und die existenzialen Bedingungen von jedem Dasein an-sieht. Das Dasein wird so nicht in seiner Unmittelbarkeit erschlossen, sondern verschuldet in jedem seiner Bezü-ge seine ganze Existenz bis zum Tode. Der Andere liegt nicht außerhalb des Todes des Daseins. Diesen soll das Dasein bestehen, bevor es den Anderen in seinem Sein miterschließt. Dagegen sprechen andere Interpretationen, z.B. von C. F. Gethmann, "Heideggers Wahrheitskonzeption in seinen Marburger Vorlesungen", in: a.a.O. In-
21
sich zeigt, sondern es ist selbst der direkte Anspruch des transzendenten Daseins auf die Darstellung
des eigenen Seins, die gerade deswegen überhaupt welt-erschließend und -darstellend ist.
2. Die Transzendenz vor der Intentionalität. Kein intentionales Erlebnis und Akt des
Bewußtseins, sondern Lebenshorizonte des angesprochenen Daseins
2. 1. Nicht einfacher Bezug von Subjekt und Objekt und deren Abstand, sondern das Dasein in der Transzendenz
Das Dasein ist nicht auf das Weltende innerweltlich gerichtet, sondern diesem ausgesetzt und
mit seinem Sein überantwortet. Es ist nicht in sich eingekapselt und nimmt die Dinge wahrnehmend
auf, sondern steht im Verhältnis zu dem die Welt Weltenden, weil es in der Welt ist. „Man setzt ein
Ich, ein Subjekt an und läßt dessen sogenannter Sphäre intentionale Erlebnisse zugehören. Das Ich ist
hier etwas mit einer Sphäre, in die seine intentionalen Erlebnisse gleichsam eingekapselt sind“
(Grundprobl. d. Phän., S. 27, S. 89).
Das Dasein ist aber schon draußen im sich darstellenden Geschehen der Welt und kein inner-
weltliches verbindendes Ich. Besonders in der Vorlesung „Die Grundprobleme der Phänomenologie“
aus dem SS 1927 bezieht sich Heidegger auf das Verhältnis von Transzendenz und Intentionalität im
Hinblick auf die ontologische Differenz von Sein und Seiendem (a.a.O., S. 90). Der Bezug des Da-
seins zu einem Umweltlichen ist nicht wie der tradierte Bezug zwischen Subjekt und Objekt, in dem
beide als vorhandene und in sich geschlossene Entitäten sich innerhalb einer Welt gegeneinander
durchsetzen wollen (a.a.O., S. 91-93). Das Dasein verhält sich zu den Gegenständen, weil es Sein ü-
berhaupt versteht. Das Sich-verhalten den Dingen gegenüber ist kein Wahrnehmen und kein verbin-
dendes und prädizierendes Urteilen der vorhandenen Dinge, sondern Verstehen von Sein überhaupt.
Deswegen: „Die Intentionalität ist die ratio cognoscendi der Transzendenz. Diese ist die ratio essendi
der Intentionalität in verschiedenen Weisen“ (a.a.O., S. 91).
Heidegger beruft sich in seinem Werk systematisch auf diese wichtige These. Das Dasein ist
nicht transzendental und die These Heideggers keine transzendentale Methode, in welcher das Dasein
in eine vorhandene innerweltliche Transzendenz übergeht, sondern das Dasein ist selbst die Transzen-
denz, das Geworfensein mit dieser. In seinem Sein erhält und mißt es den Wurf der sich darstellenden
Transzendenz im Ort, im Da des weltenden Anspruchs des Weltenden, welcher das Sein des Daseins
beansprucht.
nen- und Außenansichten, Suhrkamp, S.115, vom Instrumentalismus der Werkwelt gegen einen unmittelbaren Kontemplationismus.
22
Das Verstehen von Sein ist ein Existenzial des Daseins. Insofern ist das Dasein „in sich“ „trans-
zendental“ (a.a.O., S. 317) und nicht in einer vorhandenen Trennung zwischen Subjekt und Objekt.
Das Dasein ist mit der Darstellung der Welt und des Seins der Weltenden beauftragt.
2. 2. Die Transzendenz ist Voraussetzung der Intentionalität. Das Sein des Gegenstandes wird nicht als absolute Position intentional angetroffen, sondern leibhaftig als Sein überhaupt im Da-sein ermöglicht. Die Differenz zwischen Sein und Seiendem
Da das Dasein Sein versteht, nimmt es die Dinge nicht schlicht und unmittelbar wahr, sondern
täuscht sich sehr oft. Wenn ein Mensch einen Baum für einen Menschen hält, liegt es daran, daß er
Sein versteht und nicht bloß ein vorhandenes Seiendes wahrnimmt und als absolute Position prädiziert.
Hierbei handelt es sich nicht um ein innerhalb der Immanenz eines Ich erfolgtes Fehlgreifen zwischen
einem vorhandenen Baum und einem Menschen; die Täuschung rührt vielmehr daher, daß man auf das
Sein selbst ausgesetzt ist, ohne daß dieses wirklich besteht. „In dieser Wahrnehmungstäuschung ist
mir der Mensch selbst gegeben und nicht etwa eine Vorstellung des Menschen. Weil ich nur die Vor-
stellung eines Baumes haben kann, sofern es nur ihn gibt. Trotzdem ver-sehe ich auf einen Men-
schen)“ (a.a.O., S. 89).
Wir können sagen, daß das Dasein an sich selber nicht bloß eine Wahrnehmung des Getroffenen
oder ein immanent-intentional11 vorausgesetztes Sein, wie das Sein Hegels am Anfang der Logik, hat,
sondern das Sein von diesem schafft, oder besser: schenkt und aus dem Nichts schafft. Erst nachdem
das Dasein ontologisch diesen transzendierenden und eigentlich vorontologischen Schritt gemacht hat,
kann die transzendentallogische Deutung (Wahrnehmung, Vorstellung, Prädikation, Urteilen) anset-
zen. Es geht jedoch nicht um die transzendentale Konstituierung der Realität als Summe von realen
Prädikaten, sondern quasi um das Schenken von Sein überhaupt dem Nichts gegenüber. Das Wahr-
nehmen des Gegenstandes ist vorontologisch keine passive oder aktive Leistung des Subjekts in des-
sen Bewußtsein, sondern Verstehen von Sein, sinngebender Vollzug, ruhende aus dem Nichts und
nicht reaktive innerhalb einer Realität erfolgende Freilassung und Offenbarung von Sein.
Hier ist denn auch das Wesen der Wahrheit verortet, welches als Irre und nicht als Wahneh-
mung west. Gerade hier, an der Gabelung der Wahrheit (etwas als etwas), in ihrer Ermöglichung aus
dem Nichts (... als etwas), kann das Dasein etwas begegnen oder auch nicht begegnen. Nur das Seins-
verständnis ermöglicht Erfassen von Innerweltlichem (a.a.O., S. 250). Vor diesem Erfassen eines Ge-
genstandes hat das Dasein, vom Weltenden aufgefordert und in seine weltende Transzendenz gewor-
11 Als letzten Entwurf und Leerheit des Seins versteht D. Melcic die Intentionalität bei Heidegger, zumindest bis zur Kehre („Heideggers Kritik der Metaphysik und das Problem der Ontologie“, Würzburg 1986, S. 124, 128). Das fundamentalontologische Sein kommt zum Vorschein als eine totale ontologische Funktion, Ontologie des Ermöglichens und so endgültige Grundlage der Metaphysik (S. 120). 12 Nach D. Thomä richtet sich die Intentionalität gegen den Psychologismus (Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt a. M. 1990, S. 109). Das ist wohl richtig und sehr wichtig, allerdings gründet sich die Intentio-nalität in der Transzendenz des Daseins.
23
fen, Sein geschenkt, und zwar in seinem Sein als Dasein. In der vom Weltenden angesprochenen
Transzendenz wird dieses erst in seinem Sein aus dem Nichts konstituiert und ermöglicht.
Diese Transzendenz gehört zum Wesen des verstehenden Daseins. Gerade deswegen ist aber
mit Transzendenz nicht ein Überschreiten einer vorhandenen kosmischen Distanz und Ordnung, son-
dern vielmehr eine die Welt darstellende und verstehende Selbstauslegung der als Transzendenz des
Weltenden angesprochenen Existenz gemeint.
„Dieses Verstehen, das in der Auslegung erwächst, ist mit dem, was sonst Verstehen genannt
wird als ein erkennendes Verhalten zu anderem Leben, ganz unvergleichlich; es ist überhaupt kein
Sichverhalten zu (...) (Intentionalität), sondern ein Wie des Daseins selbst; terminologisch sei es im
vorhinein fixiert als das Wachsein des Daseins für sich selbst“ (Herm. der Fakt., Bd. 63, SS 23, S. 15).
2. 3. Die Transzendenz ist Voraussetzung für Intentionalität.
Die Wahrheit ist weder ein Erfassen des Seienden durch die Sinne noch ein intentionaler Akt
des Bewußtseins der Realität gegenüber. Ebensowenig ist sie die Konstituierung einer Gegenständ-
lichkeit im Hinblick auf die Erfahrbarkeit der Gegenstände. Wahrheit bedeutet vielmehr angesproche-
nes Verstehen von Sein, Ermöglichen von Sein als „Wie des Daseins“ und nicht als intentionales Ge-
richtetsein auf eine vorhandene Wirklichkeit bzw. Realität.12 Das Dasein ist schon in der Transzen-
denz des das Sein des Daseins direkt ansprechenden und daher sein eigenes Sein (sc. des Weltenden)
aus dem Nichts zur Darstellung verlangenden Weltenden. Die Frage des Seins hat ihr vorgängiges
Geleit aus dem Gefragten her. Die Frage nach der gefragten und so fehlenden Wahrheit des Seins des
Weltenden ist diesem Sein vorgängig. Was das Sein ist, wird aus seiner gefragten und fehlenden
Wahrheit erschlossen. „Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her“
(S. u. Z., S. 5). Die Wahrheit ist nicht eine unmittelbare Erschließung vom Sein her, sondern umge-
kehrt: das Sein ist seine Darstellung aus seiner gefragten Wahrheit heraus. „Intentionalität setzt die
spezifische Transzendenz des Daseins voraus, nicht aber kann umgekehrt aus dem bisher üblicherwei-
se gefaßten Begriff der Intentionalität die Transzendenz aufgeklärt werden“ (Grundpr. d. Phän., SS 27,
S. 249).
Wahrheit läuft außerdem auf das Geben von Zukunft hinaus, auf das Schenken von Sein, auf
Agieren und nicht Reagieren bzw. bloßes Erfassen eines Realen. Es geht nicht um ein Sich-richten der
psychischen Realität auf etwas ideal vorhandenes im Äußeren, sondern um das Schenken bzw. Ausfül-
len dieser Äußerlichkeit mit Sein und um das verstehende Ermöglichen des Seins des Gegenstandes
selbst in seiner Leibhaftigkeit dem Nichts gegenüber.
„Denken ist Denken des Gedachten, weil Denken als Psychisches notwendig schon die Struktur
des Sich-richtens-auf-etwas hat. Denken ist als Psychisches schon von vornherein in dem, was es ist,
auf etwas bezogen. Es ist nicht zuerst nur Reales gleichsam drinnen im Bewußtsein, das dann sich
nachträglich durch irgendwelche Mechanismen auf etwas draußen bezieht. Man muß sich vor dem
24
üblichen Mißverständnis hüten; auch diejenigen, die von der Intentionalität reden, haben sie meistens
nicht verstanden, als sei damit gemeint: das Psychische ist zunächst real im Bewußtsein drin, und dann
ist irgendwie eine Zeigevorrichtung am Psychischen angebracht, mit Hilfe derer es hinauszeigt in die
Außenwelt; sondern das Psychische ist vielmehr erst und nur als dieses Sichrichten selbst - als dieses
ist es «real»“ (Logik. Die Frage nach der Wahrheit, WS 25/26, S. 95 f.).
Heidegger wendet sich gegen den Psychologismus; er tut das aber nicht in Husserlscher Manier
durch die Unterscheidung zwischen realem Psychischen und idealer Objektivität. Bei ihm handelt es
sich nicht um ein einfaches Sich-richten auf etwas, um eine ideale Vorstellung und einen Bewußtsein-
sinhalt von ihm zu haben, sondern um ein Ausgesetztsein in der Transzendenz vor jedweder Festle-
gung auf eine innerweltliche Richtung und um das dadurch ermöglichende „Haben“ des Seins des
Gegenstandes in seiner Leibhaftigkeit. Das transzendente Schenken von Sein ist keine Prädikation aus
einem Anderen her (a.a.O., S. 155, 167), kein Wahrnehmen oder leeres Vorstellen (a.a.O., S. 104,
106), kein direktes Erfassen eines so gemeinten Gegebenen (a.a.O., S. 147), aus dem ein Satz gebildet
wird (a.a.O., S. 111, 135), sondern unthematisches und verstehendes Er-leben der Wahrheit des Welt-
enden als vorgreifendes verstehendes Ermöglichen seines Seins am Sein und Leben des Daseins. Das
Dasein ist selbst die Transzendenz, es er-lebt aus und in seinem eigenen Sein den weltenden Anspruch
des Seins.
„Dieses Als-was, von dem her ich verstehe, und das ich im vorhinein schon habe, aber unthema-
tisch, ist in diesem «Im vorhinein haben» nicht etwa thematisch erfaßt, ich lebe im Verständnis von
Schreiben, Beleuchten, Aus- und Eingehen und dergleichen. Genauer: ich bin - qua Dasein: sprechend
- gehend - verstehend - verstehender Umgang. Mein Sein in der Welt ist nichts anderes als dieses
schon verstehende Sichbewegen in diesen Weisen des Seins“ (a.a.O., S. 146).
Das Dasein er-lebt und versteht in seinem Sein schon im vorhinein das Sein des Weltenden und
ist nicht thematisch und intentional gerichtet auf etwas leeres Ideales als letzten Horizont des mögli-
chen Realen. Das Dasein ist schon in der Transzendenz13, es ermöglicht an seinem eigenen Leben das
Sein des Weltenden aus dem Nichts und ist „Immer-schon-vorweg-sein-bei-etwas“ (a.a.O., S. 147).
Die Intentionalität ist spezifische, theoretische Thematisierung eines Gegenstandes; sie ist Meinen
(Einf. in die phän. For., Bd. 17, WS 23/24, S. 271).
13 Schon hier kann man sagen, daß die an Heidegger geübte Kritik über das Auslassen des Ich-Du-Verhältnisses Heideggers Voraussetzungen und dessen Angebot nicht erreicht hat. Die Transzendenz des Daseins setzt nicht voraus, daß ein Ich im Du vermittelt wird; sie ermöglicht vielmehr das Fremde innerhalb des Daseins, ohne dieses zu vermitteln. So ist der gemeinte Bezug: Ich-Du nicht die schwebende bzw. höhere Vermittlung eines Ich am Du und umgekehrt, die letztlich als schwebend - wie alle Dialektik - eine höhere Unmittelbarkeit ist, sondern ein jenseits von Unmittelbarkeit und Vermittlung stehender engster Bezug, welcher gerade dieses Bezogensein zwischen Fremden nicht schwebend, sondern aus jenem Dasein thematisiert. Die Bedeutung der Verwicklung des Eigenen und Fremden spielt im ganzen Werk Heideggers eine durchgehend wichtige Rolle. Besonders in Teil V der vorliegend wird darauf einzugehen sein, daß sich eine solche Kritik als unzureichend erweist. Über diese Kritik an Heidegger, die vor allem auf eine Initiative M. Bubers zurückgeht, siehe: Smith P.-Ch., Das Sein des Du. Bubers Philosophie im Lichte des Heideggerschen Denkens, Heidelberg 1966.
25
Das Dasein ist nicht Vermittler einer intentional14 thematisierten Prädikation eines idealen Sei-
enden als Subjekts eines Satzes, sondern der Ort, in dem das Sein des Weltenden er-lebt, ermöglicht
und dargestellt wird. Das „Als-was“ als das Dasein ist die Transzendenz, in welcher das Sein zu seiner
Wahrheit aus dem Nichts übergeht, geschieht und sich als die Welt weltendes darstellt.
Aus der Behandlung der Transzendenz des Daseins ergibt sich der Ansatz der ontologischen
Differenz. In dieser geht es in einer Hinsicht nicht um intentionales Gerichtetsein auf etwas ideal Lee-
res, das sich aufgrund einer weltlichen logischen Form im Anderen zeigt, sondern um das schenkende
Verstehen des Seins des Weltenden selbst im Sein des Daseins. Auf den Bezug zwischen der Trans-
zendenz des Daseins und dem Verstehen von Sein wird sowohl in der oben erwähnten Vorlesung vom
WS 25/26 (Logik. Die Frage nach der Wahrheit) als auch in der Vorlesung des SS 27 (Die Grundprob-
leme der Phänomenologie) explizit eingegangen. Das Sein und seine Wahrheit können nicht inner-
weltlich wie ein Seiendes thematisiert und prädiziert werden (Logik, WS. 25/26, S. 410 und Fußnote),
sondern sie werden direkt am Dasein verstanden.
„Sind Sein und Wahrheit wesenhaft aufeinander bezogen? Steht mit der Existenz der Wahrheit
auch die des Seins und fällt sie mit dieser? Ist es so, daß das Seiende, sofern es ist, von der Wahrheit
über es unabhängig ist, daß aber die Wahrheit nur ist, wenn das Dasein existiert, und umgekehrt, wenn
wir einmal verkürzter Weise sagen dürfen, daß das Sein existiert?“ (Die Grundpr. d. Phän., SS. 27, S.
318).
Das Sein kann nicht anderswoher erklärt werden, sondern es ist dem Sein des Daseins überant-
wortet, und das Dasein ist schon in der Transzendenz und Wahrheit des Seins. Hier ist sich Heidegger
der Gefahr der Subjektivierung bewußt, und dies stellt eine Schwierigkeit des Denkens dar, welche
sich in seinem Werk wiederholt und daher auch ein Hauptthema der Heideggerforschung ausmacht.
Wenn man die Voraussetzungen für das Setzen dieser vorwerfenden Problematik reflektiert, sieht
man, wie Heidegger, insbesondere nach der sogenannten Kehre, diese Voraussetzungen in das direkte
Verhältnis zwischen Wahrheit und Dasein expliziter einarbeitet. Das weltende Sein kann nicht inner-
weltlich anderswoher oder anderswohin thematisiert werden, sondern es ist direkter Anspruch auf das
Dasein.
Von dieser These ist nicht nur in diesem Kapitel die Rede - sie liegt darüber hinaus dieser Ar-
beit überhaupt zugrunde. In diesem Zusammenhang steht auch das Problem der Einbildungskraft, das
Heidegger in den sogenannten Kant-Vorlesungen in den Vorlesungen des WS 27/28 und des SS 28
behandelt. Im Unterschied zu Kant ist bei Heidegger die Zeit nicht absolute Form, innerhalb welcher
Seiendes wahrgenommen und gedacht wird, sondern die Zeitlichkeit des Daseins, in der ontologisches
14 Nach E. Tugendhat wird ein Gegenstand in der Phänomenologie im intentionalen Akt und als korrelativer Gegenstand gegeben. Dies ist das Grundverhältnis menschlicher Erschloßenheit. Dagegen ist das Primäre der Sprachanalyse das Verstehen von Bedeutung. (Phänomenologie und Sprachanalyse. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.), Hermeneutik und Dialektik Bd. II, Tübingen, 1970, S. 4). So sind in der Phänomenologie die nominalen Ausdrücke Muster für alle Ausdrücke (S. 6 ff.). Zumindest ist bei Heidegger der Name kein Logos
26
Verstehen von Sein ermöglicht wird. Das Dasein verfügt nicht über ein kategoriales Apriori - sei es
kritisch eingeschränkt oder transparent -, um das Sein der Dinge aus dem Apparat der Verstandesbeg-
riffe verbindend zu setzen, sondern es ist endlich, nichtsdestotrotz aber der Welt im Ganzen ausgesetzt
und überantwortet. Deswegen vermag es an sich selber Sein zu verstehen; es ist ontologisch schöpfe-
risch, die Zeit und die Welt sind seine „Existenziale“, in seiner weltlichen und zeitlichen Existenz
ermöglicht es Sein. Das Sein ist nicht intentionale Realität, sondern (hinter-)fragt sich und läßt sich am
transzendenten und angesprochenen Dasein aus dem Nichts darstellen.
der Phänomenologie und auch nicht der primäre Logos der Phänomenologie (Sophistes, WS 24/25, S. 144 f., 452 f., und besonders 592 ff.).
27
2. 4. Die Transzendenz ist nicht bloßer Abstand und ein Nicht-Bezug, sondern das Geworfensein und unvermitteltes, konstitutives Existenzial des Daseins
Die Transzendenz ist ursprünglicher als die Beziehung von Subjekt und Objekt. Sie ist die
Spannung des Bezugs und der Anspruch auf das Darstellen der Wahrheit und des Seins eines Welten-
den. Das Dasein wiederum ist in der Transzendenz als Transzendenz miterschlossen. (Grundpr. der
Phän., SS. 27, S. 225). Diese Miterschlossenheit geht nicht auf Reflexion zurück, sie bezeichnet kei-
nen inneren intentionalen Akt als Begleitung und innere Wahrnehmung, sondern indiziert lediglich die
existente Gefallenheit des Daseins in die Transzendenz (a.a.O.). Die Transzendenz ist nicht formale
Negation der Grenzen, nicht sich verlierende Entfernung zwischen Vorhandenen, sondern positiv ge-
wendete Aufforderung, deren gefragte Abgründigkeit das Dasein erleiden muß. Das Dasein ist in die
Transzendenz geworfen und fungiert in dieser als der darstellende Entwurf seines ansprechenden
Wurfs.
Der Begriff der Transzendenz und des In-der-Welt-seins erscheint sehr früh bei Heidegger und
ist theologischer Herkunft. In seiner Habilitation versteht Heidegger die Transzendenz Gottes in der
mystischen Theologie nicht als Trennung, sondern als Spannung.
„Die Transzendenz bedeutet keine radikale, sich verlierende Entfernung vom Subjekt - es be-
steht eben kein auf Korellativität aufgebauter Lebensbezug, als welcher er nicht einen einzigen Rich-
tungssinn hat, sondern dem hin- und zurückfließenden Strom des Erlebens in wahlverwandten geisti-
gen Individualitäten zu vergleichen ist, wobei allerdings die absolute Überwertigkeit des einen Gliedes
der Korellation nicht mitbeachtet wird. Die Wertsetzung graviert also nicht ausschließlich ins Trans-
zendente, sondern ist gleichsam von dessen Fülle und Absolutheit reflektiert und ruht im Individuum“
(Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916), in: Frühe Schriften, S. 409).
Transzendenz ist kein Abmessen eines Nicht-Bezugs durch ein Drittes, sondern ein Geworfen-
Werden und Hinausgehaltensein in dieser. Transzendenz ist das Fehlen jeder Vermittlung, auf der man
ruhen und auf der man wie auf einer res extensa wandern könnte. Sie ist nicht eine Trennung, sondern
ein tieferer Bezug, eine Miterschließung15 in dieser ohne Vermittlung und das Angesprochen-werden
durch eine Darstellung. In ihrer Ferne verfügt die unvermittelte Transzendenz somit gleichsam über
eine Dimension der Unmittelbarkeit, der Darstellung und Nähe.16 Die Transzendenz wird am Dasein
dargestellt und ist nicht ein Abstand zweier Vorhandener innerhalb einer undarstellbaren Ferne-Welt.
Weil das Dasein entgegengeworfen und endlich ist, ist es auch in sich transzendent. Das Sein ist das
Fernste, aber auch das Nächste. Selbst Gott ist z.B. in der Theologie der fernste, aber die Welt ist doch
seine Transzendenz. Deshalb kann er sie nicht bloß setzen oder sich zu dieser verhalten, sondern er
15 Nach O. Pöggeler ist das Dasein nicht in sich gegründet und durch eine fremde Schuld verschuldet wie das gläubige Dasein (Heideggers logische Untersuchungen. In: a.a.O., Innen- und Außenansichten, S. 88 f.). 16 Über die "Nähe" und "Ferne" im Gegensatz zur Abstandslosigkeit und Gleichgültigkeit der Fernlosigkeit siehe E. Kettering: „Nähe. Das Denken M. Heideggers“, Pfullingen 1987.
28
verkörpert sie selbst, er verhält sich zu dieser ohne Vermittlung. Transzendenz ist nicht das leere Wo-
hin als Abstand, sondern das Übernehmen und Erleiden dieses Wohins, ja sogar das „Selbst-dieses-
Wohin-Sein“.17 Die weiteste Ferne hat ihre sie darstellende Nähe.
2. 5. Die Transzendenz ist nicht Raum für das Sich-zeigen des Daseins, sondern dieses „mißt“, und erleidet jene
Als Existenzial des Daseins ist die Transzendenz kein Wirken und Sich-zeigen in einer geomet-
rischen Wirklichkeit von in sich zentrierten Substanzen, wie sie Heidegger später in seinem Werk
analysiert, sondern dessen existenzielle erleidende Mitgenommenheit und Verantwortlichkeit. In der
Transzendenz wirkt und zeigt sich nicht das Dasein, vielmehr wird jene in dessen Sein dimensioniert.
Das Dasein erleidet und „mißt“ so die Transzendenz. Es ist in ihr geworfen und ihr aufgetragener
Entwurf. In der Transzendenz soll es sich fragen18 und als Antwort anbieten. Insofern hat sich Hei-
degger das Dasein selbst als existenziell transzendental vorgestellt und es dadurch nicht nur in die
Lage versetzt, sondern auch in die Pflicht genommen, die Transzendenz zu erleiden und darzustellen:
Das führt zu Pathos - menschlichem und entsprechend göttlichem - und ist kein Sich-zeigen oder Wir-
ken innerhalb einer vorhandenen Offenheit und Welt als logischer Form.
17 B. Mikulic spricht bei Heidegger von einer unmittelbaren Zeitlichkeit als unbestimmbarer Transzendenz. (Sein, Physis, Aletheia, Würzburg 1987). Die Zeit ist keine Transzendentalität wie bei Kant, sondern Transzen-denz des Ursprünglichen (S. 16). Es geht um eine unmittelbare Zeitlichkeit des In-der-Welt-seins (S. 51), in welcher das Dasein nicht über seine Endlichkeit hinauskommt (S. 53), und so ist die Zeitlichkeit die Endlichkeit des Daseins (S. 53). Endlichkeit ist das Zu-sich-kommen des Daseins als Gewesenheit (S. 31), als Zeitigung der Zeitlichkeit und nicht Fallen in die Zeit (S. 39 ff.). Ursprung ist nicht die Spontaneität, sondern die Endlichkeit (S. 54) und die Transzendenz als Zeit und Sein ein unbestimmbares Transzendentes (S. 57). Das alles sei die Falle für Heidegger und der Anlaß für die Kehre (S. 16). Man sollte aber die Transzendenz des Daseins nicht als Annullierung jeder echten Transzendenz ansehen, sondern die Transzendenz als Existenzial des Daseins, als Selbst-Transzendenz-Sein des angesprochenen Daseins. 18 Das Dasein kann nicht eine vorhandene Antwort wählen, weil es und kein anderes gefragt wird. Es wird selbst der Transzendenz einer Herausforderung ausgesetzt und mitgenommen. Es nimmt nicht einen vorhandenen Ruf wahr, sondern es versteht sich in der Transzendenz des Rufes, es schenkt Gerufen-Sein. Es gibt keinen schlech-ten Zirkel zwischen dem Verstehen eines Rufes und einer freien Antwort auf diesen, wie etwa B. Merker sieht. „Das verstehende Befolgen des Rufes nämlich >schließt in sich das Freiwerden des Daseins für den Ruf: die Bereitschaft für das Angerufenwerdenkönnen<. Oder das Verstehen eines Imperativs, das nur glückt, wenn das, was in ihm befohlen wird, schon ohnehin ohne ihn, nicht aufgrund von Verstehen und Zustimmung, gewollt wird? Das >responsorische< Verhältnis zwischen Rufen, Hören und Befolgen ist schwer zu verstehen“ (Barbara Merker, Konversion statt Reflexion, in: a.a.O., Innen- und Außenansichten, S.232.). Diesen Zirkel sieht B. Mer-ker innerhalb des Verhältnisses zwischen Glauben und Offenbarung. Heidegger konstruiere die Philosophie in Analogie zur Theologie (ebenda, 233). Der Aufsatz Phänomenologie und Theologie wird später analysiert, hier ist nur zu sagen, daß der Bezug des Glaubens zur Offenbarung nicht ein solcher von der Transzendenz als Exi-stenzial des Daseins ist, sondern eine formale Negation der Grenzen, in der der Glauben die negative Vorausset-zung ist. Heidegger trennt in diesem Aufsatz sehr klar zwischen dem Verfahren der Theologie und der Philoso-phie. Außerdem setzt er einen engen Bezug zwischen Ruf und Antwort voraus. Der Anspruch des Seins verlangt nicht ein adäquates Entwerfen, sondern das Sein des Daseins, indem er sich versammelt. Das Dasein ist selbst Vorurteil und Text, der unter dem Anspruch auf das Ungedachte steht. Das Transzendieren als Existenzial des Menschen ist nicht ein innerweltliches „Ich-verstehe“ mit seinen Vorurteilen, sondern der direkte Anspruch am Dasein, das schon als beauftragter Text in der Wahrheit (eines ungedachten Textes) ist. Die Antwort als Erleiden des Fehls der Wahrheit ist ein Existenzial das Daseins selbst und nicht das Wählen aus dem Apparat von vor-handenen und möglichen Antworten.
29
2. 6. Das Dasein ist in sich transzendent, nicht weil es eine Gegenständlichkeit konstituiert, son-dern weil es selbst Transzendenz und modus essentialis für den weltenden Anspruch des Welt-enden ist
Die Transzendenz als Existenzial des Daseins impliziert nicht die Konstruierung einer Gegen-
ständlichkeit als Voraussetzung und Ermöglichung der Begegnung von Objekten. Die Transzendenz
des Daseins ist keine Gegenständlichkeit und Bedingung, sondern sie ist selbst der modus essentialis
für das Welten und Geschehen der Welt aus einem Weltenden heraus. Die Transzendenz ist keine
vorhandene Trennung oder ein qualitativer Abstand. Sie ist ein aufbrechendes Geschehen der Welt, in
dem das Dasein in seinem Sein ausgesetzt ist. Das Dasein steht in seinem Sein als das „Wozu“ dieses
aufbrechenden Weltens und ist in sich transzendent. „Wir wissen aber, daß dieses Sichrichten auf et-
was, die Intentionalität, nur möglich ist, wenn das Dasein als solches in sich selbst transzendent ist“
(Die Grundpr. der Phän., SS. 27, S. 447). Und weiter: „Selbst und Welt gehören zusammen, sie gehö-
ren zur Einheit der Verfassung des Daseins und bestimmen gleichursprünglich das >Subjekt<. Mit
anderen Worten das Seiende, das wir je selbst sind, das Dasein ist das Transzendente“ (a.a.O., S. 423).
Heidegger sagt nicht „transzendental“, sondern „transzendent“. Das Dasein ist selbst das Trans-
zendente, die Transzendenz als sich darstellende Welt, das „Wozu“ des Anspruchs des Weltenden und
nicht transzendental in der Weise, daß es eine Gegenständlichkeit als logische Form der Welt und
Realität des Realen konstituiert. Es ist merkwürdig, daß Heidegger am Ende seiner zwei Kantvorle-
sungen aus den Jahren 1927/28 zum Postulat Kants, die Bedingungen der Gegenstände als Bedingun-
gen der Erfahrung der Gegenstände zu sehen, eine Andeutung macht, welche auf das Ungedachte
Kants hinweist und in welcher eine Deutung der Einbildungskraft betrachtet werden kann, durch die
hindurch er zu seiner Position über Dasein und Welt bzw. Transzendenz zu gelangen beabsichtigt.
Zunächst bleibt er aber nur bei der Andeutung. Erst in der Vorlesung „Der Satz vom Grund“ im Jahre
1957 sieht er in Kants Postulat explizit mehr als nur die Leistung einer setzenden unbedingten und
transzendentalen Subjektivität. „Erst für Kant wird die Methode, in der das Denken dem Sein des Sei-
enden nachgeht, die transzendentale Methode. Das Auszeichnete der transzendentalen Bestimmung
des Seienden als solchen erschöpft sich nämlich keineswegs darin, daß das Seiende jetzt als Gegens-
tand der ichhaften subjektiven Vernunft erfahren wird. Vielmehr beruht das Auszeichnete der trans-
zendentalen Methode darin, daß sie als Bestimmung der Gegenständigkeit der Gegenstände zur Ge-
genständigkeit selbst gehört“ (Der Satz vom Grund, Bd.10, 1957 S. 118).
Heidegger spricht nicht mehr von Gegenständlichkeit, sondern von Gegenständigkeit. Die trans-
zendentale Methode ist in Heideggers Augen ein Mitgenommenwerden des Daseins in der Konstruie-
rung der Gegenständigkeit für die Erfahrung der Gegenstände; das Dasein ist nicht das verbindende
und eine Gegenständlichkeit konstruierende Ich, sondern gehört selbst zur Transzendenz19 des Welt-
enden, und ist der von diesem verlangte modus essentialis (nach dieser Deutung ist vielleicht das Ich
nicht mehr außerhalb von und vor seiner Synthesis, das sich nicht setzen kann, sondern ein darstellen-
des Ergebnis dieser, und eben nicht mehr als Ich). Die Transzendenz des Daseins ist nicht nur ein kri-
30
tisches Sich-Mitnehmen in der Konstituierung der Gegenständigkeit als Vehikel der Konstituierung,
sondern selbst „Gegenständigkeit-Sein“. Das Welten des Weltenden ist nicht ein Zeigen in der Welt
als Transzendenz oder das Sich-konstituieren in der Gegenständigkeit, sondern das darstellende Ge-
schehen der Welt überhaupt und der Anspruch auf einen modus essentialis, nämlich auf das als in sich
transzendente20 Dasein. Das Dasein wird nicht in seinen Möglichkeiten kritisch vorausgesetzt, sondern
es wird diesem Geschehen ausgesetzt und in diesem gebraucht: es beschränkt sich nicht darauf, bloß
das subjektive transzendentale Korrelat21 der Erfahrung mit einem Gegenstand zu sein. Die Transzen-
denz als Existenzial des Daseins ist nicht die Überbrückung einer Kluft und eines Abstands durch die
Einigung der Pole oder durch „unseren“ transzendentalen Bezug auf die Objekte, sondern sie ist ein
Geschehen und darstellendes Welten der Welt im eigenen Sein des Daseins. Das Dasein ist in sich
transzendent22; es ist Transzendenz, modus essentialis für den Anspruch des Weltenden.
In diesem Sinne ist das Dasein schon beim frühen Heidegger die aufgetragene Transzendenz des
Seins in seinem weltenden und darzustellenden Anspruch und erfaßt nicht intentional das Sein als
letzten, leersten und fundamentalontologischen Horizont eines vorhandenen Realen. Das Dasein ist
schon vorweg in der dem Sein selber vorgängigen Frage der Wahrheit des Seins.
3. Die Wahrheit des Weltenden ist ein ruhender Anspruch und kein Sich-zeigen
Wir haben gesehen, daß das Dasein in der Welt der Ort des weltdarstellenden Anspruchs des
Weltenden ist, welchen es in seinem „Eigenen“ er-lebt und behält. Das Dasein ist schon als Transzen-
denz des seine Darstellung und Wahrheit verlangenden Weltenden und nicht das verbindende und
20 In diesem Zusammenhang sagt W. Marx, daß das Sein als Nichts weder Unmittelbarkeit noch Vermittlung, wie bei Hegel, ist. Das Sein des Daseins ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Erfahrung der Gegenstände. Es ist ein Stück von Welt, aber nicht die ganze Welt, nicht das transzendentale Sein (Die ontologi-sche Differenz in der Perspektive der regionalen Ontologie des Daseins. In: U. Guzonni (Hg.), Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980, S. 196 f.). Wie noch weiter unten gesagt wird, ist das Sein nur als Auftrag am Dasein immer schon in seiner Wahrheit und niemals eine intentionale, letzte Voraussetzung, wie bei Hegel. 21 So ist nach G. Figal die Praesenz als vierte Dimension des Reichens von Zeit die Einheit von Entdecken und Entdecktem (Martin Heidegger, Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a.M. 1988, S. 340 ff.). Diese Einheit ist aber nicht der intentional letzte Horizont des Seins als Ermöglichens, sondern der Auftrag und das direkte Ver-langen des Seins auf das Dasein als Transzendenz und daher das Geschehen des Sein, welches so in ein metaon-tologisches und nicht mehr intentional erfaßtes Verwickeln im Da eintritt. So ist das Sein nach H. G. Gadamer nicht transzendentale Selbstauffassung der Fundamentalontologie und nicht transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Daseins, sondern es ereignet sich, wenn Dasein ist (Sein, Geist, Gott. In: Heidegger. Freiburger Universitätävorträge zu seinem Gedenken, Freiburg-München 1979, S. 53.) 22 Nach P.-L. Coriando geht Heidegger in der Kehre von der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins in die hori-zontale Temporalität des Seins des Seienden über. Das Dasein selbst ist diese "Kehre" (Der letzte Gott als An-fang, München 1998, S. 39 ff.). Coriando sieht in ihrem Beitrag das Dasein als äußerste Entrückung der Seinsge-schichte und als die kehrige Mitte der Rückkehr in den Anfang, welcher ein anderer sein kann. Hauptthese vor-liegender Arbeit ist dagegen, daß keine Rückkehr möglich ist. Weiterhin ist das Sein vor der "Kehre" dem Da ausgesetzt und dort verwickelt. Die Transzendenz des Daseins ist schon das Dasein als Transzendenz der Wahr-heit des Seins, und dies reflektiert Heidegger explizit nach der sogenannten Kehre. Das Sein ist keinesfalls der intentional vorausgesetzte leerste Horizont, sondern versammelte Verwicklung und Aufgabe am Dasein. Das wird in dieser Arbeit ausgeführt.
31
prädizierende Ich in der Transzendenz. In dieser Transzendenz des Daseins kommt das ansprechende
Sein zu seiner Darstellung und Wahrheit aus dem Nichts und ist nicht intentionale Realität und absolu-
te Position, die einfach innerhalb einer Welt als logischer Form prädiziert werden sollte. Wir wollen
das bisher Gesagte nun näher betrachten.
3. 1. Ziel der Phänomenologie Heideggers sind nicht die Sachen selbst als letzte Elemente der Welt, sondern das geschehend Weltende.
Die Dinge sind weder als ideale Objekte in der Intentionalität verortet, wie bei Husserl konzi-
piert, noch prädizierte Subjekte eines Satzes. Die Intentionalität bleibt noch im Subjekt-Objekt-
Schema verhaftet, der Begriff des In-der-Welt-seins bei Heidegger liegt indes außerhalb dessen (Ont.
Herm. der Fakt., SS 23, 79 ff.). Das Weltende kann nicht als Reales in einer Gegenständlichkeit be-
gegnet werden, sondern es beansprucht das Sein des Daseins für seine welterschließende Darstellung.
Das Dasein kann nicht als Subjekt durch einen noetischen Akt in der Sein-Denken-Korrelation ein
Reales haben, sondern es soll in und aus seinem transzendenten Sein das verlangte Sein des Weltenden
aus dem Nichts ermöglichen. „Die Welt ist nicht vorhanden, sondern sie existiert in der Seinsweise
des Daseins“ (Grundpr. der Phän., SS. 27, S. 237; Ont. Herm. der Fakt., SS 23, S. 86; Phän. 19/20, S.
34).
Die Welt ist nicht ein innerweltliches „Entgegen“ oder Intentionales, sondern ein „Wie“ des Be-
deutens und ein „Als-was“ des Auslegens. „Welt ist, was begegnet. Das Als-was und Wie des Begeg-
nens ist in dem beschloßen, was als Bedeutsamkeit bezeichnet wird. Bedeutsamkeit ist nicht eine
Sachkategorie, die sachhaltige Gegenstände gegenüber anderen zu einem eigenen Bereich zusammen-
schließt und gegen einen anderen abgrenzt. Sie ist ein Wie des Seins, und zwar zentriert in ihr das
Kategoriale des Daseins von Welt. Mit «Dasein» wird gleicherweise das Sein von Welt wie vom
menschlichen Leben bezeichet - warum, wird sich zeigen“ (Ont. Herm. der Fakt., SS. 23, S. 86).
Es ist merkwürdig, daß Heidegger hier den Ausdruck „Dasein“ nicht nur für menschliches Da-
sein anwendet, sondern auch für das Sein von allen Seienden der Welt. „Dasein“ bedeutet dasselbe wie
der Ausdruck „weltendes Umweltliche“, welches nicht innerweltlich vorkommt, sondern die Welt
versammelnd weltet23.
Die Sachen selbst und die Welt meinen nicht etwas Ursprüngliches und Elementares als Ende
und Ziel der phänomenologischen Methode. Sie sind erst die Thematisierung und der Ansatz für die
existenziale Erschlossenheit des Weltens und darstellenden Geschehens der Welt. Heideggers Weg
„zu den Sachen selbst“ ist nicht wie derjenige Husserls als Sorge um gereinigte und sichere Erkenntnis
23 Dagegen versteht C.-F. Gethmann als Hauptmotiv bei Heidegger eine Art von operationaler Wahrheit, veritas transcendentalis und Pragmatismus (Erkennen und Handeln, Berlin-New York 1993, S. 156 ff., 292 ff.). Auf den Unterschied zwischen einem offenen Verweisen und einem schon bestimmten Beziehen verweist systematisch G. Figal (Martin Heidegger, Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a.M., S. 58, 63 ff., 82-91, 101, 157).
32
konzipiert, sondern ist Ausgangspunkt für den Ansatz des Geschehens der Wahrheit. Die Phänomeno-
logie ist keine Methode, die sicheren Boden erreichen will, indem sie auf der Grundlage eines natürli-
chen und gereinigten Bewußtseins Destruktion von Vorurteilen betreibt. Die Phänomenologie ist ein
Weg, auf dem das Geschehen und Welten der Welt aus dem Eigenen des Daseins er-lebt wird. Die
Sachen selbst sind nicht das Ziel, sondern erst der „Anfang“ des Weges. Ihre Wahrheit ist nicht ihr
reines Zeigen, sondern das Welten und Geschehen der Welt im Da des Daseins.
„Die Freigabe des Daseins ist nicht selbstverständlich und nicht ohne weiteres dadurch gegeben,
daß man leicht überblickbare Vorurteile abstellt. Dementsprechend entsteht die Aufgabe, das Dasein
in seinem Sein zu explizieren, für diese Aufgabe aber selbst erst den Standpunkt auszubilden und zu
sichern. Diese Aufgabe ist keine methodische, sondern eine solche konkreter Forschung“ (Einf. in die
phän. For., WS 23/24, S. 278).
Von Brentano angestoßen, fragt Heidegger nach dem Sein hinter seinen mannigfaltigen Mani-
festationen. Darüber hinausgehend, verortert Heidegger die Wahrheit des Seins nicht nur im mannig-
faltigen Zeigen einer Sache und daher in der Frage nach dem fundamentalen und einheitlichen Sinn
dieser Manifestation, sondern sieht diese mannigfaltige Wahrheit als Ermöglichung des Seins selbst,
und daher fragt er im und aus dem Geschehen der Welt im weltenden Anspruch des Seins nach dem
Sinn von diesem im Dasein wesenden Anspruch. Mit dieser Frage ist nicht beabsichtigt, die Manifes-
tationen des Seins zu destruieren, vielmehr ist der Sinn dieser Ermöglichung und ihr Telos intendiert.
Die mannigfaltige Manifestation des Seins und seine Wahrheit implizieren ein gewalttätiges Welten
und Sich-darstellen des Seins in der bestehenden Welt und das Verlangen eines modus essentialis und
nicht accidentialis als Erklärung oder Prädikation innerhalb und aufgrund einer weltlichen logischen
Form.
In diesem Sinne wird das Sein in einer Frage gefragt, in welcher es nicht als feste und zu de-
struierende Substanz gesucht wird, sondern es wird eigentlich das Sein selbst gefragt und somit über
das Sein hinaus gefragt. Die Frage des Seins übertrifft das Sein und kann nicht dieses als Antwort
haben, sondern die Erfüllung und Beantwortung dieser ansprechenden Frage des Seins. Heideggers
Ziel sind nicht die „Sachen selbst“, nicht die letzten Elemente der Welt, wie z.B. ein Katheder, son-
dern das geschehende Welten von diesem. Es gibt keine erste Stufe einer elementaren Ursprünglich-
keit24, wichtig ist einzig und allein das Welten des Weltenden (Zur Best. der Philos., WS. 19, S.
115ff.). Daher ist auch die Phänomenologie nicht der Versuch zum Erreichen einer naturhaften Origi-
nalität, sondern hermeneutische Rück- und Vorgreifung. „Das bemächtigende, sich selbst mitnehmen-
de Erleben des Erlebens ist die verstehende, die hermeneutische Intuition, originäre phänomenologi-
sche Rück- und Vorgriffs-bildung, aus der jede theoretisch-objektivierende, ja transzendente Setzung
herausfällt“ (a.a.O., S. 117). So sind die Phänomene nicht unmittelbare Gegebenheiten (Phän. 19/20,
S. 229). Die Philosophie ist nicht theoretisch, sondern sinngenetisch (a.a.O. S. 254). Der Sinn ist nicht
33
die Begaffung einer Ursprünglichkeit, sondern die Verwicklung der „Sachen“ mit dem Leben des
Menschen und das weltende Geschehen aus dieser heraus. So ist das Ziel der Phänomenologie nicht
das Einholen eines Ursprungs, sondern das Entspringen eines solchen (a.a.O., S. 81).
Diese These ist sehr wichtig und macht den Gang und das Ziel dieser Untersuchung aus. Die
Phänomenologie Heideggers ist nämlich eine Anschauung auf eine „letzte Erfüllung“! (a.a.O., S. 34)
und nicht eine Anschauung einer schon existenten „Vollkommenheit“ (a.a.O., S. 35). Man darf die
Gegenstände der Phänomenologie nicht „nackt“ vorstellen, um sie dann mit einem Wertcharakter aus-
zustaffieren (Phän. Interpr. zu Arist., WS 21/22, S. 91 und 32). Dem Seienden selbst geht es um sein
Sein, welches aber keinen ursprünglichen Gehalt für jenes darstellt (a.a.O., S. 53, 55-60). Das Sein des
Daseins ist nicht eidetisch gereinigt wie das Bewußtsein Husserls, sondern es hat einen Als-Charakter
als direkten Anspruch der Wahrheit an das Dasein, welcher außerhalb jeder Theoretisierung und Zu-
rückführung auf eine gereinigte Eidetik steht. Genau darin ist denn auch das entscheidende Motiv für
die Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“ (WS 23/24) zu sehen. Die Wahrheit
des Phänomens ist ein vorprädikatives „Als-was“ und kein direktes theoretisches Erfassen (Logik,
WS. 25/26, S. 145-147). Sie ist das Ansetzen einer entspringenden und weltend-geschehenden „Ur-
sprünglichkeit“ und kein Einholen einer vorhandenen. So kann auch Heidegger von der Phänomeno-
logie als Dialektik sprechen, welche den Geist aus der Faktizität des Daseins heraus belebt und das
Irrationale nicht erstarren läßt, sondern dieses als Leben mit dem Rationalen der Philosophie zusam-
menbringt und einfügt (Phän. der Ansch., SS. 20, S. 19-29).
Diese im Anspruch des Weltenden an das Dasein ansetzende und entspringende Ursprünglich-
keit kann kein Ziel und keine vorhandene Motivation über sich außer diesen Anspruch und seinen Ort
haben! Wenn man das Telos dieses weltenden und geschehenden Anspruchs fragend anvisieren kann,
dann ist dieses im angesprochenen Dasein versammelt und verborgen und ist noch nicht erfüllt. Es
offenbart aber den Sinn auf ein gefragtes Telos hin, das kein Sich-zeigen und keine Prädikation eines
innerweltlich vorhandenen und sich verwirklichenden Anfangs ist. Die Phänomenolgie Heideggers
wird von einer jedem Anfang und jedem Sein als intentionaler und absoluter Position vorgängigen
Frage nach einem „Telos“ geleitet.
3. 2. Das Bedeutsame bedeutet sich selbst und weltet so. Die Welt ist weder ein Worinnen für das Sich-zeigen noch das Ganze von Beziehungen
Die Dinge sind nicht das bloß Feststellbare aller „möglichen“ Gegenstände, sondern die Er-
schlossenheit des Bedeutsamen im Wie des Daseins (Herm. der Fakt., SS 23, S. 95). Das Dasein ist
schon der Wahrheit und dem Wesen des Dinges verfallen. Was das Dasein angeht, das passiert schon
in diesem seinem „Da“. Die Möglichkeiten des Daseins sind faktisch. Was das Dasein angeht, so ent-
24 So spricht B. Mikulic in: Sein, Physis, Aletheia, Würzburg 1987 vom ontologisierten Sinn und Ontologem (S.
34
steht es in diesem Da schon versammelnden und verweilenden Bezug. Die Bedeutsamkeit öffnet den
Raum des Bedeuteten und bedeutet nichts anderes. Sie schafft und öffnet selbst den Raum des Bedeu-
tens für das Dasein.
„Aus und mit der an ihm und als es begegnenden Erschloßenheit be-deutet es sich selbst in das
«da» eines Verweilens und einer Lage der Alltäglichkeit hinein. Das Be-deutsame bedeutet nicht et-
was anderes, sondern sich selbst und ist bedeutsam, d.h., es hält sich entsprechend der Jeweiligkeit
durch sie hindurch in diesem Da- und Vorhandensein“ (Herm. der Fakt., SS. 23, S. 95). Und: „(...) ist
so wenig eine Mannigfaltigkeit von Beziehungen, in die nachträglich und sekundär das begegnende
Daseiende gestellt wird, daß vielmehr gerade aus der Erschloßenheit und durch sie das Begegnende da
ist, in seinem Dasein sich hält. Die «Beziehungen» daran sind das Umhafte. (...) Der Ausdruck (sc.
weltlich) meint nicht ein Daseiendes, das dazu noch etwas bedeutet, sondern das bestimmt begegnende
Bedeuten, im Bedeuten sich Halten macht das Sein aus“ (a.a.O., S. 95 und 96; siehe auch Phän Interpr.
zu Arist., WS. 21/22, S. 91).
Das Sein des Daseienden wird nicht von einem Anderen her gedeutet, ausgeschöpft oder be-
stimmt, sondern das Seiende öffnet selbst den Raum seines Sinns und Aufenthaltes. Erst seine Wahr-
heit bildet das Sein und die Welt aus, in der sich der Mensch aufhält und auslegt. Das weltende Seien-
de ist nicht seine Bezugsstelle zu anderem Seienden bzw. den Seienden der gesamten Welt, sondern
bezeichnet sozusagen sein eigenes Welten der Welt. Hier sehen wir, daß das Sein, die Wahrheit und
die Welt, in der alle sich aufhalten, erst aus dem konkreten und direkten Bezug des Daseins zum Sei-
enden aufgehen. Der Anspruch des Weltenden und Bedeutsamen hat kein weiteres Wohin als Ziel,
sondern es versammelt sich im Dasein.25
Ausgehend von diesem wichtigen Heidegger-Motiv können wir die Phänomenologie nicht als
Methode bezeichnen, die auf ein Früheres und reines Erstes oder auf ein weiteres Adäquates zielt und
entwirft. Vielmehr ist sie in diesem Da als ihr Ziel und Ende versammelt, weil dieses Ansatz und Ort
des Weltens und Geschehens der Welt und einer gefragten, entspringenden und nicht einen festgestell-
ten Anfang vollziehenden Ursprünglichkeit ist, welche einer letzten Erfüllung und vorontologischen
Darstellung, ohne bestimmten Anfang zu haben, entgegen strebt. Diese Erfüllung kann so keine Adä-
quation des Anfangs sein, sondern Erfüllung der dem Anfang vorgängigen Frage. Das Telos des An-
spruchs kann nicht eine intentionale Realität sein, sondern das, was am direkt angesprochenen und
transzendenten Dasein aus dem Nichts als Sein ermöglicht wird.
311 f.), von Ursprünglichkeit und Leugnung jeglicher Vermittlung des unhinterfragbaren Seins (S. 312). 25 Ute Guzzoni erörtert den Bezug des In-der-Welt-seins zum Wort Gegend oder Gegnet des späteren Heideg-gers (Das Denken der Gelassenheit und der Bezug des Seins zum Menschenwesen. In: "Wege im Denken: Ver-suche mit und ohne Heidegger", Freiburg, 1990, S. 201 ff.). Das Geviert oder die Vierung im späteren Heidegger bedeutet auch das Welten der Welt im Ganzen aus Jedem und nicht bloß eine Perspektive in der Welt als Offe-nem, wie später noch behandelt wird. Jedes ist das Welten der Welt für alle anderen und nicht ein einfaches innerweltliches Sich-zeigen.
35
3. 3. Die Phänomenologie ist strenges An-eignen des Weltenden und nicht dialektische Methode
Die Direktheit und die Versammlung des Anspruchs am transzendenten Dasein bezeichnet auch
die Beschreibung der Phänomenologie als direkten Aneignens und nicht als methodischen Verfahrens.
Die Phänomenologie ist keine Methode, welche die vorhandene Gültigkeit von Sätzen und Verbin-
dungen innerweltlich garantiert. Es gibt keinen Anwendungsbereich einer Methode, welche ihren Ge-
genstand aus einem gereinigten Eidos heraus erschließt. In der Phänomenologie bedarf es weder eines
kritischen Kriteriums noch des Ganges einer alles vermittelnden Dialektik. Sie setzt sich nicht mit
vorhandenen Spezialproblemen, sondern mit dem Sein selbst, und zwar in einem vortheoretischen
Sinne auseinander (Grundpr. der Phän., Bd. 58, 19/20, bis S. 30). Die Phänomenologie ist somit stren-
ger als jede Wissenschaft. „Mathematik ist die am wenigsten strenge Wissenschaft, denn der Zugang
hier ist der allerleichteste. (...) Man darf Wissenschaft nicht als System von Sätzen und Begründungs-
zusammenhängen ansehen, sondern als etwas, worin sich faktisches Dasein mit sich selbst auseinan-
dersetzt“ (Herm. der Fakt., SS. 23, S. 72).
Die Phänomenologie ist direkte Aneignung des Weltenden - der Sache - am Sein des Da-seins und
nicht Dialektik, verstanden als eine Aufhebung aller in einem höheren, äußeren, oder methodischen
„Gang“ der Sache. Jedes ist Gang26 der Sache, Welten der Welt und Wahrheit des Ganzen. Das Welt-
ende wird am Dasein und seinem Eigenen angeeignet und er-lebt und nicht in einer alles konstituie-
renden Methode identifiziert. Es gibt keinen bestimmten Anfang, welcher zu einem Ende vermittelt
werden könnte, sondern einen Anspruch, welcher nach einer letzten, aber nicht adäquaten Erfüllung
und nach der Darstellung eines vorontologischen Anspruchs strebt. Die Neukonzeptualisierung der
Phänomenologie durch Heidegger wirft folgende Fragen auf:
• Gibt es kein Sammeln, kein Aufeinander-Beziehen all der Topoi des Daseins, sondern nur ein
gleichgültiges (postmodernes) Nebeneinander von unvermittelten Orten?
• Was bietet die Heideggersche Phänomenologie Anderes und Zusätzliches gegenüber der Dialektik
als Wahrheit aller an?
• Überbietet diese Phänomenologie die Dialektik, und ist sie dabei trotzdem noch die Wahrheit al-
ler?
• Kann existenzielle Wahrheit verbindlich und öffentlich sein?
Was für eine Wahrheit ist diese? In der Vorlesung „Ontologie, Hermeneutik der Faktizität“ des SS
23 wendet sich Heidegger gegen eine Dialektik, die sich eines vorhandenen Tisches bedient und nicht
ein direktes phänomenologisches Erfassen der Dinge ist (Herm. der Fakt., SS 23, S. 43, 107). Es ist
26 Es ist fraglich, ob man von einem Instrumentalismus der Werkwelt sprechen kann. „(...), er (sc. Heidegger) modifiziert jedoch die Idee der primären Anschauung von einem Kontemplationismus der Sinnesorgane hin zu einem Instrumentalismus der Werkwelt“ (C. F. Gethmann, Heideggers Wahrheitskonzeption in seinen Marbur-ger Vorlesungen, in: a.a.O. Innen- und Außenansichten, Suhrkamp, S. 115). Das In-der-Welt-sein bedeutet aber nicht eine Rückkehr des Daseins zu sich durch die Welt. Das Dasein ist als In-der-Welt-sein die angesprochene Wahrheit der Dinge und nicht eine innerweltliche Position durch die Dinge.
36
schwierig, Dialektik und die Heideggersche Gegenposition in bezug auf diese Stelle, in der das ganze
Thema nur kurz abgehandelt wird, zu verstehen und zu erörtern. Eine existenzielle Wissenschaft, eine
Ontologie als Hermeneutik der Faktizität, eine nicht noetische und trotzdem wahrheitsstiftende Ausei-
nandersetzung, die strenger als die Wissenschaft ist (a.a.O., S. 7), scheint ein unmittelbares Aneignen
der Wahrheit nicht nur zu ermöglichen, sondern sogar zu sein. Wieso spricht Heidegger aber später
vom Ungesagten des Gesagten (Kantbuch) und von der Verwindung oder dem Wesen der Metaphy-
sik? Ist dies noch Phänomenologie oder doch nicht eher eine dialektische Betrachtung und Auseinan-
dersetzung mit der Geschichte des Seins? Intendiert Heidegger eine höhere Wahrheit über die Ent-
decktheit? Oder kommt hierbei nicht doch der Anfang und der Zirkel ins Spiel? Wird dann alles wie-
der durch ein Anfangendes und Unmittelbares aufgehoben und wieder in Gang gesetzt?
Wir werden langsam sehen, besonders in Teil V, daß es bei Heidegger weder die Unmittelbarkeit
eines souveränen oder immer Wi(e)derkehrenden Anfangs noch die Vermittlung eines solchen An-
fangs in seinem Ende geben kann. Bis zu „Sein und Zeit“ können wir sagen, daß die Wahrheit ein
direktes Verwickeln vom Anspruch des Weltenden und Daseins ist. Sie ist nicht ihr Bezogen- und
Aufgehobensein in einem vermittelten Ganzen oder unmittelbaren Anfang, sondern demgegenüber ihr
im Ganzen sich vollziehendes weltbildendes und das Sein und die Welt darstellendes Welten aus die-
sem Da heraus. Die Versammlung des Anspruchs in einem transzendenten Dasein zielt auf eine nicht
unmittelbare, nicht intentional-reale und nicht adäquate Repräsentation, sondern auf eine letzte und
aus dem Nichts ermöglichte Erfüllung.
3. 4. Die Wahrheit des Weltenden zielt nicht auf ein weiteres Sich-zeigen, sondern versammelt sich im direkten Anspruch am Dasein. Welten als Ruhen. Das Wi(e)derkehren der Frage in den Ursprung des ansprechenden Weltenden
Die Wahrheit als weltendes Sich-darstellen ist nicht ein einfaches Sich-zeigen.27 Das Weltende
beansprucht und gebraucht einen modus essentialis - das Dasein. Die Wahrheit des Weltenden ist nicht
ein Sich-zeigen mittels des Daseins, sondern ein Aneignen des Daseins und das Verlangen einer nicht
adäquaten, sondern dem Sein vorgängigen und aus dem Nichts darzustellenden Wahrheit. Wir können
ein Ende in dieser Bewegung der Wahrheit sehen. Diese zielt nicht auf eine höhere Scheinbarkeit,
sondern sie versammelt sich im Ort ihres Anspruchs. Die Bezugsstelle zum Sein, welche später Lich-
tung der Wahrheit genannt wird, ist nicht bloß das Aufgehen der Sache selbst oder ihr vom Dasein her
vollzogenes Entworfen-werden, sondern der Ort des Da, in welchem ein Beanspruchtes und Gefragtes
innerhalb des Seins hinterfragt wird. In diesem Sinne ist später vom Ort der Wahrheit und der Topolo-
gie des Seins die Rede. Die Wahrheit hat einen Ort, sie wird nicht höher, in ein adäquates „Wohin“
27 Nach H. G. Gadamer ist die Wahrheit nicht nur Sich-zeigen, sondern auch Sich-halten in dieser Unverborgen-heit gegenüber der Gefahr der Verborgenheit (Sein, Geist, Gott, in: Heidegger. Freiburger Universitätsvorträge zu seinem Gedenken, Freiburg-München 1979, S. 56).
37
vermittelt. Wir könnten sagen, daß die Wahrheit nicht ein Expandieren als Sich-zeigen28 ist, sonden
ein In-sich-ruhen als Welten der Welt und nicht einfaches Scheinen in dieser. Da sie aber zugleich
Welten, Geschehen der Welt und Aufbrechen ist, kann sie nicht ein geschlossenes In-sich-Ruhen sein,
sondern ein im Inneren des Weltenden Anwesen-lassen des Gefragten, Anderen und Fremden und
somit Welten-ruhen und weltendes Darstellen des Seins. Zugleich ist sie aber ein Übertreffen29 jeder
Wirklichkeit als inneres Sich-fragen und Sich-übertreffen. Dieses Welten-ruhen als Sich-übertreffen
ist ein neues Qualifizieren der Welt, ein Übermaß und Welten der Welt und nicht ein Sich-wollen oder
ein Wollen einer vorhandenen weltlichen Wirklichkeit als Sich-zeigen in dieser. Deswegen bezeichnet
das ruhende Welten der Welt und das Verlangen einer nicht adäquaten Wahrheit das Erwarten einer
Wahrheit, die nicht Verwirklichung eines schon existierenden Anfangs oder Ansatzes ist, sondern
Erfüllung eines Ursprungs, der noch aussteht und dessen Mangel gespürt wird. Das Weltende stellt
sich in Frage und fragt nach seinem sich selbst aus dem Nichts als Sein überhaupt darstellenden Ur-
sprung und nicht nach einem adäquaten Entwerfen! Es gibt eine Versammlung und Konzentration der
Wahrheit auf ein Geschehen.30 Im angesprochenen Dasein befragt sich das Weltende nach seinem
noch verborgenen Ursprung und seiner nicht innerweltlichen Darstellung aus dem Nichts.
Dieses Da31 der Wahrheit ist die Versammlung des Anspruchs auf etwas nicht Adäquates und
nicht Anwesendes zwischen „noch nicht“ und „nicht mehr“. In diesem stockenden Ruhen der Frage
am Dasein, die nicht adäquat und real-intentional entworfen werden kann, kehrt sie in den Ursprung
28 Z.B. ist nach H. Helting die Wahrheit ein Sich-zeigen (Heidegger und Meister Eckhart, Berlin 1997, S. 37). Gott und das Heilige sei das nicht Sich-zeigende und Verborgene in der theologischen Differenz zwischen Sein und Gott. 29 Nach P. L. Coriando ist kein Erreichen des Anwesenlassenden hinter dem horizontalen Anwesen von Sein möglich. Nur die Übernahme der Geworfenheit im jeweiligen Seinsentwurf entspricht einer kehrigen Zugehörig-keit zum Anwesenlassenden (Der letzte Gott als Anfang, München 1998, S. 44 f., 47). Das Sein selbst aber ge-hört zu dem, was es anwesen läßt. Sonst stößt es dieses von ihm ab und will, reaktiv absetzend, zugleich alles nach sich ziehen. Es bleibt ein Negativum, welches nicht positiv das Anwesende übersteigt. Nur das positiv Übertreffende und also innerhalb seiner das entgegengeworfene Da Ermöglichende kann nicht abstoßend und absetzend das Übetreffende als Sich-Übertreffende beim Ermöglichen des Fremden sein. So gehört auch die Geschichte des Seins zum Sein und umgekehrt das Sein zu seiner Geschichte. Wie später referiert wird, gehört bei Heidegger das Anwesenlassen zum Anwesenden, der Werfer zum Geworfenen. 30 R. Brander sieht nach der Kehre eine Wandlung der Formalontologie in Ereignisontologie (Heideggers Beg-riff der Geschichte und das neuzeitliche Geschichtsdenken, Wien, 1994, S. 19). Er spricht auch von einer Meta-historik anstelle der Metaphysik und vom schicklichen Charakter dieser Ereignisontologie (S. 17). Wir könnten sagen, daß schon vor der um 1930 verorteten Kehre die Ontologie einen Geschehenscharakter im Da hat und kein einfaches phänomenologisches Sich-zeigen ist. Außerdem ist diese Geschichte des Seins vor und nach der "Kehre" nicht das Schicken von Ereignissen in die Menschengeschichte aus einer Metahistorie des Seins - wie aus Branders Arbeit und B. Mikulic´ "Sein, Physis, Aletheia“, Würzburg 1987, hervorgeht -, sondern die Ver-wicklung und Geschichte des Seins in diesem Da. Wir haben nicht ein Sein mit seinen Schickungen zu dem Menschen, sondern das Sein selbst ist "geschicklich". 31 U. Guzonni bezieht sich beim späteren Heidegger auf die Nähe und Ferne des Raumes eines Dinges. Die Ge-gend oder Gegnet ist ein spezifisches Ganzes und nicht ein uninteressierter Raum (Das Denken der Gelassenheit und der Bezug des Seins zum Menschenwesen. In: U. Guzonni (Hg.), Wege im Denken. Versuche mit und ohne Heidegger, München-Freiburg 1990, S. 210). Die Offenheit eines Dinges ist die Offenheit als solche (S. 212). Die Nähe ist die Ferne (S. 213). Diese Offenheit ist ein ruhiges Anwesen (S. 206 ff.). Wir sollten hier sagen, daß diese Motive schon und insbesondere beim frühen Heidegger vorhanden sind. Das Welten des Weltenden, die Weltlichkeit des Daseins, die Bewandtnis und Bewandtnisganzheit, die Bedeutsamkeit des Bedeutsamen sind
38
des sie stellenden und das Dasein ansprechenden Weltenden wi(e)der! Das Fragende steht nunmehr
unter seiner eigenen Frage! In dieser ruhenden Frage kehrt das ansprechende Weltende nicht in seinen
ersten Anfang und zu sich als zu einem festgestellten Ursprung zurück, sondern es fragt nach einem
anderen und noch fehlenden! Es ist schon in der beauftragten Transzendenz des Daseins und kann in
dieser aus dem Nichts ins Sein wieder eintreten. Die Wahrheit des Weltenden ist nicht ein unmittelba-
rer und schlichter Übergang in das dargestellte Sein des ersteren Seins, sondern eine Darstellung ohne
Anfang, die Erfüllung eines den Fehl an Wahrheit in diesem Anspruch und in dieser Frage aufspüren-
den Ursprungs!
3. 5. Im direkten Anspruch des Weltenden wird am Dasein etwas Inadäquates verlangt, das nicht innerweltlich gezeigt werden kann
Indem sich das Dasein in der Welt weltlich zeigt, kann es nicht in der Immanenz des Bewußt-
sein verharren und sich mit der species oder der Anschauung von Bedeutungen und Erlebnissen zu-
frieden geben (Über innere Wahrnehmung und Bedeutung als Gattungsbegriff, in Bd. 17, Einf. in die
phän. Forschung, WS 23/24, S. 49, 54 u. 55). Das Dasein als Er-leben hat, wie wir gesehen haben,
einen Als-Charakter und zeigt sich in der Welt (a.a.O., S. 44), d.h. es stellt die Welt dar. Das Dasein
geht aber nicht auf, um der Sache gewachsen zu sein, und erweitert nicht seine Kapazität, um dann der
Herausforderung und der Wahrheit der Dinge gemäß „identisch“, gleichwertig und adäquat denken zu
können. Es gibt aber eine „positive“ Inadäquatheit in der Aufgabe und Aufforderung des Daseins. Die
Wahrheit des Weltenden ist nicht ein unbestimmtes X, welches in seiner Unbestimmtheit weiterhin ein
„An sich“ bleibt. Sie verlangt als Welten der Welt einen modus essentialis, also das Dasein, welches in
sich transzendent und seinerseits Transzendenz für die Darstellung des Weltenden aus dem Nichts ins
Sein ist. Allein das schon bedeutet eine Inadäquatheit. Die Wahrheit der Dinge wird nicht auf die Art
und Weise gedacht, daß sie diesen als gleich gewachsen gegenübergestellt wird, sondern sie wird in-
adäquat gedacht und dadurch übertroffen und überholt. Im direkten und am Dasein endenden An-
spruch des Weltenden wird etwas Inadäquates verlangt, was nicht innerweltlich vorkommt oder in-
nerweltlich gezeigt werden kann, sondern in den gefragten Ursprung des ansprechenden Weltenden
wi(e)derkehrt - solcherweise ist das angesprochene Da-sein in sich transzendent und mit dem Sein
selber dem Nichts gegenüber beauftragt und nicht auf reale Seiende gerichtet - und aus dem Nichts im
Sein ankommt. Weil das Dasein endlich und in die Transzendenz des Anspruchs des Weltenden ge-
worfen ist, erleidet es diese und kann etwas Inadäquates erleidend aufspüren, fragen und anstreben.
Wenn die Wahrheit aus dem in einem Dasein versammelten und nicht nach einer adäquaten Wahrheit
strebenden, sondern in den Ursprung des Fragenden wi(e)derkehrenden Anspruch erlangt wird, dann
kann diese eben aus dem angesprochenen und die Frage aufstellenden wi(e)derkehrenden Ort des Da-
seins gefragt und gesucht werden. Das Dasein spürt aus seiner Ohnmacht und seinem ohnmächtigen
schon Darstellungen und nicht nur Vorformen der späteren Nähe und Ferne der ruhigen Gelassenheit in der Welt
39
Ausgesetztsein in der angesprochenen Transzendenz den Anspruch und seinen ihn tragenden und ver-
borgenen Mangel auf und hat eine im Nichts seiner Existenz liegende Motivation auf die angespro-
chene und in den gesuchten Ursprung des Ansprechenden Wi(e)derkehrende und daher letztlich ent-
springende Wahrheit.
Die Wahrheit wird aus dieser den Mangel aufspürenden und transzendenten Ohnmacht und
Endlichkeit des Daseins als aus einer in den ansprechenden Mangel und ins Nichts des Ansprechenden
wi(e)derkehrenden und daher im Sein entspringenden Ursprünglichkeit erwartet und nicht aus einem
Vollzug eines schon vorhandenen Ursprungs.
3. 6. In der Sorge geht es um das verantwortliche Sein des Daseins als Endes und Ortes des ru-henden Anspruchs der Wahrheit
Den direkten und im Dasein ruhenden Anspruch des Seins können wir sehr gut in der Sorge des
Daseins betrachten. Das Dasein läßt in seinem Sein den Anspruch des Weltenden wesen und ist in
seinem Sein ver-antwortlich. Daher sorgt es für sich. Die Sorge erschließt das Dasein in seiner Verein-
zelung. Sie hat nicht den psychologischen Charakter, daß das Dasein für sich sorgen soll, oder daß
eine existentielle vortheoretische Haltung und Repräsentation der Welt ursprünglicher ist und von
eben dieser Sorge des Daseins abgeleitet werden sollte. Ebensowenig meint Sorge hier, daß das Dasein
nicht in sich autark und weltlicher Mittel bedürftig ist. Das Dasein läßt sich nicht als das für sich sor-
gende endliche Subjekt denken, welches in der Philosophie und Wissenschaft wissen soll, wie es um
seine eigene Existenz gestellt ist. Die Sorge macht nicht bloß das Dasein unsicher und dessen Betrieb
in der Philosophie vortheoretisch und lebenswichtig. Vielmehr erschließt sie das konkrete Dasein in
seinen eigenen Möglichkeiten und läßt so die Frage des Seins ruhen und in einen anderen Ursprung
wi(e)derkehren. Das Dasein schließt sich nicht einer geltenden Öffentlichkeit an, sondern es ist selbst
ver-antwortlich. Das Dasein soll an ihm selber das „Wie“ und „Als was“ der Dinge offenbaren und so
an ihm selber ihren Anspruch welten lassen. „In-der-Welt-sein besagt nicht: Vorkommen unter ande-
ren Dingen, sondern heißt: das Um der begegnenden Welt besorgend bei ihm Verweilen“ (Herm. der
Fakt., SS. 23, S. 102). Das Dasein soll das Wie der Dinge bei sich verweilen lassen und freilassen. Auf
der anderen Seite soll das Dasein selbst in diesem „Wie“ verweilen. Das, was es umtreibt, ist keine
psychologische, sorgende Unruhe oder ein besorgendes Vermitteln von Instrumenten.
„Da ist die Mitwelt und mit dieser man selbst das Besorgte. Sein Grundcharakter ist dadurch be-
stimmt, mit dem, worauf es ausgeht, stellt es sich selbst in die Sorge. Sorgen besorgt sich immer ir-
gendwie selbst. (Das ist keine Rückbezüglichkeit des Sorgens auf sich selbst, davon ist nicht die Re-
de.) Es besorgt sich selbst, indem es sich weltlich im begegnenden Da antrifft“ (a.a.O., S. 102).
In diesem Sinne ist die Sorge der mißglückte Versuch des Daseins, sich durch das Gesorgte
umwegig und objektiviert aus einer äußeren Position wiederzugewinnen und zu erklären. Das Gesorg-
und Gegnet.
40
te wird quasi wieder an das Dasein vermittelt, welches zu sich unmittelbar steht, allerdings aus einer
Position innerhalb des Gesorgten und nicht aus einer autarken Ichheit heraus. Obwohl also das Dasein
aus den Dingen heraus für sich sorgt, wird es nicht durch diese vermittelt. Im Gegenteil: Es vermittelt
sich selbst und wird für die Dinge verantwortet und gebraucht. Es gibt keine Rückbezüglichkeit des
Sorgens auf sich selbst, wie sie etwa für das Selbstbewußtsein oder das Sich-in-allem-durchsetzen-
können geltend gemacht werden könnte. Das Sich-sorgen ist die Ausgesetztheit des Daseins in der
Transzendenz der Welt. Das Dasein soll in der Wahrheit der Dinge verweilen, und dabei ihre und nur
ihre Wahrheit bei sich verweilen lassen, das „Als-was“ und „Wie“ an ihm selber ermöglichen. Es ist
selbstverantwortlich und kann nicht durch ein Drittes dem Anspruch der Wahrheit gegenüberstehen.
Die Sorge ist Erschließen, Behalten und konkretes Explizieren des Daseins (Einf. in die phän.
Forschung, SS 24, S. 61). Es geht nicht um ein sophistisches Meinen, eine äußere Reflexion, Reprä-
sentation und Vorstellung der Welt, sondern um ein Sich-ver-halten, ein Sich-der-Wahrheit-als-Ort-
ihres-Verweilens-anbieten. Das Dasein ist als Ort der Wahrheit nicht ein Mittel für das Entwerfen und
Vermitteln der Wahrheit in eine höhere Position, sondern der Ort, in dem die Wahrheit durch ihr Ge-
schehen im Fremden, das gleichsam das Geschehen des Daseins charakterisiert, quasi ins Stocken
gerät. Die Wahrheit in diesem Da wird nicht in einer höheren Wahrheit und in einem anderem Licht
entworfen, sondern kehrt in einem anderen Ursprung wi(e)der. Die Wahrheit der Dinge meint also
nicht nur das (Hin-)Aufgehen dieser Dinge, sondern ebenso ein Rückstoßen und ein Verorten in einem
Ort, in dem die Welt versammelt32 ist. Es liegt im Wesen der Wahrheit, daß sie kein höheres Worauf-
hin hat, kein bloßes Aufdecken einer Sache ist, sondern diese verortet und die Welt aus einem gefrag-
ten vorontologischen Ursprung weltet und darstellt. Obwohl sie verbindlich und endlich aus einem Da
heraus wächst, ist sie nicht ein Zeigen, sondern ein Versammeln, ein Verorten und ein Welten der
Welt am Ort33 des Anspruchs des Seins auf das Dasein, welcher auch der Ort des Entspringens der
Wahrheit ist. Die endliche Wahrheit ist un-endlich, sofern sie als Ruhen, im Gegensatz zu einem abso-
luten Sich-zeigen und Expandieren, nach einer inadäquaten und nicht zu entwerfenden Wahrheit aus
dem Erleiden eines solchen Mangels wi(e)derkehrend strebt. Die Wahrheit des Weltenden kehrt am
Sein des transzendenten Daseins in einen anderen Ursprung wi(e)der und wird aus dem Nichts der
Existenz ermöglicht und dargestellt und nicht transkategorial übertragen.
32 P.-L. Coriando spricht von dem zögernden Sich-versagen des Seins (Der letzte Gott als Anfang, München 1998, S. 84). Sehr oft in ihrer Arbeit spricht sie auch von der Enteignis des Seins aus dem Seienden. Wir sollten aber bemerken, daß kein Entzug des Seins aus dem Seienden vorkommt, sondern Entzug des Seins aus sich selber beim Sich-dem-Dasein-und-dem-Seienden-Geben. Das Sein zögert, sich zu verwirklichen und verwickelt sich im Fremden. 33 Wie schon gesagt ist, ist das Dasein der Ort des Anspruchs des Seins. Aus diesem Grund und dieser bei Hei-degger immanenten Voraussetzung kann man die sogenannte "Kehre" verstehen. Nach C.-F. Gethmann konnte Heidegger keine transzendentale Gründung der Seinsfrage geben, sondern nur eine fundamentalontologische als eine ontologische Seinsthese (Verstehen und Auslegung, Bonn 1974, S. 284, 281 ff.). Es geht aber weder um die Frage nach einer kritisch transzendentalen oder intentionalen Voraussetzung des Seins, noch nach einer ontolo-gischen Seinsthese, sondern um die Frage nach dem direkten Angesprochensein des in sich transzendenten Da-seins vom Sein, welches schon in der Wahrheit des Seins ist.
41
„Das Sein des faktischen Lebens ist darin ausgezeichnet, daß es ist im Wie des Seins des Mög-
lichseins seiner selbst, die das Dasein (Faktizität) ist, und zwar ohne daß sie da «ist», sei bezeichnet als
Existenz. Auf dieses eigentliche Sein ihrer Selbst hin wird Vorhabe gestellt, von da her und daraufhin
wird sie ausgelegt; die hierbei erwachsenen begrifflichen Explikate werden bezeichnet als Existenzia-
lien“ (Herm. der Fakt., SS. 23, S. 16).
Das Verstehen des in sich transzendenten Daseins ist kein transzendentales Verbinden, sondern
ein als Existenz aus dem Nichts Sich-sorgen und Sich-auslegen. Das Dasein ist der Ort des Sich-
versammelns, Ruhens und Sich-fragens des Anspruchs des Weltenden auf Wahrheit, aus welchem
dieser in seinen ursprünglicheren Ursprung als Mangel und Entsprung aus dem Nichts ins Sein
Wi(e)derkehrt, sich aus diesem darstellt und welterschließend ist.
Ziel der Phänomenologie ist keine intentionale Realität in ihrer adäquaten Reinheit, sondern ei-
ne letzte Erfüllung der jeder Realität vorgängigen Frage des Seins, welche durch diese Frage ins
Nichts und in einen vorontologischen Ursprung wi(e)derkehrend, sich aus diesem darstellt und „ist“.
4. Der Anspruch und der Fehl des Seins und der Logos der Phänomenologie
Wenn das Dasein von der Wahrheit der Gegenstände herausgefordert wird, zugleich aber über
keine vermittelnde und aufhebende Idee oder Fähigkeit verfügt, drängt sich geradezu zwangsläufig die
Frage auf, wozu es herausgefordert wird? Ist es in diesem Fall nicht zur Hilflosigkeit und Ohnmäch-
tigkeit verurteilt? Oder ist - wie gesagt - gerade diese Ohnmächtigkeit und Hilflosigkeit seine eigentli-
che Macht, welche als eine Not, eine Motivation und ein Erleiden der angesprochenen und mangeln-
den Wahrheit diese Wahrheit nur auf dieser Art und Weise letztlich ermöglichen, schenken und aus
der Armut heraus erstreben kann?
Wie läßt sich also der Anspruch des Seins näher charakterisieren, und wie das Dasein als Logos
der Phänomenologie? Wie läßt sich überhaupt der Logos der Phänomenologie beim frühen Heidegger
erfassen? Diese Fragen werden im folgenden einer näheren Untersuchung ausgesetzt.
4. 1. Wozu der Anspruch der Sachen? Buchstabieren der Wirklichkeit oder etwas mehr? Was kann das Dasein dem weltenden Anspruch anbieten?
Heidegger hatte sich in den ersten Werken nach seiner Habilitation mit dem vortheoretischen
Charakter der Philosophie auseinandergesetzt. Ergebnis dieser Auseinandersetzung war eine Neukon-
zeptualisierung der Phänomenologie auf der Basis des Weltens und Geschehens des Weltenden. Damit
hatte er einen sein ganzes Werk durchziehenden systematischen Ansatz eingeführt. Die Sachen neh-
men das Dasein in ihren Anspruch und in ihre Richtung (Phän., 19/20, S. 32). Worin besteht der An-
spruch der Sachen? Lediglich darin, daß das Dasein, ohne selbst über eine Methode zu verfügen und
42
Subjekt zu sein, auf die Sachen hin angesprochen wird? Ist das Ziel des Anspruchs die Sache selbst,
und können wir daher von einem vortheoretischen oder vorurteilslosen phänomenologischen Verhal-
ten als entsprechende und hinreichende Konsequenz sprechen? Oder ist es etwa mehr, was das Sein
dem Dasein als weltendem Geschehen abverlangt? Will Heidegger etwas Fundamentaleres als Husserl
vorschlagen? Will er nur die Wahrheit der Sachen selbst aus dem Sein des Daseins erschließen? Wie
faßt er Wahrheit in seinen frühen Werken auf? Ist sie Buchstabieren der Wirklichkeit, Evidenz, Rein-
heit und Gelten oder vielmehr Aufbruch in die Wirklichkeit und wahre Wirklichkeit?
Wie auch immer die Antworten ausfallen mögen, der Rückgriff auf eine Intentionalität, in welcher das
Seiende unmittelbar im Subjekt gegeben ist, wird jedenfalls von Heidegger, wie wir auch schon weiter
oben gesehen haben, explizit ausgeschlossen. Die Phänomene sind nicht unmittelbare Gegebenheiten
(a.a.O., S. 229). Damit richtet sich Heigegger sowohl gegen Husserl als auch gegen den Immanenz-
Gedanken der Lebensphilosophie. Die Transzendenz liegt vor der Intentionalität, und das Dasein kon-
stituiert nicht die Realität eines Wirklichen, sondern es ermöglicht selbst das Sein des direkt dieses
ansprechenden und in diesem Anspruch als in einem anderen Ursprung wi(e)derkehrenden Weltenden.
Das Dasein ist dieser Offenheit und Transzendenz ausgesetzt. Die Welt ist nicht schlicht ge- und
er-geben (a.a.O., S. 127), sondern nur und schon im Anspruch des Weltenden auf das Sein des Daseins
und in seiner Geworfenheit in diese angesprochende Transzendenz. Insofern haben wir es bei Heideg-
ger mit einem vorwissenschaftlichen und vortheoretischen Begegnen der Dinge zu tun, mit einem Er-
fahren (a.a.O., S. 67).34
Bis zu Seite 30 der „Grundprobleme der Phänomenologie“ aus den Jahren 1919/20 (a.a.O.) sieht
Heidegger die Phänomenologie als ein Begegnen der Wahrheit der Dinge, ohne auf eine theoretisch
und wissenschaftlich gebildete Methode angewiesen zu sein. Heidegger bietet aber keine radikalere
und reinere Methode an, um an das selbe Ziel wie Husserl zu gelangen. Seine Voraussetzungen von
weltender und dem Sein vorgängiger Wahrheit und transzendentem Dasein wandeln alles um. In der
Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“, Bd. 17, WS. 23/24, stellt Heidegger
der Sorge um sichere Erkenntnis, wie sie von Husserl und früher bereits von Descartes thematisiert
worden ist, seine Sorge um das Sein des Bewußtseins, um das Dasein, dem es um sein Sein geht und
welches in der Sorge selbst erschlossen ist, gegenüber. Der Grund für das Verstehen von Wahrheit, die
sogenannte Gründung der Wahrheit (nach einer späteren Formulierung von Heidegger) kann kein
transkategorialer Grund sein, welcher die Erkenntis sichert, sondern die Existenz des Daseins selbst
als derjenige Ort, den die weltdarstellende Wahrheit unter ihren Anspruch stellt. Ein sicherer Grund
der Erkenntnis ist nicht das Erschließen der Wahrheit, sondern das umwegige Übertragen dieser auf
ein Anderes hin, welches als Erklärung oder Prädikation Sicherung nur aufgrund einer logischen welt-
34 Über die Erfahrung im Gegensatz zur formaldialektischen Aufhebung innerhalb der Hegelschen Phänomeno-logie des Geistes und zwar aus einer Verstehensweise, die sich auf Heidegger beruft, siehe: H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 358 ff.
43
lichen Form leistet. Dasselbe Motiv herrscht auch in den späteren Aufsätzen Heideggers über den
Grund und den Satz vom Grund vor.
Ein weiteres wichtiges Motiv bei Heidegger bis 1927 ist das Verstehen von Sein. Wenn man
Sein aus einem Entwurfsbereich versteht, kann man dann wirklich von einem Verstehen von Sein
sprechen? Soll nicht die sorgende Existenz des Daseins dieses Verstehen verantwortlich übernehmen?
Ist nicht die weltende Wahrheit ein ruhender Anspruch auf ihre welterschließende Darstellung und
nicht auf ein einfaches innerweltliches Sich-zeigen? Wozu aber braucht die weltende Wahrheit das
Dasein? Was bedeutet dieser Anspruch auf einen modus essentialis? Und was kann das Dasein der
weltenden Wahrheit anbieten?
4. 2. Sein und Wahrheit ist radikales Verlangen von Sein des Daseins und kein einfaches Sich-zeigen oder Disponiert-werden
Was kann man dem Sein als Wahrheit anbieten? Nichts! Oder doch eben das Sein aus dem
Nichts? Möglicherweise ist ja das Dasein dem Sein gegenüber nicht ein vermittelnder, beitragender
Ansatz, welcher Drittes miteinander verbindet, sondern radikaler und unmittelbarer Anspruch des
Seins. Das Sein ist demzufolge mit einem totalen Anspruch ausgestattet. Es entsteht ein radikaler Be-
zug. Das Sein wird nicht bloß dialektisch von einem dritten Standpunkt aus vermittelt, sondern es ver-
langt direkt die „Existenz“ des Anderen, nämlich des Daseins. Dann ist das Dasein nicht ein vemit-
telndes und verbindendes Ich oder eine mögliche diskursive Übermittlung und Hilfe „dabei“, sondern
direkt angesprochen! Die Wahrheit des Seins stellt einen totalen Anspruch. Der Bezug ist ein direkter,
existenter Bezug. Das Sein verlangt nicht Vermittlung oder Erklärung innerhalb einer weltlichen Lo-
gik, sondern das Sein des Anderen selbst. In diesem direkten Anspruch wird das Sein des geworfenen,
endlichen und transzendenten Daseins bis zu seinem Nichts beansprucht, aus welchem aber das Sein
des Ansprechenden entsteht und dargestellt wird. Das Sein ist nicht Identität und Unbeweglichkeit,
aber auch nicht ein einfaches Sich-zeigen oder prädizierbares Disponiert-werden, sondern als Sein
überhaupt am Fremden angelegtes weltendes und sich darstellendes Ansprechen und Verlangen. Die-
ses Verlangen im Fremden indes muß man sich als ruhendes und „aktives“ Einlassen des Anderen im
Eigenen, als Sich-fragen und nicht als reaktives Teilnehmen an einem äußeren Wohin vorstellen. Das
Sein ist an sich selber dieses Sich-einlassen und Verlangen im Fremden. In diesem direkten und ru-
henden Anspruch am Dasein kehrt das Sein als Gefragtes in einem anderen Ursprung wi(e)der, aus
welchem es sich darstellt.
In der Sophistes-Vorlesung vom WS 24/25 über Sein und Nicht-Sein versteht Heidegger Platon
sehr oft auf eine diesen übertreffende Art und Weise. Interessant an dieser Periode ist aber vor allem,
wie Heidegger seine Gedankengänge über das Sein und Nicht-Sein in seinen Phänomenologie- und
Wahrheits-Begriff inkorporiert.
„Jedes mögliche Etwas hat als Etwas zugleich die Möglichkeit, daß an ihm sein Anderssein ge-
gen Anderes gesehen werden kann: d…malir joimym¥ar. Die v…sir erschöpft nicht das, was ist, son-
44
dern Sein ist gerade aus der d…malir joimym¥ar ursprünglicher zu verstehen“ (Sophistes, Bd. 19, WS
24/25, S. 548).
Dieses Andere als ein „Nicht“ ist nicht ein schwebendes Drittes, welches den Unterschied zwi-
schen Etwas und Anderem in negativer Hinsicht - d.h., sich von beiden gleichermaßen abstoßend -
übermittelt, sondern jedes Etwas hat an sich selber sein gefragtes Anderssein. So ist das „Nicht“ kein
Durchgang wie in der Hegelschen Dialektik, sondern ein erschließendes Nicht (a.a.O, S. 561). Dieses
Nicht ermöglicht den Bezug zum Fremden.
„Stark gesprochen: das Sein des «nicht», des l†, ist nichts anderes als die d…malir des
pq¡r ti, die Anwesenheit des Seins-zu. Das ist nur die schärfere Formulierung, die wir hier interpre-
tatorisch der Idee der joimym¥a geben. Das Sein des Nicht, das l† im Sinne des õteqom, ist die
d…malir des pq¡r ti. Das wird so nicht von Plato herausgestellt, ist aber implicite in der Idee der
joimym¥a beschloßen“ (a.a.O., S. 558).
Das Sein als Sein-zu ist dem Fremden ausgesetzt und verlangt an ihm etwas „Anderes“. „Das
Nicht also und die Negation ist damit verstanden als erschließendes Nicht. (...) Um das wirklich zu
verstehen in seinen Konsequenzen und vor allem für den Aufbau der Strukturen des Begriffs, über-
haupt der Begrifflichkeit, müssen wir uns von der traditionellen Erkenntnistheorie und Urteilslehre,
der traditionellen Fassung der Erkenntnis, des Urteils, des Begriffs und dergleichen, freimachen. (...)
In der phänomenologischen Forschung bekommt schon die Negation eine ausgezeichnete Stellung: die
Negation in dem Sinne, daß sie vollzogen wird innerhalb der vorgängigen Aneignung und Aufdeckung
eines Sachgehaltes“ (a.a.O., S. 560).
Der Logos ist nicht mehr das Sagen des Selben, eine Wiedergabe des Seinsgehalts oder ein
Buchstabieren der Wirklichkeit. Der Logos hat das Wesen des Nicht und ist erschließend in bezug auf
etwas „Anderes“ des Seins-zu (a.a.O., S. 570). In historischer Hinsicht ist uns diese Konstellation zum
ersten Mal aus der Opposition Platons gegen Parmenides bekannt. Einerseits wird also das Sein im
Logos nicht als das Selbe wiedergegeben, sondern etwas „Anderes“ entsteht, und andererseits fällt das
Sein als Sein-zu unter ein direktes und verlangendes Verhältnis, ohne ein transkategoriales Vermitteln
oder Übertragen in ein weiteres entsprechendes Wohin zu bekommen. Der Logos als Nicht-sein gehört
zum Wesen des Seins-zu. Das Sein ist keine sich zeigende Identität, sondern es verlangt seine gefragte
und vorgängige Wahrheit als seine Darstellung im Fremden aus dem Nichts. In diesem Sinne gehört
der Philosoph und der Logos als Nicht-sein, welches ist, zum Sein-zu.
„Es ist demnach überflüssig und ein Mißverständnis, zu erwarten, Platon hätte noch einen Dia-
log über den Philosophen geschrieben; er hätte sich damit selbst ins Gesicht geschlagen. Mit der
grundsätzlichen Frage nach dem Sein und Nichtsein ist in gleicher Weise zentral die Frage nach dem
ausgezeichneten Seienden, dem Philosophen, bzw. dem Negativum, dem Sophisten gestellt. (...) Die
anthropologische Frage ist also die ontologische und umgekehrt, und beide Fragen zentrieren in der
«logischen» schlechthin, wobei «logisch» zu verstehen ist als das, was den recht verstandenen k¡cor
45
betrifft, also nicht als das formal Logische, sondern im griechischen Sinne“ (a.a.O., S. 577 f.; über das
Logische aus dem Ontologischen siehe auch a.a.O., S. 572 f.).
Bereits im Jahre 1924 erhalten wir einen Hinweis auf die später vollzogene Kehre, welche, wie es in
dieser Arbeit intendiert wird, schon im frühen Heidegger nicht nur immanent ist, sondern auch heraus-
geholt werden kann. Allerdings hat Heidegger im Gegensatz zu Platon, wenn schon nicht einen Dia-
log, so zumindest eine Abhandlung, nämlich „Sein und Zeit“, über den Philosophen geschrieben. Oder
ist eben diese Abhandlung nicht eine Phänomeno-logie und Abhandlung über den Philosophen, son-
dern über den Logos, d.h. über die Versammlung und Zusammengehörigkeit von Sein und Dasein?
Charakteristisch hierfür wie für das ganze frühe Werk Heideggers ist die Konzeptionierung des
Philosophen und des Logos als Nicht-Sein, zu dem das Sein-zu direkt und verlangend ankommt und
sich diesem aussetzt. Der Logos, der Philosoph wie auch der Sophist gehören bereits zu dieser ruhen-
den Bewegung des Seins, in welchem dieses zur welterschließenden Darstellung aus dem Nichts und
nicht zum innerweltlichen Sich-zeigen kommt!
Die bisher aus der Sophistes-Vorlesung herausgearbeiteten Motive können wir wie folgt zusam-
menfassen:
• Das Sein ist in der Phänomenologie als Sein-zu zu verstehen, welches in sein Nicht-Sein kommt.
• Es geht um ein direktes Verlangen und nicht um ein sich zeigendes Erscheinen oder adäquates
Übertragen-werden.
• Das Sein kommt zu seinem Logos als zu seinem Nicht-Sein, zu einer Krisis und einem Gesche-
hensraum, aus dem etwas „Mehr“ als seine Identität verlangt ist.
• In dieser Hinsischt sollten wir die Phänomenologie Heideggers bereits vor „Sein und Zeit“ verste-
hen. Das Dasein und sein Logos ist das Nichtsein, der Geschehensraum des Seins-zu.
• Der Anspruch des Seins ist nicht unmittelbarer Übergang in ein anderes Innerweltliches, sondern
erweist sich als eine Wi(e)derkehr in einem vorontologischen Ursprung, aus dem sich als aus dem
Nichts die gefragte und dem Sein vorgängige Wahrheit darstellt.
• Mit dieser Hauptthese ist zugleich die Frage des Bezugs der Phänomenologie Heideggers zu der
Dialektik von Sein-zu und Nichtsein als Logos mit aufgeworfen.
Erst vor diesem Hintergrund können wir besser verstehen, was Heidegger über den Begriff des
Logos und der Phänomenologie in §7 in S. u. Z. schreibt. Der Logos ist dort nicht im Sinne eines ur-
teilenden Verbindens und Vorstellens zu verstehen, sondern als Äpovamsir ist er ein aufweisendes
Sehenlassen und daher eine Synthesis (S. u. Z., S. 33). So ist der Logos kein Übertragen und Entwer-
fen auf ein Adäquates hin, sondern eine ursprüngliche vorlogische und vorontologische Zusammenge-
hörigkeit. „Das sum hat hier rein apophantische bedeutung und besagt: etwas in seinem Beisammen
mit etwas, etwas als etwas sehen lassen“ (S. u. Z., S. 33). Der Logos gehört zum Geschehen des Seins
und enthält einen direkten Auftrag. So ist der Logos „direkte Aufweisung“ oder „direkte Ausweisung“
(S. u. Z., S. 35). Das Phänomen ist demzufolge nicht das, was sich zeigt, sondern „was sich zunächst
46
und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen
ist, aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, (...)
„(S. u. Z., S. 35).
Das Sein ist kein Sich-zeigen, sondern es kommt erst zu seiner Wahrheit als zu seinem Nicht-Sein,
welches aber zum Geschehen des Seins selber gehört. Gerade diesen Sinn enthielt der ausgebliebene
Teil von S. u. Z., in welchem, aus der Zeitlichkeit des Daseins wi(e)derkehrend, das Sein bestimmt
werden sollte. Der Logos der Phänomenologie ist der direkte vorlogische und vorontologische An-
spruch des Seins, dessen Ort das Dasein einnimmt! Das Dasein erhält die Aufgabe der Wahrheit des
Seins nicht als exemplarischen Versuch, sondern weil es dem Dasein vorlogisch und vorontologisch
durch dessen direkte Inanspruchnahme durch das Sein und nicht in einer transzendentallogischen Vor-
bereitung um sein Sein geht.
„Das Sein als Grundthema der Philosophie ist keine Gattung eines Seienden, und doch betrifft es
jedes Seiende. Seine «Universalität» ist höher zu suchen. (...) Jede Erschließung von Sein als des
transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschloßenheit von Sein)
ist veritas transcendentalis“ (S. u. Z., S. 38).
Nicht der Mensch ist transzendental, sondern das Sein ist transcendens, und das Dasein behält den
Ort der Einwesung seiner übergehenden Transzendenz. Daher bekommt seine Aufgabe einen universa-
len Sinn. So ist das Dasein der Ort des direkten Anspruchs der Wahrheit des Seins und nicht ein trans-
zendentallogisches oder ontologisches Subjekt. Dementsprechend ist die Hermeneutik des Daseins als
„Methode“ aufzufassen „(...), die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens allen philosophi-
schen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt“ (S. u. Z., S.
38). Das Dasein ist der Ort des direkten Anspruchs des Seins auf seine Wahrheit und der Wi(e)derkehr
des Anspruchs in einem anderen, vorontologischen Ursprung des Ansprechenden. Deswegen steht es
schon in der Wahrheit oder in der Unwahrheit des Seins (S. u. Z., S. 227 f.). Die Wahrheit ist somit
kein adäquates Sich-zeigen oder Entwerfen, sondern das Versammeln des Anspruchs im Dasein, das
Wi(e)derkehren der Frage in einem vorontologischen Ursprung des ansprechenden Seins und das
„Entspringen“ eines Nicht-Seins, welches zum Sein gehört. Das Sein-zu als Anspruch und Frage ent-
springt aus dem angesprochenen und wi(e)derkehrenden Ort als das „transcendens schlechthin“ und
die erfüllende Darstellung eines vorontologischen und gefragten Ursprungs und ist nicht transzenden-
tallogische Frage für die Konstituierung einer Gegenständlichkeit, welche Subjekt und Objekt - bzw.
Sein - transkategorial - bzw. fundamentalontologisch - verbindet und Voraussetzung für das Begegnen
des innerweltlichen Realen ist!
Was kann aber das ohnmächtige und sterbliche Dasein diesem Anspruch des Seins-zu anbieten?
Wichtig hierbei ist die Analyse der Rolle des Todes oder des „Seins zum Tode“ bei Heidegger. Der
Mensch ist sterblich. Das Dasein ist aber nicht nur „Sein zum Tode“; in seinem Tode vorlaufend ist es
47
zugleich der Ursprung des Lebens aus dem Nichts. Der Tod bedeutet nicht Solipsismus,35 sondern
existenziale und existenzielle Verantwortlichkeit. Er bedeutet die Unmöglichkeit36 der Existenz für
jedes ontisches Setzen und Verbinden, aber auch diese Ohnmächtigkeit ist existenziale Geworfenheit,
Ausgesetztsein und so ontologische „Macht“. Das „Sein zum Tode“ bedeutet nicht ein Verenden des
Menschen, sondern ein Anfangen. Das Dasein zum Tode verhält sich nicht nur zu seinem Tode, son-
dern aus diesem Tod heraus auch zu seinem Leben und zu seinem Sein! Der Tod und das Nichts ist so
der Anfang des Bezugs des Menschen zu seinem Sein. Weiterhin ist dieser Bezug kein Bezug mehr,
weil es kein Gegenüberstehen von zwei Bezugssystemen bzw. -punkten unter einer weltlichen logi-
schen Form gibt, sondern ein unreflexives Entspringen. Das „Sein zum Tode“ als Vorlaufen zum Tode
kommt nicht zu seiner Verwirklichung, sondern es ermöglicht sowohl den Tod als Möglichkeit im
Rahmen der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz (S. u. Z., S. 262) als auch das Nichts innerhalb
seiner selbst, welches es nicht als einen Moment aufhebt, sondern als seinen Anfang und als Ort des
Entspringens seines Lebens und Seins hat! Das „Sein zum Tode“ ist die vorlaufende, unreflexive und
entschlossene „Wiederholung“ des Daseins (a.a.O., S. 308), welche nicht von einem ichhaften
Selbstbewußtsein begleitet wird (a.a.O., S. 318 ff.), sondern einfaches Entspringen des Seins ist. So ist
das Sein keine Verwirklichung, sondern das einfache, unreflexive und dargestellte Sein, welches das
Dasein als Existenz aus dem Tod ist. Daher ist die Wahrheit des Seins nicht einfach eine übertragene
oder sich zeigende Verwirklichung des Seins, sondern deren Entspringen aus dem innerhalb des Seins
ermöglichten Nichts bzw. aus dem angesprochenen und sterblichen Dasein. So ist die Rettung aus der
Sterblichkeit nicht das äußerliche Aufheben in die Unsterblichkeit, sondern die Rettung der Sterblich-
keit als Leben aus der Sterblichkeit: was durchaus auch eigentliche Auferstehung ins Leben und nicht
Aufhebung im Leben als sich bewährender Realität ist.
Das Heilige bricht immer als Heiliges aus der Sterblichkeit hervor und ist Heiliges der Sterblich-
keit (gen. subj.) und nicht äußere Aufhebung in einem höheren Gang, welcher sich verwirklicht und
bewährt. Die Wahrheit ist nicht die Verwirklichung einer Idee, sondern ihr Entstehen im Ort des
Nichts bzw. im Ort des Fehls dieser Wahrheit, im Ort des angesprochenen und endlichen Daseins, in
welchem sie ruht und in einem anderen vorontologischen und nicht realen Ursprung wi(e)derkehrt.
Die Wahrheit kann nur aus dem Fehl ermöglicht werden und nicht als Verwirklichung des Seins als
wirklicher und wahrer Idee. Der Ort des Erleidens dieses Fehls ist die Wi(e)derkehr in einem Ursprung
der Wahrheit, welcher nicht der erste, festgelegte und sich verwirklichende Anfang und Akt des Seins
ist, sondern sich im Anspruch des Seins und innerhalb seiner selbst als ein anderer waltender, fehlen-
35 Es geht um einen häufigen Vorwurf gegen Heidegger (z.B. H. Ebeling, Das Ereignis des Führers, in: a.a.O., Innen- und Außenansichten, S. 38 ff.). 36 H. Mörchen verbindet das Vorlaufen in die Möglichkeit des Todes mit der Herrschaftskritik und der Macht, die an der Zeit ist (Heideggers Satz: «Sein heißt Anwesen»", in: a.a.O. Innen- und Außenansichten, S. 193 f.) Die Unmöglichkeit des Todes (sc. gen. subj.) verweist auf das Verlassen der Selbstbehauptung der Macht. Die Macht wie das Dasein hat eine begrenzte Seins-Möglichkeit. „Vom Ende der Macht her eröffnet sich die Mög-lichkeit ethischer Überlegungen“ (ebenda).
48
der und am Nichts und am Fehl entspringender erweist! Das Leben aus dem Tod ist kein Substantives,
keine Idee und Realität, sondern ein Verb - besonders das „ist“ -, die Darstellung der Wahrheit und der
Welt und nicht die Prädikation und Bewährung einer Substanz!
Das Rettende entsteht aus diesem Da, welches den Fehl erleidet und gerade nicht den Gang der
Wahrheit in dialektischer Bewegung nach oben versetzt. Es gibt kein Land der Sicherheit, sondern das
Rettende west in diesem Ort. Das ist die vorräumliche Ortschaft, die Zeitlichkeit der Zeit und die
Räumlichkeit des Raumes. Die Wahrheit fehlt, und aus diesem Fehl soll sie - in ihrem den Fehl erlei-
denden Ursprung wi(e)derkehrend - ermöglicht werden. Es gibt keine andere Welt und Zeit und keinen
anderen Raum der Aufhebung, Fremdbestimmung, Begründung und Rettung.37 Es gibt nur einen Ort,
nur eine Verortung der Wahrheit. Die Wahrheit wird am erleidenden Da angesetzt und braucht kein
anderes „Sein“ als Erklärung einzusetzen. Das ist direkter Anspruch und Fehl des Seins. Im Fehl der
Wahrheit und in seinem Erleiden kehrt der Anspruch des Seins im fehlenden und eigentlichen Ur-
sprung seiner Wahrheit wi(e)der! Die Wahrheit kann nicht auf die Realität entworfen werden. Sie
kehrt in einem anderen Ursprung des Seins wi(e)der, welcher aus dem Fehl und dem Nichts die Wahr-
heit ermöglicht. Das ist Eschatologie, welche nicht Aufhebung und Vermittlung im sich verwirkli-
chenden Anfang ist, sondern Entspringen und Erfüllung eines vorontologischen und unvorstellbaren
Fehls an Wahrheit des „Seins-zu“. Das Sein ist nicht ein Substantives, das als Wahrheit prädiziert
werden kann, sondern ein Verb; das Sein ist das „ist“, das seiende Sein, die Darstellung der Wahrheit
und der Welt.
Wie Heidegger selbst sagt, und wie auch wir noch sehen werden, ist Gott nicht das Heilige, son-
dern das Heilige ist Gott, die vorontologische Darstellung Gottes aus dem Nichts ist Gott, der „seien-
de“ Gott „ist“ der Gott.
5. Der Zirkel des Verstehens als Direktheit des ruhenden Anspruchs am Dasein läßt die
methodische Wiederholung der Seinsfrage aus
5. 1. Die Phänomenologie Heideggers ist keine Methode, die einem vorausgesetzten Ende dient. Der weltende Anspruch des Seins am Dasein auf Wahrheit hat kein weiteres Wohin
Wir haben gesehen, daß die Wahrheit kein Sich-zeigen und kein Entwerfen ist, sondern ein am
Dasein endender und versammelnder Anspruch und das Darstellen der Wahrheit aus diesem angespro-
chenen und im Nichts in sich transzendenten Da-sein. Ein solcher Bezug ist ein Zueinandergehören im
engsten Sinne, ein direktes Bezogensein, dessen Bande das direkte Verlangen und der Auftrag an das
Dasein ist, dem Anspruch zu entsprechen.38
38 So beschreibt auch U. Guzonni diesen Bezug als Entsprechen und Gebrauchtwerden des Daseins für die
49
Das Dasein ist schon angesprochen und in der Wahrheit des Seins und niemals ein vermittelndes
Subjekt. „Dasein ist ihm selbst überantwortet in seinem Zu-sein. Überantwortet - das heißt: Schon-in,
schon sich vorweg, schon bei der Welt; nie ein Vorhandenes, sondern immer schon so oder so ent-
schiedene Möglichkeit“ (Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Bd. 21, 1925, S. 414). Vor diesem Hin-
tergrund können wir denn auch die Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“
(Bd. 17, WS. 23/24) rekapitulieren. Bei Heidegger geht es um die Sorge um das Sein des Bewußtseins
oder letztlich um das Dasein, ganz im Gegensatz zu der Sorge um sichere Erkenntnis, wie wir sie bei
Descartes und Husserl vorfinden können. Das Dasein ist schon in die gefragte Wahrheit geworfen und
ist kein sicheres Fundament, welches methodisch einem anderen vorliegenden Telos zugrundeliege
und diene.
Heideggers Phänomenologie ist auch als Fundamentalontologie bezeichnet worden. Das deutet
daraufhin, daß die Aufgabe der Phänomenologie nicht einfach das Herausnehmen des Seins und der
Wahrheit eines Seienden ist. Im von Heidegger zugrundegelegten phänomenologischen Verfahren
geht es vorerst vielmehr darum, das Sein und die Wahrheit zu begründen und diese in und aus ihrem
Ursprung zu erweisen. Die Aufgabe besteht nicht darin, das Sein und die Wahrheit eines Seienden
freizulegen und zu zeigen, sondern sich erst zu überlegen und zu verstehen, was Sein des Seienden
und Wahrheit „sein“ oder „bedeuten“ können. Für diese Aufgabe wird aber bei Heidegger ein Funda-
ment, ein Ort gebraucht, auf dem der gefragte Seinssinn erschlossen und dessen weltender Anspruch
an-geeignet, er-lebt und dargestellt und nicht transkategorial auf einem letzten und grundlegenden
Horizont übertragen werden kann. Das Sein und die Wahrheit sind daher nicht etwas, was innerhalb
einer Welt und zwischen Seiendem noch vorkommt oder sich zeigt und entworfen werden kann. Sie
sind das Weltende, das „ist“.
Das Dasein läßt nicht bloß das Sein und die Wahrheit eines Seienden gegenüber einem jeglichen
Begegnen des Seienden frei, sondern es steht vielmehr verantwortlich zu diesem Sein als Welten der
Welt. Das Dasein ist transzendent und befindet sich schon in der gefragten und fehlenden Wahrheit
des Seins. Es läßt Sein aus dem Fehl und dem Nichts möglich werden und konstituiert nicht Sein als
Realität und ontologische Bedingung eines Realen. Das Sich-verhalten zu dem Sein ist keine kritische
und apriorische Voraus-setzung, um Seiendem zu begegnen39. Die Fundamentalontologie ist keine
Wahrheit der Dinge (Anspruch und Entsprechung und die Frage der Intersubjektivität. In: U. Guzonni (Hg.), Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980, S. 120). In dieser Hinsicht sieht sie auch den Ich-Du-Bezug als Anspruch, Hören und Entsprechen (S. 124). Dieses Verstehen liegt unserer Meinung nach außerhalb der ge-wöhnlichen Ansatzweise des Ich-Du-Verständnisses als dialektischer Vermittlung und soll beachtet werden. 39 So spricht P. Lorenzen von einer logischen Propädeutik, welche Normen für die Wissenschaft und den Szien-tismus schafft (Szientismus versus Dialektik. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hrsg.), Hermeneutik und Dialektik Bd. I, Tübingen 1970, S. 61). Die praktische Vernunft kann gelehrt werden (S. 63-72). Dagegen be-zieht W. Wieland Position. Ihm zufolge ist die Wissenschaft Praxis, die über Wert und Wissen entschieden hat. Die Philosophie ist eine Reflexion darüber, welche aber nicht über wissenschaftliche Voraussetzungen und Sätze entscheiden kann (Möglichkeiten der Wissenschaftstheorie. In: a.a.O., Hermeneutik und Dialektik Bd. I, S. 37, 55). J. Habermas sieht aber doch eine (normative) Metasprache, welche aber eine natürliche Umgangssprache ist und nicht eine Kunstlehre wie bei Gadamer (Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik. In: a.a.O. Hermeneu-tik und Dialektik Bd. I, S. 73-103). Über den Streit um die Sprache einer universalen Hermeneutik zwischen
50
Vorbereitung und Kunstlehre, sondern sie ist schon in der Wahrheit des Seins. Fundamentalontologie
ist nicht eine Vorbereitung, eine Methode, die ein Ziel40 über sich hat. Die Wahrheit des Seins kann
kein höheres Woraufhin haben. Die Wahrheit des Seins kann keine andere Bekundung haben und ist
nicht die innerweltliche Prädikation eines Subjekts, sondern die weltdarstellende Erfüllung eines vor-
ontologischen Ursprungs.
Von woher und woraufhin kann man Sein verstehen, fragt Heidegger. Die Fundamentalontolo-
gie ist kein Verstehen von Sein als Voraussetzung einer weiteren Konstruktion. Wenn überhaupt ein
Verstehen von Sein möglich ist, dann stellt die Fundamentalontologie einen aus diesem Bezug sich
gründenden und in sich ruhenden Ort dar und nicht eine Bedeutsamkeit, welche außerhalb dieses Be-
zugs liegt, um Sein weiter übertragen zu können. Der primäre oder der Bezug überhaupt ist der Bezug
von Sein und Dasein. Oder anders gesagt, das Sein ermöglicht nur einen primären und direkten Bezug
und hat keinen dritten Entwurfsbereich auf ein Adäquates hin. Das Sein und seine Wahrheit ruhen in
sich und ziehen alles in einen direkten Bezug. Es ist bedenklich, von einem Entwurfsbereich des Seins
und seiner entworfenen Wahrheit zu sprechen. Natürlich nimmt der Entwurfsbereich eine wesentliche
Stelle im Denken Heideggers ein, aber vor dem Hintergrund des hier ausgeführten Interpretationsver-
suchs sollten wir diesen Begriff erst dann benutzen, wenn wir ihn in seinem Wesen und in seiner Vor-
aussetzung verstanden haben.
Die Frage nach dem fundamentalontologischen Entwurf und dem Verstehen von Sein bedeutet,
daß das Dasein schon in der Wahrheit des Seins ist und unter seinem direkten und ruhenden Anspruch
steht. Die Wahrheit des Seins kann nicht entworfen werden, sondern sie entspringt aus ihrem fehlen-
Gadamer und Habermas siehe: J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, S. 166 ff.. 40 Besonders C. F. Gethmann betont in seinem Werk "Dasein: Erkennen und Handeln. Heidegger im phänome-nologischen Kontext, Berlin - New York, 1993" sowohl das Methodische als auch das Pragmatische von S. u. Z.. So ist das Sein apriorischer Verständnishorizont für das Prädizieren vom Seienden (S. 61). Heideggers Wahrheit gegen Tugendhats Kritik sei nicht proportionale Satzwahrheit (124, 158), sondern veritas transcendentalis (126), operationale Wahrheit (156) im Sinne eines "konsequenten Pragmatismus" (157, 285). C. F. Gethmann operiert auf dem Boden der Neuscholastik und des Pragmatismus. Er spricht von einer konstruktiven Wissenschaftstheo-rie ohne Lücken als existenzialer Wissenschaft aus Lebensmotiven in Abgrenzung zu einem analytischen Wis-senschaftsverständnis (206) und von der Architektonik vom Leben bis zum Begriff in S. u. Z. (280). Heideggers Phänomenologie gründe auf dem Handeln und nicht mehr auf dem Bewußtsein (286). Das Verstehen ist ein Mittel-Zweck-Handeln (292 ff.). C. F. Gethmann blickt somit auf S. u. Z. und die frühen Vorlesungen und sieht das Ganze unter dem Gesichtspunkt einer neuscholastisch und pragmatisch geprägten transzendental-operationalen Wahrheit. Dasselbe Verständnis bietet C.-F. Gethmann in seinem früheren Werk "Verstehen und Auslegung, Bonn 1974". In S. u. Z geht es um eine Propädeutik (S. 32), transzendentale Logik und Wissenschaft der Einheit des Seinsbegriffs vor seinen Seinsweisen (S. 35-45). Das Sein ist transkategoriale Einheit, die weder nur vom Dasein noch nur vom Seienden vorausgesetzt wird (S. 41). So ist der Sinn von Sein universales phäno-menologisches Konstituens (S. 45). Nach der Kehre ist aber eine transzendentaltheoretische Fundierung des Seins überhaupt aus dem Dasein als unmöglich erwiesen, so daß nur eine ontologische Seinsthese vollzogen wird (S. 281 ff.). So vollzieht Heidegger nach der Kehre eine Hypostasierung des Seins als Ausdruck eines vor-kritischen Realismus (S. 288 ff.). Das ist eine fundierte Ansicht über Heidegger; Allerdings sollte man das In-der-Welt-sein als geworfenes Da-sein und nicht als vermittelnde transzendentaltheoretische Existenz verstehen. Man sollte auch den Zirkel als Vorform der späteren "Kehre" berücksichtigen, und ebenso das Wesen der Wahr-heit und des Weltens der Welt als Versammeln und nicht Zeigen, und wenn man von Heideggers Grundthese spricht, muß man ihn auch aus dem "Ereignis" und der weiteren immanenten Entwicklung verstehen. Auch nach
51
den Ursprung, in dem sie aus dem Erleiden eines Fehls im angesprochenen Dasein wi(e)derkehrt. Die-
se entspringende Wahrheit, als Erfüllung und Darstellung einer dem Sein vorgängigen Frage, er-
schließt die Welt und „ist“ aus dem Nichts und ist nicht Verwirklichung eines vorhandenen Ursprungs
in seinem Ende oder innerweltliches Entwerfen.
5. 2. In welchem Sinne ist der Mensch fundamentum inconcussum veritatis?
Seit Descartes ist der Mensch fundamentum inconcussum veritatis. Die Wahrheit bekommt ihre
Begründung im und aus dem Menschen. Der Kontext der Wahrheit ist anthropozentriert: der Mensch
gründet und beleuchtet den Bereich, in dem die Wahrheit erscheint. Seine Kategorien und sein Be-
wußtsein sind der Bereich und das Licht der Wahrheit. Das Ich ist das verbindende Erste und Einigen-
de. Es ist der Verwalter und Vermittler der Wahrheit, welche im durch das Ich vorbereiteten Ent-
wurfsbereich erscheinen kann.
Dem deutschen Idealismus kommt möglicherweise insofern eine Sonderrolle zu, als daß dort
der Entwurfsbereich der Wahrheit im Ich dialektisch zurückgenommen wird. Das gilt derart verallge-
meinert keinesfalls für alle Vertreter des Idealismus gleichermaßen. Doch selbst innerhalb des Ge-
samtwerks eines einzigen Denkers gibt es bisweilen Unterschiede, wie etwa zwischen dem Hegel der
Phänomenologie und dem Hegel der Logik. Aus seiner späten Vorlesung „Der Satz vom Grund“ und
Andeutungen am Ende der Kantvorlesungen aus den Jahren 1927-28 geht hervor, daß Heidegger auch
Kants Bedingungen der Erfahrung von Gegenständen mehr im Sinne eines direkten Bezugs des Seins
und des Ortes seiner Wahrheit und weniger als Konstituierung einer Gegenständlichkeit durch ein
Subjekt versteht.
„Das Auszeichnende der transzendentalen Bestimmung des Seienden als solchen erschöpft sich
nämlich keineswegs darin, daß das Seiende jetzt als Gegenstand der ichhaften subjektiven Vernunft
erfahren wird. Vielmehr beruht das Auszeichnende der transzendentalen Methode darin, daß sie als
Bestimmung der Gegenständigkeit der Gegenstände zur Gegenständigkeit selbst gehört“ (Der Satz
vom Grund, 1955/56, S. 118).
Dieses Verständnis ist vielleicht auch retrospektiv vermittelt, sind doch Verknüpfungen zu sei-
ner früheren Fundamentalontologie nicht von der Hand zu weisen. Der Mensch ist kein fundamentum
der Wahrheit des Seins als ihr Vermittler, sondern ihr direkter Anspruch.
Ein wichtiger Locus bei Heidegger bis zu „Sein und Zeit“ ist darin zu sehen, daß das Dasein als aus-
gezeichnetes Seiendes konzipiert ist, daß es Sein versteht und Sein entwirft. Ist dann aber das Dasein
der Vermittler der Bekundung und der Wahrheit des Seins? Und was ist die Wahrheit des Seins?
Braucht sie einen Entwurfsbereich, welchen das Dasein konstituiert oder freilegt?
R. Wiehl ist die Phänomenologie mehr Methode und weniger Theorie (Begriffsbildung und Begriffsgeschichte. In: a.a.O., Hermeneutik und Dialektik Bd. I, S. 170).
52
Das Dasein ist aber nicht mehr das fundamentum inconcussum des Entwurfsbereichs des Seins,
sondern es steht direkt zum Sein und ist selbst der Ort der Wahrheit des Seins, welche kein Sich-
erscheinen ist, sondern ein Aneignen und Verwickeln im Fremden, ein Ruhen und Verorten des Ge-
schehens der Wahrheit in diesem Ort, ein vorontologisches Sich-fragen und das welterschließende
Darstellen der Wahrheit aus dieser dem Sein vorgängigen Frage. In diesem Sinne ist der Mensch nicht
der vermittelnde und transzendentale Grund der Wahrheit, sondern selbst der Grund und das Ende des
ruhenden und direkten Anspruchs der weltenden Wahrheit des Seins. Gerade aus diesem Versammeln
im Da west weiterhin das Sein41 - und keineswegs, indem es zu seinem eigenen und adäquaten Ent-
wurf übergeht. Diesem Verständnis von der Wahrheit des Seins kann man bei Heidegger insbesondere
nach der Kehre begegnen, wenn ausdrücklich von der Gründung der Wahrheit des Seins gesprochen
wird und nicht von einem Woher und Wohin als Entwurfsbereich (z.B. in den „Beiträgen zur Philoso-
phie“, Bd. 65, Kap. V, „Die Gründung“, S. 293 ff.). Dieses Motiv ist allerdings schon vor „Sein und
Zeit“ präsent, und man sollte es als kontinuierlich anzutreffendes und deutlich immanentes Element in
den bis zu „Sein und Zeit“ fertiggestellten Werken beleuchten und als Wesen des Verstehens des Seins
vom Dasein herausarbeiten. Bereits früh nämlich zielt Heidegger im Gegensatz zu Husserl nicht auf
ein gereinigtes und sich sorgendes Bewußtsein, sondern auf das Sein dieses Bewußtseins. Die Phäno-
menologie soll beleuchten, was das In-der-Welt-sein des Daseins ist. Dabei wird das Ich nicht als Im-
manenz vorausgesetzt, sondern als Transzendentes schon in bezug zu der Wahrheit des Seins darge-
stellt. In der Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“ vom WS 23/24 (Bd. 17)
setzt sich Heidegger im Rückgriff auf Aristoteles und in Auseinandersetzung mit Husserl und Des-
cartes einem derart voraussetzungslosen Bewußtsein entgegen und legt als Fundament die Analyse des
In-der-Welt-seins des „Bewußtseins“ als Daseins zugrunde. Dieses Fundieren der Phänomenologie im
Sein des Daseins als In-der-Welt-sein macht nicht nur das Erkennen von diesem weltlichen Sein ab-
künftig und ist nicht nur eine kritische Fundierung42 auf eine Voraussetzung, sondern bezeichnet viel-
mehr eine regelrechte Revolution in der Fundierung und im Verstehen der Wahrheit des Seins. Die
Wahrheit ist nicht ein Sich-erscheinen und auch kein Entworfen-werden, sondern primär und wesent-
41 Dagegen kann man nach P. - L. Coriando auch nach der Kehre von einer Phänomenologie sprechen. (Der letzte Gott als Anfang, München 1998). Das Dasein hat die Kehre zu verfolgen, welche ein Phänomen des Seins ist (S. 53). Diese Phänomenologie bietet eine denkerische Vorbereitung (S. 51) einer möglichen Zukehr zum Sein (S. 54). Sie ist keine Dialektik (S. 54 f.). Das Zurück ist das Vor ein und derselben Bewegung als kehrigen Geschehens (S. 55 f.). Die vorliegende Arbeit geht in die andere Richtung, nämlich, daß sowohl nach der "Keh-re" als auch vor dieser in der Periode der Phänomenologie die Wahrheit ein Geschehen im Da, aus welchem das Letzte ohne Anfang kommt, und nicht einfaches Sich-zeigen eines unmittelbaren (und vermittelten) Phänomens ist. 42 So kann nach H. Braun im Gegensatz zu C.-E. Gethmann und P. Lorenzen die Untersuchung des Sinnes von Sein keine Fundamentalontologie oder logische Propädeutik sein. Sie verfügt vielmehr über eine ontologiekriti-sche Funktion (Zum Verhältnis von Hermeneutik und Ontologie. In: a.a.O., Hermeneutik und Dialektik Bd. II). In Anknüpfung an J. Habermas und eventuell an E. Tugendhats Habilitationschrift meint er, daß die hermeneuti-sche Untersuchung des Sinnes von Sein gegen jede Ontologisierung und Fundamentalontologie gerichtet ist (S. 204). Sie sei ein Antrieb zur Aufklärung und nicht bloße Emanzipation von Vorurteilen (S. 207). So ist der Sinn von Sein nicht Propädeutik und allgemeine Ontologie, sondern die vermittelnde und universal mediale Funktion des sprachlichen Verstehens im Gegensatz zu einem logos ousias (S. 217 f.)
53
lich ein direktes Bezogensein, Aneignen, Ruhen und Geschehen im Da-sein als sich fragende
Wi(e)derkehr in einen anderen, im Fehl und im Nichts liegenden Ursprung der Wahrheit des Seins,
aus dem sie letztlich entspringt. Insofern ist sie keinesfalls adäquater und realer Entwurf.
Diese Intention befolgt Heidegger später außerdem in bezug auf die Sprache als Haus des Seins,
als Wort und Nennen und nicht als Symbol und Zeichen eines Gezeichneten. Über das „Verständnis
von Wahrheit“ sagt Heidegger: „(...) diese Aufgabe aber ist nichts anderes als ein Seinkönnen des
eigensten Daseins selbst, und dieses Seinkönnen meiner selbst - kein beliebiges - eine Möglichkeit, in
die sich das Dasein selbst als eine Möglichkeit seiner vorgelegt hat. Diese Möglichkeit «ist» mein
Dasein selbst, nicht etwas, was sonstwo bei anderen oder in der Umwelt angetroffen, angefunden wer-
den könnte. Das Dasein ist diese Möglichkeit in der Weise, daß das Dasein sich zu ihr verhält als zu
seinem eigensten Sein“ (Logik, Frage nach der Wahrheit, WS 25/26, S. 219).
Das Dasein hat sein eigenes Sein, um Wahrheit zu verstehen. „Das Verstehen ist es, das derglei-
chen wie Sein allererst aufschließt oder, wie wir sagen, erschließt. Sein >gibt es< nur in der spezifi-
schen Erschloßenheit, die das Verstehen von Sein charakterisiert. Die Erschloßenheit von etwas aber
nennen wir die Wahrheit. Es ist der eigentliche Begriff der Wahrheit, wie er schon in der Antike auf-
dämmert“ (Grundprobleme der Phän., SS 27, S. 24 f.).
Die Wahrheit wird weder in einem äußeren Wohin gezeigt noch auf ein Drittes übertragen, son-
dern sie wird im direkten Bezug und Ort ihres Ruhens und Wi(e)derkehrens in einem vorontologi-
schen Ursprung erschlossen. Dieser ist der eigentliche Begriff der Wahrheit. Das Verstehen von etwas
ist ein Ruhen als Vor-etwas-gestellt-werden und direktes Ge-hören zu dessen weltender Wahrheit.
„Wird nun ein Wort gesprochen, so wird das Meinen vor etwas gestellt; im Verstehen des Wortes hal-
te ich mich dabei auf; ich bin im Vermeinen zur Ruhe gekommen. Der Hörende ruht im Verstehen des
Wortes (...). Im Verstehen des Wortes ruhe ich bei dem, was es bedeutet“ (Einf. in die phän. For-
schung, SS 23/24, S. 18).
Das Verstehen und Sich-verhalten zu dem Sein und seiner Wahrheit sind somit ein direktes Be-
zogensein zu diesen und nicht ein Konstruieren eines Entwurfsbereichs für die Wahrheit des Seins.
Das Dasein ist schon der Ort der Wahrheit des Seins als Ort der Wi(e)derkehr und des Fehls, aus dem
die gefragte Wahrheit ankommt.
5. 3. Der Zirkel und die Wiederholung
Unter der Voraussetzung des direkten Zusammengehörens von Wahrheit und Dasein kann die-
ses keine Fundamentalontologie als Methode für den Zugang zu einem weiteren Bereich aus dieser
Voraussetzung vermitteln. Wie schon gesagt, geht es nicht um ein vorbereitetes und eidetisch gerei-
nigtes Haben einer Sache. Das Geschehen ist erst im Gang, aber es wird methodisch weder von einem
sicheren Grund aus noch zu einem gesetzten Ende hin konstruiert. Heidegger benutzt das Wort Me-
54
thode nicht im Sinne eines schrittweise aus dem Gewonnenen zu einem höher Vorausgesetzten bewe-
genden Fortgang. Alles ist im direkten Bezogensein in sich ruhend, aber auch verwickelt und versam-
melt in der Verortung der Wahrheit im Da-sein. Das weltende Aufbrechen und Qualifizieren aus der
Wahrheit kommt nicht methodisch und dialektisch und nicht aus einem höheren Wohin, sondern aus
dem vorontologischen sich übertreffenden und das Fremde in sich einlassenden Ruhen und Sich-
fragen am Ort des angesprochenen und den Fehl an Wahrheit erleidenden endlichen Daseins an. In
diesem Zusammenhang sind bei Heidegger der Zirkel und die Wiederholung zwei wichtige Loci in der
Auseinandersetzung mit der Seinsfrage.
Wir können die Wiederholung nicht verstehen, wenn wir nicht zuvor den Zirkel gedacht haben.
Wir wiederholen das zu Erörternde, wenn es aus einer neuen Blickposition angesehen werden kann,
die aber losgelöst vom Erörterten schon vorbereitet zur Verfügung steht. Wenn das zu Erörternde in
der Vorbereitung dieser zugrundezuliegenden Blickposition schon vorkommt, sprechen wir vom Zir-
kel. Das ist der Fall bei Heidegger. Der Zirkel ist die direkte Zueinandergehörigkeit von Sein und Da-
sein ohne einen vorbereitenden und vermittelnden Entwurf. Ein anderes principium erübrigt sich. Der
Zirkel43 ist Ausdruck dessen, daß das Sein und seine Wahrheit nicht ein Entwerfen in ein höheres und
vorbereitendes Wohin und ebensowenig ein Sich-zeigen sind, sondern ein direktes Aneignen des Da-
seins. Das Dasein ist schon in der Wahrheit des Seins und braucht keinen Entwurf des Seins, um mit
dem Sein anzufangen. Die Wahrheit wird nicht in ein Wohin vermittelt, sondern sie hat ihren Ort und
ihr Ruhen in diesem Da. Insofern kann auch nicht nach einem einzigen und mit welchem Recht auch
immer vermittelnden Entwurfsbereich gefragt werden. Die Wahrheit wird nicht zu einem höheren und
vorausgesetzen Wohin vermittelt, aus welchem dann die Frage des berechtigten und begründeten
Vermittelns endgültig gestellt werden könnte.44 Jedes Da kann der Ort des Ruhens der Wahrheit und
ihres Weltens der Welt sein.
Dieses Wesen der Wahrheit als ruhendes und sich nicht zeigendes Welten der Welt und als Er-
schlossenheit und Direktheit in einem Da sollten wir in der Behandlung des Zirkels und dessen Me-
thode durch Heidegger berücksichtigen. „Das Problem konzentriert sich in der Frage: Wie verhält sich
die Existenz der Wahrheit zum Sein und der Art und Weise, wie es Sein gibt? Sind Sein und Wahrheit
wesenhaft aufeinander bezogen? Steht mit der Existenz der Wahrheit auch die des Seins, und fällt sie
mit dieser? Ist es so, daß das Seiende, sofern es ist, von der Wahrheit über es unabhängig ist, daß aber
die Wahrheit nur ist, wenn das Dasein existiert, und umgekehrt, wenn wir einmal verkürzter Weise
sagen dürfen, daß das Sein existiert?“ (Grundprobleme der Phän., SS 27, S. 318).
43 A. Jäger sieht, daß es bei Heidegger bis zur Kehre einen Zirkel zwischen Sein und Dasein gibt, welcher da-nach mit der Absolutheit des Seins, wie im Idealismus, ersetzt wird (Gott. Nochmals Martin Heidegger, Tübin-gen 1978, S. 269). Er sieht das Ganze im Sinne eines Idealismus und einer "Seins-dizee" - mehr im Sinne Schel-lings und K. Barths und weniger Hegels - in welchen(sc. Beispiel) Alles im Sein oder Gott negiert wird. 44 Die Kehre ist nach C.-F. Gethmann Ergebnis der Methode und nicht die Methode Resultat der Kehre (Verste-hen und Auslegung, Bonn 1974, S. 29).
55
Der Zirkel hat zwei Punkte, welche „wesenhaft aufeinander bezogen“ sind, und nicht drei. Es
gibt kein höheres Wohin. Es gibt nur die ruhende Bewegung vom Sein zum Dasein und umgekehrt.
Sie ist eine ruhende Bewegung, weil die Wahrheit als sich fragendes und nicht innerweltliches Welten
innerhalb ihrer selbst das Dasein einläßt und in diesem als Fremdem in einem fehlenden Ursprung
wi(e)derkehrend geschieht. Dieses Ruhen ist aber ein Aufbrechen und Welten, ein Geschehen der
Wahrheit im Fremden, und deswegen ist der Zirkel nicht statisch und kein circulus vitiosus, sondern er
kommt innerhalb seiner selbst auf eine höhere Ebene. Der Zirkel wieder-holt sich jedoch am Ort des
angesprochenen Daseins, in welchem die Wahrheit des Seins zu sich wi(e)derkehrend aus einem inne-
ren Fehl und Ursprung entspringt!
So wiederholt sich das Sein schon im Ort seiner entsprungenen Wahrheit und muss nicht aus ei-
nem abgewonnenen Entwurf wieder erörtert werden. Das Dasein ist kein höheres Wohin oder der
Raum des Sich-erscheinens der Wahrheit, sondern der Ort ihrer Ruhe, ihres direkten Verwickelns,
ihrer Wi(e)derkehr und ihres Entsprungs aus einem vorontologischen Ursprung. Heidegger spricht von
Vorbereitung und von Wiederholung der Seinsfrage, aber er sieht endlich, daß er sich bereits in die
Wahrheit des Seins vorgetastet hat! So läßt der Zirkel jede Wiederholung der Erörterung aus. Deswe-
gen bleibt der zweite Teil von S. u. Z. aus. Das Dasein ist nicht ein adäquater Entwurf des Seins, von
dem her das Sein wieder behandelt werden könnte, sondern, im Sein ruhend und von ihm direkt ange-
sprochen, erleidet es den Mangel einer angesprochenen, aber fehlenden und nicht zu entwerfenden
Wahrheit. Im Prinzip gibt es keine Meth-ode, die nicht zur Wahrheit gehörte und diese vorbereitete,
sondern der Weg selbst gehört zur Wahrheit und die Wahrheit zum Weg.45 Der Zirkel selbst, die un-
mittelbare Zueinandergehörigkeit ist die „Methode“ und kein äußeres Entwerfen. Innerhalb seiner
selbst, aus einem fehlenden Ursprung und nicht aus seinem ersten Anfang kommt der Zirkel höher.
Vor diesem Hintergrund können wir Heideggers methodisches und materielles Vorhaben be-
trachten. „Wir kennzeichnen daher die vorbereitende ontologische Analytik des Daseins als Funda-
mentalontologie. Vorbereitend ist sie deshalb, weil sie zur Aufhellung des Sinnes von Sein und des
Horizontes des Seinsverständnisses erst hinleitet. Sie kann nur vorbereitend sein, weil sie erst das
Fundament für eine radikale Ontologie gewinnen will. Sie muß daher nach der Herausstellung des
Sinnes des Seins und des Horizontes der Ontologie auf einer höheren Stufe wiederholt werden. Wa-
rum in diesem Weg kein Zirkel liegt, oder besser gesagt, warum der Zirkel und die Zirkelhaftigkeit
45 O. Pugliese (Vermittlung und Kehre, Freiburg-München 1965) sieht, daß die hermeneutische Methode als Phänomenologie nach 1930 völlig aufgegeben wird (S. 17). Dies sei jedoch dialektisch begründet (S. 209). So soll die Frage nach dem Sinn von Sein erneut gestellt werden (S. 209). Dieses ist nur in einer ontologischen Vermittlung möglich (S. 215). So haben wir eine Aufhebung der phänomenologischen Ontologie und Rekon-struktion des Weges vom Anfang als Wiederholung (S. 217), eine Unmittelbarkeit und Vermittlung (S. 219). Man soll die enzigartige Thematisierung und den Beitrag der Arbeit von O. Pugliese respektieren und bedenken, allerdings sollte berücksichtigt werden, daß der Gang der Wahrheit nicht aus dem Dasein aufgehoben wird und daß es bei Heidegger nicht um die Vermittlung und Unmittelbarkeit eines zu wiederholenden Anfangs geht, sondern um etwas Anderes als das Heilige, Plötzliche und Letzte, welches in Teil V dieser Arbeit vollständig zur Darstellung kommt.
56
aller philosophischen Interpretationen nicht das Ungeheuer ist, (...) können wir hier nicht genauer erör-
tern“ (a.a.O., S. 319).
Damit wird nicht der Entwurfsbereich des Seins durch das Dasein als „Ich setze“ und „Ich ver-
binde“ vorbereitet, sondern das Dasein bereitet sich selbst vor, es versteht sich als Ort der Ruhe und
des Verwickelns der Wahrheit. Der „Sich vorweg“-Charakter des Daseins zeigt, daß das Dasein kein
vorhandenes und kein immanentes Ich ist, sondern es versteht sich als und ist sich selber Aufgabe oder
Existenz, die zu sein hat, die übernimmt und versteht. Es verhält sich zum Sein und seiend ist es dieses
Sein und ist nicht ein mit Reflexion oder Durchsichtigkeit ausgestattetes Ich. Heideggers Analytik des
Daseins ist keine durchsichtige Fundierung, sondern eine verstehende Fundierung des Daseins als
Ortes des Anspruchs des Seins in seinen „entschiedenen“ Möglichkeiten, welche es zu übernehmen
und zu sein hat. Das Dasein ist der direkte Anspruch des Weltenden. Es versteht seine Möglichkeiten,
weil diese nicht vor einem wählenden Ich zur Verfügung stehen, sondern aus dem Sein des Daseins als
entschiedene und nicht vorhandene verstanden werden. Aus diesen entschiedenen Möglichkeiten ent-
springt dann der Sinn und die ontologische Durchsichtigkeit des Daseins als Existenz. Die verstande-
nen Möglichkeiten hat das Dasein in sein Sein zu überführen und nicht bloß anzusehen oder durch-
sichtig zu machen.
In § 4 von „Sein und Zeit“ schreibt Heidegger über den ontischen Vorrang der Seinsfrage. „Da-
sein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet,
daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschloßen ist. Seinsverständnis ist selbst eine Seinsbe-
stimmtheit des Daseins. Die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin, daß es ontologisch ist. (...)
Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nen-
nen wir Existenz. Und weil die Wesensbestimmung dieses Seienden selbst nicht durch Angabe eines
sachhaltigen Was vollzogen werden kann, sein Wesen vielmehr darin liegt, daß es je sein Sein als
seiniges zu sein hat, ist der Titel Dasein (...)“ (S. u. Z., S. 12).
Bereits vier Jahre zuvor stellte er fest: „Die eigenste Möglichkeit seiner selbst, die das Dasein
(Faktizität) ist, und zwar ohne daß sie «da» ist, sei bezeichnet als Existenz. Auf dieses eigentliche Sein
ihrer selbst hin wird die Faktizität durch den hermeneutischen Frageansatz in die Vorhabe gestellt, von
da her und daraufhin wird sie ausgelegt; die hierbei erwachsenen begrifflichen Explikate werden be-
zeichnet als Existenzialien“ (Hermeneutik der Fakt., SS 23, S. 16).
Das Dasein versteht sein Sein und Sein überhaupt weder durch Reflexion eines Ich noch als eine
fundamental-ontologische Konstitution einer Gegenständigkeit, sondern durch die verstehende Über-
nahme eines entschiedenen und nicht vorhandenen Seins, das es zu sein hat. Das Dasein ist als Exis-
tenz ontisch-ontologisch und steht schon unter dem Anspruch des Seins und ist in seiner Wahrheit. Es
ist das Sein, das es zu sein hat und übernimmt und nicht ein reflektierendes Ich, welches sein Sein
entwerfen könnte. Es ist durch Sorge und Tod charakterisiert und entspringt aus diesen als einfaches
Sein, welches zu sein hat und ist und nicht auf ein Drittes entwirft. Die Wahrheit des Seins wird auf
57
der Ebene der Existenz als Innen-außen-stehen und nicht in einem höheren Entwurf dargestellt. Die
Wahrheit des Seins ist unzertrennlich mit der Existenz verwickelt.
Die Wiederholung ist nicht Rückkehr zum ersten Anfang, sondern das Entspringen des Seins im
Ort seines Anspruchs, des transzendenten Daseins. Der Zirkel des Verstehens macht die methodische
Wiederholung überflüssig. Heideggers sogenannte Kehre ist nicht Wiederkehr zum Sein und Wieder-
holung des ersten Anfangs, sondern eine Wi(e)derkehr in einen anderen, inneren und fehlenden Ur-
sprung des ansprechenden Seins, welcher am angesprochenen und erleidenden Dasein als solcher aus-
gewiesen und konstituiert wird und genau in diesem und nicht in einer höheren Stufe seinen ansetzen-
den Gang nunmehr bekommt.
5. 4. Die innere Motivation des Lebens. Die Immanenz des Lebens als Möglichkeit, Notwendig-keit und Freiheit
Ein andereres Charakteristikum des Daseins als Ortes des direkten Anspruchs des Seins ist das
Leben. Indem sich das Dasein in seinem Sein zur Wahrheit verhält und Sein versteht, hat es den Cha-
rakter und das Wesen des Lebens (Phän. zu Arist., WS 21/22, S. 119). Das Leben46 ist existenziell und
faktisch, ohne fremde Motive und Begründungszusammenhänge über sich zu haben. Das Leben wird
nicht durch ein über es stehendes Motiv begründet, sondern wächst von sich aus als einheitliche
Erstreckung in motivierenden Vollzugszusammenhängen. Es ist innerlich motiviert und ruhend und
nicht äußerlich47 bewegt. Seine Freiheit ist nicht Wählen zwischen Vorhandenem, sondern - in sich
ruhend - hat es seine eigene und so notwendige Möglichkeit als seine Freiheit. Das Leben als Dasein
ist schicksalshaftig.
„3. Das Leben verstanden in einer Bedeutung, in der sich 1. und 2. mitverschlingen: die Einheit
der Erstreckung und der Möglichkeit und als Möglichkeit - möglichkeitsverfallen, möglichkeitsgela-
den und sich selbst ladend, Möglichkeiten bildend und dieses Ganze genommen als die Wirklichkeit,
und zwar Wirklichkeit in ihrer spezifischen Undurchsichtigkeit als Macht, Schicksal“ (a.a.O., S. 84).
In seinen Möglichkeiten ist das Dasein als Leben selbst verantwortlich und so schicksalshaftig.
Die Wirklichkeit des Daseins ist seine Möglichkeit, und dabei bedarf es nicht der umwegigen Vermitt-
lung einer fremden vorhandenen Wirklichkeit eines Dritten. Seine eigene Möglichkeit ist gleichbedeu-
46 Über das Leben bei M. Heidegger im Zusammenhang seiner Vorlesung des WS 29/30: "Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit" GA 29/30, siehe: Beelmann, A., Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, Würzburg 1994. Heidegger habe bis "Sein und Zeit" nicht das Dasein vollkommen als Leben angesehen, weil er es nur auf die menschliche Existenz beschränkt und nicht das Dasein im Niveau des pflanzli-chen und tierischen Lebens reflektiert habe. 47 Die Immanenz des Lebens und daher die Phänomenologie hat kein Ziel über sich, wie z.B. eine Ontologie oder eine Wissenschaft. Wenn wir von "Wissenschaft vom Sein" bei Heidegger sprechen, sollen wir Heideggers mitbestimmte Herkunft aus der Lebensphilosophie vor Augen behalten. Über Phänomenologie und Lebensphilo-sophie siehe: Misch, G. Lebensphilosophie und Phänomenologie, (2. Aufl.) Bonn 1931.
58
tend mit seiner Notwendigkeit und Freiheit.48 Es vermittelt kein Drittes, sondern ist allein verantwort-
lich. So ist in „Sein und Zeit“ die Möglichkeit höher plaziert als die Wirklichkeit.49 Diese Immanenz
des Lebens ist nicht eine Hegelsche Aufhebung von jeder Wirklichkeit im Subjekt, sondern das Aus-
gesetztsein des sorgenden Daseins in der und als Transzendenz, das Übergehen in Möglichkeiten aus
der Fragwürdigkeit und Not der vom Sein gefragten und entgegengeworfenen endlichen daseienden
„Wirklichkeit“. Die Möglichkeit ist keine freischwebende und vorliegende, sondern sie wird aus dem
Erleiden des Mangels an Wahrheit ermöglicht.
5. 5. Nur das direkt Befragte kann ins Gefragte führen, den Fehl der Wahrheit erleidend verste-hen und nicht aus einer schwebenden Frageposition heraus durch eine vorhandene Antwort beantworten
Der innerste Charakter der Wahrheit ist ihr Entstehen im Ort ihres Anspruchs und ihres Fehls.
Nur dieser Ort kann den eigentlichen Ursprung der Wahrheit konstituieren. In der Direktheit des An-
spruchs hat die ruhende und im Fragenden wi(e)derkehrende Frage so ihre Stelle. Das Dasein als Ort
des Anspruchs des Seins ist zugleich der Ort des Umschlags der Frage aus dem Befragten zu dem Ge-
fragten. „(...) daß die Seinsbestimmtheit von Leben genuin nicht erfaßbar ist in einer freischwebenden
und beliebig zu vollziehenden Kenntnisnahme eines vor der Hand liegenden Objekts. (Das Befragte
und das Gefragte - der Rückschlag dieses Fragens auf das Gefragte liegt im Sinn dieser phänomenolo-
gischen Explizierung)“ (a.a.O., S. 175).
So sind diese Fragen50 nicht beliebige, die von einer fremden Fragestellung gegeben sind und so
in objektivierte Antworten führen würden, sondern die Fragen sind existenziell; sie sind in ihren Ant-
worten lebendig, kehren immer wieder zurück und werden nicht wegerklärt. „(...) daß das Antwortbil-
den ständig Bezug zur Frage hat, d.i. daß diese selbst lebendig da ist; das ist: daß die Grunderfahrun-
gen auf faktischem Leben und seinem Seinssinn in faktisch historischer Lebendigkeit verharren“
(a.a.O., S. 153). Das bedeutet, daß es in diesen Antworten keine Zurückführung, Erklärung, Begrün-
dung gibt, sondern das Gefragte bricht in diesen Fragen auf und wird nicht durch Drittes beantwortet.
48 Nach G. Figal wird der Begriff der Wahrheit operativ erst in "Wesen des Grundes" und in "Vom Wesen der Wahrheit", also nach S. u. Z. (Martin Heidegger, Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a.M. 1988, S. 31). Heidegger verläßt die Orientierung an die Vollzüge und entwirft ein neues Konzept von Freiheit (S. 21). Obwohl nach dem Verständnis der vorliegenden Untersuchung die Freiheit als Notwendigkeit und Möglichkeit schon vor S. u. Z. die Stätte des Geschehens des Seins ist, ist die inhaltliche Intention des untersuchten Begriffs der Freiheit bei G. Figal und zwar im Konzept des Ermöglichens, der vierten Dimension der Zeit, der Zugänglichkeit, des Anfangens und des Ereignisses von allergrößter Bedeutung im Werk Heideggers. Der Name "Freiheit" kann aber nicht sachlich die inhaltliche Fülle eines solchen Beitrags (sc. G. Figals) abdecken und als Titel leiten. 49 Das Dasein ist nicht Subjekt als Aufhebung jeder Objektivierung in sich - als Eidos und Reduktion -, sondern als Stätte der Frage und des Übergangs in das Nichtsein des Seins. Das Dasein ist nicht Ort der Vermittlung, sondern der Steigerung der Fragwürdigkeit. Dagegen steht die Hegelsche Lebensphilosophie, in der die Mög-lichkeit der Wirklichkeit vorausgeht und nicht von dieser hinterfragt wird. 50 Über die Funktion der Frage als Steigerung der Motivation der Wahrheit und nicht als methodischen Rück-schlags in eine bereitliegende Antwort siehe: H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1990, S. 352 ff. und besonders 368 ff.
59
Die Fragen sind formal anzeigende Fragen. Sie bieten keine dritte vorhandene, objektivierende und
vorbestimmende Antwort an, sondern weisen lediglich hin und aus (a.a.O., S. 172). Genau das ist
grundsätzlich Fragen: Nicht eine fremde Antwort suchen, sondern im Befragten und als Befragtes über
das Gefragte nicht von einem Dritten her antworten, sondern als Befragtes die Frage der fehlenden
Wahrheit als des Gefragten erleiden und ausweisen. Die Frage am Befragten wird weder konstruktiv
und methodisch gesetzt noch dialektisch vermittelt (Zur Best. der Philos., SS. 19, S. 110, 126), son-
dern sie ist hinreichende Bedingung und Ansatz des Ganges der Wahrheit. Nur so kann die Sache ihre
eigene Antwort und ihren eigenen Vollzug finden und nicht eine fremde Erklärung, die grundsätzlich
nicht über die Sache hinauswachsen kann, sondern über sich selbst noch mal als sich bewährenden
Grund etwas schon Vorhandenes bestätigt.
Hier muss erneut das Dasein in die Pflicht genommen werden, weil es - existenziell und schick-
salshaftig - nicht Drittes aufsucht, sondern eine hinweisende und aufweisende, indizierende Möglich-
keit bildet, sofern es Sein versteht. Nur im Befragten sind die Fragen lebendig, und nur aus diesem
kann der beanspruchte und gefragte Fehl an Wahrheit, in seinem eigentlichen Ursprung
Wi(e)derkehrend, aus diesem erwachsen.
5. 6. Der Strom von Lebenskategorien. Das Denken als Gedachtes aber nicht als sich wissendes Wissen
Das Dasein verbindet nicht das Seiende mit vorhandenen Kategorien, sondern ist selbst Gedach-
tes für die Wahrheit des Weltenden, und deswegen ist es ruhend und wächst innerlich. Es ist Leben,
Strom, es ist Lebensstrom. Der Ansatz liegt nicht auf einem punktuellen Ich mit seinem verbindenden
und subsumierenden Denken (Logik. Die Frage nach der Wahrheit, Bd. 21, WS 25/26, S. 396), ange-
setzt wird vielmehr am Denken des Gedachten, am Denken als Gedachtes selbst. Das Denken und das
Gedachte als Gehalt fallen zusammen, aber nicht im Sinne des sich wissenden Wissens und ohne vom
dialektischen Prozeß des Aneignens Gebrauch zu machen. Erst indem sich das Denken als Gedachtes
zu sich verhält, verhält es sich im eigentlichen Sinne zu der Wahrheit des Weltenden (a.a.O., S. 167).
So ist das Denken ruhender und bewegender Strom, in welchem das Sein verstanden und nicht unter
einer Blickwendung logisch subsumiert und zurückgeführt wird (a.a.O., S. 161, Fußnote). Genau in
diesem Sinne müssen wir alle Ausdrücke Heideggers über Leben und Lebensstrom verstehen und
nicht im Sinne des Husserlschen inneren Bewußtseins von den Akten des Bewußtseins. Das Dasein ist
nicht fundamentum inconcussum der Wahrheit, welches einen Entwurfsbereich für die Bekundung der
Wahrheit gründet, und auch kein immanentes und reflexives Ich, welches durch diesen Entwurfsbe-
reich zum Sein steht, sondern ist selbst der transzendente Ort des direkten Geschehens und ruhenden
Weltens der Welt und der Wahrheit. Es ist Motivation, Leben, Strom, Lebensstrom, weil es aus sich
und an ihm selbst, mit seiner Geschichte und Vorstruktur, die Wahrheit des Seins in sich geschehen
läßt. Das Dasein ist kein „Ich-denke“, sondern Gedachtes und Denken als Gedachtes. Es versteht Sein
60
aus ihm selbst heraus, und diese Verstehensmöglichkeiten hat es auch zu sein. Dabei ist es weder idea-
listich noch reflexiv, sondern - wie gesagt - entschiedene und entsprungene Möglichkeit im Angesicht
seines Todes, die es zu sein hat und ist. Es ist weder verbindendes und setzendes noch subsumieren-
des, identifiezierendes und reflexives Ich, sondern in seinem direkten Angesprochensein ruht es und
kehrt in einem fehlenden Ursprung wieder (zurück). Es entspringt aus diesem als Tod erleidenden Fehl
und ist dessen entschiedene Existenz, die es als einfaches Dasein und Leben zu sein hat und ist. Der
Ursprung und das Zentrum des Lebens ist nicht ein punktuelles Ich, sondern der erleidende Fehl, aus
dem die Existenz als Darstellung des Seins und der Wahrheit erwächst und nicht als Prädikation einer
Substanz.
5. 7. Kein Anders-verstehen aus einer äußeren Position und kein bewußt ästhetischer Schein
Wenn das Dasein selbst der Ort der Wahrheit ist, ist es kein verstehendes Ich. Der Zirkel des
Verstehens ist wie derjenige des Lebens. Es gibt kein Ich, welches seine Vorurteile oder einen Text
anders versteht, sondern es ist selbst Vorurteil und Text, wie es auch selbst Leben ist. Dieser Text als
direkt befragtes Verstehen ermöglicht den gefragten und neuen Text. Ebensowenig ist der Zirkel des
Verstehens ein bewußt ästhetischer Schein, welcher negativ offen für Selbstkritik und Fortschritt ist,
sondern der Ort und das Da der Wahrheit, der diese versammelt und quasi in eine Krisis verwickelt.
Dieses Da ist Leben und ruhender Zirkel der direkten Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Da-
sein, die sich in einer Bewegung befinden, welche kein äußeres Wohin hat. Der bewußt ästhetische
Schein ist nicht zirkelhaft und ist nicht in sich ruhend. Gegen sich selbst bewußt kritisch seiend, stößt
er nur den Gang der Sache höher ab. Er nimmt nicht die Kritik und die Last der Unwahrheit in sich
auf, und dadurch ist er auch nicht in der Lage, den Fehl der Wahrheit zu absorbieren und zu dieser zu
stehen.
Das „Anders-verstehen“ trägt in sich den Sinn des „Ich-verstehe“, im Gegensatz zum Verstehen
des Lebens und der Existenz, welches nicht ein Verstehen auf ein Woraufhin ist, sondern ein direktes
ruhendes Ermöglichen des verlangten Fremden aus und im Eigenen, in Möglichkeiten, welche das
Leben zu sein hat. Aus diesem angesprochenen, versammelten und ruhenden Sich-verstehen kommt
das Neue als das Fehlende und Ungedachte des Gedachten hervor und nicht als Verstehen auf ein
Woraufhin, das man meinen könnte. Die Vernunft ist immer inhaltlich und somit innerlich dialektisch,
und die Weltparadigmen wachsen geschichtlich, das Eine vom Anderen her, und nicht als Konstrukti-
onen eines reinen und losen Ichs. Das Leben läßt sich nicht unter drittem Vorhandenen subsumieren,
sondern verhält sich verstehend und schicksalshaftig zu seinen Möglichkeiten (Phän. Interpr. zu Arist.,
Bd. 61, S. 84).
Das Dasein hält sich dem Sein entgegen. Es ist nicht das umwegig verbindende Ich mit seinem
Apparat. Es ist selbst Denken und Gedachtes für das Sein, allein dem ansprechenden Weltgeschehen
61
der Wahrheit ver-antwortlich. Wenn wir von Fundamentalontologie bei Heidegger sprechen, können
wir keine methodische Vorbereitung vorstellen, sondern den direkten Anspruch auf das verantwortli-
che und transzendente und den Fehl an Wahrheit erleidende endliche Dasein, welcher zirkelhaft in
diesem fundiert ist und auf kein entwerfendes Wohin übergeht, sondern aus einem vorontologisch
ausgewiesenen Ursprung in einer welterschließenden Darstellung der Wahrheit erfüllt wird.
6. Die Wahrheit am Dasein als Ermöglichung auch von Unwahrheit ist keine Verwirkli-
chung und Energie eines sich zeigenden Ontologems, sondern das Entspringen einer
noch nicht existierenden Wahrheit und „Qualität“
Im Zusammenhang mit dem Entspringen einer fehlenden Wahrheit aus dem Erleiden des ange-
sprochenen und endlichen Daseins sollten wir auch die Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Un-
wahrheit beim frühen Heidegger erörtern.
62
6. 1. Das ruhend Weltende und sein Verstanden-werden am Dasein selber. Kein perspektivisti-sches Anschauen
Die Wahrheit des Seins wird nicht einfach für ein Subjekt erkannt und dann verlassen, sondern
in ihren Seinsmöglichkeiten verstanden und in diesen im dazu gebrauchten Verstehen des Daseins
ruhend eingelassen und verwickelt. Die Wahrheit ist als Welten leibhaftig präsent und nicht transkate-
gorial vorgestellt. Sie ist nicht in einer leeren Welt, in einer geometrischen und logischen Weltidee,
welche in jedem Punkt repräsentiert werden kann, verortet, sondern sie weltet ruhend und nicht per-
spektivistisch die Welt. Die Versammlung des ruhenden und sich fragenden Weltenden im angespro-
chenen Dasein als nicht perspektivistisches Anschauen oder innerweltliches Sich-zeigen erinnert zwar
an die Monaden von Leibniz, ist aber mitnichten eine solche Konzeption.
„Jede Monade, d.h. jedes einzelne für sich Seiende, ist durch die Repräsentation, die Möglich-
keit der Wiederspiegelung des Ganzen der Welt charakterisiert. Die Monaden bedürfen keiner Fenster,
sie haben von sich aus die Möglichkeit, das Ganze der Welt zu erkennen. So groß die Schwierigkeiten
seiner (sc. Leibniz‘) Monadologie sind, vor allem, weil er seine echte Intuition in die überlieferte On-
tologie einbaute, so muß doch in dieser Idee der Repräsentation der Monaden etwas Positives gesehen
werden, was sich bisher in der Philosophie kaum ausgewirkt hat“ (Grundpr. der Phän., SS 27, S. 248).
Bei Heidegger aber repräsentieren das Dasein und das Weltende das äußerliche und innerweltli-
che Ganze nicht dadurch, indem sie es perspektivistisch anschauen, sondern als ruhendes und nicht
innerweltliches Welten und als nicht entwerfendes Verstehen des Anderen am Dasein selber. Das Ste-
hen zu der Wahrheit ist direktes und existenzielles „Stehen“51 zum Dasein und welterschließendes
Darstellen der Existenz und nicht perspektivistisches und repräsentierendes Übertragen ins immanen-
te, transkategoriale Vorstellen. Am Dasein wird nicht eine logische Form der Welt innerweltlich reprä-
sentiert, sondern die Wahreit dargestellt und die Welt erschlossen. Das Dasein ist aber nicht nur der
Ort der Darstellung der Wahrheit, sondern auch der Unwahrheit.
51 In der Interpretation Heideggers durch D. Thomä ist der Gang des Denkens Heideggers nicht die Entdecktheit des Seins der Sachen oder des Seins hinter dem Bewußtsein, sondern das Selbst als Subjekt und Einheit hinter dem kategorialen Gerüst (Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt a.M. 1990). Sache des Denkens Heideggers ist das Selbst des Daseins (S. 115 ff., 127). Die Seinsfrage wird aufgrund der Thematisierung der Subjektivität als "(Ich) bin" begründet erörtert, obwohl es sich nicht um ein reines Ich handelt (S. 143 f.). Thomä sieht den Versuch Heideggers im Licht des deutschen Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels (S. 233 ff.), nach dem das Dasein tätige Einlassung in die Wirklichkeit ist (S. 238). Das Sein ist in der Individuation des Selbst abgegrenzt und als transzendentalphilosophische Bedingung thematisiert (S. 258 f.). Als solche transzen-dentale Untersuchung gilt die Zeit (S. 257, 278 f.). Die Kehre Heideggers ist keine methodisch geplante, sondern eine anders vollzogene (S. 459 ff.). Das Dasein und das Selbst des Daseins sind aber der Ort des direkten An-spruchs des Seins, welches in seine Wahrheit übergeht. Solcher ist der Sinn besonders der Vorlesung "Einfüh-rung in die phänomenologische Forschung" von 1924 und der Sophistes-Vorlesung von 24/25. Aus diesem Grund folgt die Thematisierung des Seins des transzendenten und schon angesprochenen Daseins und nicht sei-nes transzendentalen Selbstseins. Heidegger ist sich nach der "Kehre" dieser immanenten Voraussetzungen in seinem Werk bewußt und verzichtet auf das fundierte wiederholende Entwerfen des Seins überhaupt, sofern das
63
6. 2. Kein inneres Wahrnehmen, sondern An-ihm-selber-sich-selbst-zeigen als Verstehen des Fremden im Eigenen. Wahrheit und Unwahrheit im Dasein selber
Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, daß das Dasein nicht die vorhandene
Welt einholt und in seinen Kategorien repräsentiert und vorstellt. Es kann keine imaginäre, sondern
eine ontologische und „wirkliche“ Wesung der Welt in diesem seinem Verhalten stattfinden lassen.
Die Wahrheit der Seinssubstanzen kann nicht im Bewußtsein des Immanenten und in der Bedeutung
und inneren Wahrnehmung von Erlebnissen wahrgenommen und repräsentiert werden (Einf. in die
phän. Forschung, WS 23/24, S. 49 und 54 f.). Das Verstehen von Sein ist leibhaftiges Ermöglichen
und Darstellen des Seins in diesem direkten Zueinandergehören und in Verstehensmöglichkeiten, wel-
che das Dasein als Existenz zu sein hat.
Das Dasein ist direkt angesprochen und transzendent. Es versteht die Wahrheit in seinen aus
dem Fehl und dem Tod entschiedenen Möglichkeiten, die es ontisch zu sein hat und ist. Das Dasein
soll sich in der Welt zeigen (a.a.O., S. 44) und das Sein aus bzw. an ihm verstehen, in Verstehensmög-
lichkeiten, welche es zu sein hat, und nicht mit Kategorien und Begründungszusammenhängen verbin-
den, zurückführen, erklären und aufgrund einer logischen weltlichen Form repräsentieren. Die Exis-
tenz zeigt als Innenstehen ihre Verstehensweisen, die sie ruhend zu sein hat. Die Existenz hat als Exis-
tenz und nicht als „Ich“ diese Verstehensmöglichkeiten zu sein und kann diese nicht vorfindlich finden
oder setzen und verbinden. Dieses Sich-zeigen hat daher den Charakter des An-ihm-selber-sich-selbst-
Zeigens, wodurch dann die Möglichkeit der Täuschung am eigenen, aber nicht ichhaft identischen
Gezeigten eröffnet wird. Das Dasein weist als In-sich-sich-zeigen innerhalb seiner selbst das Nicht-
identische auf.
„Das Dasein der Welt in diesem Sich-selbst-zeigen hat die Möglichkeit, in ein Sichausgeben-
als-umzuschlagen. Das Leben ist an ihm selbst die Möglichkeit, die daseiende Welt zu verdecken. So
zeigen beide Möglichkeiten des Daseins und des Lebens (...). Das Dasein trägt in sich selbst die Mög-
lichkeit der Täuschung und der Lüge“ (a.a.O., S. 44; siehe auch S. 35). Und: „Wir haben über das Da-
sein eine Bestimmung erfahren, die es in seinem Wie charakterisiert: das Wie sich an ihm selbst zu
zeigen und das darin gegründete Wie sich zu verstecken“ (a.a.O., S. 45).
Zusammenfassend können wir also festhalten:
1. Das Zeigen des Daseins an ihm selbst ist Sich-zeigen-als und kein innerweltliches Sich-zeigen-als
in vorhandenen Möglichkeiten des Zeigens und Verbindens innerhalb einer repräsentierbaren welt-
lichen logischen Form.
2. Desweiteren ist die Möglichkeit der Täuschung und der Lüge kein Fehlschuß, sondern ein Fehler
am Dasein selbst. Es ist kein Fehler im Sinne eines Vorbeischießens, sondern die Unwahrheit
selbst gehört zum Dasein. Sowohl die Wahrheit als auch die Unwahrheit wird dargestellt und nicht
Dasein der Ort des ruhenden Verlangens der Wahrheit des Seins ist und nicht das exemplarische transzendental-logische Ich. Das Dasein ist schon in der Wahrheit des Seins.
64
in einem innerweltlichen Punkt repräsentiert und vorgestellt. Diesen Fehler kann das Dasein nicht
aus einer gereinigten Ich-Position heraus korrigieren und aus der Welt verbannen. Das Dasein ist
an ihm selbst sein Sich-zeigen-als und ist an ihm selbst die Unwahrheit, weil es entschiedene Exis-
tenz und nicht punktuelles Ich ist. Es ist nicht ein Zeigen als Ausdehnung und Besetzung des vor-
handenen Raumes durch vorliegende Weltmöglichkeiten, sondern ein darstellendes Zeigen als sei-
ne eigenen Seinsmöglichkeiten,52 die es zu sein hat und ist. Die Unwahrheit ist auch sein Sein und
nicht einfach eine falsche Korrespondenz oder falsche Wahl eines Vorliegenden. „Das Wahr- oder
Falschseinkönnen, das das Aussagen charakterisiert, muß in seiner Möglichkeit auf eine und die-
selbe Struktur des k¡cor gebaut sein“ (Logik, WS 25/26, S. 135). Dieses Falschsein als Verde-
cken ist nicht Ausbleiben des Aufdeckens. Vielmehr ist die Falschheit als Verdeckung mit der
Wahrheit als Aufdeckung direkt verwickelt.
Deswegen ist das Falsche trotz alledem ein Zeigen (Einf. in die phän. For., WS 23/24, S. 20 u. 40),
und in der Sophistes-Vorlesung begegnet uns das Falsche nicht als Ausbleiben des Aufdeckens, son-
dern als Modifikation des ursprünglichen Wesens der Wahrheit (Sophistes, WS 24/25, S. 602). Die
Unwahrheit ist ebenso ein „Sein“ wie auch die Argumente des Sophisten. Heidegger geht in der For-
mulierung seiner These von der Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Unwahrheit am Dasein von
Platon und Aristoteles aus und setzt damit explizit einen Kontrapunkt zu Descartes und Husserl.
Wahrheit und Unwahrheit gehören zum sorgenden Sein des Daseins und sind nicht Leistungen des
Bewußtseins eines punktuellen Ich. Heidegger unterstreicht dies in der Formulierung der Intention, die
der Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“ aus dem Jahre 1923/24 zugrunde-
liegt. Anknüpfend an Aristoteles wird hier das Sein des Daseins im Gegensatz zum Bewußtsein
Cartensischer und Husserlscher Prägung betrachtet.
Bei den Griechen gab es kein Bewußtsein. Das Dasein als Ort der Wahrheit des Seins war Welt
(Einf. in die phän. For., WS 23/24, S. 48 f.). Daher untersucht Heidegger den Umschlag von diesem
Seienden als Welt zum Seienden als Bewußtsein (a.a.O., S. 49). Wie in der Sophistes-Vorlesung stellt
der k¡cor auch hier nicht das neuzeitliche Bewußtsein dar, sondern ein Seiendes als Welt. Weiterhin
ist der Logos:
1. Ein Begegnen der Sachen (a.a.O., S. 14 u. 18), ein vor den Sachen Stehen und Ruhen (a.a.O., S.
18), ein Hören und Verstehen (a.a.O.) und somit ein direktes Verhältnis zu der Sache. Die Sprache
ist kein Werkzeug des Menschen, sondern sein Sein und Werden (a.a.O., S. 19).
2. Dieser k¡cor ist der logos apophantikos. In diesem kommt das Wesen der Negation zum Vor-
schein (a.a.O., S. 23). Der logos hat also ein Woher, ein „Äp¡". Seine Herkunft ist das Sein, und
es steht zu diesem in einer „negativen“ Zusammengehörigkeit.
52 R. Wiehl verweist auf den Schein zwischen Wahrem und Falschem bezüglich auf Lamberts Phänomenologie (Begriffsbestimmung und Begriffsgeschichte. In: a.a.O., Hermeneutik und Dialektik, S. 183 ff.).
65
Weitreichende Reflexionen darüber stellt Heidegger in der Sophistes-Vorlesung von 24/25 an. In der
Als-Auslegung wird das Sein nicht wiedergegeben, sondern es tritt in ein Geschehen mit seinem An-
derssein ein, mit dem es zusammengehört. Wahrheit und Unwahrheit sind das Sein des Daseins und
nicht ein von ihm vollzogenes Urteil oder ein Satz. Diese Wahrheit und Unwahrheit als Modifikation
ist nicht eine Wiedergabe des Seins, sondern ein erschließendes und aufdeckendes Darstellen des Ge-
fragten und Fehlenden.
Wir haben hier einen weiteren wichtigen Kern der Heideggerschen „Philosophie“ aufgespürt:
Das Dasein ist an ihm selbst Wahrheit oder Unwahrheit! Die Wahrheit - bzw. Unwahrheit - wird in-
nerhalb des Daseins ermöglicht und dargestellt, und deswegen ist sie weder ein Sich-zeigen oder Ver-
wirklichen einer Idee-Wirklichkeit noch ein Fehlgreifen im äußeren Vorliegenden einer Welt als logi-
scher Form. Sie ist so nicht Auftreten eines verborgenen und vorhandenen Ontologems als sich zei-
gende Energie einer wirklichen Idee, sondern das darstellende Entspringen eines im Sein selber und
im Erleiden des Daseins aufgespürten Fehls an Wahrheit, die noch abwesend und verborgen ist. Das,
welches fehlt und abwesend ist, ist aber kein Mangel an Wirklichkeit und Macht, sondern ein Mangel
aus Ohnmacht, ein aktiver, aber auch ernster Mangel! Er ist aktiv, weil er nicht reaktiv das Eigene
gegen das fremde Übermächtige will, sondern demgegenüber das Fremde ermöglicht und sich in sei-
nem Anspruch in Frage stellt. Er ist ernst und nicht Mangel aus Wille zur Macht und Verwirklichung,
weil er das Fremde nicht in einer höheren Ebene aufhebt, sondern sein läßt und weiterhin aus diesem
Mangel - und nur aus diesem - wieder entspringt und sich nicht aus der Vermittlung des Mangels in-
nerhalb seines Wollens höher verwirklicht!
Die dargestellte Wahrheit aus Ohnmacht ist nicht sich-zeigende Darstellung in einem Anderen
aus Macht, welche sich innerhalb einer kosmischen Ordnung übermächtigen und als Substanz ver-
wirklichen will. Innerhalb der Welt und der Realität als Wirklichkeit bleibt der Gesamtwert der Welt
immer der gleiche, und Gott ist ein circulus vitiosus deus. Dies steht wiederum in einem gewissen
Kontrast zum Begriff der Wirklichkeit, wie ihn Heidegger in seinem späteren Werk formuliert.
6. 3. Die existentia als Verwirklichung und Wirklichkeit. Reaktion und nicht Ermöglichung. Der Entzug der Wahrheit und die Ermöglichung einer neuen Qualität
Die aus dem Nichts dargestellte Wahrheit bzw. Unwahrheit ist keine Verwirklichung einer sich
erscheinenden Idee. Dies können wir allerdings erst durch den Rückgriff auf den späteren Heidegger
sehr gut beleuchten. Besonders in „Die Metaphysik des deutschen Idealismus“ weist Heidegger auf die
Bedeutung der Existenz als Wirklichkeit hin.
In scholastischer Perspektive ist die Existenz sistentia extra nihilum. „Die scholastische Erklä-
rung von existentia als sistentia extra nihilum et extra causas, extra, d.h. eductum inter entia actualia -
hinaus - und übergeführt unter das Wirkliche“ (Met. des dt. Ideal., SS 41, S. 17).
66
Nach Kierkegaard und Jaspers ist die Existenz Personalität,53 bewußte und verantwortliche Sub-
jektivität (a.a.O., S. 19f. u. 38). Verantwortliche Subjektivität in der Welt ist die wirkliche, wirkende,
teilnehmende und reagierende Ich-Abgeschlossenheit. Sie kann in der Öffentlichkeit ebenso reagieren
und teilnehmen wie sich vertragen. Die Existenz ist Reaktion, Sich-zeigen, Sich-in-der-Öffentlichkeit-
und-Wirklichkeit-bestätigen. Die Reaktion übertrifft nicht die Aktion, die Wirklichkeit der Welt und
der an ihr Teilnehmenden. Die Existenz als idea ist ein Sich-offenbaren-wollen, ein Sich-zeigen und
Sich-verwirklichen. „Als Äjq÷tatom (später actus purus) übernimmt das Seiendste das «Sein» als
bloße «Idee» im Sinne der Gedachtheit, Vor-gestelltheit, die jeglichem zukommt, sofern es als gewirk-
tes Wirkendes (Wirkliches) nach dieser Idee bewirkt und verursacht (geschaffen) ist“ (a.a.O., S. 187).
Die idea ist doxa, Herrlichkeit, Gloria, Sich-offenbaren-wollen54 (a.a.O., S. 194). Die Wahrheit ist
allerdings schon beim frühen Heidegger ein geschehendes Welten der Welt als Versammeln und Ver-
wickeln in einem Da und Entspringen aus dem Erleiden eines Fehls. Sie ist ein Sich-fragen und Sich-
verlassendes-Verwickeln direkt im Fremden und nicht ein Sich-zeigen. Wir sehen schon in der Wahr-
heit des Seins als direkten weltenden Ansprechens nicht ein Sich-übertragen oder Sich-zeigen-wollen,
sondern eine Veranlassung und Einlassung am bzw. im Fremden und das ansprechende Wesen eines
Fehls und einer Abwesenheit innerhalb des Seins und seines Anspruchs. Die Wahrheit ist Erfüllung
der dem Sein selber vorgängigen Frage des Seins und nicht seine innerweltliche, sich bemächtigende
Prädikation. Die aus dem erlittenen Fehl des angesprochenen Daseins entsprungene Wahrheit oder
Unwahrheit ist keine Verwirklichung, sondern Wi(e)derkehr in einem fehlenden Ursprung des Seins,
aus dem sie Darstellung und Erfüllung und nicht innerweltliche Prädikation oder Erklärung ist.
6. 4. Die innere Grenze der d…malir letÇ k¡cou
Die Ermöglichung der fehlenden Wahrheit in einem Da, welches an ihm die Wahrheit des
Fremden bis zur Unwahrheit ermöglicht und nicht in einen Entwurfsbereich überträgt, können wir
weiterhin durch die Betrachtung einer späteren Vorlesung Heideggers zu rekonstruieren versuchen.
In der Vorlesung „Aristoteles. Metaphysik Th. 1-3“ (Bd. 33) aus dem SS 31 spricht Heidegger
von der Als-Aussage als innerem Entzug der d…malir letÇ k¡cou, welche eine sich entzweiende,
an ihr selber verstehende Kraft ist und nicht ein Ökocom Wirken und Sich-zeigen. Das Sein ist an ihm
selbst Welten für die Wahrheit aller und nicht innerweltliches Reagieren, Sich-zeigen, Sich-
verwirklichen. Heidegger geht in der Behandlung der d…malir letÇ k¡cou weiter als Aristoteles
53 Nach A. Jäger ist Gott nicht bloß Sein, sondern Persönlichkeit, lebendige Einheit von Kräften, Ausschließen von jedem Widerspruch (Gott. Nochmals Martin Heidegger, Tübingen 1978, S. 267). Gott wie das Sein ist das Absolute, das Abgesonderte und dennoch Alles in sich Aufhebende, das negativ Absolute im Schellingschen Sinne. Die Gegensätze sind Prädikate des Seins wie z.B. das Böse (S. 266). So ist Persönlichkeit die Einheit und Aufhebung jeglichen Unterschieds im Sein.
67
und sieht ihren inneren Entzug nicht in einer äußerlichen Verneinung, sondern in dem eigenen vermö-
genden Sich-entzweien als verstehender Als-Aussage. Die d…malir ist ein Ruhen und nicht ein Über-
tragen des Anstoßes oder das Ergreifen eines vorhandenen Objekts. Sie ist vor-, aber auch rückgrei-
fend, und sie ermöglicht ihren Gegenstand, indem sie sich entkräftet und entzweit.
„Jedes Herstellen von etwas, überhaupt jede d…malir letÇ k¡cou bereitet sich selbst, und
zwar notwendig, durch ihr eigenes Vorgehen die ständig mitgehende Gelegenheit zum Fehlgreifen,
Versäumen, Übersehen und Unterlassen, und damit trägt jede Kraft in sich und für sich die Möglich-
keit des Absinkens in die Un-kraft. Dieses Negativum steht nicht einfach als das Gegenteil neben dem
Positivum der Kraft, sondern lauert dieser in ihr selbst auf und dies deshalb, weil jede derartige Kraft
ihrem Wesen nach mit der Zwiespältigkeit und also mit einem >Nicht< versehen ist“ (Arist. Th 1-3,
SS 31, S. 154).
Dies ist so schon ein innerer Entzug des eigenen Seins als Ermöglichung des Fehlenden im Ei-
genen (a.a.O., S. 110, und S. 158: innere Grenze und innere Endlichkeit, nicht Anstoßen gegen äußere
Grenze). So ist das Verhältnis des Logos ein innerer Bezug des von ihm Un-unterschiedenen und nicht
ein höheres Aufheben.
„K¡cor ist daher Regel, Gesetz, und zwar nicht als über dem Geregelten irgendwo schwebend,
sondern als das, was das Verhältnis selbst ist: die innere Fügung und Fuge des in Beziehung stehenden
Seienden. K¡cor ist das regelnde Gefüge, die Sammlung des unter sich Bezogenen“ (a.a.O., S. 121).
Logos ist nicht die vorhandene, über allem schwebende Einheit oder die Aufhebung in einer höheren
allgemeinen Identität und kosmischen, logischen Form, sondern er ist das ausgreifende, an ihm selbst
für die Wahrheit des Anderen sich vollziehende innere Unterscheiden, die Wi(e)derkehr in einem an-
deren und fehlenden Ursprung und nicht Aufhebung in einer höheren Einheit. Somit ist der Logos
dieses Da, welches das Fremde ermöglicht und nicht ein höheres Drittes. Die Kundschaft, der Logos,
die Auslegung haben eine innere Grenze als ihre eigenste Macht (a.a.O., S. 145). Es ist die an ihm
selbst (am Logos) sich vollziehende Bewegung, ein inneres Entzweien, aus dem erst die Einheit mög-
lich wird und nicht die äußere Negation aller und die daraus resultierende Aufhebung in ein schwe-
bendes Drittes. Die Als-Aussage ist keine innerweltliche, sich bemächtigende Prädikation, kein circu-
lus vitiosus deus, sondern die aus dem Entzug, dem vorontologischen Fehl und dem Nichts der dem
Sein vorgängigen Frage entspringende Erfüllung und Darstellung.
Weitere Schlußfolgerungen aus der Aristoteles-Vorlesung Heideggers, die in unserem Kontext
von Interesse sind, wären: Das Sein ist Verteilung (a.a.O., S. 31) und keine Gattung (S. 36), die Wahr-
heit ist Ertragsamkeit und keine Widerspruchslosigkeit (S. 66), ein Kraftsein fordert den Umschlag
vom Erstellen ins Ertragen (S. 105 - 107), die Unkraft ist nicht Verneinung, sondern Entzug (S. 109),
ein innerer Entzug (S. 110). Der Logos und die Wahrheit sind so Entzug, Umschlag und Wi(e)derkehr
54 Über das Verstehen des Seins und Gottes als "actus purus" besonders bei der neuscholastischen Theologie siehe: H. Danner, Das Göttliche und der Gott bei Heidegger, Meisenheim am Glan 1971, S. 147 ff.
68
in einer inneren Fügung als in einem fehlenden Ursprung, aus dem die Wahrheit entspringt, ohne je
adäquates Entwerfen zu sein.
7. Entfremdung wie bei Hegel? Muß die Idee erscheinen?
Man könnte meinen, daß dieselbe Bedeutung, welche die Welt bei Heidegger hat, bei Hegel und
Marx der Objektivität bzw. der Entfremdung55 zukommt. Das durch die Trennung unglückliche Be-
wußtsein kann nicht zur Ganzheit und Wahrheit gelangen. Es muß durch die Objektivität und Ent-
fremdung hindurch sich selbst finden. Hierbei geht es um die aus dem Idealismus bekannte Begierde
nach Identität, welcher die Objektivität entgegensteht.
Ist Heidegger der letzte Romantiker? Versucht er alles im Sein einzustellen? Ist der Logos eine
Sammlung als Ganzes? Oder gibt es einen sich fragenden und jeder Vermittlung und jeder Dialektik
übertreffenden Anspruch auf Wahrheit? Erlaubt Heidegger Brüche in der Wahrheit?
7. 1. Das Dasein ist keine Idee, welche in die Welt als Wirklichkeit fällt, sondern selbst das alles in sich ruhend übertreffende Transzendente, welches den Fehl der Wahrheit erleidet und an sich selber diese ermöglicht
Die Welt ist bei Heidegger keine Mobilisierung, keine totale Kommunikation,56 der alle in der
Welt als einer Wirklichkeit ausgesetzt sind und in der man innerweltlich teilnehmen, reagieren muß.
Bei Heidegger ist die Welt das ruhende und nicht innerweltliche, sich darstellende Welten der Wahr-
heit von Jedem. Das Dasein ist in die Welt geworfen und ist zugleich Entwurf. Das In-der-Welt-sein
besagt nicht ein innerweltliches Vorhandensein in einem Zugrundeliegenenden oder innerhalb eines
totalen Bezogenseins als Substanz des Alls, welche sich als das Sein und als Substanz zum Subjekt
erweisen soll, und auch nicht innerhalb eines allgemeinsten Rahmens des Mitgehörens Aller, sondern
es besagt das existenzielle Verfallensein und das in sich transzendente Ausgesetztsein des Daseins in
der Welt.
Das -In- ist selbst die Existenz des Daseins, es ist das Fallen des Daseins in die Welt als Mit-
nehmen dieses Fallens. Das Dasein ist sein eigenes -In-, sein eigenes Fallen in die Welt, sein Fallen
und sein -In- ist die Welt. Das Dasein fällt nicht in die Welt als in ein weltliches Ganzes, sondern qua-
si noch tiefer, in ein eigenes Wohin als seiner Existenz. Das Dasein ist nicht innerhalb einer Welt ge-
fallen, sondern es ist Fallen, mit dem die Welt weltet, in welchem sie mit dem gefallenen Dasein mit-
55 Nach W. Marx ist die Thematisierung der Heimatlosigkeit beim späteren Heidegger radikaler als die Entfrem-dung bei Marx (Die ontologische Differenz in der Perspektive der regionalen Ontologie des Daseins. In: U. Gu-zonni (Häg.), Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980, S. 193). 56 Solcher ist der Ausdruck O. Pöggelers in bezug auf K.-O. Apel und P. Ricoeur (O. Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, München 1993, S. 340 ff.).
69
fällt. Das In-der-Welt-sein ist Existenzial des Daseins. Dieses Gefallensein ist sein Verwickeltsein,
Ausgesetztsein und Verantwortlichsein in diesem gefallenen Da und zu seinem Sein, welches nicht als
Vorhandenes oder als Substanz zu sein hat. Das Dasein ist in sich transzendent. „Wir zeigten durch die
Analyse des In-der-Welt-seins, daß zur Seinsverfassung des Daseins die Transzendenz gehört. Das
Dasein ist selbst das Transzendente. Es überschreitet sich, d.h. es übertrifft sich selbst in der Trans-
zendenz“ (Grundpr. der Phän., SS 27, S. 460).
Das Schuldig-sein des Daseins hat keine Verschuldung als Voraussetzung, sondern es ist ein
Übertreffen des Daseins, welches in seinem Ausgesetztsein in der Welt nicht dialektisch eine Recht-
fertigung und Aufhebung vermittelt und leistet, sondern sich, den Fehl der Wahrheit erleidend, als
verantwortlich anbietet und innerhalb seiner als insistenter Existenz das Fehlende ermöglicht. Das
Fallen des Daseins als Schuldigsein weltet die Welt, übertrifft jedes Worinnen einer Wirklichkeit. Das
Fallen des Daseins ist quasi ein Fallen in sich, als ob das Dasein das Wohin des Fallens in sich trägt.
Das Fallen des Daseins als Schuldigsein übertrifft jede Verschuldung. Deshalb entsteht in der fremden
Objektivität nicht die Notwendigkeit für eine Theodizee. Das Dasein in seinem Gefallensein übertrifft
dieses und ist schon das Wohin57 seines Fallens. Es wird weder sein Gefallensein jemals verlassen und
sich in seinem vermeintlichen Kern aufheben noch die objektive Wirklichkeit als notwendige Vermitt-
lung der Wahrheit und Ganzheit ansehen. Motivation und Gang der Wahrheit sind nicht die Überwin-
dung der Trennung von Subjekt und Objekt oder das Sich-erweisen der Substanz als eines Subjekts.
Ihre Aufgabe ist auch nicht ein ästhetisches Tun um des Tuns willen. Der Gang der Wahrheit ist auch
kein Fallen als Existenzialismus.
Originärer Ort der Wahrheit ist demgegenüber das Da-sein, in welchem die Wahrheit durch die
Objektivität nicht in einer wirklichen Idee aufgehoben wird, sondern gerade diese, die vermeintliche
Objektivität als Dasein, ist schon der Ort des Erleidens und daher Entspringens der Wahrheit, ohne
eine Idee zu sein!
Die Wahrheit ist ein Fehl, und nur aus dem Erleiden dieses Fehls kann sie aufbrechen und nicht
aus einem dialektisch höheren Gang! Die Wahrheit ist ein Ort, die Lichtung in der Verborgenheit.
Diese Wahrheit ist keine Idee für die Wirklichkeit, sondern das Erleiden des Fehls der Wahrheit aus
dem Anspruch am Dasein heraus, das in sich ruhende innere Übertreffen des Daseins als erleidender
Ver-antwortung über diesen Anspruch und das Sein aus dem Tode. Aus diesem Fehl, dem Tod und
dem Nichts ist(!) eigentlich erst die Wahrheit als Darstellung und Erfüllung einer vorontologischen
Tat und nicht als Prädikation einer Substanz.
57 Deswegen bedeuten die Termini Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit keinen ethischen Gegensatz und keinen Sollenscharakter eines von beiden oder einen renommierten Platz des einen gegenüber dem anderen, sondern sie sind eine Zusammengehörigkeit und gehören zur Analyse des Daseins. So ist es auch schwierig, bei Heidegger über selbstverlierenden und wiederfindenden Geist zu sprechen, wie es B. Merker tut ("Konvension statt Refle-xion" in: a.a.O. Innen- und Außenansichten, Suhrkamp, S. 226 ff.).
70
7. 2. Die Wirklichkeit soll nicht von einer Idee aufgehoben und bewahrheitet werden, sondern sie ist selbst das Erleiden des Fehls der Wahrheit und das am Tod Sich-übertreffen für diese
Das Da-Sein selbst kann von sich her aufgehen. Es hat seine Wahrheit als Ort der inneren Ent-
zweiung, aus dem es sich entzogen hat und trotzdem aus diesem Fehl und Tod seine Existenz zu sein
hat, inne, und es braucht keine Erklärung, kein Aufgehobenwerden in seinem Ideal (Hegel-Marx). Den
Fehl erleidend, schenkend und agierend, ist es als Da-Sein. Die „Wirklichkeit“ muß nicht aufgehoben
oder be-wahrheitet werden, sondern sie ist selbst Fehl an Wahrheit, aus dem diese entspringen kann.
Sie ist keine reagierende Wirklichkeit, welche die Wahrheit in ein höheres Wirkliches überträgt. Aus
dem Anspruch des Weltenden erleidet sie vielmehr den Fehl der Wahrheit. Sie bietet sich nicht als
teilnehmende Reaktion, sondern selbst als Notwendigkeit, Verantwortlichkeit und Freiheit an, um so
jede Wirklichkeit zu übertreffen. Die Substanz und die Wirklichkeit sind reagierend und daher der
Gehorsamkeit verpflichtet. Die Wahrheit dagegen ist schenkend und agierend (sc. insofern steht sie für
eine Herrenmoral). Die Wahrheit aus dem angesprochenen Erleiden eines Fehls steht und fließt über
jeder unmittelbaren Phänomenologie und Dialektik der Wirklichkeit. Jedes in der Welt braucht als
Wirklichkeit nicht aus bestimmten Gründen oder als Substanz nicht im Hinblick auf eine zugrundelie-
gende Idee erkannt oder geändert zu werden, sondern es ist selbst das Erleiden der Wahrheit für alle.
Die Wahrheit ist Frage am Ort58 des Fehls, weil sie erst Fehl und Ort der Be-wahrung eines Erleidens
aus diesem und nicht aus einer sich bewährenden Idee ist. Sie ist das Erleiden des Fehls und das innere
Sich-anbieten für dieses und nicht das Wirklich-werden einer Idee. Die Wahrheit als Fehl ist nicht
Übertragen auf ein transkategoriales Wirkliches einer weltlichen logischen Form.
Die Wahrheit ist nicht Änderung auf eine Idee hin, sondern thysia - Selbstaufopferung. Nur so
ist Hoffnung möglich. Sonst will man die Wirklichkeit retten, indem man sie durch ein Drittes erklärt
und begründet. Die Wahrheit wächst aber am Ort des Ab-grundes und nicht des Grundes. Nur eine
radikale und den Fehl erleidende Frage kann, im eigentlichen Ursprung der Wahrheit wi(e)derkehrend,
diese erst ermöglichen. Das verstehende Dasein soll sich selbst als Erleiden der Frage der Wahrheit
anbieten, weil es den Fehl erleidet, in dem die Welt nicht als Wirklichkeit, sondern als Wahrheit auf-
gehen wird.
Die Frage nach der Wahrheit wird zur Selbstaufgabe. Die Frage lautet nicht mehr, was die
Wahrheit ist und durch welche Methode man sich ihr annähern kann, sondern wie das Dasein zu ihr
positioniert ist, welche Rolle ihm dabei zukommt. Man befindet sich schon in der Frage der fehlenden
Wahrheit und wird selbst direkt gefragt, es ist die Konstitution der Frage als notwendiger und hinrei-
58 P. L. Coriando sieht eine Phänomenologie auch nach der Kehre. So spricht sie von dem Wink des letzten Gottes in diesem Sinne (Der letzte Gott als Anfang, München 1998). Der Wink ist der beziehende Entzug (S. 115), das Winken im Weg- und Zurückgehen. Der letzte Gott aus dem Wink ist nicht ein summum ens, sondern er wird in seiner hermeneutisch-phänomenologischen Gotthaftigkeit und in einem ursprünglichen Nicht erfahren (S. 117). Wir sollten hier sagen, daß in der Rede von Gott bei Heidegger die Stellung Heideggers zur Metaphysik und zum Tod Gottes mitberücksichtigt werden sollte, und weiterhin, daß eine solche Phänomenologie des mögli-
71
chender Bedingung der Wahrheit. Das Dasein in seinem Sein ist Ort der Wahrheit und Existenz, wel-
che es zu sein hat und nur so ist. Es ist schon in der Wahrheit. Wenn man die Wahrheit auf einen adä-
quaten Entwurfsbereich überträgt, bietet man eine „Aussage“ über sie. Durch ihre Übertragung auf
einen Entwurfsbereich und ihre Aufspaltung in letzte Elemente entfernt man sich analytisch zusehends
vom erleidenden Aufspüren der fehlenden Wahrheit.
Die Wahrheit ist nicht Rechtfertigung und Rettung der Wirklichkeit durch eine Idee. Die Wirk-
lichkeit ist nicht eine Substanz, die als Notwendigkeit bewahrheitet und in ihrer Wahrheit aufgehoben
werden muß, sondern sie ist das an ihr selbst vollzogene Erleiden des Fehls der Wahrheit und die Ver-
antwortung über diese. Das aus dem Tod transzendente Erleiden des Fehls der Wahrheit übertrifft jede
Intentionalität59 im Hinblick auf eine so gemeinte Idee und Realität.
Höher als die Wirklichkeit liegt die Möglichkeit. Die Möglichkeit ist die Kraft der Wahrheit im
Sinne eines Sich-als-Wahrheit-Anbietens vor jeder Abmessung einer Wirklichkeit und Substanzonto-
logie, vor jeder Aufhebung in einer höheren Wirklichkeit, in einen höheren Gang und in eine regulati-
ve Idee. Die Wahrheit benötigt eine Bewegung, eine Stimmung, eine Motivation, welche nicht eine
Idee60 und nicht das „Warum“ sein kann - nicht die Begründung und Aufhebung der Wirklichkeit in
einer Idee -, sondern diese Motivation und Stimmung bezüglich der Wahrheit ist der Fehl der Wahr-
heit!
Dementsprechend muß ein Ansatz des Erleidens und der thysia zugrundegelegt werden. Dieser
Ansatz ist ein Da, ein im Nichts entsprungener und nicht feststehender Anfang, ein Ort: Es ist das Sein
des Daseins. Dieses erleidet in seinem Sein den Fehl61 der Wahrheit und ist zugleich in seinem Sich-
anbieten für diese als innerer Entzweiung, Entzug und Umschlag zum fehlenden Ursprung der Ort für
die Ermöglichung des Fehlenden. Mit dieser Motivation beschäftigt sich Heidegger in und nach „Sein
chen Negativen nur aus der Verwicklung, dem Ereignis und dem Entzug Gottes am Da-sein und nicht phänome-nologisch möglich ist. 59 H. G. Gadamer sagt in diesem Kontext, daß das Sein nicht mehr transzendentale Selbstauffassung der Funda-mentalontologie und nicht transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Daseins ist, sondern das, was sich ereignet, wenn Dasein ist (Sein, Geist, Gott in: Heidegger, Freiburger Universitätsvorträge zu seinem Gedenken, Freiburg-München 1979, S. 53). Auf Seite 54 steht dies im Zusammenhang mit Schellings Grund-Existenz-Geschehen. 60 So meint W. Schulz, dass Heidegger, obwohl er gegen den Subjektivismus gearbeitet hat, die Geschichte des Seins als eine Subjektsgeschichte konzipiert, von welcher sich kein anderes Subjekt, Dasein oder Seiendes ent-ziehen kann (Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers. In: a.a.O., Hermeneutik und Dialektik Bd I, S. 311 ff.). Diese Bewegung ist die Bewegung des Geistes (S. 307 f.) oder des Gesprächs als Sprache (S. 309 ff.), welche das eigentliche Subjekt und der Akteur im Gespräch von Menschen ist. Doch ist diese spekulative Geschichte des Geistes, welcher sich in der Geschichte darstellt, beim frühen und späteren Heidegger die Geschichte und Verwicklung des Seins in einem Da ohne Aufhebung und Vermittlung zu einem eigentlichen Anfang. 61 Trotzdem sieht W. Schulz, daß die Selbstreflexion des Geistes nicht alles bewußt machen kann. Die Substanz kann nicht restlos im Subjekt aufgehobn werden, und sie ist mehr Sein als Bewußtsein. Die Geschichte hat kei-nen Abschluß (Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers, a.a.O., S. 315). Der Fehl der Wahrheit aber ist nicht eine Dialektik und unendliche Aufhebung, sondern eine innere Ermöglichung des Fremden und innerer Unter-schied, welcher nicht die Wirklichkeit als ein unaufgehobenes Gegenüber anerkennt, sondern jede Intentionalität auf eine reale Wirklichkeit übertrifft, Sein überhaupt schenkt nicht nur dialektisch annimmt. Die so gemeinte Wirklichkeit ist selbst Fehl und Motivation auf Wahrheit und nicht die Substanz für eine Idee. In diesem Sinne ist im späteren Heidegger das Ungedachte des Gedachten nicht ein nicht aufgehobener Rest, die Unabgeschlo-ßenheit der Geschichte, sondern der innere Unterschied und der Fehl an Wahrheit des schon Gewesenen.
72
und Zeit“ in vielen Beiträgen. Sie hört auf den Namen der „Angst“, der „Langeweile“, des entsetzen-
den Nichts, der „Stimmung“, der „Not“. Die dynamis meta logou ist das Erleiden des Fehls und die
Ermöglichung des Fehlenden als innerer Entzug der dynamis meta logou und Ermöglichung des
Fremden und Fehlenden aus seinem Ursprung und nicht als in einem Dritten Entworfen-werden. Das
Da-Sein ist nicht die Substanz und die Wirklichkeit als Maß, Objektivität und Material für eine Idee,
sondern es ist selbt die Wahrheit in jedem Da. Diese beschreibt einen ursprünglicheren Bereich, als
ihn jede negative Kritik und Dialektik, jede Aufhebung in einer regulative Idee je erschließen könnte.
Aus dieser vorontologischen Motivation und Tat entsteht die Darstellung der Wahrheit selbst und
nicht das Erscheinen der logischen Form einer Welt und Realität.
Es reicht nicht aus, die Objektivität zu erklären, von ihr zu wissen oder sie zu beherrschen. Es
reicht auch nicht aus, zwischen vorhandenen Seiten zu reagieren, von denen die eine das wahre Maß
für die andere sein sollte. Die da-seiende Objektivität ist nicht Maß, Ziel und Ideal, sondern die Stim-
mung und die Motivation der Wahrheit, der Ort der fehlenden Wahrheit. Vor jedem Gerichtetsein auf
die Wirklichkeit und Realität liegt die angesprochene und erleidende Transzendenz, der Umschlag der
Wirklichkeit in einen Fehl und seinen im Nichts liegenden Ursprung. Die Frage nach dem Anspruch
des Seins auf Wahrheit und nach dem „Kriterium“ dieser Wahrheit schlägt in die Frage nach dem We-
sen und dem Sinn der erleidenden Motivation auf Wahrheit um, welche im Fehl innerhalb des ange-
sprochenen Logos liegt.
8. Die Wahrheit des Dasein ohne öffentliches und allverbindliches Kriterium
In diesem Abschnitt wollen wir der Frage nachgehen, ob die in einem Da lokalisierte Wahrheit,
zugleich die Wahrheit im Ganzen und die Wahrheit Aller ist. Ist sie verbindlich? Wird sie von jedem
vollzogen? Und was ist überhaupt Vollziehen der Wahrheit?
8. 1. Das Vollziehen der Wahrheit ist nicht weltende und ruhende Wahrheit am Dasein
Wenn man vom Vollzug der Wahrheit spricht, meint man üblicherweise den Vollzug eines Sub-
jekts oder einer Idee, und zwar im Sinne ihrer Verwirklichung in der Objektivität oder Wirklichkeit.
Der Begriff der Objektivität als Wirklichkeit gilt als eine vom Subjekt abgetrennte Substanz, welche
doch dem Subjekt Wirklichkeit gibt, sofern sie der Ort der Verwirklichung der Idee ist. Das Subjekt
kommt nur dann zu sich, wenn es auf diese Objektivität und Wirklichkeit re-agiert und sich in dieser
weiß. Das Subjekt soll die Fremdbestimmung der Objektivität in sich aufheben. So ist die Objektivität
zugleich die Subjektivität, die Vermittlung für das Subjekt. Andernfalls gibt es Trennung, unglückli-
ches Bewußtsein, gebrochene Totalität.
73
Die Wahrheit ist adaequatio, Bewährung und Verwirklichung der sich wissenden Idee. Oder a-
ber sie ist in einem kritischen und negativen Sinne ein Absetzen von jeder wirklichen Idee und ein
Setzen einer regulativen und nicht wirklichen Idee, welches jedoch den Ansatz einer höheren Dialektik
ausmacht und sich daher nicht wesentlich vom idealistischen Ansatz unterscheidet.
Sowohl der kritische Idealismus als auch die spekulative oder negative Dialektik erreichen das
Ganze des Geltens der Wahrheit durch die Negation und Aufhebung von jedem Da, welches Da ein
unmittelbares Meinen der Objektivität und nicht Bewährung einer sich wissenden Idee sei, so daß das
Ganze und Wahre - die Idee oder das Subjekt - das Haben Aller als die Negation von Jedem ist.62
Eigentlich ist diese Wahrheit nicht die Wahrheit von und aus jedem Da. Diese Wahrheit beruht
entweder in der Vorstellung des Vollziehens der Verwirklichung der Idee auf der Grundlage ihrer
Substanz bzw. Objektivität oder in der Vorstellung ihrer Dialektik durch diese. Eigentlich macht so
aber das im Ganzen Gelten der Wahrheit nicht diese als Entstehung der Wahrheit in einem Da aus,
sondern im Gegenteil: als Vernichtung der Wahrheit am Ort ihrer Entstehung und so als Aufheben und
Übergehen auf das Ganze. Dieses übertragende Gelten ruht auf der Gleichartigkeit und Aufhebung des
Denkens der daseienden Subjekte-Ideen als eines innerweltlich sich bewährenden, sich verwirklichen-
den und so nachvollziehenden Aktes einer schon wahren Idee und nicht auf der Wahrheit als Wahrheit
eines Da, welche sich als gefragte aus dem Fehl und dem Nichts des Daseins darstellt. Die Wahrheit
von Einem ist so nicht die Wahrheit Aller. Jene wird nivelliert, und eine gleiche soll vollzogen wer-
den, welche zwar die gleiche, nicht aber die selbe ist.
Wenn man sagt: 7+5=12, gilt diese Wahrheit als Resultat nicht für einen Zweiten, sondern die-
ser soll noch mal sagen und nachvollziehen, dass 7+5=12, und das Resultat begründen. Eigentlich
handelt es sich überhaupt nicht um Wahrheit, sondern um vollziehende Bewährung einer schon als
wahr geltenden Idee in jedem Da der Objektivität. Wenn dagegen ein Künstler ein Kunstwerk schafft,
und der Zuschauer nicht dasselbe machen kann, sieht dieser trotzdem die Wahrheit in diesem Kunst-
werk, die auch seine eigene Wahrheit ist, und nicht diejenige eines eigenen gleichen nachvollzogenen
Kunstwerks. Und wo steht dieser, wenn er ein Kunstwerk mitvollzieht? Etwa nicht in der Wahrheit
des einen und selben Werks? Ruht etwa die Ganzheit des „Geltens“ der Wahrheit nicht in der daseien-
den Wahrheit selbst, sondern anderswo? Ist nicht schon das Wahre das Ganze und umgekehrt? Ist die
Ganzheit nicht eine Erschlossenheit der Wahrheit und kein nachvollziehendes Übertragen der sich
wissenden Idee auf einen Entwurfsbereich? Ist nicht diese Wahrheit in einem Da versammelt, welches
die angesprochene und fehlende Wahrheit aus dem Nichts ermöglicht und darstellt und nicht inner-
weltlich entwirft und nachvollzieht?
62 Hier wird auf den Versuch intendiert, in allen Subjekten die eine und absolute Subjektivität zu setzen, wie bei Descartes und Kant (O. Pöggeler, Dialektik und Topik. In: a.a.O. Hermeneutik und Dialektik Bd. II, S. 275).
74
8. 2. Nur das Wahre als Ermöglichung des Fremden kann ein Ganzes für alle sein.
Im Fall der von Allen vollzogenen gleichen Wahrheit gäbe es ein Ganzes als tote Summe aller
Subjekte nebeneinander, aber nicht ein Ganzes, welches in jedem Da ermöglicht würde. Deswegen
gibt es erstens nicht ein Ganzes als Existenzial63 von jedem Dasein als ein an dem Dasein selbst auf-
brechendes Offenes für das Ganze, für alle. Außerdem gibt es zweitens auch nicht „ein“ Ganzes aller,
sondern eine Summe von Ganzheiten als Verwirklichungen eines abstrakten Ganzen in jedem Da. Das
Ganze ist als Wirklichkeit für jedes isolierte Subjekt und nach seiner Aufhebung unmittelbar in jedem
vorhanden und nicht aus einem bzw. aus jedem Dasein entstanden und aus diesem lebendig.
Es gibt eine Vielheit der Ganzheiten der nebeneinander stehenden Subjekte in Form einer toten
Summe, weil kein Ganzes als Offenes aller, als Offenes am Dasein selbst, als dessen Existenzial wel-
tet. Ein Offenes aller kann nur ein Offenes am Dasein64 für alle sein und nicht ein unmittelbares Offe-
nes für jede vermittelte und aufgehobene Ichheit. Das Ganze soll seinen Anfang und sein Ende in ei-
nem und demselben Da haben, bzw. in jedem Dasein einer Summe. Es gibt ein Ganzes aller, wenn
Einer - und Jeder - das Ganze mit seinem die Wahrheit erleidenden Entzug ruhen und sich darstellen
läßt, sonst wird das Ganze in jedem logischen oder dialektisch aufgehobenen Ich unterbrochen und
aufgrund der logischen Form der Welt als Summe der die logische Form repräsentierenden Weltpunk-
te nivelliert. Wir haben ein Ganzes, wenn Einer - und Jeder - das welterschließende Wahre und Offene
für alle in seinem Dasein erschließt und darstellen läßt. Nur die Wahrheit als Übernahme des An-
spruchs, als Ruhen der Frage und Wi(e)derkehren im Ursprung der Darstellung der Wahrheit kann das
Wahre und Ganze65 sein. So ist das Da der Ort der welterschließenden Darstellung der Wahrheit.
Die Glieder einer Gemeinschaft sollen zuvor einen Anspruch auf Wahrheit an ein Dasein ge-
stellt haben, in dem dann ihre Frage ruht und in den Gliedern der Gemeinschaft wi(e)derkehrt. Über-
dies läßt dieser Anspruch das Gefragte im Befragten und seinem Erleiden des Fehls entspringen. Die-
ses angeprochene Dasein, wie z.B. das Kunstwerk, läßt den Anspruch der anderen auf Wahrheit im
fehlenden Ursprung des Ansprechenden wi(e)derkehren und die Wahrheit aus dem Fehl und dem
Nichts wachsen. Man könnte sagen, daß hier die sokratische Methode im Spiel ist. Die Frage wird
nicht methodisch für eine bereitliegende Antwort und Wahrheit vermittelt, und das angesprochene
Dasein als Logos entwirft nicht die Wahrheit auf ein Drittes, sondern es übernimmt die Frage, entzieht
63 Das Ich-Du-Verhältnis und die aus dieser Tradition an Heidegger geübte Kritik sollten aus diesem Aspekt revidiert bzw. aktualisiert werden. Ein Beispiel solcher Kritik findet sich bei P. Ch. Smith, Das Sein des Du, a.a.O. 64 Daß Heideggers Angebot als eine Subjektphilosophie mißverstanden wurde, ist ein altes Diskussions-thema quasi der "linken" Philosophie und Theologie. Siehe dazu: G. Figal, Martin Heidegger, Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a. M. 1988, und H. Mörchen, Adorno und Heidegger: Untersuchung e. philos. Kommunikati-onsverweigerung, Stuttgart 1981. 65 Aus dieser nicht nur als Metakritik zu verstehenden, sondern vielmehr als jenseits von transzendentallogischer Dialektik stehenden Leistung Heideggers sollte man besonders seine Position gegenüber der Ich-Du-Existenzphilosophie unter die Lupe nehmen. Zur Kritik Levinas´ an Heidegger siehe: O. Pöggeler, Hegels Idee
75
sich und erleidet den Fehl der Wahrheit des Ansprechenden. Es ist schon in sich transzendent und in
seinem Tod (Sein zum Tode, z.B. der Tod von Sokrates) erleidet es den fehlenden Ursprung der ange-
sprochenen Wahrheit. Im Dasein als Logos schlägt die Frage aus dem Fehl in ihren eigentlichen und
noch abwesenden Ursprung um, sie kehrt im Ansprechenden wieder und veranlasst die Herausbildung
eines gefragten Ursprungs im Fehl und im Nichts. Das sokratische Dasein ist der Ort, in dem sich der
Anspruch der Wahrheit versammelt. In diesem Anspruch als innerer Entzweiung, Entzug und Erleiden
der fehlenden Wahrheit wiederum kehrt die Frage im eigentlichen und fehlenden Ursprung der Wahr-
heit wieder (zurück). Dieser Ursprung ist die Erfüllung des am erleidenden und die Frage umschla-
genden sokratischen Dasein ansetzenden Anspruchs und nicht aus einer bereitliegenden, aufhebenden
und sich bewährenden Idee heraus. Das sokratische Dasein, wie das Kunstwerk, entwirft nicht die
Wahrheit, sondern es versammelt sie und läßt ihre Frage und ihren Ursprung in jedem Ansprechenden
Wi(e)derkehren und daher entspringen. Das Stocken, Versammeln und Wi(e)derkehren der Frage be-
deutet kein methodisches Vermitteln des Daseins. Im Dasein versammelt sich der Anspruch, in diesem
wird der Fehl erleidet, in diesem kehrt die Frage in einem verlangten und abwesenden Ursprung des
Ansprechenden, welches sich im Dasein radikal in Frage stellt, wieder, und im Dasein bleibt die Frage
lebendig. Der Ursprung ist keineswegs höherer Ursprung im dialektischen Sinne, sondern Ursprung
als Fehl und Erleiden, welcher nur im erleidenden Dasein motiviert und konstituiert wird. In diesem
Dasein als Logos, Entzweiung, Entzug, Fehl und Wi(e)derkehr im fehlenden Ursprung des Anspre-
chenden entspringt aus dem Fehl und dem Nichts die Wahrheit als sein Sein (sc. des Ansprechenden):
die Wahrheit ist Erfüllung und welterschließende Darstellung.
Diese Wahrheit des Daseins, die ein Ganzes bilden läßt, verfügt über zwei Charaktere:
1. Das angesprochene Dasein entwirft nicht - eine schon wahre Idee nachvollziehend - die Wahrheit
auf ein Drittes, sondern mit seiner Verantwortung übernimmt es den Anspruch des Anderen auf
Wahrheit - bzw. einen aufgeworfenen Anspruch - und als Logos schlägt es in eine radikale Frage
um. Es erleidet in seinem Sein zum Tode und aus diesem heraus den Fehl der Wahrheit.
2. Im erleidenden Dasein kehrt die radikale Frage nach der Wahrheit in den Ansprechenden wieder,
dessen Wahrheit aus dieser konstituierenden Frage und aus diesem den Fehl der Wahrheit erlei-
denden Ursprung erfüllt und nicht durch eine schon wahre Idee und Wahrheit beantwortet wird.
8. 3. Die Wahrheit einer wissenschaftlichen Gemeinschaft hat zwei Vorussetzungen: 1. Den welt-enden Anspruch des Seins. 2. Die direkte Erschloßenheit der Wahrheit am Sein des Daseins. Diese Wahrheit ist selbst Wahrheit und das Spiel von Wahrheit und nicht auf eine überhistori-sche Wahrheit gerichtet
a.a.O., S. 360. In diesem Zusammenhang liege auch die Auseinandersetzung zwischen Gadamer und Habermas (J. Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmätadt 1991, S. 166 ff.)
76
Heidegger wollte ein philosophisches Verhalten begründen, welches nicht durch ein allgemei-
nes Kriterium als logische Verbindlichkeit der Welt oder als „wir“ gültig ist, und welches der Wissen-
de durch seine Kenntnis vorthematisiert hat und als verbindlich erachtet. Deshalb spricht er von einem
vortheoretischen philosophischen bzw. phänomenologischen Verhalten.
„Das, was die Wissenschaft ausdrücken soll, dem muß die als einem noch nicht wissenschaft-
lich Ausgedrückten in irgendeiner Weise begegnen können. (Bedeutsam für die Ursprungswissen-
schaft). (...) Es muß ihr in nicht wissenschaftlicher Weise im faktischen Leben begegnen“ (Phä. 19/20,
S. 66). Es geht um das vortheoretische Begegnen und Erfahren im faktischen Leben. Aus diesem soll
die Wissenschaft wachsen. Das Vortheoretische meint nicht bloß ein reines Gebiet für die Theorie,
sondern das Weltende, welches in sich ruhend die Welt weltet und das Sein des Daseins in seinem
Anspruch nimmt. Das Leben versteht sich nicht in reflexiver, bewußter und theoretisierter Weise, son-
dern bekundet sich von sich aus in wachsender Beleuchtung und Selbstdarstellung aus seinem Sich-
fragen und seinem Fehl an gefragter Wahrheit. Es geht nicht um Generalisierung unter einer schon
geltenden Gattung, sondern um Formalisierung.66 Die faktische Lebenserfahrung geht in ihrer Bedeut-
samkeit auf. Hier geht es also nicht um Sachverhalte, sondern um Bedeutsamkeiten. Das Bedeutsa-
me67 bedeutet sich selbst (a.a.O., S. 205 ff.).
Die Wahrheit ist kein Kontemplationismus, sondern existente Welterschlossenheit des Daseins.
Das Weitere, was etwa eine „scientific community“ betreffen mag, entsteht auf der Grundlage der
existenziell erschlossenen Wahrheit des Daseins. Die Wahrheit ist nicht Sache eines logischen Ato-
mismus. Ebensowenig ist sie Sache eines solipsistischen Daseins in seiner Eigentlichkeit. Die Wahr-
heit einer wissenschaftlichen Gemeinschaft wächst am Ort der daseienden Versammlung und der
Erschloßenheit der Wahrheit aus ihrem angesprochenen und fehlenden Ursprung. Jede „scientific
community“ ist nicht auf eine optische und alinguistische Wahrheit angewiesen und auf eine unge-
schichtliche Idee von Wahrheit gerichtet, sondern sie ist selbst das geschichtliche Beispiel und die
weltliche Erschlossenheit der Wahrheit. Sie ist selbst das geschichtliche Spiel und nicht das theoreti-
sche Subjekt, welches seine historischen „Versuche“ und Beispiele zurücknehmen oder korrigieren
könnte. Das Dasein ist schon im Spiel des Seins, für das es kein Beispiel gibt. Die Wahrheit ist ein
linguistisches (Bei)spiel, eine „Spur“, ein Anhieb auf der Existenz und Welterschlossenheit des Da-
seins und nicht ein theoretisches Übertragen. Die Wahrheit und die Vernunft sind immer geschicht-
lich, inhaltlich und im Anspruch auf das Neue innerlich dialektisch. In diesem Sinne ist keine künstli-
che Sprache und keine Metasprache möglich oder sogar notwendig. Jede Sprache steht im Anspruch
einer fehlenden Wahrheit und ist notwendig der Ort ihrer radikalen Frage. Wenn sie nicht eine radikale
66 Über Formalisierung und Generalisierung im Bezug Heideggers zu Husserl siehe den Beitrag O. Pöggelers "Heideggers logische Untersuchungen" in: Innen- und Außenansichten a.a.O., S. 82 ff. 67 In diesen Kontext könnte man auch die Paradigmen Th. Kuhns einsetzen (K. O. Apel, Sinnkonstitution und Geltungsrechtefertigung, in: a.a.O. Innen- und Außenansichten, S. 140 f.).
77
Frage versammelt und nicht eine solche ist, kann sie auch zu keiner erschließenden Synthesis beitra-
gen.
Jeder Fortschritt ist das geschichtliche Beispiel der Wahrheit, welche ein solches voraussetzt,
und ereignet sich immanent dialektisch im inhaltlichen Logos und nicht im reinen Ich. Die Vernunft
wächst in und durch Spielparadigmen, was nicht zuletzt durch Denker wie z.B. Aristoteles, Galileo,
Newton, Einstein vorexerziert worden ist. Der Gang der Wahrheit ist nicht eine „optische“ Kritik von
außen, die auf das Erreichen einer höheren entwerfenden Position gerichtet ist, sondern das Erleiden
des Fehls der Wahrheit am Ort ihrer erschließenden Ermöglichung und Darstellung. Das inhaltliche
Dasein ist seine Existenz und seine entschiedene Möglichkeit aus dem Tod, es ist eigentlich synthe-
tisch aus der inneren und unscheinbaren Fuge des Logos: dem Fehl und dem Nichts, während das Ich
vorstellend, analytisch und regressiv verbindend ist.68
Das Ideal der Wahrheit ist keine regulative Idee oder Hoffnung, sondern eine existente, angebo-
tene Erschlossenheit.69 Das linguistische Spiel des Seins wird nicht in die Höhe interpretiert und auf
eine optische, regulative und nicht darstellbare Idee von Wahrheit gerichtet, sondern das Dasein hat im
Spiel des Seins an ihm selbst die Möglichkeit der Wahrheit und der Irre. Das linguistische Spiel des
Seins ist kein verbindendes Ich oder Symbol, sondern das Haus des Seins, das Stiften und Nennen des
Seins, welches der blinde Homer dichtet. Dieser konnte sich nicht optisch-kontemplativ auf eine regu-
lative Idee des Seins gerichtet haben, sondern erschloß das Sein in dem Wort. Das geschichtliche Bei-
spiel der Wahrheit in einem Da versucht die Wirklichkeit nicht phänomenologisch oder dialektisch,
nicht spekulativ oder negativ auf den Begriff zu bringen, sondern als Fehl der Wahrheit am Dasein
ermöglicht es innerhalb seiner selbst das gefragte Neue, das Fremde und das Entgegengesetzte. Ein
Text wird nicht aus einem Ich-verstehe anders verstanden, welches diesen beobachtet, sondern er
selbst70 (der Text als Vorurteil im Autor oder im Leser) steht im Anspruch des Neuen und „ruft“ einen
neuen Text herbei, welcher einen Fehl der Wahrheit synthetisch „erfüllt“ und nicht ein neues verste-
hendes Meinen des Gleichen ist. Die Logik Hegels z.B. lebt in der Wahrheit seiner Phänomenologie
68 Das Dasein ist nicht sprachlich im Sinne, daß es den Gegenstand in Aussagesätzen adäquat ausdrückt und in kleinsten intersubjektiven Verständigungseinheiten anbietet (siehe z.B. E. Tugendhat über den Unterschied zwi-schen Phänomenologie und Sprachphilosophie: Phänomenologie und Sprachanalyse, in: a.a.O., Hermeneutik und Phänomenologie Bd. II, S. 23). Das Dasein ist aber sprachlich der direkte Anspruch der Wahrheit des Seins, und als solcher ist er der Logos der Phänomenologie. 69 K. O. Apel ist, Kant und Heidegger ablehnend, für eine regulative Idee einer Interpretationsgemeinschaft (a.a.O., Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung, S. 165 ff) in einer sprachpragmatischen Transzendentalphi-losophie (a.a.O., S. 169). Ist das Transzendentale aber die Idee einer solchen Wahrheit oder das Dasein selbst? Erweist sich das Dasein selbst als welterschließendes Transzendentales, also als In-der-Wahrheit-seiendes? 70 J. Habermas ist für eine natürliche Umgangssprache und gegen eine künstliche Metasprache (Der Universali-tätsanspruch der Hermeneutik, S. 77, 82 ff., 89). Die Sprache ist als Lebenspraxis integriert. Sie ist reflexiv und sich ihrer Grenzen bewußt. Sie ist als Umgangssprache metakommunikativ und kann das Nicht-identische zum Ausdruck bringen. So intendiert er statt eines Konsensus aus der Überlieferung eine dialektische, quasi faktische Verständingung. Gadamer und Habermas sind, obwohl verschieden, beide dialektisch, während Heidegger die Sprache als inneren Unterschied und Ermöglichung, Rufen des Anderen und Ungedachten im Eigenen darstellt (z.B. deutlich beim "Unterwegs zur Sprache, Bd 12, 1950-59). Auch K.-O. Apel steht für eine Umgangssprache als Thema einer empirischen Sozialwissenschaft. Darüber: K.-O. Apel, Szientismus oder transzendentale Her-meneutik?. In: a.a.O., Hermeneutik und Dialektik, S. 105-144.
78
und umgekehrt. Das ist nicht ein „Anders Verstehen“ Hegels über sich selbst, sondern wie Heidegger
sagt: das fehlende „Ungedachte des Gedachten“. Das Gedachte (Logos) ist kein „Ich-denke“, sondern
als Gedachtes kann es in seinem auf Wahrheit ansprechbaren Sein den Anspruch auf Wahrheit er-
leiden und diese fehlende und ungedachte Wahrheit aus einer radikalen und erleidenden Frage ermög-
lichen. Das inhaltliche Dasein wie auch das Gedachte weiß, dass es aus seinem Tode zu sein hat und
ist. Es ist sein aus dem Tode entschiedenes Sein und kein verbindendes Ich. Deswegen ist es kein Ich-
verbinde -verstehe, -meine, sondern es kann sagen, dass es „ist“!
8. 4. Ist Ende und Wesen der Wahrheit ihr Vollzug von einem bzw. von jedem Subjekt? Warum kommt der Philosoph in die Höhle zurück?
Das Dasein lebt ohne ein theoretisches Kriterium. Bei Hegel liegt das Selbstbewußtsein schon
vor dem Bewußtsein der Dinge. Auch bei Kant wird die abendländische Tradition des Betreibens der
Ontologie als Erkenntistheorie und Logik deutlich, in der es immer ein reines Kriterium der Wahrheit
geben soll. Ziel ist die Erkenntnis. Der Gang der Sache ist ein logisches Kriterium. Dieses von selbst
erforscht die Wirklichkeit, die Objektivität, die Substanz des Subjekts. Die Wahrheit ist die Bewäh-
rung und Verwirklichung einer schon existierenden Idee von Wahrheit, die eventuell noch verborgen
bleibt.
Heideggers Phänomenologie, mit der er den Weg zu den Sachen selbst bestreitet, ist hingegen
durch das Fehlen eines Kriteriums gekennzeichnet. Was ist aber der Gang und die Motivation der Sa-
che zur bzw. für die Wahrheit? Ist die Stimmung der Wahrheit die Methode (Kriterium) oder doch der
Gegenstand? In diesem Sinne könnte vielleicht diese Stimmung nicht ein Kriterium oder eine Idee,
sondern die Gesellschaft, das Prüfen und Bewähren der Wahrheit, nicht mehr im transzendentallogi-
schen oder ontologischen, sondern im faktischen und kommunikativen Bereich. Aber auch in diesem
Bereich sollte man die Frage nach der Motivation der Wahrheit stellen.
Auch wenn sich der Philosoph von der Höhle entfernt, kommt er wieder in diese zurück. Wa-
rum aber? Ist die Wahrheit als Erkenntnis und Begriff der Wirklichkeit noch nicht zur Ruhe gekom-
men? Braucht sie deswegen eine weitere Ebene? Gehört diese wesentlich zur Wahrheit oder ist sie
Sache eines verschiedenartigen Prozesses? Ist die Wahrheit als Erkenntnis vita contemplativa, unvoll-
ständig und nicht radikal? Sucht Platon die ontologische Substanz der Wahrheit in der Gesellschaft,
wie auch Heidegger auf der anderen Seite sie als Offenes, als Bedingung jeder Übereinstimung und
Erkenntnis aufzustöbern bestrebt ist? Oder ist die letzte Motivation der Wahrheit das Erleiden eines
ernsten Fehls?
Heidegger beginnt mit den Sachen selbst, ohne ein theoretisches und überall gültiges Kriterium
zugrundegelegt zu haben. Die Sachen sind aber nicht intentional gegeben, sondern das Dasein ist den
Sachen ausgesetzt und befindet sich schon und nur in der Transzendenz ihrer angesprochenen Wahr-
heit, die sein eigenes (sc. des Daseins) Existenzial darstellt. Gang der Sache ist nicht ein Kriterium, die
79
Methode oder die Reinheit, und auch nicht die unmittelbare phänomenologische Gegebenheit der Sa-
che, sondern die weltende Wahrheit der Sache, ihr direkter Anspruch und ihre vorontologische Frage.
Dieser fragende Anspruch erlöst den Fehl von Wahrheit. Die Wahrheit ist keine erkenntnistheoretische
Vollziehung und Aufhebung. Ist Heidegger aber ein Philosoph, der in die Höhle zurückkommt? Ist
dieses Zurückkommen wesentliches Moment seiner Philosophie, und wenn ja, auf welche Art und
Weise? Diese Fragen bilden tragende Ansätze der vorliegenden Arbeit.
8. 5. Die ruhende Wahrheit ist nicht vollzogene Wahrheit einer Idee, sondern erlittene Wahrheit des Leibes
Es gibt zwei Wege des Philosophierens: vom Körper zum Geist und vom Geist zum Körper. Der
Weg des Geistes als eines geltenden und klaren Kriteriums ist erhellend, aber auch zwingend und eini-
gend aus einer vorhandenen und äußeren Einheit, die alles vor sich repräsentieren, vorstellen und
bestimmen kann. Der Geist arbeitet mit Gattungsbegriffen. Der Leib bietet sich dagegen für die feh-
lende Wahrheit an und ist nicht Begreifen der Wirklichkeit aus einer Idee heraus. Der Weg des Leibes
arbeitet an ihm selbst mit inneren Negationen, wie dem Logos, dem Dasein als Existenz aus dem Tode
und der Als-Aussage. Die Wahrheit am Da71 bedeutet das Verstehen des lebenden Leibes an ihm
selbst. Es gibt kein fremdes Kriterium, keinen fremden Ort der Rettung. Nichts kommt an der Sterb-
lichkeit des Leibes vorbei. Das Rettende, die Unsterblichkeit und die Wahrheit werden nicht von oben
her, in einer höheren Ebene erfunden, sondern entspringen aus und an ihrem Verwickeln und Gesche-
hen am sterblichen Da: wie die Arbeit des Negativen bei Hegel, welches aber dann durch seine Nega-
tion in eine höhere, äußere Position gelangt.
Die Wahrheit entsteht nicht als Repräsentation und Verwirklichung einer Idee, sondern aus dem
Verwickeln und dem direkten Angesprochensein in einem Da. Sie ist als Anspruch und Frage jedem
Sein, jeder Idee und jedem Subjekt vorgängig und sie ist ein Fehl am Ort ihres gefragten vorontologis-
hen und sie darstellenden Ursprungs. Die Frage der Wahrheit bleibt stets „unbeantwortet“, solange sie
auf einem höheren Gang der Wahrheit vollzogen wird und nicht am Ort ihres Anspruchs und ihres
Fehls. Die Wahrheit ist immer eine jeder Idee und sich wissender Wahrheit vorgängige Frage und ein
Fehl im Da-sein.
71 So versucht O. Pöggeler zu einer Wahrheit jenseits der Alternative zwischen Descartes und Gadamer vorzu-dringen (Dialektik und Topik. In: a.a.O., Hermeneutik und Dialektik Bd. II, 273 ff.). Man sollte das Leben und die Sprache hintergehen und sprachkritisch anfangen, ohne cartesischen Ansatz und ohne die Vermittlung einer Autorität und Tradition (S. 281). So ergibt sich die Alternative gegen eine spekulative Philosophie, Dialektik und Hermeneutik durch eine Rhetorik oder Topik (S. 282). Solche Rhetorik und Topik ist ein nicht demonstratives und nicht zwingendes Problemdenken. Heidegger biete jedoch eine transzendental-eschatologische Sprachkritik, welche nicht nur eine Problemübung ist (S. 286). In einer solchen topologischen Sprachkritik sind die Topoi nicht unter einer Geschichte übergeschichtet (S. 288). So werden die Begriffe der Interpretation aus den interpre-tierten Quellen entnommen (S. 289). Daher ist die Topologie des Seins bei Heidegger nicht nur ein Ort des Sinn- und Wahrheits-Geschehens, sondern auch die utopische Ortssuche eines universalen, faktischen Sinn- und Sprach-Geschehens (S. 299).
80
Es soll eine eschatologische Be-wahrung aller eintreten. Bis dahin gibt es die wahre Welt und
die unwahre. Eine eschatologische Vorform dieser Wahrheit aller ist die Kunst, in welcher die Materie
Wahrheit entstehen läßt. Nichts Vorhandenes und keine Idee kann die Wahrheit sein oder anbieten. Sie
kann nicht adäquat vollzogen werden. Der „Gesamtwert“ der Wahrheit am Ende entspricht nicht dem
zu Anfang. Das Da-sein läßt sich gebrauchen, entzweien. Aus seiner Ohnmächtigkeit resultiert seine
Macht, weil es nichts Adäquates anbietet, sondern durch seinen sich entzweienden Entzug in den Ur-
sprung der fehlenden Wahrheit eindringt. Der Leib sieht nicht wie der Geist auf eine hyperhistorische,
gleichwertige Idee des Guten und der Wahrheit, sondern er bietet sich selbst mit seinem Er-leiden des
Gefragten und Fehlenden für das Ankommen und Darstellen des Heiligen an.
9. Das Angebot Heideggers bis zu „Sein und Zeit“
Wie läßt sich Heideggers philosophisches Werk bis zur Niederschrift von „Sein und Zeit“ ei-
gentlich einordnen? Ist es etwa eine Erkenntnistheorie, welche Husserls Sorge um sichere Erkenntnis
übersteigt und aus einem tieferen Fundament, dem Sein des Daseins, auf dieselbe Erkenntnis zielt, auf
die „Sachen selbst“ als Motiv der Phänomenologie? Ist also das Ziel die Erkenntis der Wirklichkeit,
wie sie sich zeigt? Ist Heideggers Phänomenologie eine angebotene Methode für das Entdecken der
Wahrheit? Zielt er eher auf einen fundamentaleren Begriff von Wahrheit als originärer Unverborgen-
heit? Wenn Heidegger vom Sein spricht, meint er dann ein Übersteigen vom Seienden zum Sein
selbst? Ist seine Fundamentalontologie gar methodische Grundlegung für ein Begegnen vom Seien-
den?
Alle diese Fragen betreffen zweifellos Aspekte, unter denen man Heideggers Beitrag bis zu
„Sein und Zeit“ betrachten könnte - sie sind aber nicht hinreichend, um die Umwandlung der imma-
nenten und konstanten Voraussetzungen der Ontologie zu beschreiben, welche Heidegger initiiert. Das
Sein und seine Wahrheit ist kein Sich-zeigen oder Entworfen-werden, sondern direkter Anspruch und
Verwicklung am Dasein. Die Wahrheit kommt nicht als Idee zu ihrer Verwirklichung, sondern sie
wird dem fremden Da-sein ausgesetzt. Aus dieser Aussetzung soll eine gefragte, fehlende und dem
Sein vorgängige Wahrheit erwartet werden.
Über die bisherigen Erörterungen soll nun ein Resümee gezogen werden, auf dessen Basis die
weitere Herangehensweise vorgezeichnet werden soll: In allen seinen frühen Werken versucht Hei-
degger die Philosophie am Dasein als Existenz anzusetzen. Die Philosophie kann nicht als eine Theo-
rie über das Sein aufgefaßt werden, sondern als die Gesamtheit des Abspielens seiner Geschichte als
lebendiger Geist. In Analogie zu seiner Kritik an den Theorien des Urteils ist demzufolge die Heideg-
gersche Philosophie in den frühen Werken nicht als bloßer Gedankenvorgang und Buchstabieren der
Wirklichkeit aufzufassen, sondern als ideale Geltung, sinngebende Teleologie, lebendiger Geist (Frühe
81
Werke, „Lehre vom Urteil“ (1913), S. 172 und „Die Kategorien- und die Bedeutungslehre“ (1916), S.
406).
Das Sein ist in der Metaphysik absolute Position (Grundpr. der Phän., SS. 27, S. 52 f.) und kein
Dasein oder Prädikat (a.a.O., S. 43 ff.). Über das Sein wird nur ausgesagt; es tritt nicht als reales Prä-
dikat eines Anderen auf und erscheint selbst nur im modus accidentialis. So ist Gott als die Fülle des
Seins summum ens (a.a.O. S. 38) und actus purus, esse actu (Einf. in die phän. For., WS. 23/24, S.
189, 190, 193), dessen existentia nichts hinzufügt und nur seine Verwirklichung ist. Solches Sein ist
wie das negativ Absolute, das An Sich, eine überzeitliche Notwendigkeit und Geltung (Phän. der
Ansch. und des Ausdr. SS 20, S. 21), oder wie das Ich, das sich nicht vereinigen und setzen kann
(a.a.O., S. 124, 132 f.).
Demgegenüber fordert und initiiert Heidegger in seinem Frühwerk eine Bekundung und Dar-
stellung des Seins als des Geistes und Lebens. So ist das Sein in der Philosophie der lebendige Geist
und nicht Buchstabieren der Wirklichkeit im Urteil (a.a.O., Frühe Schriften, S. 172, 406). Das Sein ist
kein An Sich, sondern Darstellung, und das Leben verkörpert die Gestaltungen des Geistes (Phän. d.
Ansch. und des Ausdr., SS 20, S. 20, 98). Deswegen ist auch die Phänomenologie als eben dieser
Gang des Geistes Dialektik (a.a.O., S. 23, 28).
Das Sein hat so seinen Ursprung in einem daseienden Ursprung und nicht in seiner an sich be-
stehenden Notwendigkeit, Immanenz und Geltung. Das vom Sein direkt angesprochene Dasein weist
den fehlenden Ursprung der Darstellung des Seins aus einem Da und nicht aus dem Sein selbst aus.
Solcherart ist der Logos der Phänomenologie beschaffen. In diesem Logos, als Als-was-Struktur, wird
das Sein nicht entworfen oder höher in einem Dritten aufgehoben, sondern entspringt Wi(e)derkehrend
in einem fehlenden Ursprung im Da - und nicht in seinem verwirklichten Sein - aus dem inneren Fehl
und dem Nichts des Logos. Insofern arbeitet die Phänomenologie mit Negationen und nicht mit Gat-
tungsbegriffen (Phän. 19/20, S. 240, 247). Die Phänomenologie als Dialektik vermittelt nicht metho-
disch dieses Dasein und seinen Fehl für die Aufhebung in ein höheres Eidos, sondern dieses Dasein ist
der Gang und der Ursprung der Darstellung des Seins. Ähnlich wie Platon in seiner Dialektik fragt
daher auch Heidegger nach den Ursprüngen dieser Dialektik (Zur Best. der Philos., SS 19, S. 20). So
ist der Ausdruck in der Phänomenologie nicht Adäquation, sondern Ursprung der Darstellung und
Urmotivation wie der Eros bei Platon (Phän. 19/20, S. 263); kein Regressus, sondern Immanenz des
Sinnes (Die Kategorienlehre..., Frühe Schriften, 1916, S. 273).
Der Anfang der absoluten Philosophie als Darstellung des Absoluten sollte eigentlich das Endli-
che und nicht das Unendliche sein (Phän. d. Ansch. und d. Ausdr., SS. 20, S. 190). So ist das Sein kein
esse actu, keine vorgegebene Notwendigkeit und Geltung, kein negativ und an sich Absolutes, sondern
Darstellung, Konstituierung und Existenz aus seinem vorgängigen und fehlenden gefragten Sinn als
seinem Ursprung, aus dem Fehl des Da-seins und nicht aus seiner verwirklichten Immanenz. Das Sein
ist Darstellung, Erfüllung aus einem im entgegengeworfenen Da liegenden Ursprung. In diesem Sinne
entstammt es wie das Heilige aus einem Urelement der Erfüllung (Phän. d. Rel., 1918-21, S. 314, 330
82
ff.), aus dem Leben als dem Heilen (S. 69), in welchem Gott kein summum ens ist, sondern sich im
Gebet konstituiert (S. 307 und 114, 116).
Das Sein existiert so und ist reales Prädikat in der Als-Aussage. Es ergibt sich eine Umkehrung
des Urteils und des Satzes. Wenn das Sein reales Prädikat ist, ist es überhaupt. Das Sein als reales
Prädikat in der Als-Struktur ist allerdings nunmehr modus essentialis und nicht modus accidentialis.
Das Sein ist dargestellt, aus dem Nichts und Fehl be-wahrt und qualifiziert und nicht verwirklicht; es
ist als Existenz aus dem Nichts entstanden und Erfüllung des gerfragten Fehls und des an diesem Fehl
ansetzenden Ursprungs. Das Sein wird quasi geboren und tritt ins Anwesen aus einer Urkonstitution.
Aus seiner Existenz heraus ist es auch Substanz. Daher können wir nicht sagen, Gott ist die Liebe,
oder Gott ist das Heilige - weil er eben Gott und summum ens ist -, sondern das Heilige ist Gott und
die Liebe ist Gott, - dies allerdings nicht im Sinne L. Feuerbachs.
Das Sein ist so eigentlich und ist seine Wahrheit, seine welterschließende Darstellung und nicht als
Prädikation einer Substanz innerhalb einer weltlichen Form.
Auf diese Art und Weise fragt Heidegger in seinem Frühwerk nach dem Sein und dem Sinn von
Sein. Das Dasein ist direkt und ruhend vom Sein angesprochen und ermöglicht in seinem und durch
sein Erleiden des Fehls der Wahrheit die Konstituierung des inneren und fehlenden Ursprungs des
Seins, welcher seinen Ansatz im Nichts und im Fehl nunmehr als Existenz bekommt.
Vor diesem Hintergrund kann man denn auch den weiteren Gang der vorliegenden Arbeit er-
schließen. Er läßt sich stichwortartig wie folgt vorwegnehmen: Die Behandlung des Bezugs zwischen
der verlangten Wahrheit des Seins und dem Dasein kann nunmehr im Kontext des Verhältnisses zwi-
schen Sein und Seindem erfolgen. Derselben Thematik kann sich denn auch die Erörterung der Genea-
logie der Metaphysik als Geschichte der Wahrheit des Seins anschließen.
III. Das Sein „ist“ das Seiende
1. Das Sein kann bei Heidegger keine fundamental-ontologische Bedingung des Seienden
sein
In der historisch-systematischen Destruktion der Geschichte der Metaphysik, wie sie in Teil IV
präsentiert wird, erweist sich die Unbedingtheit des Ich-Subjekts als deren Vollendung. Die Bedin-
gungen des Seienden sind keine an sich bestehenden Ideale, sondern sie werden vom Ich gesetzt. Das
Seiende wird in der Ontologie durch die Bedingung des Seins vermittelt, vorgestellt und gehabt. Das
Sein ist die gründende, sichernde und so vom Seienden abgesonderte Idee und Bedingung des Seien-
den. Die Metaphysik zielt als Ontologie auf das Seiende durch die Hinterwelt der Idee. So gelangt
denn auch Gott in die Onto-theo-logik - in „Identität und Differenz“ wird dies eingehend behandelt.
83
Das Sein wurde vom Fragwürdigen zum erklärenden Grund, zur Hinterwelt und Vermittlung für
das Seiende. Das Sein soll jedoch nach vorne kommen, das Fragwürdige des Denkens sein und anstel-
le des Seienden der Onto-logie als das interessante Fragwürdige wesen und aufgehen. Allerdings ist
dann der Bezug ein anderer als der Bezug des Menschen zum Seienden, denn das Sein ist nicht ein
anderes Seiendes, welches die Stelle eines alten neu besetzt. Die Stelle und der Bezug sind anders. So
läßt sich eine Erörterung des Seins als logische oder ontologische Bedingung des Habens vom Seien-
den bei Heidegger nicht bewerkstelligen.
Das Sein der Metaphysik ist die bedingende Idee des Seienden für das menschliche Subjekt.
„Platon sagt daher, das Sein als die Anweisung ins Unverborgene ist idea, das Sichtsein; idein, sehen,
fid-videre-visio. Weil das Sein Anwesung des Beständigen ins Unverborgene ist, kann Platon das
Sein, die ousia (Seiendheit) als idea auslegen“ (Der europäische Nihilismus, SS 40, S. 293). „Das Sein
jedoch liegt gemäß seiner Aprioriät über das Seiende hinaus“ (a.a.O., S. 296). Das Sein ist die apriori-
sche Voraussetzung als Bedingung, Kriterium und Maß des Seienden für das Subjekt. Sein und Seien-
des sind verschieden im Sinne einer vorhandenen und ontischen Differenz zwischen differenten
Vorhandenheiten. „(...), daß sie (sc. die Metaphysik) diese Unterscheidung als solche nicht selbst noch
befragt und begründet, vielmehr in eine zunehmende Selbstverständlichkeit aufgehen läßt, um sie
schließlich überhaupt zu vergessen“ (a.a.O., S. 333).
Vielleicht bekommt bei Aristoteles und im Neuplatonismus dieses Schema zusätzlich zur logi-
schen auch eine „existente“ Beweglichkeit zwischen Sein und Seiendem, aber der Charakter ist schon
vorgeprägt. „Durch Platons Bestimmung des Wesens der idea selbst durch das agathon wird das Sein
und seine Apriorität auslegbar als das Ermöglichende, als Bedingung der Möglichkeit, (...)“ (a.a.O., S.
303). Das Sein verwandelt sich so zu einem Gesichtspunkt des Subjekts in Hinblick auf das Seiende
und den Perspektivismus des Subjekts. Der Gesichtspunkt ist nach der Nietzscheschen Diagnose der
Wert im Wertcharakter der Metaphysik: „(...), ein Augenpunkt für ein Sehen, und zwar ein Sehen, das
es abgesehen hat auf etwas“ (a.a.O., S. 109).
Ziel des Sehens ist nicht das Sein als Bedingung und Realität des Realen, sondern das für das
Subjekt perspektivistisch zu erfassende Seiende. So wird langsam und dialektisch das Sein als Bedin-
gung im Subjekt aufgehoben. Wenn auch das Sein als das logische und ontologische Prius in einer
Rangordnung gegenüber dem Seienden steht, ist es in einer Ordnung verhaftet und bedingt, und ist
daher nicht das fragwürdige Ende des Verhaltens des Daseins. So gesehen ist es fraglich, ob das Sein
bei Heidegger fundamentalontologische Voraussetzung des Begegnes des Seienden sein kann.
Zusammenfassend läßt sich sagen:
1. Das Sein war das Prius, das Vorherige, und die Differenz eine ontische, vorhandene und weiter
unbefragte Ordnung. Das ontologische Prius des Seins war im Begegnen und im Interesse des
Menschen das nach dem Seienden im kategorialen Sinne Spätere. Das ontologisch vorhandene
Prius war die Gründung des kategorial vorhandenen Ersten, des Seienden. Das Sein soll ontolo-
gisch und kategorial als Gefragtes das Erste sein. Das Sein ist daher das Fragwürdige. Die Diffe-
84
renz kann keine ontische und vorhandene sein, sie nimmt einen Geschehenscharakter und einen
„existenzialen“ Sinn für das Dasein an.
2. Der Mensch war der Beobachter und Verwalter dieser ontischen, vorhandenen Differenz. Der
Mensch soll im Grund und im „Zwischen“ der Differenz stehen, welche nicht mehr als vorhandene
und statische den Menschen in ihrem Geschehen mitnimmt. Das Sein soll zwar einen Geschehens-
charakter im „Ort“ des Seienden, im Ort des Kategorialen und Ersten, im Gang der Geschichte und
des Interesses aufweisen, aber es ist nicht ein Sich-zeigen der Idee als Zur-Wirklichkeit-kommen
der Idee, nicht eine Verwirklichung im actus purus, sondern das Gefragte als Kategoriales. Die
Differenz zwischen Sein und Seiendem stellt nicht das Sein als ein fundamentalontologisches Pri-
us vor, sondern stellt es als das geschehende Gefragte in eine radikale Frage.
Das Sein ist so beim ganzen Heidegger nicht fundamentalontologische Bedingung des Seienden,
sondern erst das anzeigende Formale, der gefragte Seinssinn am Seienden, und später weiterhin das
das Seiende innerhalb seiner als Unter-schiedenes und zwar nicht einfach als apriorische logische und
ontologische Bedingung Ermöglichende.
2. Das Sein als gefragtes Kategoriales und nicht als Ontologem beim frühen Heidegger
2. 1. Das Sein ist kein Ontologem, sondern kategorialer Übergang des Seienden
Beim frühen Heidegger ist das Sein kein starres Ontologem für das Seiende, kein Grund oder
Gegenüber und auch keine Grenze. Das Sein ist für das Dasein nicht ein vorgestelltes Ontologem, wie
z.B. die Realität Voraussetzung jedes Realen ist. In der Vollendung des Nihilismus und der Metaphy-
sik war das Sein immer Ontologem als Idee, Grund, Gott, Ich, Selbstbewußtsein, Wille u.a.
Heidegger versucht sich in seinem frühen Werk an einer Bekundung des Seins; er fragt nach
dem Sinn von Sein, woher Sein zu verstehen ist. Heidegger fragt nicht einfach fundamental-
ontologisch oder logisch nach der Bedingung der Erfahrung vom Seienden, sondern stellt überhaupt
die Frage des Seins als des Sinnes vom Sein! Das Sein ist ihm zufolge denn auch kein Ontologem für
ein Seiendes oder ein Grund in seiner allerhöchsten und wertvollsten Welt, sondern es bekundet sich!
Und zwar bekundet sich das Sein am Seienden. Das Sein wird am Ort des Seienden gefragt! Das Sein
ist nicht der Sinn als letzte und ermöglichende Transzendenz des Seienden, sondern - provisorisch
gesagt - dessen wahrer Übergang in seine postulierte Eigentlichkeit wie z.B. die Ideen Platons, aller-
dings nicht als erkenntnistheoretische Bedingung oder fundamental-ontologische Voraussetzung für
das Seiende.
Ist also das Sein ein Kategoriales aus dem Seienden, ohne seine ontologische und logische Vor-
aussetzung zu sein? Was ist dann diese Wahrheit des Seins innerhalb der Frage am Seienden?
85
Schon in Teil II haben wir zu zeigen versucht, daß die Wahrheit das welterschließende Darstellen der
Wahrheit des Seins im Ort des direkten und ruhenden Anspruchs an das Dasein ist. Die Bekundung
des Seins als seine Wahrheit ist kein methodisches Mittel zum Erfassen der Wirklichkeit, sondern ein
vorlaufendes und ruhendes Ende, welches im Dasein, sich darstellend, geschieht und sich nicht einfach
innerweltlich zeigt.
2. 2. Das Sein ist für die Metaphysik Substanz und Wirklichkeit, welche in der Idee aufgehoben werden soll
Das Sein stellte sowohl für die materialistische als auch für die idealistische Metaphysik die
Wirklichkeit, die logische Form der Welt dar. Das Sein als Wirklichkeit sollte zur Idee, zur Selbstver-
wirklichung erhoben und aufgehoben werden. Der Mensch lebt innerhalb dieser Wirklichkeit, und er
soll sich als Subjekt der Substanz erweisen. Das Sein ist in dieser Traditionslinie Ontologem, und der
Mensch will dessen Subjekt sein. Das Sein ist die Wirklichkeit, die Substanz, das Ontologem für das
Subjekt. Das Sein erweist sich als Idee, als absoluter Begriff, als Selbstverwirklichung und Realität für
jedes Andere und für sich. Der „Gesamtwert“ der Welt sollte daher immer derselbe bleiben. Die Frage
nach dem Sein fragte immer nach einer adäquaten kosmischen Bekundung und Auslegung des Seins
und konnte niemals das Sein aus seinem Nichts, aus seinem Fehl und aus seiner ihm vorgängigen Fra-
ge welterschließend und nicht innerweltlich darstellen.
2. 3. Das Sein ist bei Heidegger kategorialer Übergang, verbindlich mit einem Seienden ver-knüpft und kein vorausgehender Sinn und bzw. Bedingung der Erfahrung
Wenn Heidegger nach dem Sinn vom Sein fragt, dann bedeutet es, daß das Sein Frage ist und
nicht, daß es bloß methodische innerweltliche Voraussetzung für das Begegnen vom Seienden ist. Das
ist sehr wichtig für das Verorten der Seinsfrage beim frühen Heidegger.
Das Sein ist Frage aus dem Seienden, die direkt an das Dasein gerichtet ist und nicht methodische
Voraussetzung für das Haben des Seienden. Das Dasein befindet sich im Zustand des In-der-Welt-
geworfen-seins, es ist transzendent und muß sich zur Wahrheit der Dinge ver-halten. So wird die
Seinsfrage als welterschließende Frage überhaupt gestellt. Die Welt und das In-der-Welt-sein ist eben-
sowenig ein In-der-Wirklichkeit-sein wie ein Stehen vor der Substanz einer Objektivität. Das Dasein
ist zwar geworfen, aber auch selbst Entwurf. In diesem Sinne ist die Seinsfrage nicht ein methodischer
Schritt, sondern eine direkte und am Dasein ruhende und aufhörende Frage und Auf-gabe, ein Auftrag
und direkter Anspruch.
„D. h. es bleibt als dastehend stehend (sc. etwas im Bedeutsamkeitszusammenhang des Daseins)
in einem bestimmten Horizont-Zusammenhang, der Aufgabe ist und als Aufgabe auf sich selbst ge-
stellt: ein Trümmerfeld wohl, gesehen von der Bedeutsamkeitsverdrängung her, ein reicher, mit noch
86
nicht übersehbaren Explikationsmöglichkeiten geladener Fruchtboden in der Tendenz auf abgehobe-
nen, übersehbaren, expliziten Eigenzusammenhang“ (Phän., WS 19/20, S. 126).
Das Dasein ist abgebrochen, aber ebenso Bruch, geworfen und Entwurf; seine Weltlichkeit kann
die Welt welten. Es ist mit der Welt geworfen, es geht mit ihr und ist nicht innerhalb dieser auf eine
Stelle geworfen. „Sich-ver-setzen in den betreffenden Erlebniszusammenhang, also Erlebnisse nicht
gleichsam vor dem Blick paradieren, vorbei-marschieren lassen, (...) sondern selbst mitgehen. (...)
Mitgehen! Gehen ist mehr als >Bewegen<, Ortverändern. (...) Im lebendigen Versetztsein in einen
Erfahrungszusammenhang, im lebendigen Mitgehen mit der ihn betreffenden Kenntnisnahme bringen
wir den spezifischen Erfahrungszusammenhang, sofern er bezüglich des zur Kenntnis genommenen
ganzheitsbildend ist, zum Erlöschen. (...) Nach dem Erlöschen des Ganzheitszusammenhangs sind sie
lediglich ins Leere geöffnet (abgesehen vom Hinweis in die Bedeutsamkeitskreise). Es sind damit alle
Hemmungen beseitigt für eine reine Eigenzusammenhangsbildung. (...) Die Kenntnisnahme hat jetzt
ihre eindeutige Bewegungsrichtung verloren, damit die mögliche Befolgung ihres einheitgebenden
Prinzips. Ihr Gehalt fällt auseinander in mehr oder minder zerstückelbare Wirklichkeitseinzelheiten
(Bedeutsamkeitsstücke), Fragmente. Jedes trägt in sich die Linien der möglichen Ergänzung seines
Bedeutsamkeitszusammenhangs“ (a.a.O., S. 124).
Dieser Text erinnert an den späteren Aufsatz Heideggers über das Fragment des Anaximander
und die Seynsgeschichte. Das Dasein ist nicht bloß vom Seienden abgebrochen, sondern es ist selbst
der Bruch beim Zusammentreffen seines lebendigen Mitgehens mit dem alten erlöschten Erfahrungs-
zusammenhang; die Transzendenz ist sein Existenzial und ist auch als Mitgehen die „Ergänzung“ ihres
Bruches, das aufbrechende Welten im Ganzen aus jedem Da, welches nicht einer kosmischen Ordnung
unterliegt. Die Wahrheit der Dinge ist Aufgabe des Daseins. Im Mitgehen des Daseins bricht und öff-
net seine Gebrochenheit und Endlichkeit alles ins Gefragte. Die Sachen nehmen das Dasein in ihren
Anspruch (a.a.O. 32), aber nur solange das Dasein selbst geworfen und mitgehender Abbruch zu die-
sen und ihrer Wahrheit ist. Der Bedeutsamkeitszusammenhang als Ganzes wird an den einzelnen Sei-
enden abgebrochen und geöffnet. Es gibt kein einheitgebendes Prinzip kosmischer und logischer Ord-
nung. An jedem Seienden wird Seinssinn entworfen. Dieser ist am Seienden verbindlich und kann
nicht in der Leere als vorausgesetzter Horizont und Sinn entstehen. Jedes Seiende ist das Auflösen und
postulierender Ort für das Bilden und Welten eines neuen Bedeutungszusammenhangs. Ein früherer
Erfahrungszusammenhang wird zugunsten des Seienden aufgelöst, und ein neuer bricht als Frage aus
diesem auf. Das Sein ist kein vorhandenes An-sich gegenüber dem Seienden, sondern es „entspringt“
aus dem Seienden,72 - dem Seienden kommt es regelrecht auf das Sein an. Das Sein als Bekundung
aus einem Seienden ist kein starres Ontologem und keine ontologische Grenze für dieses. Dieses Sein
72 Wie wir in den Fußnoten sehen werden, verstehen nahezu sämtliche Autoren den Sinn von Sein und das Sein-verständnis bis zur Kehre als eine apriorische transzendentale Synthesis oder transkategoriale Einheit und als ein universales phänomenologisches Konstituens, welche aber Heideggers Sinn des Seins und des Daseins nicht genügend erfassen. Nur H.-G. Gadamer vertritt ein Verständnis über das Sein des Daseins im Sinne der "späte-ren" seynsgeschichtlichen Philosophie.
87
ist keine Bekundung des Seienden in einem Worinnen, sondern ein Auflösen des Vorherigen und ein
Bilden des eigenen Bedeutsamkeitszusammenhangs, welcher aus sich den ganzen Zusammenhang
durchwaltet und weltet. Das Sein ist weder Ontologem noch das Bilden einer Gegenständlichkeit für
das Haben des Seienden, sondern das am Seienden Gefragte! Die Seinsfrage als Postulat Heideggers
ist nicht onto-logische und methodische Bedingung des Seienden in einer statischen Differenz, son-
dern das Sein wird am Seienden als ein Differentes gefragt und aus dieser Frage des Sinnes vom Sein
erst „konstituiert“.
2. 4. Das Sein entspringt aus dem Seiendem und ist so Differentes. Es ist kein Grund des Seien-den. Das Sein ist kein Ontologem, keine Bekundung, keine Grenze und keine Gegenständlichkeit
Das Sein ist Sein des Seienden als genitivus objektivus und subjektivus. In diesem Sinne ent-
springt, „ist“ das Sein aus diesem „da“-Seienden. Es gibt zwar eine Differenz, in welcher aber jedes in
sein Differentes mitgenommen ist. Das Sein ist nicht Wahrheit des Seienden als Erweiterung, Erhö-
hung, Zeigen seines verborgenen Wesens, sondern als das, zu dem das Seiende gehört und so sich von
sich selber (dem Seienden) unterscheidet. Wir können sagen, daß das Seiende sich von sich unter-
scheidet und zum Sein als zu einem von ihm postulierenden Gefragten gehört und nicht, daß das Sei-
ende und das Sein voneinander statisch different sind. Das Sein gehört zum Seienden und „entspringt“
aus diesem, ist aber mitnichten dessen metaphysische Begründung.
Nur so kann es dem Seienden um sein Sein gehen, welches Sein keine Gegenständlichkeit, kei-
ne Bekundung und keine Erhöhung des Wesens des Seienden ist, sondern sein Übergehen als ein Zu-
ihm-gehören. Das Sein ist weder Bekundung, Gegenständlichkeit und Grenze noch Erhöhung und
auch nicht Ontologem (Grund) des Seienden.73 Das Seiende geht in das Sein nicht als Erhöhung ins
Unendliche seines Wasgehalts über. Seine Differenz zum Sein ist nicht statisch, sondern dynamisch.
Das Sein ist immer dem Seienden verbindlich, mehr als Postulat und kategorialer Übergang vom Sei-
enden und weniger als ontologische oder logische Voraussetzung. Bis zu „Sein und Zeit“ gibt es keine
Wahrheit und kein Sein ohne Seiendes.
2. 5. Das Seiende und sein Absprung zum Sein. Das Seiende gehört zu seinem Differenten, und es wird von diesem gebraucht
73 Dagegen spricht J. B. Lotz von einer Teilhabe des Seienden am Sein (Vom Sein zum Heiligen: Metaphysi-sches Denken nach Heidegger, Frankfurt a.M., 1990). Das Sein sieht sich so als die Fülle der Substanz und der Essenz. Das Seiende hat am Sein teil (S. 118). So entsteht ein Wollen zum Überschreiten in die Fülle des Abso-luten (S. 120). Die Differenz ist der Grad der Teilnahme an der Fülle des Seins (S. 124 ff.). Es gibt drei Stufen: Das Anorganische, das Tierische und das Menschliche (S. 126). Die Fülle des Seins ist das sacrum, das Heilige, das Abgesonderte und Unantastbare (S. 121, 129 ff.). Daher hat der Mensch Teil an der Heiligkeit und Unver-letztheit Gottes und in diesem Sinne ist er auch Persönlichkeit (S. 129 ff.).
88
Wie wir gesehen haben, gibt es kein kosmisches einheitgebendes Prinzip. Es gibt kein Ontolo-
gem, sondern die öffnende Gebrochenheit von jedem Seiendem, die allerdings ein offenes und welter-
schließendes Gefragtes ist. Das Dasein hat diese Erschließung als Aufgabe. Es hat eine offene Aufga-
be ohne Gehalt! Das Dasein verhält sich zu der Wahrheit des Seienden und nicht zu einer vorbestimm-
ten Ganzheit aus einem bestimmten Prinzip heraus. Es gilt, die Wahrheit freizulegen und nicht einen
Gehalt zu erfassen.
„Das eigentliche ansetzende Verstehen ist nicht im vollen Sinne Erfassen des Seinssinnes, son-
dern gerade den Ansatzcharakter, aber diesen und gerade diesen. Auf dem Sprung sein bzw. darauf
entschlossen ausgehen!“ (Phän. zu Arist., WS 21/22, S. 34). Es gibt keinen voraussetzenden Seinsge-
halt, sondern der Seinssinn wird mit dem Absprung des Daseins und seinem Mitgehen freigelassen.
Der Seinssinn hat einen Ereignischarakter. Er wird nicht als Gehalt, aber auch nicht in der Leere als
Unbestimmtes gefaßt, sondern an einer gewesenen „Zeitstelle“, in welcher der Ansatz des springenden
Daseins zwischen „Noch-nicht“ und „Nicht-mehr“, eventuell zwischen der Verborgenheit und dem
Entzug des Gewesenen und der Unverborgenheit des Zukunftigen steht.
Nach der Auflösung seines Gehaltszusammenhangs geht es dem Seienden darum, einen eigenen
Bedeutungszusammenhang zu bilden und darüber auf sein Sein überzuspringen. Wenn es im aufgelös-
ten Einheitszusammenhang auseinander geraten und gegeneinander aufgestanden ist und die Hem-
mungen beseitigt sind, geht das Seiende in sein Sein über. Das Sein als das Fremde ist das Nächste,
was an einer gewesenen Stelle im „Nicht-mehr“ eines Seienden aufbrechen kann. Näher zu einem
Seienden ist nicht ein anderes innerweltliches Seiendes, sondern der Aufbruch seines Fremden, seines
differenten Seins. Das Nichts dieser Differenz ist dem Seienden immanent als Frage und ausgewiese-
ner und konstituierender Fehl in dieser Frage. Somit wird in dieser Differenz eben nicht nach einem
adäquaten, auslegenden und prädizierenden Seinssinn kosmischer oder ontischer Ordnung gefragt,
sondern nach dem Sein aus dem Nichts in der Frage am Seienden, welches nicht adäquat-kosmisch
auslegbar ist, sondern gerade aus dem Nichts darstellbar und welterschließend ist. Hierbei handelt es
sich aber nicht um einen Übergang der formalen Grenzen oder um die Teile eines höheren Ganzen,
sondern um direkte Zusammengehörigkeit.
Deswegen ist der Ansatz des Übergangs innerhalb des Seienden selbst und nicht außerhalb - wir
haben es also keineswegs z. B. mit einem reflektorischen Ansatz zu tun. Im und am Seienden74 selbst
wird auf das Sein angesetzt. Das Sein entsteht aus dem dem Seienden selbst immanenten fragenden
Fehl und aus dem Nichts. Dieses Sein ist keine Bekundung und keine Gegenständlichkeit des Seien-
den, sondern ein geschehender Seinssinn, ein weltender, ansetzender Eigenszusammenhang (zum Bei-
spiel das Hämmern des Hammers und im weiteren Verlauf das von ihm bewirkte Bauen oder sein
74 Es gibt so bei Heidegger einen Bezug des Seienden mit dem Sein, in welchem der Ansatz im Seienden liegt und welcher nicht der metaphysische als Steigerung in einer analogia entis des Seienden ist. Daher ist der Bezug des Seins zum Seienden nicht der einzige Fall (dieser mit Ansatz im Sein oder die statisch verstandene ontologi-sche Differenz). Einen einzigen Bezug vom Sein und Seiendem mit Ansatz im Sein und niemals im Seienden sieht P.-L. Coriando (Der letzte Gott als Anfang, München 1998, S. 45, 47).
89
Bildhauen. Dieser Seinssinn des Hammers ist weder sein Wasgehalt, seine Gegenständlichkeit und
Bekundung noch seine Erhöhung und auch nicht seine Grenze, sondern sein Differentes, zu dem es
aber gehört.)
2. 6. Das Sein ist nicht intentional als leerster Sinn des Seins gegeben, sondern als geschehendes Nichtsein und Aufgabe an der Transzendenz des Daseins. Es ist Prinzip als Aufgabe. Das Dasein ist direkt vom Sein zu seinem Nichtsein entgegengeworfen
Das Dasein hält und verhält sich von sich aus in und zu der Wahrheit des Seienden. „Wozu ich
mich verhalte, formal: der Gegenstand wozu (...), ist ein solcher, daß er von seinem Charakter her das
Zu-ihm-sich-verhalten bestimmt. Er gibt ihm den Namen, d.h. das Verhalten zu (...) - nähmlich zur
Philosophie - wird eigentlich zu Intransitivum in auszeichnender Weise ausgedrückt und mit dem
Wortstamm, der den Gegenstand bezeichnet“ (a.a.O., S. 51).
Das Dasein hält und verhält sich direkt zu der Wahrheit. Bedingung der Intentionalität und des
Begegnens eines Gegenstands ist die Transzendenz. Wie schon in Teil II gesagt wurde, ist die Trans-
zendenz Voraussetzung der Intentionalität (Grundpr. der Phän., SS 27, S. 27, 87 und 90 f.). Das Offe-
ne ist kein leerer Horizont, den das Dasein entwirft oder in dem es sich zeigt und Seiendes begegnet,
sondern es ist die Transzendenz als Existenzial des Daseins, in welcher es ausgesetzt und verantwort-
lich ist. Die Transzendenz und der Seinssinn sind nicht ontologische Voraussetzungen, um einem Sei-
enden zu begegnen. Wir kommen nicht durch das Sein ins Seiende, sondern vom Seienden durch eine
Frage zum Sein. Das Sein ist wohl nicht bloße Kategorie, Ankündingung eines Vorhandenen oder die
vorausgesetzte Gegenständlichkeit des Seienden, sondern die ursprüngliche Differenz des Seienden
von sich selber und sein Übergang ins Sein. Das Seiende ist somit nicht different zu anderen Seienden,
sondern zu sich selber und sodann zum Sein. Die Differenz ist das, worauf es dem Seienden zuallererst
ankommt, wozu es erst abspringt. Seine Differenz ist sein Wohin und niemals eine vorhandene onti-
sche Trennung.
In der Welt, die weltet, waltet diese Differenz und nicht eine kosmische und logische Form und
Ordnung, die nicht darstellbar ist. Dagegen ist aus dieser Differenz, aus dieser Frage mit ihrem Nichts,
die Welt und das Sein immer darstellbar und welterschließend, reales Prädikat, seiendes Sein und nicht
Sein als absolute Position! Das Sein als zugehörende Differenz aus dem Seienden kann nicht die
transzendentallogische Voraussetzung für die Erfahrung des Seienden sein, sondern radikal Gefragtes
aus dem Seienden und so Unterschiedenes. Der Übergang ins Sein setzt eine radikale Fragwürdigkeit
voraus und ist nicht methodische oder logische Begründung und Aufhebung.
Die Fundamentalontologie ist keine Propädeutik für die Regionalontologien. Die Differenz des
Seienden zum Sein ist seine eigene Differenz zu sich selbst und eben nicht mit der Andersheit zu an-
deren Seienden oder aller Seiender gegenüber ihrer ontologischen Bedingung zu vergleichen. Die Dif-
ferenz ist nicht statisch, sondern dynamisch als Frage am Seienden. „(...) das Seiende, letztlich be-
90
trachtet, nicht in bezug auf anderes Seiendes, sondern es bei sich selbst und als solches; möglicherwei-
se aufgrund davon dann ein Bezug auf (...), nicht aber ein aus ordnender Nebensetzung «Abhebbares».
Und was ist für solches Seiende an sich das Prinzipielle? Was ist das, worauf es bei Seiendem als sol-
chem letztlich ankommen kann? Das Sein, oder bestimmter, im Hinblick auf die Weise, wie solches
«Sein» faßbar ist: der «Seinssinn». Es ist ausdrücklich im Auge zu behalten: das Sein, der Seinssinn,
ist das philosophisch Prinzipielle jedes Seienden; es ist aber nicht sein «Allgemeines», die oberste
Gattung, was Seiendes als besondere Fälle unter sich hätte. Das Sein ist nicht der umfassende Bereich
für jedes und alles Seiendes, «oberste Region»“ (Phän. zu Arist., WS 21/22, S. 58). „Philosophie ist
prinzipiell erkennendes Verhalten zu Seiendem als Sein (Seinssinn), so zwar, daß es im Verhalten und
für es auf das jeweilige Sein (Seinssinn) des Habens des Verhaltens entscheidend mit ankommt“
(a.a.O., S. 60). Und: „(Formale Anzeige: „Sein“ ist das angezeigte Formal-leere, und doch die Ansatz-
richtung des Verstehens fest bestimmend; auf das Haben des Verhaltens als Seiendes!)“ ( a.a.O., S.
61).
Wie insbesondere im zweiten Teil der „Grundprobleme der Phänomenologie“ aus dem Jahr
1927 dargestellt wird, verhält sich zwar das Dasein zum Seienden, aber es kommt auf das Sein an,
welches nicht Wasgehalt, Allgemeines oder bedingende leerste und letzte Transzendenz ist, sondern
eine erst am Seienden geschehende. Schon in „Phän. zu Arist.“ (WS 91/92) wie in den „Grundproble-
men der Phän.“ aus dem Jahr 1927 ist das Wozu des Verhaltens gegenüber dem Seienden das Sein als
Seinssinn.
„Prinzipiell an ihm ist das Wozu des Verhaltens: Seinssinn. Der Gegenstand von erkennendem Verhal-
ten ist für dieses selbst in eigener Weise Prinzip. (...) Das Prinzipielle ist so zu erfassen, daß es in sei-
ner Prinzipfunktion erfaßt ist, vorverstanden ist in seinem wofür es und wie es Prinzip ist. Das Wofür
ist aber selbst nur formal angezeigt. Das Wofür bedarf der eigentlichen, faktischen Konkretion, der
eigentlichen Zueignung, in welcher Aneignung selbst erst das Prinzip voll als Prinzip fungierend sich
geben kann“ (Phän. zu Arist., S. 59). Das Sein ist als Prinzip noch formal - leer. Das bedeutet nicht,
daß das Sein intentional als der leerste Horizont und die Ermöglichung des Seienden im Dasein gebil-
det wird, sondern es ist „konkrete Aufgabe“ und direkte Frage an das Dasein, welches schon in der
angesprochenen Wahrheit des Seins ist! Das Dasein ist in diese Transzendenz sogleich als Transzen-
denz geworfen. Das Sein ergibt sich als Aufgabe aus einem Bruch am Seienden! Es ist nämlich
zugleich ein Nichtsein als geschehender Übergang in ein Anderssein - es ist nicht ontologische Vor-
aussetzung des Seienden. Aus dieser Vollendung der Aufgabe kommen wir auf das Vorherige in retro-
spektiver, nicht destruktiver oder intentionaler Weise zurück - provisorisch zu sagen, sofern kein Zu-
rückkehren in einen feststehenden Anfang möglich ist. Vorverstanden, ist das Sein nicht intentional,
sondern als direkte Frage und Aufgabe am existenzial transzendenten Dasein, welche noch formal leer
ist und mit keinem intentionalen Inhalt transzendentallogisch beantwortet werden kann: ein Verfahren,
das erst am Ende mit Inhalt ausgefüllt wird.
91
Das Verstehen ist kein vorstellendes Verbinden, und so ist es inhaltlich leer, weil es einen Inhalt
als Aufgabe an sich selber als Transzendenz ermöglicht und nicht intentional prädiziert. Bis der Inhalt
selbst - und eben nicht auf diskursive Art und Weise - erreicht worden ist, ist er formal angezeigt. Der
Seinssinn ist als direkte Frage am Dasein vorverstanden und formal angezeigt. Er ist aber nicht frei-
schwebend und beliebig aus dem Dasein gesetzt, sondern ansetzend aus dem Seienden „entsprungen“.
„Wessen Seinssinn in Aufgabe steht, ist nicht Ding und Sache, nicht von außen, durch Veranstaltung
zu bewerkstelligen. Um es aber auf den Seinssinn des Habens des Verhaltens ankommen lassen zu
können, ist es an ihm selbst als Seiendes zu haben, (...) Weiter ist diese Frage zunächst zurückzustel-
len“ (a.a.O., S. 61). Der Seinssinn ist als Aufgabe direktes Verlangen am Dasein. Der Seinssinn hat
den Charakter einer aufbrechenden Wahrheit. Das Dasein kann nicht in diesem Verhalten stehen,
wenn es nicht schon die Aufgabe, die geschehende Wahrheit verantwortlich übernommen hat und ihr
Ort ist.
Wir sehen, daß das Sein das inhaltliche Prinzip und Wozu ist, welches noch formal-anzeigend
ist. Das heißt, das Dasein ist direkter Gegenwurf des Seins, der Ort seiner Wahrheit als Sein-zu (zu)
seinem Nicht-sein, welches aus dieser Frage am Seienden geschieht. Es gibt kein Verstehen von Sein,
wenn nicht zuvor das Dasein dazu entgegengeworfen ist und das Sein als Werfer nicht sein Grund ist.
Der Sinn des Seins ist nur seine geschehende, welterschließende Wahrheit und nicht diejenige einer
kosmischen Ordnung. Die Differenz ist Frage und nicht statische Trennung. Das Sein als Differentes
ist darstellbar und nicht undarstellbar aus dieser am Seienden immanenten Frage mit ihrem Fehl und
Nichts.
2. 7. Das Sein wird am Seienden befragt, aber nicht als freischwebender Sinn.
Es gibt eine direkte Zusammngehörigkeit der differenten Elemente, welche als Umschlag des
Befragten ins Gefragte zu verstehen ist, sofern kein freischwebender und dritter Inhalt eigeschoben
wird. Eine solche ist die formale Anzeige: kein freischwebender und beliebiger Inhalt und Sinn, son-
dern ein gefragter und differenter und deswegen dazugehörender. Das Seiende fragt quasi, fordert das
Sein als sein Differentes und Dazugehörendes heraus, welches aus dieser Frage geschieht und nicht
irgendwo als Inhalt vorkommt.
Bereits hier gibt es einen Zirkel von Sein und Seiendem. Der Seinssinn leitet das Verhalten zum
Seienden hin, fragend und verlangend kommt man auf jenen als dazugehörendem Differenten aber erst
aus dem Seienden. Der Seinssinn erschließt sich als Gefragtes des Seienden und nicht als schwebender
oder beliebiger Inhalt. Er erscheint als formal Anzeigendes am verstehenden Verhalten selbst, bis er
selbst inhaltlich angekommen ist.
92
2. 8. Der Aufsatz über das Kunstwerk. Erde und Welt. Ins-Werk-setzen der Wahrheit
Das Sein ist nicht ein im ontologischen Sinne Verschiedenes vom Seienden. Es ist Kategoriales,
der Seinssinn, zu dem das Dasein steht. Die Differenz von Sein und Seiendem erweist sich, wie wir
schon wiederholt herausgestrichen haben, als eine, die nicht vorhanden ist, sondern die geschieht, sich
darstellt und welterschließend ist: Sie ist der Übergang des Seienden zu seinem Seinssinn, wie z.B. des
Hammers zum Bildhauen. Das Dasein ermittelt dieses Geschehen. Diese Differenz kann das Dasein
nicht vorstellen, weil es nicht außerhalb dieser steht, sondern es wird von diesem Geschehen mitgeris-
sen und steht in diesem „Zwischen“ als Ermittlung der geschehenden Differenz, die ein Zusammenge-
hören ist. Der geschehende Unterschied geht mit dem Verstehen des Sinnes von Sein einher. Das Da-
sein ist dem Unterschied ausgesetzt, und das Transzendieren und das Verstehen vom Sinn des Seins ist
sein Existenzial. Das Sein ist in diesem Sinne als „formale Anzeige“ weder die unbestimmte Negation
des Seienden noch eine regulative Idee, sondern die geschehende Wahrheit als Sein des Seienden. Es
gibt eine „Verbindlichkeit“ mit dem Gewesenen und ein Geschehen der Wahrheit aus diesem und
nicht einfach einen horizontalen Vollzug des Verstehens des Seienden auf der Grundlage seines Seins.
Diese Überlegungen verweisen auf den späteren Aufsatz über den „Ursprung des Kunstwerkes“ hin
(In: Holzwege, Bd. 5, 1935).
Woher und wieso kommt es dem Seienden auf sein Sein an? Ist es die Bewandnisganzheit eines
Zeugs, wie sie in „Sein und Zeit“ und in „Grundpr. der Phän.“ ausgeführt ist? Ist das Dasein ein Ich,
welches das Seiende für sein „Worum-willen“ vermittelt?
Wir können sagen, daß das Sein des Seienden wie auch die Bewandnisganzheit weder eine vo-
rausgehende Idee noch ein vom Ich vorgesetztes Ende sind. Wie am Beispiel des Kunstwerks im ent-
sprechenden Aufsatz vorexerziert, läßt das Seiende das Sein nicht von sich weg. Das Sein ist keine
Idee des Seienden, kein Wasgehalt. Das Sein wohnt dem Seienden als Differentes inne, wie auch die
Welt der Erde im Kunstwerkaufsatz. Das Sein des Seienden ist nicht der Wasgehalt des Seienden,
sondern ein Fremdes, welches im Seienden wohnt. Das Verhalten zum Seienden ist Intransitivum und
nicht Transitivum, in welchem der Seinssinn logische Bedingung des Seienden wäre. Das Dasein ist so
das Zwischen von Seienden und Sein. Das Dasein erstreitet und ermittelt das Sein des Seienden, ohne
ein Objekt oder einen Wasgehalt vor sich zu haben. Der Sinn als die Leere, wie die Leere am Krug, ist
das Nichtsein, die Aufgabe und gefragte und fehlende Wahrheit. Das Bildhauen des Hammers ist we-
der sein Sinngehalt noch sein Wesen, der Hammer ist nicht ein Objekt des Künstlers, und das Werk
nicht der Einzelfall einer Idee oder das stehende Seiende in seinem Sinn-Gehalt, sondern das Ins-
Werk-setzen der Wahrheit, ihre welterschließende Darstellung.
Das Sein ist nicht der leerste intentionale und transzendentallogische Horizont als Bedingung
des Seienden, ein Sinn und eine weltliche logische Form für jedes Seiende, sondern schon ein Zwi-
93
schen, ein „Noch-nicht“ und „Nicht-mehr“, ein Differentes und aus dem Seienden Entspringendes.
Das Dasein als das Zwischen erhält den Seinssinn als direkten Auftrag und Aufgabe im Hinblick auf
eine nicht adäquate, sondern differente, fehlende und aus dem Nichts darzustellbare Wahrheit.
3. Die Frage des Seins, sofern es kein Worinnen, kein Ontologem und keine „Wirklich-
keit“ ist
3. 1. Sein als Position des Verhaltens. Kein dritter Inhalt. Es geht aus dem Seienden als Anzeige-Frage, nicht als Ontologem hervor
Das Seiende als Sein weltet die Welt im Ganzen und zeigt sich nicht einfach innerhalb dieser.
Es gibt keine Reihe von Seienden in einem Ordnungszusammenhang, sondern jedes reißt, verlangend
als, einen Sinnzusammenhang für alle auf. Das Sein ist kein Worinnen, kein Ontologem und keine
Kategorie des vorstellenden Denkens, sondern direktes Angesprochen-werden des Daseins. Das Da-
sein steht so ganz konkret in sich, vor sich, vor seinen eigenen Möglichkeiten. Das Sein kann nicht
durch einen Umweg besprochen werden. Deswegen ist es formale Anzeige und fordert das Dasein
zum konkreten Sich-verhalten auf. Das Dasein steht schon in dieser angesprochenen Transzendenz.
Das Sein ist nur als Aufgabe und Transzendenz am Dasein.
„Phänomen: existenziell. Es kommt darauf an, daß es zum «Sein» kommt, daß es in Bemühung steht,
aber nicht für die Betrachtung und schlechte Reflexion. Es ist ja Sein des Verhaltens, d.h. hier (phä-
nomenologisch) durch Verhalten; dessen Zeitigung. Verhalten ist aber, was es ist, nur in voller Kon-
kretion, d.h. konkrete Problematik“ (a.a.O., S. 61).
Die Direktheit der Anzeige75 und nicht die inhaltliche Ablenkung führt in die Konkretheit der
Aufgabe des Daseins. Das Sein soll das Worauf des Daseins sein. Dieses Sein ist kein Ontologem als
Reales innerhalb einer Welt, sondern ein formal angezeigtes kommendes Geschehen und Welten, weil
es zum Seienden Differentes und doch zu diesem Gehörendes ist. Das Sein einer Rose ist nicht ihre
rote Farbe als prädizierender Inhalt des Seins als absoluter Position, sondern ihr eigenes Rotsein oder
75 O. Pöggeler sagt über die Hermeneutik: „Aus diesen Überlegungen heraus hat Heidegger die «formal anzei-gende» Hermeneutik entfaltet. Nicht von ungefähr finden wir die ausführlichste Explikation der formalen Anzei-ge in den Nachschriften der ungedrückten Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion. Dabei kann Heidegger sich an Husserl anschließen, der im §13 seiner Ideen die Generalisierung von der Formalisierung unterschied. Die Generalisierung steigt vom Rot dieses Kleides auf zur Farbe Rot, dann zu den Qualitäten über-haupt, usf. Dagegen geht die Formalisierung zurück zu den logischen und kategorialen Formen, die im Erkennen immer schon vorausgesetzt sind. Heideggers formale Anzeige macht dagegen darauf aufmerksam, daß dieses Zusammenspiel zwischen Generalisierung und Formalisierung in unterschiedlichen Dimensionen des Lebens in unterschiedlicher Weise geschieht. Wenn in formalisierter Weise zum Ursprung der Lebendigkeit zurückgegan-gen wird, entstehen jene formalen Anzeigen, ...“ (O. Pöggeler, Heideggers logische Untersuchungen, in a.a.O. Innen- und Außenansichten, S. 86 f.).
94
ihr daseiendes und die Wahrheit darstellendes Rose-sein, welches sich nicht innerweltlich zeigt, son-
dern selbst die Welt „rötet“ und weltet.
Dieses Sein selbst markiert also denjenigen Punkt, welcher das „Worauf“ als weltende Trans-
zendenz des Daseins ist und nicht ein abstrakter und dritter Inhalt, sondern die Darstellung des Seins-
sinnes aus dieser Frage.
„Das erkennende Verhalten hat zu Seiendem als Sein eine prinzipielle Beziehung ganz originärer und
radikaler Art (nicht Einstellung und Erfassen, Besprechen, sondern so, daß es sogar und gerade durch
das Erfassen «ist», was es erfaßt und erfaßt, was es «ist»). Der Anzeige folgen, heißt, diese konkrete
Aufgabe in den Blick bringen; (...) dieses Worauf ist selbst schon angezeigt: Der Seinssinn des Habens
des Verhaltens“ (a.a.O., S. 61).
Dieses Worauf ist kein Gehalt, aber auch kein anderes, leeres und höheres Wohin. Das Worauf
als differenter und geschehender-weltender Seinssinn ist aus ihm und an ihm selber sich vollziehende
konkrete Aufgabe des Daseins. Das Sein ist kein Gehalt, sondern das Dasein versteht an ihm den
Seinssinn des Seienden, die geschehende Differenz des Seienden. Das Sein ist kein Inhalt und Ontolo-
gem, sondern geschehende, weltende und aufbrechende Differenz, welche aber daher ein echtes Wor-
auf, ein zusammengehörendes Fremdes ist, welches aus einer echten Frage entspringt.
Es ist undiskursive Darstellung des Seins und formale Anzeige. Aus dem Seienden kommt es
auf das Sein ohne einen inhaltlichen Umweg, sondern durch einen direkten Umschlag des Befragten
auf das geschehende Gefragte. So ist das Sein als Gefragtes am Seienden eine inhaltliche und welter-
schließende Erfüllung und Darstellung und nicht Rückkehr der Frage in einem letzten und leersten
Horiziont eines Realen oder in einer Prädikation einer absoluten Position.
3. 2. Kein Erfassen der Wirklichkeit im Ganzen
Heideggers Beitrag muß jenseits des Versuchs um das Erfassen der Wirklichkeit im Ganzen
verortet werden. Das Erfassen der (bloßen) Wirklichkeit hatte für Heidegger keine große Bedeutung.
So nimmt H. Mörchen in seinem einzigartigen, zwischen Adorno und Heidegger sehr interessant erör-
ternden Werk gegenüber dem Verdacht einer Ganzheitsideologie bei Heidegger folgendermaßen Stel-
lung: „Zwar folgt Heideger anfangs noch einem Sprachgebrauch, demzufolge seine Frage als «meta-
physische» «das Ganze» der Problematik der Metaphysik «umgreift» und «je das Ganze selbst» ist,
fügt aber sofort hinzu, «daß der Fragende - als ein solcher - in der Frage mit da, d.h. in die Frage ge-
stellt ist», und entnimmt daraus die Anweisung: «das metaphysische Fragen muß im Ganzen und aus
der wesentlichen Lage des fragenden Daseins gestellt werden» (We. 1; vgl. 15). Hier ist die entschei-
dende Wendung vorgezeichnet. Das «Ganze» ist nicht mehr Gegenstand unseres Wissens, sondern das
Worinnen unseres leidenschaftlichen Fragens. Wenn wir es umgreifen wollen, verfehlen wir das, was
uns umgreift, -unmißverständlicher: aufgeht (vgl. Her. 102). Primär erfahren wird «das Seiende im
95
Ganzen im Beginn und Ausgang seines Anwesens und Aufleuchtens», nach dem Urbilde des «Son-
nenaufgangs» (Ntz. I 452). «Als Ganzes» wird unser In-der-Welt-sein nie von der Wahrnehmung ent-
deckt, sondern in der jeweiligen «Stimmung» auf verschiedene Weise «erschloßen» (S.Z. 137). «Die
Weise des menschlichen Existierens ist, sich und aus dem Ganzen zu bestimmen» (Anf. 233), dessen
«Einheit und Ganzheit» nicht wir «vollzogen» haben; sie ist «mit uns immer schon, sofern wir existie-
ren, vollzogen» (Anf. 201). In der Beengung der Angst «umdrängt» uns das «Wegrücken des Seienden
im Ganzen», das Schwinden jeglichen Halts (We. 9)“ (H. Mörchen, Adorno und Heidegger: Untersu-
chung einer philos. Kommunikationsverweigerung; Stuttgart 1981, S. 333 ff.).
Das Dasein wird in ein nichtendes Ganzen geworfen und diesem ausgesetzt. Die spätere Beschäfti-
gung Heideggers mit den Stimmungen der Angst, der Langeweile und des Nichts sind weitere Beispie-
le für das Auflösen des Einheitszusammenhangs, aus welchem das Seiende in sein Differentes über-
geht, in welchem eine Identitäts- und Ganzheitsideologie unmöglich ist. Das Sein in seiner Wahrheit
entspringt aus der Motivation des endlichen, sterblichen und transzendenten Daseins.
3. 3. Das Sein ist nicht intentional Differentes als Anderes des Seienden, sondern der Fehl am Seienden. Inadäquatheit. Ver-fehlen am Seienden und nicht Eintreten einer bestimmten Negati-on
Die Differenz und Zusammengehörigkeit von Sein und Seiendem ist der Übergang des Seienden
als konkreten Zuhandenen in seinen Seinssinn und nicht eine schwebende Vermittlung und Erhöhung
einer Seinssubstanz in ihre Ganzheit und Totalität. In seiner Differenz ist das Sein nicht eine schwe-
bende Vorstellung eines Wasgehaltes und eines Ontologems, welches das Seiende substanziell über-
steigt und so dieses auf sein höheres Sein analog als gehörig verweist, sondern das Seiende geht als
Differentes aus seiner in sich versammelten „Niedrigkeit“ und als Frage in das Sein über.
Das Sein ist als Differentes direkte Frage aus einem Seienden und nicht methodische und onto-
logische Voraussetzung für das Haben des Seienden. Der „Gang der Sache“ ist weder eine Seinsmeta-
physik noch die formale Negation der Grenzen. Das Seiende gehört als Differentes zum geschehenden
Seinssinn wie z.B. auch der Hammer zum Bildhauen gehört.
Das Sein als kategoriale Aufforderung und formale Anzeigung, als Wahrheit und Seinssinn ist
nicht das Sein des Seienden als Substanz für das Denken. Das Sein ist als Seinssinn und Geschehen im
schuldigen und verantwortlichen Dasein diesem als Aufgabe übereignet und verwickelt und nicht als
eine intentionale Anwesenheit des Vorstellens. Das Sein kann nicht intentional gegeben werden, son-
dern inadäquat als Differentes und Geschehendes am Seienden. Das Sein ist abwesend beim Fragen -
es ist nicht Frage aus einer Frageposition heraus, sondern ursprüngliches Verlangen des Fehlenden aus
dem Nichts, welches beim Ermöglichen und Erstreiten des Fehlenden und Fremden bis zum Gegen-
sätzlichen „zwischen noch nicht und nicht mehr“ gelangen kann. Das Denken denkt nicht intentional
das Sein, sondern denkt quasi überhaupt nicht mehr und bereitet mit seiner inneren Entzweiung das
96
welterschließende Darstellen des Seins. Eine immanente und differente Wahrheit bricht am Seienden
auf! Am Seienden selbst bricht ein immanentes und nicht ein jenseitiges Differentes auf. Das Sein und
der Seinssinn sind nicht intentional different und jenseitig, sondern machen die immanente Differenz
des Seienden aus, welche nicht intentional, sondern aus Fehl aufbricht. So gibt es z.B. zwischen einem
Hammer und einer Statue von Aphrodite auch keine Intentionalität. Das Sein ist ein Fehl als unvor-
stellbares Imaginäres. Es ist als Differentes ein Fehl und nicht ein intentional Anderes als Anderes des
Seienden. Die Wahrheit ist nicht die Energie eines Ontologems, sei diese idealistisch, realistisch, dia-
lektisch u.s.w., welche im Denken ermittelt wird. Das Dasein erleidet diese Wahrheit, es hat keinen
wirklichen und intentionalen Bezug zu ihr. Es fehlt ihm die Wahrheit, oder es kann diese nur im un-
vorstellbaren und erleidenden Imaginären abwarten und „wollen“. Das Sein ist nicht intentional Ande-
res zum Seienden, sondern immanent Fehlendes in diesem. Deswegen ist die Differenz dynamisch, sei
es als Frage, Postulat oder Geschehen, und nicht statisch.
3. 4. Die Behandlung der ontologischen Differenz in „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ (SS 27). Der Seinssinn als das Ermöglichende und nicht als wirklicher Entwurf
Wir können sagen, daß M. Heidegger im Jahr 1927 sowohl seine frühen als auch seine spätere
Periode repräsentiert. Die frühe Heideggersche Problematik wächst innerlich, reflektiert über ihre
Voraussetzungen und bringt diese operativ ins Spiel. Das gilt auch in der Behandlung des Verhältnis-
ses zwischen Sein und Seiendem.
97
3. 4. 1. Letztendlich soll Sein aus keinem Woher und nicht leer-intentional verstanden werden.
Heideggers Frage nach dem Sein zielt - wie gesagt - auf das Verstehen des Seins als Seinssinns
des mannigfaltig auftretenden Seienden. Heidegger sieht aber das Sein nicht als transzendental-
logische Voraussetzung des Seienden. Das Sein des Seienden ist weder die Seiendheit noch der Was-
gehalt des Seienden oder sein leerster transzendentaler Sinn, sondern etwas Differentes, zugleich aber
mit diesem Zusammengehörendes. Das Seiende geht auf sein Sein über. In den „Grundproblemen der
Phänomenolgie“ (SS 27) behandelt Heidegger umgreifend den Bezug des Seienden zum Sein.
Wie kommt das Seiende auf das Sein, wenn das Sein Differentes und nicht eine Erhöhung aus
dem Seienden oder dessen onto-logische Voraussetzung ist? Soll nicht letztendlich das Sein allein
verstanden werden? „Wir verstehen Seiendes nur, sofern wir es auf Sein entwerfen; das Sein selbst
muß dabei in gewisser Weise verstanden werden, d.h. Sein seinerseits muß auf etwas hin entworfen
sein“ (Grundprobleme der Phän., SS 27, S. 396).
Bisher war das Sein das differente und zusammengehörende Woraufhin des Seienden. Hier soll
nun der Versuch unternommen werden, das Seinsverständnis selbst aus nächster Nähe zu analysieren
und zu verstehen. Das Sein ist weder ein Vorhandenes, welches den Entwurf des Seienden ausmacht,
noch ist es Wasgehalt, welcher analog und aus irgendwelchem Gesichtspunkt erwiesen werden könnte.
Es ist geschehende Differenz. Das Sein soll als aufbrechendes Geschehen in beiden Fällen, als Über-
gang aus dem Seienden und als Entwerfen aus dem Sein, verstanden und nicht irgendwoher angesehen
werden. Heidegger fragt, was dieses Entwerfen von Sein selbst heißen soll. Letztendlich soll ja das
Sein aus keinem Woher und Wohin leer-intentional verstanden werden.
Der Ort dieses Verstanden-werdens und Entspringens von Sein ist die Existenz, welche selbst
transzendent und nicht bloß intentional auf ein Sein gerichtet ist. „Im existenziellen Verstehen, worin
sich das faktische In-der-Welt-sein einsichtig und durchsichtig wird, liegt je schon ein Seinsverständ-
nis, (...). In ihm liegt ein Verstehen, das als Entwurf nicht nur das Seiende aus dem Sein her versteht,
sondern, sofern Sein selbst verstanden wird, auch das Sein als solches irgendwie entworfen hat“
(a.a.O., S. 396). Daraus ergibt sich ein Problem: Wo hält sich dieses vorgehende Verstehen auf? Even-
tuell ist es ein progressus ad infinitum (a.a.O., S. 397) und eine fatale Verlegenheit (a.a.O., S. 399).
98
3. 4. 2. Das Licht als Ermöglichendes und nicht als Entwurf
Der Ort des Verstehens von Sein muß Heidegger zufolge auf eine gewisse Art und Weise ein
letzter und ruhender Entwurfsbereich sein. Heidegger spielt dabei auf Platons VI. Buch der „Gesetze“
und auf „Glaukon“ an. Dieses Letzte ist nicht mehr der höchste übertragende Entwurf, sondern das
Ermöglichen des Ruhens und Zurückschlagens des Entwerfens auf sich selber, das Licht und das aga-
thon als ïpójeima t°r o»s¥ar.
„Was Erkenntnis von Seiendem (positive Wissenschaft) und Erkenntnis von Sein (philosophische
Erkenntnis) als Enthüllen erhellt, liegt noch über das Sein hinaus. Nur wenn wir in diesem Lichte ste-
hen, erkennen wir Seiendes, verstehen wir Sein. Das Verstehen von Sein gründet im Entwurf eines
ïpójeima t°r o»s¥ar. Damit stößt Plato auf etwas, was er >über das Sein hinausragend< nennt. Die-
ses hat die Funktion des Lichtes, der Erhellung für alles Enthüllen von Seiendem bzw. hier der Erhel-
lung für das Verstehen von Sein selbst. (...) Das Verstehen muß selbst das, woraufhin es entwirft, als
Enthülltes irgendwie sehen. Die Grundfakten der vorgängigen Erhellung für alles Enthüllen sind so
fundamental, daß je nur mit der Möglichkeit, ins Licht sehen zu können, im Licht zu sehen, die ent-
sprechende Möglichkeit gesichert ist, etwas als wirklich zu erkennen. Wir müssen nicht nur Wirklich-
keit verstehen, um Wirkliches erfahren zu können, sondern das Verstehen von Wirklichkeit muß sei-
nerseits zuvor seine Erhellung haben. Das Verstehen von Sein bewegt sich schon in einem überhaupt
Helle gebenden, erhellten Horizont“ (a.a.O., S. 402).
Hier ist nicht mehr die Rede von Verstehen und Entwerfen, sondern von Sehen. Es geht auch
nicht um den Sinn von Sein als letzte und leerste intentionale Transzendenz des Verstehens von Wirk-
lichkeit. Heidegger verabschiedet sich von einer derartigen intentional-transzendentallogischen An-
schauung und von der Vorstellung der Beweisbarkeit des Seins kantischer oder anselmischer Art. Wie
Plato setzt Heidegger eine vorontologische hinreichende Bedingung voraus, welche die Motivation des
Seinsverständnisses nicht mehr onto-logisch und zirkelhaft, sondern faktisch begründen solle!
Das Sein ist nicht mehr als Inhalt im Denken intentional gegeben, sondern das Zu-Denkende! Es
liegt über (epekeina) jeder intentionalen Anwesenheit und ist noch in diesem ïpójeima abwesend.
Das Dasein erhält einen Auftrag, ohne ein weiteres Woraufhin für das Entwerfen des Seins zu haben.
Es ist schon in der gefragten Wahrheit des Seins als direkt vom Sein gefragte und entgegengeworfene
Transzendenz. Das Sein als direkte Frage am Dasein ist fehlende Abwesenheit. Das Ermöglichende
ermöglicht seine Wahrheit, aber es ist nicht anwesend. Es ermöglicht seine Wahrheit als Auftrag und
Anspruch an/auf das Dasein. Das Dasein ist schon in der Wahrheit und in der Transzendenz des auf-
tragenden Seins. Es befindet sich zwischen dem „Nicht-mehr“ und dem „Noch-nicht“ des Seins. Das
Dasein ist Geworfenheit und in sich transzendent. Die Zeit ist keine innere Anschauungsform, wie
Heidegger übrigens in den Kantvorlesungen als tragenden Ansatz behandelt. Es geht nicht mehr um
Entwurf und Wirklichkeit, sondern um Licht und Möglichkeit. Anders gesagt: Dieses Licht und
99
ïpójeima t°r o»s¥ar ist das agathon und das Ermöglichende, welches einen direkten Anspruch an
das Dasein stellt und in diesem Anspruch abwesend ist, kein realer Entwurf und intentionale letzte
horizontale Realität ist, sondern ein Fehl. Im letzten Licht hat man den Anspruch erhalten, aber an-
sonsten sieht man noch nichts. Im Licht werden die Weltenden nicht entworfen, sondern sie werden
erst in ihrem Sein konstituiert und entspringen aus dem Dunklen! Im Licht sieht man nicht einen rea-
len Entwurf für ein Anwesendes, sondern es tritt erst ein Abwesendes ein. Licht ist der Horizont, in
dem der Fehl erfüllt werden kann. Im Licht sieht man nichts Reales und Wirkliches, sondern erhält
lediglich den Anspruch zu sehen. Im letzten Licht sieht man sachhaltig nichts Anwesendes in seiner
Realität, sondern ein Abwesendes und Fehlendes76, welches erst aus dem Fehl im angesprochenen Ort
entspringt und in sein Sein über-springt. Das Ermöglichende entwirft nicht die Wirklichkeit, sondern
stellt den Anspruch auf das Entspringen der „Dinge“ aus ihrem Fehl! Dieses Licht ist quasi das Licht
der Schöpfung und nicht das innerweltliche lumen naturale, wie z.B. im Fall der realen Kategorien.
Wir haben bereits gesehen, daß die immanenten Voraussetzugen Heideggers seit Beginn seines
Werks mit dem existenzialen Charakter des Verstehens der Wahrheit als weltenden und nicht erschei-
nenden Geschehens zu einer Direktheit und einem ermöglichenden und ruhenden Verwickeln der
Wahrheit am Dasein führen und nicht zu einem Zeigen in ein höheres innerweltliches Wohin.
3. 4. 3. Der Sinn ist nicht letzter intentionaler Horizont universalen Seinsverständnisses, sondern Überschlag des Seins-zu in sein Nichtsein, welches am Dasein direkt entgegengeworfen und ver-langt wird. Das Sein ist der Werfer und das Dasein erhält den Auftrag
Das ontologische Verstehen von Sein hat sein Fundament nicht auf einem gegenständlichen,
entworfenen Bereich, sondern in einer vorontologischen Ebene, einer solchen, welche kein Entwerfen
auf ein Wohin ist, sondern ein Verwickelt-werden am Dasein als direktem Anspruch des Seins auf
eine fehlende Wahrheit. Dieses direkte Verwickeln ohne weiteren Entwurfsbereich ist das vorontolo-
gische Verstehen.
„Mit der Interpretation des Verstehens von Sein überhaupt ist mit Rücksicht auf das Verhalten zu Sei-
endem nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung herausgestellt. (...) es (sc. Seinver-
ständnis) allein nicht ermöglichen, (...) Sein selbst muß, wenn anders wir es verstehen, irgendwie auf
etwas hin entworfen sein. (...) Sein ist auf etwas hin entworfen, von woher es verständlich wird, aber
ungegenständlich. Es ist noch vorbegrifflich verstanden ohne einen Logos; wir bezeichnen es daher als
das vorontologische Seinsverständnis“ (a.a.O., S. 397 f.).
Das Ermöglichende ermöglicht nicht den Vorstoß auf ein weiteres wirkliches Wohin, sondern
auf ein ïpójeima, welches noch als gefragtes Abwesendes fehlt. „Das scheint ein merkwürdiges Un-
terfangen zu sein, über das Sein hinaus zu fragen“ (a.a.O., S. 399). Dieses fehlende Wohin ist ein An-
derssein, das Nichtsein als Wahrheit, welche zum Sein gehört. Das Ermöglichende ist nicht intentiona-
100
ler Horizont77 des Daseins, sondern sein Werfer, welcher das Dasein als sein direktes Nichtsein und
Ort seiner Wahrheit entgegengeworfen hat. Das Licht ist der Werfer. Das Wohin des Verstehens ist
das Wohin des Werfers. Das Dasein erhält das Wohin als ein „Über das Sein hinaus“. Das Woher trägt
aber auch das Wohin im direkten Anspruch auf das Dasein als sein Nichtsein78 in sich. Es gibt einen
Gegenstoß vom Geworfenen zum Werfer. Es gibt kein weiteres Wohin über den Geworfenen hinaus.
„Im existenziellen Verstehen, worin sich das faktische In-der-Welt-sein einsichtig und durchsichtig
wird, liegt schon ein Seinverständnis, (...)“ (a.a.O., S. 396).
Das Sein selbst ist die Bedingung für das ontologische Verstehen des Seins in der Ontologie als
Wissenschaft. Diese Bedingung ist das Vorherige, das Apriori, das Licht und agathon, welches das
Verstehen ermöglicht. Das ontologische Entwerfen hat als Voraussetzung einen vorontologischen
Auftrag: ein direktes vorontologisches Verlangen der Wahrheit des Seins am Dasein. Das Ermögli-
chende als Apriori, Licht und agathon und nicht Wirkliches ermöglicht das Entwerfen nicht auf ein
Anderes hin, sondern innerhalb seiner selbst, aus dem es im Licht und am Ort des Daseins (wieder)
entspringt! Es ist nicht nur eine notwendige Bedingung, sondern eine hinreichende als Anfang und
Ende jeder Modifikation. Es ist nicht ein Drittes als Bedingung, sondern als der Werfer selbst ist es
zugleich die letzte Bedingung. Das Ermöglichende ist das Woher, aber auch das Wohin des Ermög-
lichten, auch wenn dieses eine Beraubung und ein Entzug des Ermöglichenden als Ermöglichung eines
Fremden und nicht Äquivalenten innerhalb seiner ist.
77 Im Verständnis F.-W. von Hermanns ist das Sein transzendental-horizontaler Überstieg des Seienden zum Sein und bedingende Voraussetzung des Seienden (Wege im Ereignis, Frankfurt a.M. 1994, S. 69). Im Sinne einer transzendentallogischen Voraussetzung wird das Sein auch bei D. Melcic verstanden (Heideggers Kritik der Metaphysik und das Problem der Ontologie, Würzburg 1986, S. 110 ff.). 78 Das Sein wird nicht vom Dasein als der intentional gegebene letzte und leerste Horizont vorausgesetzt, son-dern es ist Auftrag und direktes Verlangen am Dasein, welches schon die Transzendenz der Wahrheit des Seins und das Nicht-sein des Seins übernehmend in sich einwesen läßt. Das Dasein ist schon in der Wahrheit des Seins als seinem Nicht-sein und erfaßt es nicht als intentionale und transzendentallogische Einheit. Im letzten Sinne versteht G. Figal das Sein als das Ermöglichende (Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a.M. 1991). So ist das Sein als Ermöglichendes (Plato) der primäre Entwurf (S. 285). Die Einheit vom Entdecken und Entdeckten ist die Praesenz (S. 340). Die Praesenz ist die Einheit der drei zeitlichen Schemata (S. 341), die vierte Dimension als Reichen und nicht als Gewesenheit und Zukunft (S. 345 ff.). So "gibt es" Zeit. Diese Zu-gänglichkeit ist das Einreichen von Zeit (S. 349). Es ist das Eräugen des Ereignisses, das Behalten im Blick des Seins, die Einheit des Erblickens mit dem Erblickten, soweit das Erblickte anwest und vor seinem Entzug steht (S. 360). Daher ist die Eschatologie ein immer wieder Angegangen-werden, immer wieder Begegnen kraft der Praesenz des Ermöglichenden (S. 364). Das Sein ist aber nicht das Ermöglichende als intentionale und transzen-dentallogische Einheit vom Entdecken und Entdeckten, sondern das am Dasein direkt seine Wahrheit als sein Nicht-sein Verlangende. Die vierte Dimension ist nicht intentionale Einheit, sondern, wie besonders in Teil V ausgeführt wird, der Ort des Anspruchs und des Verwickelns, aus welchem das Sein erst ankommt. Sie ist der Ort der inneren Fuge der drei anderen Dimensionen, die Endlichkeit und Ekstase der Zeit aus ihrem Ende, dem Tod, welcher den Fehl erleidet und das Sein entspringen läßt. Aus dieser wird die Zukunft überreicht, welche aber nicht Vollendung der Gewesenheit ist, sondern ihre Metamorphose, das Letzte ohne Anfang, wie in Teil III und V zu sehen ist. So sind die Götter in der Parmenidesvorlesung (Bd. 54, WÄ. 42/43) die in ihrem Blicken sich dargebenden und nicht einfach das Taugliche (S. 148 f., 152). In ihrem Blicken ist ihre Existenz versammelt (S. 153). So sind die Götter die sich Zeigenden und der Mensch wird angesprochen (S. 154 f.). So werden die Götter dargegeben und die Menschen von den Göttern angeblickt. Die Götter sind keine Persönlichkeiten (S. 162). Aus diesem Sich-dargeben der Götter entsteht ein Kampf und eine Theogonie der Götter (siehe auch: Ein-leitung in die Philosophie. Denken und Dichten, Bd. 50, WS. 44/45, S. 108. S.129).
101
In diesem Sinne ist das Sein das Fragwürdige und nicht anwesende Realität und Wirklichkeit! In
diesem Sinne und in diesem Licht (quasi der Schöpfung aus dem Nichts) stellt Heidegger die Seins-
frage. So ist das Sein nicht der letzte intentionale Horizont, in welchem ein Reales angetroffen werden
kann, sondern die am Dasein verlangte und beauftragte Transzendenz des Seins, in welcher das Sein
erst aus dem Nichts und dem Fehl entspringt, welches Sein als verlangender Auftrag und direkter An-
spruch am Dasein zu seiner Wahrheit als seinem Nicht-sein ruhend übergeht.79
In solcher Weise können wir sehen, daß sich alles ontologische Verstehen und Entwerfen auf
ein vorontologisches als direkten Auftrag des in sein Nicht-sein übergehenden Seins am Dasein um-
schlägt. Das Sein ist nicht intentional gegebener letzter und leerster transzendentaler Horizont, sondern
das einen Auftrag am Dasein Ermöglichende, und aus dem Erleiden des Fehls seiner Wahrheit am
Dasein Entspringende. Auf diese Weise stellt Heidegger die Seinsfrage: Das Dasein wird direkt vom
Sein aus gefragt, welches nicht zu sich, sondern in sich ruhend sich von sich weg bewegt und wieder
entspringt. Wenn man radikal fragt, kippt die Frage irgendwann um, und der Fragende wird selbst
direkt gefragt. Aus dieser radikalen Frage im letzten Licht kann das Sein erst aus dem Nichts antreten.
„Wir haben von verschiedenen Seiten her gesehen, daß die Frage nach dem Sein überhaupt ausdrück-
lich zwar nicht mehr gestellt ist, daß sie aber überall gestellt zu werden verlangt. Wenn wir sie wieder
stellen, dann verstehen wir zugleich, daß die Philosophie in ihrer Kardinalfrage nicht weiter gekom-
men ist, als sie bei Plato schon war, und daß es am Ende nicht so sehr ihre innerste Sehnsucht ist, wei-
ter zu kommen, d.h. von sich weg, als vielmehr zu sich selbst zu kommen. Mit Hegel ist die Philoso-
phie, d.h. die antike, in gewissem Sinne zu Ende gedacht“ (a.a.O., S. 399 f.).
Die Frage nach dem Sein fragt nicht nach einem adäquaten, auslegenden oder prädizierenden
kosmischen Entwurf, sondern sie fragt aus dem Nichts, dem Fehl und der Ohnmacht jeder radikalen
Frage, aus welcher das Sein sich ins Licht der Schöpfung darstellt und überhaupt als welterschließend
seiend ist.
Das Licht als Ort des Entspringens des Seins ist in diesem Sinne kein Zurückkehren in einen
festgestellten Anfang und Ursprung, welcher als solcher wiederholt wird und wieder anfängt. Dagegen
ist der Ort des Ursprungs der Ort des Daseins und des Fehls, aus welchem das Sein entspringt und
nicht voraussetzungslos und im Reinen wieder anfängt. Der Fehl und die radikale Frage nach dem
Sein haben keine methodische Funktion, und sie stehen auch nicht vermittelnd für das Ansetzen einer
fundamentalen, originären und voraussetzungslosen Behandlung der Seinsfrage nach dem Sein als
solchem zur Verfügung, sondern sie sind der Ort, aus dem das Sein aus seiner fehlenden Abwesenheit
und ihres gestimmten Erleidens erst entspringt.
Aus der Auseinandersetzung Heideggers mit der Seinsfrage verdienen folgende Inhalte herausgestellt
zu werden:
79 So ist nach H.-G. Gadamer das Sein des Da keine transzendentale Selbstauffassung der Fundamentalontologie und keine transzendentale Bedingung der Möglichkeit des Daseins, sondern es ist selbst, was sich ereignet, wenn
102
1. Das Sein ist nicht transzendentaler Sinnhorizont oder fundamentalontologisches Konstituens, son-
dern es ist das Ermöglichende, welches in sein ïpójeima, in seine Wahrheit übergeht und am Da-
sein dieses vorontologisch als das Sich-er-möglichende verlangt.
2. Das Dasein ist nicht der transzendentallogische Vermittler für das Entwerfen des Seins, sondern
das direkt und vorontologisch entgegengeworfene Befragte. Es ist schon in der Wahrheit des
Seins.
3. Das Ermöglichende als Sich-fragende ermöglicht seine Wahrheit nicht auf der Grundlage eines
weiteren Adäquaten, sondern innerhalb seiner selbst, und trägt in sich dieses Nicht-sein, seine
Wahrheit, sein Anderssein, diese Spannung, ohne dieses Nicht-sein aufzuheben. Es ist das Sich-
unter-scheiden und im letzten Licht wieder Entspringende. Es wird nicht innerweltich innerhalb
einer kosmischen logischen Form ausgelegt und entworfen, sondern kehrt durch sein ruhendes
Sich-fragen in seinem vorontologischen Ursprung wieder, in seinem Fehl und in seinem immanen-
ten Nichts, aus welchem es nicht mehr adäquat aus seinem ersten Anfang - aus sich selber - an-
kommt, sondern eben aus diesem Nichts und dem Fehl ins Licht entspringt. Dieses innere Nichts,
der Fehl im Anspruch an Wahrheit, bezeichnet die Als-Aussage und den Logos der Phänomenolo-
gie.
4. Der Ort des Lichtes und der fehlenden Abwesenheit des Seins wird nicht methodisch für das Wie-
deranfangen des Seins vermittelt, sondern er ist der Ort für den Entsprung des Seins aus seinem
Fehl in das Anwesen. Es geht um keine Dialektik des Seins.
3. 4. 4. Die Zeitlichkeit des Daseins als angesprochene und entgegengeworfene Transzendenz des Seins
Ein solches Ermöglichtes ist die Zeitlichkeit des Daseins als Existenz. Das Dasein ist in sich
ekstatisch. Besonders in den Seiten 390-395, 421 f. und 460 f. der „Grundprobleme der Phänomenolo-
gie“ stellt Heidegger die Existentialität des Daseins dar.
Das Verstehen ist Existieren und nicht Erkennen. Die Möglichkeiten liegen nicht außerhalb des
Daseins. Es geht nicht um ein Betrachten des Gegenstandes von oben herab, nicht um ein abgehobe-
nes, schwebendes Wissen, sondern um Möglichkeiten des Daseins. Das Dasein als Existenz versteht
seine Möglichkeiten, die es zu sein hat. Es ist in sich transzendent. Das Woraufhin des Daseins ist
seine ruhende, zugleich aber auch transzendente Ermöglichung vom Sein, welche es als Existenz zu
sein hat und nicht ein innerweltliches Zeigen. Daher entsteht Welt. Der Vorstellung von Innerwelt-
lichkeit liegt die Weltlichkeit des Daseins entgegen und zugrunde. Das Dasein ist in seiner Zeitlichkeit
in sich transzendent und aus dem Nichts weltdarstellend. „Der ekstatische Charakter der Zeit ermög-
licht den spezifischen Überschrittscharakter des Daseins, die Transzendenz und damit auch die Welt“
(a.a.O., S. 428). Die Entrückungen der ekstatischen Zeitlichkeit (Zukunft, Gewesenheit, Gegenwart)
Dasein ist (Sein, Geist, Gott. In: W. Marx (Hrg.), M. Heidegger. Freiburger Universitätävorträge zu seinem Ge-
103
sind „(...) nicht Entrückungen gleichsam in das Nichts (...)“ (a.a.O., S. 428), sondern ekstatisch-
horizontale Schemata, Horizonte (a.a.O.). Sie haben kein höheres Wohin, sondern sie sind in sich eks-
tatisch, entrückt und ruhend.
„Weil die ekstatisch-horizontale Einheit der Zeitlichkeit in sich der Selbstentwurf schlechthin ist, als
ekstatische das Entwerfen auf (...) überhaupt ermöglicht und mit dem zur Ekstase gehörigen Horizont
die Bedingung der Möglichkeit eines Woraufhin, Wozu-hinaus überhaupt darstellt, kann gar nicht
mehr gefragt werden, woraufhin die Schemata ihrerseits entworfen seien und so in infinitum. Die frü-
her erwähnte Folge der einander gleichsam vorgeschalteten Entwürfe: Verstehen von Seiendem, Ent-
wurf auf Sein, Verstehen von Sein, Entwurf auf die Zeit, hat ihr Ende am Horizont der ekstatischen
Einheit der Zeitlichkeit. Ursprünglicher können wir dies hier nicht begründen, wir müßten dabei auf
das Problem der Endlichkeit der Zeit eingehen. An diesem Horizont hat jede Ekstase der Zeit, d.h. die
Zeitlichkeit selbst ihr Ende. Aber dieses Ende ist nichts anderes als der Anfang und Ausgang für die
Möglichkeit allen Entwerfens“ (a.a.O., S. 437).
Der letzte Horizont ist der Anfang, in dem etwas erst in sein Sein eintritt. So ist die Zeit nicht
leere und unendliche Anschauungsform80, sondern die ekstatische Einheit der Zeitlichkeit und die
Endlichkeit der Zeit, welche dasselbe ausdrücken. Die Zeitlichkeit des Daseins ist endlich und in sich
ekstatisch und so horizontal! Im endlichen und ekstatischen Horizont, welchen das Dasein aus dem
Nichts seiner Endlichkeit zu sein hat, tritt erst etwas auf; mitnichten hat das Dasein eine anwesende
Stelle innerhalb eines unendlichen und intentionalen Horizontes. Die Zeitlichkeit des Daseins ist die
am Dasein beauftragte Transzendenz des Seins und nicht ein unendlicher Horizont. „Die Zeit wird zu
einem an sich freischwebenden Ablauf einer Jetztfolge. Dieser Ablauf ist für die vulgäre Zeitauffas-
sung nun einmal vorhanden wie der Raum. Von hier aus kommt sie zu der Meinung, die Zeit sei un-
endlich, endlos, während die Zeitlichkeit ihrem Wesen nach endlich ist“ (a.a.O., S. 385). Der Tod be-
stimmt die Endlichkeit der Zeitlichkeit. „Hier auf die Endlichkeit der Zeit näher einzugehen ist nicht
möglich, weil sie mit dem schwierigen Problem des Todes zusammenhängt, das in diesem Zusam-
menhang zu analysieren nicht der Ort ist“ (a.a.O., S. 387).
Der Tod und die Endlichkeit markieren nicht das Ende als Verenden, sondern den Anfang, die
Übernahme und das Ausgesetztsein in der Transzendenz und als Transzendenz des Überschlags des
Seins in das Nicht-sein, aus dessen Fehl es wieder entspringt. Die Endlichkeit bedeutet nicht so sehr
die Begrenzung in einem Diesseits, sondern vielmehr die Entgegenwerfung und das Ausgesetztsein in
denken, Freiburg-München 1979, S. 53). 80 Ein typisches Beispiel des Verstehens des Seins als letzten und leersten Horizontes liefert D. Melcic (Heideg-gers Kritik der Metaphysik und das Problem der Ontologie, Würzburg 1986). So ist das fundamentalontologi-sche Sein eine totale ontologische Funktion, eine Ontologie des Ermöglichens und endgültige Grundlage der Metaphysik (S. 120). In der Intentionalität ist das Sein als letzter Entwurf, als Leerheit des Seins erfaßt (S. 124, 128). Nach der Kehre ist das Sein nicht mehr transzendentale Ermöglichung (S. 126). Ein solches Verständnis vertritt, wie gesagt, C.-F. Gethmann in seinen Werken "Verstehen und Auslegung, a.a.O." und "Erkennen und Handeln, a.a.O.".
104
der vom Sein geworfenen Transzendenz. Das Dasein übernimmt dieses Geworfensein als seine eigene
existenziale und nicht freischwebende Möglichkeit.
Die Endlichkeit der Zeitlichkeit ist auch das Ekstatische derselben. Die Zeitlichkeit des Daseins
als vom Sein Ermöglichtes ist nicht leerster und intentionaler Horizont oder Anschauungsform, son-
dern als Möglichkeit und Aufgabe der Existenz ist sie in sich und zugleich außer sich, sie ist immer
vorweg und hat einen Zu-Charakter.
„Diese Charaktere des Auf-zu, des Zurück-zu und des Bei offenbaren die Grundvefassung der Zeit-
lichkeit. Sofern die Zeitlichkeit durch dieses Auf-zu, das Zurück-zu und das Bei bestimmt ist, ist sie
außer sich. Die Zeit ist in sich selbst als Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart entrückt. (...) Wir be-
zeichnen diesen Charakter der Entrückung terminologisch als den ekstatischen Charakter der Zeit“
(a.a.O., S. 377).
„Das, wohinein jede Ekstase in einer bestimmten Weise in sich selbst offen ist, bezeichnen wir als
Horizont der Ekstase. Der Horizont ist die offene Weite, wohinein die Entrückung als solche außer
sich ist. Die Entrückung öffnet sich und hält diesen Horizont offen“ (a.a.O., S. 378).
Der Horizont hat seinen Grund in der Ekstase und ist nicht die letzte und leerste intentionale Anschau-
ungsform oder phänomenale Konstitution von Sein. Weil die Ekstasen als außer sich in der angespro-
chenen Transzendenz seiend, ihren Grund trotzdem in sich, d.h. in der direkt vom Sein angesproche-
nen Existenz haben, sprechen wir von ekstatischer Einheit und nicht von drei vorhandenen Dimensio-
nen im Horizont der Zeit. Das Dasein ist zeitlich, ekstatisch, zukünftig, u.s.w.
„Die Zeitlichkeit ist als die ursprüngliche Einheit von Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart in sich
selbst ekstatisch-horizontal“ (a.a.O., S. 378). Die ekstatische Einheit oder Einheit der Ekstasen ist das
„In-sich“ des Daseins als direkt vom Sein Angesprochenes, welches daher ekstatisch sich als Aufgabe
- sich übernehmend - dem Anspruch des Seins anbietet, und darüber hinaus auch die existenzialen
zeitlichen Entrückungen zu sein hat. Es ist ekstatisch, weil es den Übergang des Seins in seine Wahr-
heit in sich wesen läßt und übernimmt, und außerdem ist es horizontal, weil es diese Wahrheit nicht
auf ein Drittes entwirft, sondern der direkte und letzte Anspruch und die direkte Transzendenz des
Seins ist. Erst vor diesem Horizont als dem letzten Licht wird etwas aus seiner fehlenden Abwesenheit
in sein Sein aufbrechen. Die Einheit der drei Dimensionen, die vierte Dimension im Ort des Daseins,
ist nicht ein letzter realer und leerster Horizont, sondern der Fehl und das Nichts, das angesprochene
und den Fehl erleidende Zwischen-noch-nicht-und-nicht-mehr, aus dem die Zukunft entspringt, und
als erfüllte Gewesenheit Gegenwart ist. Die Zeitlichkeit des Daseins ist so nicht der letzte transzenden-
tallogische Entwurf, sondern der vorontologische Überschlag des Seins in sein Nicht-sein, welcher am
Dasein seine Wahrheit verlangt und direkt beauftragt. Die Zeitlichkeit des Daseins ist vorontologische
Ermöglichung und Gegenwurf, Transzendenz für die Wahrheit des Seins.
105
Das Dasein steht als Gegenwurf in diesem Wohin. Die Zeit ist dem Dasein nicht intentional als
letzter Horizont,81 sondern als seine Transzendenz gegeben. Das Dasein erhält einen Auftrag und da-
bei entsteht Zeitlichkeit aus der Einheit des Da, welches als Logos das Nichts, aus dem das Sein ent-
springt, innehat. Die Zeit als Selbstaffektion ist nicht intentionale Immanenz eines letzten und leersten
Horizontes, sondern Transzendenz des Daseins, zu der es von der Zeit als innere, ruhende und ihr
Nicht-sein ermöglichende Entrückung zusammen mit dem Werfenden entgegengeworfen ist. Das Da-
sein erhält die Zeit als Aufgabe82 und als seine Transzendenz und nicht als Anschauungsform. Es ist
nicht zeitlich in der Zeit, sondern es ermöglicht Zeit, es ist in sich transzendent und so ekstatisch zeit-
lich und nicht intentional und transzendental auf einen letzten Horizont aller eingerichtet. Das Dasein
ist zeitlich ekstatisch und so horizontal. Deswegen entsteht die Gegen-wart aus der Zukunft, sofern das
Dasein schon vorontologisch vorweg und beauftragt ist. In der Zukunft kommt das Gewesene aus sei-
nem vorontologischen Ursprung und seinem Fehl wieder. Sein ankommendes Erfüllen ist die Gegen-
wart. Deswegen ist auch das Vergessen nicht Vergessen eines vorhandenen äußeren Vergangenen in
einem intentionalen und unendlichen Horizont, sondern Vergessen seiner selbst als Ausbleiben und
nicht Wiederholen des Anspruchs des Gewesenen überhaupt, des Seins des Daseins selbst (a.a.O., S.
311).
Insofern ist auch das Vermissen nicht ein Nichtvorfinden als Ausbleiben von Gegenwart, son-
dern ein Modus des Gewärtigens. Deswegen geht es um Fehl, um Modifikation der Präsenz in Absti-
nenz. Sonst wäre es unmöglich, etwas nicht vorzufinden; dieses etwas soll seine Präsenz, sein Gewär-
tigen in Abstinenz umschlagen lassen (a.a.O., S. 442).
Beide Fälle charakterisieren auch den „Fehl Gottes“ beim späteren Heidegger. Das Ermöglichen
des Ausbleibens von Gewesenheit und Gegenwart ist in beiden Fällen abkünftiger Modus der ange-
sprochenen ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins als seiner vom Sein ermöglichten und aufgegebenen
Transzendenz und nicht ein Ausbleiben eines äußeren und bloß reflektierten Woher oder Worauf. Die
Zeit ist nicht Selbstreflektion, sondern Darstellung am entgegengeworfenen Dasein. Sie hat schon den
Charakter eines Seins-zu-einem-Nichtsein, welches am Dasein west. „Eine nähere Betrachtung zeigt,
daß auch das Nicht bzw. das Wesen des Nicht, die Nichtigkeit, ebenfalls nur aus dem Wesen der Zeit
81 Nach P.-L. Coriando wendet sich Heidegger von der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins hin zur horizonta-len Temporalität des Seins des innerweltlichen Seienden. Diese Kehre ist schon das Dasein (Der letzte Gott als Anfang, a.a.O., S. 39 f.). Wir können sagen, daß die Zeitlichkeit des Daseins nicht Horizont als leerster Zeithori-zont des Begegnens von innerzeitigen Seienden ist, sondern sich als der vorontologische Auftrag vom Sein zu seinem Verstehen am Dasein selber erweist und als solcher beim späteren Heidegger bewußter eintritt. Das Sein ist nicht der transzendentale Horizont für das Dasein, sondern das direkt am Dasein seine Wahrheit Verlangende und Ansprechende. 82 So trifft man bei P.-L. Coriando auf die Behauptung, daß ein Erreichen des Anwesenlassenden hinter dem horizontalen Anwesen vom Sein unmöglich ist. Nur die Übernahme der Geworfenheit im jeweiligen horizonta-len Seinsentwurf kann begegnet werden (Der letzte Gott als Anfang, a.a.O., S. 44 f.). Wir sehen aber, daß das vorontologische Verstehen von Sein und der vorontologische Auftrag nicht mehr "Wachstum", nicht mehr adä-quates Entwerfen ist, sondern "Degeneration", ein direktes Verwickeln am Dasein und am Seienden und daher schon einen Ereignis- und Geschehenscharakter aufweist. Das Ermöglichende trägt in sich eine innere Spannung
106
interpretiert werden kann. (...) Wir sind nicht vorbereitet genug, um in dieses Dunkel vorzudringen“
(a.a.O., S. 443). Das angesprochene Transzendente trägt in sich die Ermöglichung83 des Gefragten und
somit die Endlichkeit und Nichtigkeit des Nicht. Heidegger spricht hier noch von Nicht und nicht von
Nichts, der Sinn ist aber derselbe. Die Zeit ist nicht ein Entwerfen auf eine Wirklichkeit hin, sondern
als Ende und Ruhen des Verstehens von Wahrheit ist sie Ermöglichen der Wahrheit des ansprechen-
den Seins in seiner entgegengeworfenen Transzendenz und so ein Anfang, in dem das in seinem An-
spruch abwesende und fehlende Sein im letzten Licht, im angesprochenen Fehl des Daseins entspringt.
Wir haben keine andere hinreichende Bedingung, keinen anderen „Horizont“, um Sein zu verstehen,
außer der ekstatischen Zeitlichkeit des Daseins. Diese wiederum ist nicht ein letzter, intentional-
transzendentaler Horizont, sondern der vorontologisch, direkt entgegengeworfene und ermöglichte
Auftrag des Seins am Dasein auf seine Wahrheit. Das Dasein ist schon und nur in der aufgetragenen
Wahrheit des Seins.
Heidegger nennt die Zeitlichkeit auch Temporalität. „Wir nennen die Zeitlichkeit, sofern sie als
Bedingung der Möglichkeit des vorontologischen wie des ontologischen Seinsverständnisses fungiert,
die Temporalität“ (a.a.O., S. 388). Die Zeitlichkeit als Möglichkeit und Verstehen des Daseins und als
Dasein (a.a.O., S. 389-398) ist nicht fundamentalontologisches und intentional-transzendentales Ver-
stehen von Sein, sondern sie fragt, wie wir gesehen haben (a.a.O., S. 399) über das Sein hinaus, weil
sie vom Sein vorontologisch dazu beauftragt ist. Die Zeitlichkeit des Daseins als angesprochene
Transzendenz für die Wahrheit des Seins ist die Temporalität.
3. 4. 5. Das vorontologische Verstehen ist als Frage und Anspruch Ermöglichung des Begegnens von Seiendem und des Verstehens von Sein und nicht logische Bedingung derselben
Das vorontologische und alogische Verstehen von Sein in der Verstehensform der ekstatischen
Zeitlichkeit wird vom Ermöglichenden als Ruhen und Ende ermöglicht und ist nicht mehr das trans-
zendentallogische Entwerfen auf ein weiteres, letztes und so sich dialektisch als erstes erweisendes
Wohin. Dieses vorontologische Verstehen84 ermöglicht vorontologisch und nicht onto-logisch das
Verhalten zu Seiendem und das ontologische Verstehen von Sein in der Ontologie als Wissenschaft.
und Ermöglichung des Fremden und ist nicht horizontale Gabe, sondern gehört als Werfer zum Entgegengewor-fenen, als Sein zu seinem Nicht-sein, aus welchem es ankommt! 83 Zum Bezug zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit bis S. u. Z. siehe: W. Müller-Lauter, Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin 1959. Er sieht in S. u. Z. einen Vorrang der Wirklichkeit vor der Möglichkeit (S. 112). Wir sollten aber sagen, daß die Wirklichkeit des Daseins mit seiner Möglichkeit zusammengehört, sofern es (das Dasein) im Auftrag des Seins kein Drittes einschiebt, sondern es verantwortlich ist und sein Sein zum Tode seine höchste Möglichkeit ist, aus welchem es anfängt. In diesem Sei-zu und aus dem Tod wird, wie in Kap. I gesehen, die angesprochene Wahrheit und Unwahrheit ermöglicht und solcherweise ist das Wirkliche das Mögliche als das Ermöglichende. 84 Daher kann der Vorwurf C.-F. Gethmanns, daß Heidegger nach der Kehre vom Sein her das Dasein gründet und erörtert, ohne zuvor das Sein überhaupt bestimmt zu haben (Erkennen und Handeln, a.a.O., S. 94 f.), nicht in Bezug auf Heideggers vorontologisches und direktes Ansprechen des Seins auf das Dasein Bestand haben. Das Sein ist schon in seiner Wahrheit, wie auch das Dasein in der Wahrheit des Seins schon ist.
107
Um Seiendem begegnen und Sein ontologisch verstehen zu können, soll in diesen das vorontologische
Verstehen des fehlenden Seins gefragt werden. Das Sein wird als Fehl und nicht als logische Bedin-
gung aus einem Realen gefragt, aus welchem man nach einem „Warum“ fragt. Das vorontologische
Verstehen ermöglicht diese abkünftigen modi, weil es radikale Frage ist. Es ermöglicht diese aber als
Frage und nicht als voraussetzende und logische Bedingung und Horizont. Es ist das Erleiden des feh-
lenden und abwesenden Seins.
So wird die Seinsfrage in der Freiburger Antrittsvorlesung Heideggers (Was ist Metaphysik,
1929) aus dem im Nichts wesenden Seienden gestellt. In diesem im Nichts liegenden Seienden ist das
Sein noch fehlende Abwesenheit, die erst aus diesem Fehl ins Sein entspringt! Das Sein ist nicht fun-
damentale logische Bedingung des Seienden, sondern es wird aus dem Entgleiten des Seienden im
Nichts gefragt. In diesem Fragen und in diesem Fehl liegt die Motivation und der Umschlag des Be-
fragten in das Gefragte. Daher ist das vorontologische Seinsverständnis in jedem Verhalten zum Sei-
enden und in jedem ontologischen Verstehen-Entwerfen von Sein verborgen. Das Begegnen von Sei-
endem und das Entwerfen von Sein soll nicht das Ende und das Telos des vorontologischen Seinsver-
ständnisses sein, sondern dieses soll im Gegenteil als Erleiden des Fehls des Seins und nicht als Frage
nach der onto-logischen Bedingung eines Realen aus und am ersten immer ansetzen!
Wie bereits weiter oben in Kap. 2 behandelt wurde, entspringt das Sein als Differentes und im-
manenter Fehl des Seienden. Das Begegnen von Seiendem und das ontologische Verstehen von Sein
sind nicht das Telos des vorontologischen Verstehens, sondern umgekehrt: sie werfen die Frage eines
solchen auf. In dieser vorontologischen Frage stellt das Sein das Dasein unter seinem direkten An-
spruch auf eine fehlende und abwesende Wahrheit.
3. 4. 6. Die Zeitlichkeit des Daseins in den Kant-Vorlesungen
Die in der Vorlesung des SS 27 aufgeworfene Problematik können wir auch in den wenig später
gehaltenen Kant-Vorlesungen verfolgen. Nach der Lesart der Kantvorlesungen kann die Zeit keine
reine Anschauungsform sein, sondern das Dasein selbst als beauftragte Transzendenz des Seins. Dem-
entsprechend besteht die Frage nicht aus einer juristischen Frage der Geltung der apriorischen Fähig-
keit des Ich, sondern dreht sich um die Aufweisung eines (vor)ontologischen Tatbestandes (Phän. In-
terpr. zu Kants Kr.d.r.V., Bd. 25, WS 27/28, S. 330), in welchem das Dasein nicht Bewußtsein und
Gattung ist, sondern in die faktischen Möglichkeiten der Existenz entgegengeworfen ist, welche höher
als die Wirklichkeit stehen (a.a.O., S. 380). So ist die Zeit Angang (a.a.O., S. 391) und das Dasein
rezeptiv und spontan (a.a.O., S. 394), wodurch es den verlangenden Auftrag des Seins erhält. Die Zeit
ist nicht ein intentional gegebener transzendentaler Horizont, welcher das Subjekt mit dem Objekt
überbrückt (a.a.O., S. 334), sondern die Zeitlichkeit des Daseins, das Dasein als Zeit (a.a.O., S. 418).
Das Dasein ist selbst die Transzendenz und nicht ein Pol im Ich-Objekt-Bezug (a.a.O., S. 315). In
108
diesem Sinne kann man vom „apriori“ und von einer ontologisch schöpferischen Tat des endlichen
Daseins sprechen (a.a.O., S. 322, 391, 409, 417). Dies steht aber solcherweise nicht im Sinne einer
logischen apriorischen Geltung, sondern einer direkten Verantwortung des Daseins gegenüber dem
verlangenden Auftrag des Seins.
Wir haben es hier also mit einem vorontologischen Verstehen des Seins (S. 23 ff.) zu tun, wel-
ches aus dem endlichen und vorlogisch angesprochenen Dasein entspringt und nicht aus einem gat-
tungsmäßigen und verbindenden Dasein, welches das Sein entwirft. Diese Verantwortung des Daseins
umschreibt nicht den Weg des Begriffs, den Weg von oben nach unten oder vom Licht ins Dunkle
(a.a.O., S. 398), sondern den umgekehrten. So spricht Heidegger von der Bedeutung des Todes (a.a.O.,
S. 398), welcher die Wahrheit nicht aus dem Begriff rückgängig identifiziert, sondern aus der End-
lichkeit, dem Dunklen, dem Tod und dem Nichts als imaginative Lichtung entspringen läßt. Deshalb
kann man auch sagen, daß das letzte Licht dunkel ist, sofern es kein realer Entwurf ist, sondern der Ort
des Auftretens der fehlenden Abwesenheit in das Sein.
Heidegger spricht in den Kantvorlesungen sehr viel von der rezeptiven und zugleich spontanen imagi-
nativen Syn-thesis (welche produktiv und nicht identifizierend ist) im Gegensatz zu dem reinen Vers-
tandesbegriffe (z.B. a.a.O., S. 284). Man kann sagen, daß die beauftragte Imagination im direkten An-
spruch des Seins aus dem Dunklen und dem Nichts den Fehl der Wahrheit des Seins erleidet und diese
aus diesem Fehl ermöglicht. Die Wahrheit entspringt aus dem direkten Auftrag des Seins an das Da-
sein, welches den Fehl dieses Verlangens erleidet.
Denselben Sinn könnten wir auch aus dem „Kantbuch“ herausarbeiten. So hängt die Möglich-
keit der Erfahrung von Gegenständen nicht von der apriorischen Geltung eines transzendentalen Ich
ab, sondern von der Transzendenz überhaupt, welche nicht vorhandene Pole miteinander verbindet.
„Möglichkeit der Erfahrung ist demnach gleichbedeutend mit Transzendenz“ (Kant und das Problem
der Met., Bd. 3, 1928, S. 117). Die Transzendenz ist nicht der letzte, intentional-transzendentale Hori-
zont, in welchem die wirklichen Seienden erscheinen können, sondern sie ist das Verhältnis zu etwas
ganz Anderem (a.a.O., S. 115). Dieses Hinausstehen ist bei Kant aber ein Stehen in einem Darinnen-
sein als Medium beider (a.a.O., S. 115) als einer ekstatisch-horizontalen und einheitlichen Transzen-
denz beider (a.a.O., S. 119). Dagegen kann bei Heidegger diese Transzendenz nicht die apriorische
Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt sein. „Das In-der-Welt-sein ist aber nicht erst die Bezie-
hung zwischen Subjekt und Objekt, sondern das, was eine solche Beziehung zuvor schon ermöglicht,
sofern die Transzendenz den Entwurf des Seins von Seiendem vollzieht“ (a.a.O., S. 235). Das In-der-
Welt-sein, die Transzendenz des Daseins liegt vor jeder Begegnung von Subjekt und Objekt (a.a.O.).
Die Transzendenz des Daseins liegt vor jeder Intentionalität des Daseins im Hinblick auf ein reales
Objekt. Das Dasein ist schon draußen, ausgeliefert und überantwortet. Es hat schon den direkten und
verlangenden Auftrag des Seins erhalten. Das Dasein ist der direkte vorontologische und nicht logi-
sche, beauftragte und verlangte Entwurf des Seins. Das Sein ist für das Dasein nicht Realität oder der
109
letzte Horizont, sondern das aus seinem angesprochenen Erleiden des Fehls an Wahrheit entspringende
Sein.
„Aller Entwurf - und demzufolge auch alles «schöpferische» Handeln des Menschen - ist geworfener,
d.h. durch die ihrer selbst nicht mächtige Angewiesenheit des Daseins auf das schon Seiende im gan-
zen bestimmt“ (a.a.O.). Das Dasein ist schon in der Wahrheit des Seins und nicht ein dem wirklichen
Objekt gegenüberstehendes Subjekt. Das Dasein ist schon und nur mit der Frage des aus dem Nichts
darzustellbaren Seins und nicht bloß mit seiner Auslegung und Prädikation innerhalb einer kosmischen
logischen Form beauftragt.
Die Transzendenz des Daseins bezeichnet nicht einen äußerlichen in einer Welt vorkommenden
und akzidentialen, ethischen, soziologischen u.s.w. Charakter des Daseins, sondern sein Wesen als
innere, eigene und direkte Transzendenz des Seins, „(...) einen mit dem geworfenen Entwurf einigen
Charakter der innersten transzendentalen Endlichkeit des Daseins“ (a.a.O., S. 235). Das Dasein ist
selbst Zeit, Zeitlichkeit und nicht ein logisches Ich, das in der Zeit als reiner Anschauungsform steht.
„Nicht weil die Zeit als «Form der Anschauung» fungiert und eingangs in der Kritik der reinen Ver-
nunft als solche ausgelegt wird, sondern deshalb, weil das Seinsverständnis aus dem Grunde der End-
lichkeit des Daseins im Menschen sich auf die Zeit entwerfen muß, (...). Diese selbst erschüttert so die
Herrschaft der Vernunft und des Verstandes. Der «Logik» ist ihr von alters her ausgebildeter Vorrang
in der Metaphysik genommen. Ihre Idee wird fraglich“ (a.a.O., S. 242).
Die Zeitlichkeit des Daseins ist nicht der letzte, intentional-transzendentale Horizont des Ver-
stehens des Seins und Begegnens von Seiendem, sondern die innere und eigene Zeitlichkeit des Da-
seins als direkter und schon seiner Wahrheit ausgelieferter Anspruch des Seins. „(...) dieses Hinaus-
brechen der Wahrheit über den Einzelnen selbst als In-der-Wahrheit-sein, schon heißt, an das Seiende
selbst ausgeliefert sein, in die Möglichkeit versetzt sein, es selbst zu gestalten. (...). Wenn sie vom
Ewigen sprechen, wie sind sie zu verstehen? Sie sind nur zu verstehen und nur möglich dadurch, daß
die Zeit nicht nur das ist, was die Transzendenz ermöglicht, sondern daß die Zeit selbst in sich hori-
zontalen Charakter hat. (...). Und um diese innere Struktur der Zeitlichkeit herauszustellen, und um zu
zeigen, daß die Zeit nicht nur ein Rahmen ist, in dem die Erlebnisse sich abspielen, um diesen inners-
ten Charakter der Zeitlichkeit im Dasein selbst offenbar zu machen, bedurfte es der Anstrengung mei-
nes Buches (sc. S. u. Z.)“ (a.a.O., S. 281 f.).
Die Zeit ist Horizont, nicht weil sie der leerste intentionale Horizont eines logischen Subjekts
ist, sondern weil sie die eigene und innere Zeitlichkeit des Daseins selbst als direkter, vorlogischer
Anspruch und Transzendenz des Seins ist. So ist die Zeitlichkeit des Daseins innere und horizontale
Transzendenz, sofern das Dasein der direkte Anspruch und das Ende des Verlangens des Seins ist.
Daher wird auch hier, wie schon in „Die Grundprobleme der Phänomenologie“ aus dem Jahre 1927,
die Frage gestellt, von woher das Sein zu „begreifen“ sei (a.a.O., S. 224). In diesem vorontologischen
und vorlogischen direkten Anspruch des Seins auf das Dasein geht es um ein „vorbegriffliches Seins-
110
verständnis“, in welchem „(...) das Seinsproblem einen inneren Bezug zur Endlichkeit des Menschen
(...)“ aufweist (a.a.O., S. 226 und 226-230).
Das Sein entspringt aus dem angesprochenen Fehl des sterblichen Daseins, aus seiner fehlenden
Abwesenheit und ist nicht Realität und Wirklichkeit. Heidegger setzt also nicht einen Menschen vor-
aus, welcher die Metaphysik und die Kritik als sein Organon hat, sondern der Mensch als Dasein ist
schon der Wahrheit des Seins ausgeliefert und überantwortet. Daher handelt es sich beim Dasein als
geschehender Metaphysik um ein „verborgenes Geschehen der Metaphysik“ im Dasein (a.a.O., S.
231). Das Dasein ist kein logisches Ich, welches seine Versuche als seinen Schein kritisch auflösen,
annullieren, verbessern, wiederaufnehmen oder sich dialektisch aneignen könnte, sondern es ist selbst
ebenso seine Wahrheit wie seine Unwahrheit, wozu wesentlich auch das Unwesen des Scheins gehört
(a.a.O., S. 245. Auch in S. u. Z. im Paragraphen über die Wahrheit ist das Dasein schon in der Wahr-
heit oder Unwahrheit).
Kant wollte keine Theorie der Naturwissenschaften liefern, sondern das Wesen der Metaphysik
und Ontologie so behandeln, daß darin der Schein keine Tatsache darstellt, die wir in der transzenden-
talen Logik negativ konstatieren können, sondern als positives Problem zur Natur des Menschen ge-
hört (a.a.O., S. 275). Das Dasein als direkter Anspruch des Seins ist schon in seiner Wahrheit; es ist
wesentlich diese als auch seine Unwahrheit. „Auf Grund der Endlichkeit des In-der-Wahrheit-seins
des Menschen besteht zugleich ein In-der-Unwahrheit-sein. Die Unwahrheit gehört zum innersten
Kern der Struktur des Daseins. Und hier glaube ich erst die Wurzel gefunden zu haben, wo der meta-
physische «Schein» Kants metaphysisch begründet wird“ (a.a.O., S. 281).
Aus diesem Kontext heraus könnten wir auch die Bedeutung des Begriffs der Uneigentlichkeit
in S. u. Z. verstehen. Es überrascht daher, wenn Heidegger von einer „Wiedererinnerung“ aus der
Vergessenheit in das eigene Wesen des Daseins spricht (a.a.O., S. 233 ff., 246), zu welchem als direk-
ter Anspruch des Seins Wahrheit und Unwahrheit oder Schein gehört und als Zusammensetzung dieser
auch ist. All diese Erörterungen nehmen einen sehr wichtigen Platz in Heideggers Werk ein und wer-
den in Teil IV und V im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Wesen der Metaphysik und demje-
nigen der Wahrheit weiter entfaltet.
Das bisher Gesagte diente dem Zweck, deutlich zu machen, daß die Zeit nicht der leerste inten-
tionale Horizont als reine Anschauungsform ist, sondern als Zeitlichkeit des Daseins selbst das direkt
vom Sein beuaftragte Dasein ist. Das Dasein steht schon unter dem verlangenden Auftrag des Seins
vorontologisch vor jedem logischen Entwerfen. Das Sein kann nur aus diesem vorontologischen Auf-
trag entspringen und ist keine fundamentalontologische Bedingung des Seienden! Das wird weitge-
hend sowohl im Kantbuch als auch in der Vorlesung „Die Grundprobleme der Phän.“ aus dem Jahre
1927 behandelt.
Die Tatsache, daß es vorontologisch vor jedem logischen Entwerfen im Auftrag des Seins steht,
hat das Dasein in Erinnerung zu rufen. Allerdings ist dieses Erinnern nicht Erreichen eines festen An-
fangs, sondern die Unwahrheit und das Unwesen des Scheins gehören schon, wie wir weiter oben be-
111
schrieben haben, zum In-der-Wahrheit-sein des Daseins, und dieses Geschehen sollte als inneres und
eigenes Wesen des Daseins betrachtet werden. Das Sein und die Zeit sind nicht die letzten intentional-
transzendentalen und leersten Anschauungsformen, welche das Erscheinen des Seienden ermöglichen.
Das Sein ist nicht die „Realität“ und „Wirklichkeit“, innerhalb derer Seiendes erscheinen und begegnet
werden kann, sondern es ist das direkt aus dem Dasein seine Wahrheit Verlangende und das Gesche-
hen dieser Wahrheit im Seienden Ermöglichende. Das Seiende ist im direkten und vorontologischen
Verstehen von Sein im Dasein möglich(!), in welchem das Sein in sein Nichtsein übergeht (Syn-thesis,
wie sie Heidegger in den Kantvorlesungen versteht), und wird nicht durch das Sein als logische Pro-
pädeutik rückgängig als Wirkliches und Reales begriffen, konstituiert und begegnet.
„Hierin bekundet sich ein eigentümliches Verhältnis, das in der ganzen Dimension der Philosophie
relevant ist, daß innerhalb des Ontologischen höher als alles Wirkliche das Mögliche ist. Alles Ent-
springen und alle Genesis im Felde des Ontologischen ist nicht Wachstum und Entfaltung, sondern
Degeneration, sofern alles Entspringende entspringt, d.h. gewissermaßen entläuft, sich von der Über-
macht der Quelle entfernt. Seiendes kann als Seiendes von der Seinsart des Zuhandenen nur entdeckt
werden, es kann im Umgang als das Seiende, das es ist und wie es an sich ist, nur begegnen, wenn
dieses Entdecken und der Umgang mit ihm durch eine irgendwie verstandene Praesenz erhellt sind“
(Grundpr. der Phän., SS. 27, S. 438).
Das Sein ist keine Realität und Wirklichkeit, sondern das Aufbrechen aus der Abwesenheit und
das Erfüllen eines Fehls. Das Seiende kann nur begegnet werden, wenn aus diesem die gestimmte
Frage nach dem Sein nicht als nach der Realität und Wirklichkeit, sondern als nach dem Möglichen
gestellt ist, wenn Sein aus seinem im Dasein erlittenen Fehl erst ins Anwesen antritt. Die Möglichkeit
steht höher als die Wirklichkeit und „Realität“. So ist die „Synthesis“ und die „Erfahrung“ nicht durch
ein Bewußtsein als „Gattung“ möglich, sondern im ontologischen Handeln der faktisch „existenten
Existenz“, in welchem die Möglichkeit höher als die Wirklichkeit steht (Kants Kritik d. r. V., WS
27/28, S. 380 f.).
3. 4. 7. Der vorontologische Unterschied
Eigentlich geht es daher nicht um eine ontologische Differenz und einen Übergang des Seienden
auf das Sein und den Seinssinn im Sinne eines wirklichen Entwurfs, sondern um einen „vorontologi-
schen Unterschied“.
„Der Unterschied ist da, d.h. er hat die Seinsart des Daseins, er gehört zur Existenz. Existenz heißt
gleichsam >im Vollzug dieses Unterschiedes sein<. (...) Der Unterschied von Sein und Seiendem ist in
der Zeitigung der Zeitlichkeit gezeitigt. (...) Der Unterschied von Sein und Seiendem ist vorontolo-
gisch, d.h. ohne expliziten Seinsbegriff, latent in der Existenz des Daseins da. Als solcher kann er zur
ausdrücklich verstandenen Differenz werden. Zur Existenz des Daseins gehört aufgrund der Zeitlich-
112
keit die unmittelbare Einheit von Seinsverständnis und Verhalten zu Seiendem. Nur weil dieser Unter-
schied zur Existenz gehört, kann er in verschiedener Weise explizit werden. Weil in der Ausdrücklich-
keit dieser Unterscheidung von Sein und Seiendem beide Unterschiedenen sich gegeneinander abhe-
ben, wird dabei das Sein dabei mögliches Thema eines Begreifens (Logos). Daher nennen wir den
ausdrücklich vollzogenen Unterschied von Sein und Seiendem die ontologische Differenz“ (Grundpr.
der Phän., SS 27, S. 454).
Es gibt also einen vorontologischen Unterschied, in welchem das Sein nicht als leerster und
letzter intentional-transzendentallogischer Horizont die Realität und so transzendentallogische Ermög-
lichung des Seienden ist, sondern die vorontologische Ermöglichung als solche. Die Differenz ist also
keine ontologische, in welcher das Sein ein realer Entwurf des Seienden wäre, sondern eine voronto-
logische, in welcher das Sein erst aus seiner radikalen Frage und seinem Fehl im Dasein ins Anwesen
aufbricht. Deswegen ist das Dasein das Zwischen dieser Differenz, in dessen Frage und dem in ihm
erlittenen Fehl der Wahrheit des Seins, dieses entspringt. So ist die Frage keine methodische, die im
Übergehen auf einen wirklichen und realen Entwurf vermittelt und aufgehoben werden könnte, son-
dern die Antwort lebt und entspringt aus der Frage, und sie kann diese nicht als bloßen methodischen
Ansatz vermitteln. Das Befragte schlägt aus seinem erlittenen Fehl in das Gefragte um. Das Sein ist
vorontologisch Differentes, es entspringt in diesem fragenden Fehl aus der Abwesenheit und lebt aus
diesem und nicht aus der übergehenden Vermittlung der Frage in Richtung auf einen realen und anwe-
senden Entwurf. Weiterhin wird das Seiende in diesem aus dem Fehl aufbrechenden Sein nicht als in
seiner vollkommenen Realität aufgehoben, sondern es ist möglich aus der Er-möglichung des Seins,
welches keine Realität ist, nach seinem Entspringen aus dem Fehl ins Sein sich nicht als Realität und
Wirklichkeit etabliert und verwirklicht, sondern weiterhin das Er-Möglichende ist. Das Sein ermög-
licht das Seiende als ein Differentes85 und von ihm Ermöglichtes und nicht onto-logisch als einen
wirklichen Einzellfall. Das Sein verwirklicht sich nicht im Seienden, sondern es ist das Mögende. Wie
85 Dagegen sieht W. Marx das Sein nach der Kehre als Einheit vor jedem physischen Seienden. So sei das Sein als letzter Grund und Einheit nur metaphysisch und negativ als Sich Entziehendes angesehen. Die Seinsgeschich-te und das Seinsgeschick sind eine Bestätigung dieser Einheit (Die ontologische Differenz in der Perspektive der regionalen Ontologie des Daseins. In: U. Guzonni (Hg.), Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980, S. 180-182). Das destruktive Denken aber richtet sich gegen die Metaphysikgeschichte und so kommt die Überwindung der Metaphysik in Gang. Das Sein steht nunmehr unter einer affirmativen Bedingung und Abhängigkeit dieser Geschichte der Metaphysik als negativer Verdeckung des Seins, und die Einheit des Seins wird anders und nicht mehr negativ und künstlich separativ gefragt. Sie ist dem zu Destruierenden verpflichtet (S. 183 f.). So haben die Wissenschaften das Recht, sich von der Philosophie zu lösen und sind doch Vollendung der Tendenz der Meta-physik, separativ das Sein selbst zu bestimmen (S. 186). So bleibt das Denken des Seins machtlos und praktisch kraftlos neben der Geschichte der Metaphysik und der modernen Welt stehen, welche sich selbst überlassen werden (S. 186 f.). Dieses Sein ist das Sein das Daseins, wohl eine transzendentale notwendige Bedingung, aber keine hinreichende, nicht die ganze Welt, nicht zumindest ein Geschick des transzendenten Seins (S. 197). Es ist merkwürdig, daß W. Marx die Stellung Heideggers nach der Kehre und die Destruktion der Metaphysik immer-fort als einen transzendentalen Versuch des Daseins ansieht. Dagegen steht, wie schon gesehen, C.-F. Gethmann, nach dem bei Heidegger seit dem Mißlingen des transzendentallogischen Versuchs für eine universale und phä-nomenologische Synthesis und transkategoriale Einheit bei S. u. Z. und der Kehre das transzendentale Sein von einer ontologischen Seinsthese ersetzt wird (Verstehen und Auslegung, a.a.O., z.B. S. 281 ff.). (In diesem Sinne auch D. Thomä, Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, a.a.O., z.B. S. 276).
113
es nicht aus dem Seienden als Frage nach der logischen und begründenden Bedingung eines Realen
gestellt wird, so ist es auch nicht die Wirklichkeit eines Wirklichen, in welchem sie sich verwirklicht.
Das Seiende ist Nichtsein des Seins und dessen Unterschied. Das Sein ermöglicht das Seiende als ein
Mögliches und nicht als ein Wirkliches. Aus seinem vorontologischen Unterschied ermöglicht das
Sein das Seiende als Mögliches, d.h. als ein Entspringen aus einem Fehl und nicht als Wirklichkeit
und Realität! Das Sein west (handelt) im Ermöglichen des Seienden als Möglichkeit und nicht als
Wirklichkeit! Es ist nicht eine Möglichkeit, die dann in Wirklichkeit umschlägt. Im ermöglichten Sei-
enden aus dem vollzogenen vorontologischen Seinverständnis bleibt das Sein zugleich das Mögliche
und Fehlende! Es gibt einen nicht aufhörenden Zirkel zwischen Sein und Seienden, sofern das Sein
nämlich nicht Realität und letzter realer Entwurf ist, sondern möglicher Fehl und direkte Frage am
Seienden und aus dem Dasein heraus.
Aus diesem vom Sein er-möglichten Unterschied zwischen zwei Möglichen und nicht Wirkli-
chen ent-springt jeder Logos - als direkter Anspruch und Gegenwurf des Seins - und jede Fragwür-
digkeit des Möglichen. Deswegen steht das Dasein als Logos gerade an diesem Unterschied des er-
möglichenden Seins und ist nicht der Vermittler auf einen realen Entwurf.
Das vorontologisch entsprungene Sein er-möglicht das Seiende, bleibt aber weiterhin das Fragwürdige
und Fehlende und ist nicht Wirklichkeit und Realität, welche sich im Seienden verwirklicht, sondern
sich am Seienden unterscheidet und an diesem wieder als Mögliches entspringt. Explizit thematisiert
wird dies beim späteren Heidegger.
3. 5. Die ontologische Differenz als Unter-scheiden des Seins
3. 5. 1. Das Sein ist nicht reaktives Mitanwesen, sondern entbergend-bergende Unterscheidung seiner selbst
Das Sein ist nicht das ontologische Erste als logische Gründung des Seienden, sondern es „ist“
das Seiende selbst als seine Ermöglichung und seine Wahrheit, welche das Dasein - in diese geworfen
- übernimmt. Die Wahrheit ist die Ermöglichung des Seienden und der Auftrag an das Dasein, somit
aber auch das Verwickeln und Geschehen des Seins im Fremden.86
Die Ermöglichung des Seienden vom Sein ist nicht die Verwirklichung des Seins als bedingen-
der Realität, sondern das Unter-scheiden des Seins in sich, das Sich-von-sich-ent-werfen, und zwar
nicht in die Leerheit oder in die Welt, sondern in sich. Die ontologische (eigentlich vorontologische)
Differenz ist nicht eine ontische zwischen Vorhandenen. Das Sein ist nicht das Seiende als die Ver-
86 B. Mikulic meint, daß Heidegger die Differenz von Sein und Seiendem einführt, während Parmenides das Wesen des Seins im Seienden intendiert (Sein, Physis, Aletheia, a.a.O., S. 194, 198 f.). Diesen entscheidenden
114
wirklichung einer transzendentallogischen Realität als Horizontes des Begegnens von Seiendem - ge-
nausowenig ist es seine volle Präsentation und Vervollständingung. Die Unterschiedenen, Sein und
Seiendes, kommen aus dem Unter-scheiden des Seins als des Er-Möglichenden und am Seienden Sich-
fragenden, und das Seiende ist nicht Erscheinung des Seins, sondern seine Wahrheit, Ermöglichung
des die Realität des Seins beraubenden Seienden, so daß das Sein in seinem Ermöglichten verborgen
bleibt. Das Sein ermöglicht das Seiende als Mögliches und ereignet das Seiende als (eventuell) Wirk-
liches, aber bei diesem Ereignis wird ihm seine Möglichkeit vom Seienden beraubt und enteignet. Das
Sein ist die Ereignung, aber auch Enteignis im ermöglichten Sein des Anderen. Das Seiende eignet
sich das Sein an, west nicht innerweltlich im Sein als Realität, sondern übernimmt aneignend die Mög-
lichkeit des Seins. Es ist Über-kommen und Er-eignis. Deswegen ist es nicht nur einmalige und stati-
sche Selbstverlorenheit und Entzug für die Ermöglichung des Anderen, sondern weiterhin strittiges
Zusammengehören, Verwickeln und Geschehen des ermöglichenden Seins im Seienden, in dem die
Wahrheit herausgefordert wird.
Doch gerade angesichts dieser Gefahr, gerade aus diesem herausfordernden und gefährlichen
Geschehen, aus dieser Tat des inneren Entzugs, aus diesem ermöglichenden vorontologischen Unter-
Schied zwischen Sein und Seiendem und nicht aus ihrer ontologischen Dialektik wird etwas „Höhe-
res“, eine neue „Qualität“ und Wahrheit aufbrechen.
„Sein des Seienden heißt: Sein, welches das Seiende ist. Das >ist< spricht hier transitiv, übergehend.
Sein west hier in der Weise eines Übergangs zum Seienden. Sein geht jedoch nicht, seinen Ort verlas-
send, zum Seienden hinüber, so als könnte Seiendes, zuvor ohne das Sein, von diesem erst angegangen
werden. Sein geht über (das) hin, kommt entbergend über (das), was durch solche Überkommnis erst
als von sich her Unverborgenes ankommt. Ankunft heißt: sich bergen in Unverborgenheit: also gebor-
gen anwähren: Seiendes sein. (...) Die Differenz von Sein und Seiendem ist als der Unter-Schied von
Überkommnis und Ankunft der entbergend-bergende Austrag beider“ (Identität und Differenz, Pful-
lingen 1957, S. 62).
Das Sein innerhalb seiner ist selbst der Unter-schied für das Seiende. Das Sein ist nicht Sub-
stanz, sondern Sich-unterscheiden für das andere Sein. Die Differenz ist nicht eine, die zwischen zwei
vorhandenen Seienden vorhanden ist, sondern der Unter-Schied des Seins in sich selber für das Ande-
re und das Ankommen des Anderen als Sein und nicht als Abfall des ersten oder als Überqueren in ein
ontisch Anderes. Das Sein als Ankommen in das Seiende ist Geschehen und kommt nicht in einem
statisch Differenten87 zur Ruhe. Es bleibt weiterhin das „geborgene“ Mögliche und entspringt wieder
als solches aus diesem vorontologischen Geschehen und nicht aus einer ontologischen Dialektik und
Aufhebung des Seienden im Sein. Dies ist nicht logische, sondern vorontologische Ermöglichung. Es
Beitrag Mikulic‘ in der Parmenides-Forschung und seine Stellung zu Heidegger stellt P. Thanassas fest (O proo-tos deuteros plous (griechisch). Herakleio 1998, S. 82). 87 Daher kann man bei Heidegger nicht von Unmittelbarkeit des Seins sprechen, und zwar im Gegensatz zu anderen Philosophen (etwa Polti über Heidegger im Gegensatz zu Adorno, in: Ontologie als «Inbegriff von Ne-gativität». In: Innen- und Außenansichten a.a.O., S. 276-284).
115
geht um Ankunft, sofern das Sein sich nicht im Seienden verwirklicht, sondern immerhin Möglichkeit
und verborgener Fehl ist. Das Sein bietet sich als Unter-Scheiden88 für das Sein des Anderen an, und
diese Er-möglichung verbirgt sich im Fremden, aus dem sie entspringen mag. Das Sein er-möglicht
das Seiende und verwirklicht sich nicht in diesem; so bleibt es immerhin das Fehlende, Mögliche und
Entzogene. Das Sein ist für das Seiende als Anderes89 ein Kategoriales, Frage des Fehlenden und
Möglichen und nicht ein starres Ontologem. Das Sein kommt nicht zu seiner Verwirklichung, zu sei-
nem Sich-zeigen, sondern sein Aufgehen ist zugleich sein Entzug und Verbergen seiner Er-
möglichung im Seienden, in welchem es als Fehl wieder erlitten wird.
3. 5. 2. Das Sein als existentia und actus purus ist nicht das Sein als Enteignis und Bewahren seiner Wahrheit im sich enteignenden Ermöglichen des Unterschiedenen innerhalb seiner selbst. Das Sein zwischen „noch-nicht“ und „nicht-mehr“. Der neue Ursprung des Seins
Das Seiende ist nicht der logische oder ontologische Einzelfall einer Gattung, das Daßsein eines
Wasseins oder die existentia einer essentia, sondern das ermöglichende und sich verbergende Aufbre-
chen des Seins am Seienden. Demgegenüber ist in der Tradition der Scholastik Existenz nach Heideg-
ger das wirkliche Seiende. „Die scholastische Erklärung von existentia als sistentia extra nihilum et
extra causas; extra, d.h. eductum inter entia actualia - hinaus - und übergeführt unter das Wirkliche“
(Die Met. d. dt. Idealismus, SS 41, S. 17). Auf diese Problematik stoßen auch Kierkegaard und Jaspers
88 E. Kettering sieht genau das Sein als die Differenz selbst und nicht nur als einen Teil. "«Wesen» bzw. «Sein» meint dabei den «waltenden Unterschied zwischen Sein und Seiendem», den Heidegger in einem später hinzuge-fügten Absatz der Schlußbemerkung (sc. des Aufsatzes "Vom Wesen der Wahrheit" Bd. 9) typographisch als «Seyn» in Abhebung zum «Sein» als Pol der Differenz kennzeichnete" (E. Kettering, Fundamentalontologie und Fundamentalaletheiologie. In: a.a.O. Innen- und Außenansichten, S. 209.). Desweiteren könnte man aber die Konsequenz über das Übereignen der Unwahrheit in die Wahrheit, des Seins in das Seinden und des Seins in das Nichts ziehen. Jeweils haben wir eine innere und nichtige Unter-scheidung und eine höhere Herausforderung und Geschichte aus dieser, welche außerhalb einer ontologischen Dialektik liegt. 89 Der Satz "Jedes sein-lassende Entbergen eines bestimmten Seienden ist zugleich notwendig ein Verbergen des Seienden im Ganzen" (E. Kettering, a.a.O., S. 208) soll nicht so verstanden werden, als ob die Verborgenheit aus der Unverborgenheit entsteht. Es ist nicht ein äußerlicher Bezug als Scheinen des Einen und nicht Scheinen des Anderen, sondern die Verborgen-heit ist aktives Sich-entziehen zugunsten der Unverborgenheit, welche innerhalb der ersten west. Es ist eine innere Negation und nicht äußere Verneinung der Einen durch die Andere. Wenige Zeilen danach drückt es der Verfasser selbst mit den Wor-ten Heideggers aus: „Das Geheimnis, das «älter» ist als alle Entborgenheit, ...“. Wir haben desweiteren nicht eine Verborgen-heit als eine Verneinung von Seienden nacheinander. Es ist nicht ein äußerliches Überdecken des Einen durch das Andere innerzeitlich, sondern eine innere Bezogenheit als Ereignis und Geschehen der Wahrheit. Nur so ist die Wahrheit geschicht-lich. Die Verneinung und Verborgenheit zwischen Seienden wäre die ontische Differenz. Das epochale Wesen der Wahrheit ist Geschichte des Seins und nicht zeitliche Abfolge von Paradigmen. Die Geschichte ist geschicklich, sie ist Geschichte des Seins als aktiver Entzug und verbergendes Verwickeln in diesem Entzug und in dieser Geschichte. Das Sein west in seiner Geschichte. Das wird aber in diesem Entzug bzw. in diesem geschichtlichen Übereignis herausgefordert, damit eine "andere Geschichte" des Seins aufbrechen kann. Das Sein selbst als Entzug ist "Immanenz" in seiner Geschichte, Angang, "voronto-logischer" Fehl und anderer Anfang aus diesem und nicht ein negativ Absolutes. 90 Der Bezug zwischen Sein und Seiendem und das Sein als Unter-schied sollen im Blick behalten werden, wenn man Heideggers Seinsverständnis mit jenem von älteren Philosophen zu vergleichen versucht. Solche Versuche, welche die Seinsvergessenheit z.B. bei Thomas von Aquin bestreiten, gibt es nicht selten, z. B.: J. B. Lotz, Mar-tin Heidegger und Thomas von Aquin, Pfullingen 1975, G. Siewerth, Das Schicksal der Metaphysik von Thomas bis Heidegger, Düsseldorf, 1987, M. Müller, Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg 1964. Besonders J. B. Lotz sieht Heideggers Seinsbegriff unter den Voraussetzungen einer Substanzontologie und der analogia entis.
116
(a.a.O., S. 19-75), bei denen die personale und verantwortliche Konkretion Existenz ist. Die Idee muß
erscheinen, sie wird Wirklichkeit, actus purus.
„Als akrotaton (gr) (später actus purus) übernimmt das Seiendste das «Sein» als bloße «Idee» im Sin-
ne der Gedachtheit, Vorgestelltheit, die jeglichen zukommt, sofern es als gewirktes Wirkendes (Wirk-
liches) nach dieser Idee bewirkt und verursacht (geschaffen) ist. Damit gehört als weiterer Charakter
zur Wahrheit des Seienden, daß dieses im Sinne einer «Entsprechung» zum Sein überhaupt je so und
so vielstufig sich ausfaltet“ (a.a.O., S. 187).
Die absolute Idee kommt zur absoluten Wirklichkeit. Solcherweise erscheint auch die Herrlichkeit
Gottes als d¡na heoÀ, majestas, gloria dei (a.a.O., S. 194). Das Sein als Idee kommt zu sich als zu
seiner Verwirklichung im Seienden. So ist es perfekt und anwesend. „>Das Seiende ist wirklich.< Der
Satz meint ein Zweifaches. Einmal: Das Sein des Seienden liegt in der Wirklichkeit. Sodann: Das Sei-
ende als das Wirkliche ist >wirklich<, d.h. in Wahrheit das Seiende. Das Wirkliche ist das Gewirkte
eines Wirkens, welches Gewirkte selbst wieder wirkend und wirkfähig ist“ (Nietzsche II, S. 399).
Das Seiende als das Wirkliche ist gewirkt und wirkend, es reagiert und nimmt reaktiv am vor-
handenen Wirkungszusammenhang teil. In diesem Teilnehmen beweist das Seiende sein Sein, welches
als idea zum Erscheinen kommt.
„Esse im Unterschied zu essentia ist esse actu. Die actualitas aber ist causalitas. Der Ursachecharakter
des Seins als Wirklichkeit zeigt sich in aller Reinheit an jenem Seienden, das im höchsten Sinne das
Wesen des Seins erfüllt, da es das Seiende ist, das nie nicht sein kann. >Theologisch< gedacht, heißt
dieses Seiende >Gott<. Es kennt nie den Zustand der Möglichkeit, weil es in diesem etwas noch nicht
wäre. In jedem Noch-nicht liegt ein Mangel des Seins, sofern dieses durch die Beständigkeit ausge-
zeichnet ist. Das höchste Seiende ist reine, stets erfüllte Verwirklichung, actus purus. Das Wirken ist
hier die aus sich wesende Beständigung des für sich Bestehenden. Dieses Seiende (ens) ist nicht nur
das, was es ist (sua essentia), sondern es ist in dem, was es ist, stets auch dessen Beständigkeit (est
suum esse non participans alio)“ (a.a.O., S. 415).
Das Sein ist immer seine Beständigung, seine Ver-wirklichung und Reaktion den anderen ge-
genüber (Grundpr. der Phän., SS 27, S. 115). Das Sein ist so das ontologisch Erste, das Seiende aber
das Kategoriale des Seins, seine Beständigung. Das Sein ist nicht Kategoriales, und das Seiende bringt
seinem Sein nichts zu. Bei Kant hieße es, daß die Existenz kein reales Prädikat ist. Sie bezieht sich auf
die Frage, ob das Sein wirklich ist. Nach Suarez ist die Existenz bloße Verwirklichung ihrer essentia,
sie hat eigentlich kein Sein, sie ist keine res. „Die Existenz fügt nichts hinzu. Das ist genau die Kanti-
sche These. existentia nihil addit rei seu essentiae actuali. Die Existenz fügt zum wirklichen Was
nichts hinzu“ (a.a.O., S. 136).
Bei Heidegger ist das Sein aber besonders nach der „Kehre“ nicht Verwirklichung in seinem
Seienden, sondern Entzug und strittiges Verwickeln im Seienden, oder, wie es im Aufsatz „Identität
und Differenz“ genannt wird, Unter-scheidung. Das Sein entzieht sich und enteignet sich zugunsten
des Anderen. Das Sein ist nicht bloß seine Wahrheit, sein Aufgehen und seine Verwirklichung, son-
117
dern als Er-möglichendes ist es zugleich Entzug, Enteignis für das Andere, aber auch verborgener Fehl
in diesem. Seine Unverborgenheit schlägt in Verborgenheit um: ein lichtendes Verbergen, wie es beim
späteren Heidegger heißt. Wird aber aus dieser verborgenen Unverborgenheit eine andere, höhere
Wahrheit entwachsen? Das Sein gibt sich als Selbstentzug und ist nicht Grund und Idee, die zu ihrer
Beständigung kommt.90 In seinem Sich-geben ist das Sein Ab-grund. Die Zeit ist das An-sich-halten
des Seins zwischen „nocht nicht“ und „nicht mehr“, sein Entzug und seine Verwicklung im Seienden.
„In der eigentlichen Zeit und ihrem Zeit-Raum zeigte sich das Reichen des Gewesenen, also von nicht-
mehr-Gegenwart, die Verweigerung dieser. Es zeigte sich im Reichen von Zukunft, also von noch-
nicht-Gegenwart, der Vorenthalt dieser. Verweigerung und Vorenthalt bekunden denselben Zug wie
das Ansichhalten im Schicken (sc. Schicken des Seins): nämlich das Sich-entziehen“ (Zeit und Sein,
In: Zur Sache des Denkens, 1962, S. 23). Und: „Vom Ereignen her gedacht, heißt dies: Es enteignet
sich in dem genannten Sinne seiner selbst. Zum Ereignis als solchem gehört die Enteignis. Durch sie
gibt das Ereignis sich nicht auf, sondern bewahrt sein Eigentum“ (a.a.O.).
Das Sein bewahrt sein Eigentum in zweifacher Weise, welche letztlich ein und dieselbe ist.
Einmal ist das Sein zwischen „noch-nicht“ und „nicht-mehr“ ein neuer Ursprung. Das Ereignis be-
wahrt sein Eigentum in seinem Entzug, weil es nicht als Idee-Substanz zu seiner Verwirklichung in-
nerweltlich und reaktiv in der bestehenden Wirklichkeit kommt, sondern in seiner Ermöglichung und
Verwicklung im ermöglichten, strittigen und unentschiedenen Da als Er-möglichendes immerhin das
verborgene Fehlende und Mögliche bleibt. Zum zweiten ist das Seiende als Eigentum des Seins der
Ort der Ankunft des strittigen und entzogenen Wesens des Seins, und das Be-wahren ist eben das Auf-
brechen dieser verborgenen und ankommenden Wahrheit, welche das Sein nicht am Anfang hatte,
sondern qua Auftrag und als abwesender-möglicher Fehl nur an das Seiende verwiesen hat. Das Sein
gehört zu dem, was es freiläßt, weil es sich innerhalb seiner unter-scheidet und das Seiende nicht be-
wirkt, sondern ermöglicht.
„Das vom Anwesenlassen >gelassene< Anwesende wird dadurch erst als ein Anwesendes für sich, ins
Offene des Mitanwesenden eingelassen. Ungefragt und fragwürdig bleibt hier, von woher und wie es
«das Offene» gibt. Wird nun aber das Anwesenlassen eigens gedacht, dann ist das von diesem Lassen
Betroffene nicht mehr das Anwesende, sondern das Anwesen selbst. Demnach wird das Wort im fol-
genden auch so geschrieben: das Anwesen-Lassen. Lassen bedeutet dann: zulassen, geben, reichen,
schicken, gehören-lassen. Das Anwesen wird in diesem und durch dieses Lassen in das zugelassen,
wohin es gehört“ (a.a.O., S. 40).
Das Ereignis ist deswegen Entzug und Enteignis,91 weil das Sein nicht eine Substanz oder Idee
ist, die im vorhandenen Offenen zu ihrer Verwirklichung innerweltlich als Anwesendes mitanwest,
91 Das Sein ist Entzug und Enteignis, weil es sich unterscheidet und im so ermöglichten Seienden verwickelt und zum Fremden als zu seinem Entzug gehört. Es trägt innerhalb seiner seinen Entzug, das Zugehören und Einlas-sen des Fremden im Eigenen, es ist Selbstentzug und ist nicht ein negatives Ausbleiben des Seins als Ablassen und Verlassen des Seienden. Als negatives Ausbleiben des Seins im Seienden versteht dagegen die Enteignis des Seins P.-L. Coriando (Der letzte Gott als Anfang, a.a.O., S. 48). Aus dieser Enteignis und diesem Ausbleiben
118
sondern innerhalb seiner selbst, sich unter-scheidend, Seiendes ermöglicht, und in diesem weiterhin
als verborgener und möglicher Fehl anwest. In diesem Zusammenhang würden wir auch die Diskussi-
on im Protokoll des Aufsatzes über die Negation bei Hegel und Heidegger verstehen. Die Negativität
sei der Grund für die Absolutheit des Bewußtseins und nicht die spekulative Reflexion der Grund der
Negativität. Bei Heidegger ist sicherlich das Sein als Sich-entziehen die innere Negation des Seins und
die verborgene Möglichkeit in seinem Unter-schiedenen und nicht die Aufhebung jeder Negation92 in
einem weiteren Ganzen.
So gesehen, ist das Sein bei Heidegger vor ebenso wie nach 1927 nicht der letzte intentionale
Horizont der Realität, unter welchem reales und wirkliches Seiendes als Verwirklichung des Seins
erscheinen könnte. Als vorontologischer Unterschied entspringt es vielmehr aus einem erlittenen Fehl
im letzten Licht, d.h. aus der Abwesenheit. In diesem Sinne ist es das Er-möglichende, wobei es als
das Sich am Seienden Er-möglichende nicht in diesem verwirklicht, sondern weiterhin der entzogene,
verborgene und mögliche Fehl des Seienden bleibt. Das Seiende ist nicht Verwirklichung der Wirk-
lichkeit des Seins und die Welt keine logische Form, sondern im Sein west eine innere Differenz und
Frage an, ein innerer Fehl und ein inneres Nichts, aus dem dieses welterschließend zu seiner welter-
schließenden Darstellung kommt. Das Sein ist aus dieser Frage, diesem Fehl und dieser Differenz her
zu verstehen und nicht als adäquate und zirkuläre Auslegung des Anfangs. Es ist das Gefragte an/aus
der Existenz des Seienden und ist reales Prädikat. Es ist das welterschließende seiende Sein und nicht
das innerweltlich als absolute Position, Realität und Wirklichkeit sich verwirklichende, prädizierte und
ausgelegte.
sieht sie dann systematisch eine Rückkehr und einen kehrigen Gegenzug zum entzogenen Sein, welcher phäno-menologisch und nicht dialektisch vorbereitet werden kann, sofern das Dasein als mitgehender Entwurf die vom Sein vollzogene Kehre mitvollzieht (besonders S. 50-56, a.a.O.). Einen solchen Entzug und ein negatives Aus-bleiben sieht auch H. Helting (M. Heidegger und Meister Eckhart, Berlin 1997), gleichwohl sich hier nicht eine Rückkehr zum Sein, sondern ein Wiederkommen des Seins als entzogenen und nicht gegebenen Heiligen und Gottes ergibt (S. 37, 41-46, 51-54). Demgegenüber versteht die vorliegende Arbeit den Entzug als Selbsentzug des Seins und Verwicklung im Dasein und im Seienden und hält daher eine Rückkehr nicht für möglich. Viel-mehr geht sie von einem im Da-sein entspringenen Ursprung aus (siehe hierzu insbesondere Kap. IV). 92 So ist bei A. Jäger das Sein wie Gott ein negativ Absolutes, welches z.B. bei Schelling und Barth zu einer negativen Dialektik führt (Gott. Nochmals Martin Heidegger, Tübingen 1978). Jeder Unterschied und jede Exis-tenz wird sofort als Moment durch eine formale Negation der Grenzen in der Insistenz aufgehoben. Gegen diese Intention stünde H. Küng mit seinem Werk "Menschwerdung Gottes“, München 1989. Bidian sieht nicht nur eine Aufhebung des Entgegengesetzten, sondern vielmehr auch eine Aufhebung der ersten Identität ins Nichts (Bidian E., a.a.O., S. 40 ff). Das Sein als Eines ist nicht. Das Sein ist Alles als Nichts (S. 56). Auch Ohashi (O-hashi R., Ekstase und Gelassenheit: Zu Schelling und Heidegger, München 1975) arbeitet an der Aufhebung jedes Unterschiedes im ekstatischen und lebendigen Werden im Gegensatz zu Hegels positiver Dialektik der Idee.
119
IV. Die Diagnose der Metaphysik und des Nihilismus. Tod oder Fehl Gottes?
1. Der Tod und der Fehl Gottes
1. 1. Der Tod Gottes als Moment der dialektischen Aneignung und der Fehl am Dasein selbst
Heideggers Beitrag zum Sinn der Wahrheit des Seins setzt auch mit der Metaphysikkritik der
Ontotheologik an. Diese Kritik ist aber keine Korrektur und Neugründung des metaphysischen oder
ontotheologischen Systems. Es geht vielmehr um die destruktive Darstellung eines verborgenen Pro-
zesses, der plötzlich als Verfall erscheint und zum Tode Gottes führt. Heideggers Darstellung dieser
Logik beansprucht für sich, radikaler zu sein als die Kritik und die Darstellung der decandence bei
Nietzsche (Der europäische Nihilismus, Bd. 48, SS 40, S. 44).
Endet also diese Darstellung mit dem Tod Gottes? Ist der Tod Gottes das Ende dieses metaphy-
sischen Prozesses und der Raum für den neuen nicht metaphysischen Anfang? Oder ist der Tod selbst
nur ein Moment im dialektischen Prozeß einer zirkulären und immer wieder anfangenden Bewegung?
Genausowenig wie in Heideggers Angebot eine Neugründung der Metaphysik gesehen werden kann,
ist sie eine dialektische Destruktion als Abbauen und Aneignen des Scheins aus dem eigentlichen und
un-bedingten a-theistischen Subjekt, welches Gott in der Wirklichkeit setzte. Heidegger sieht das Fal-
len Gottes nicht im Bereich des Scheins, sondern am Dasein selber, oder umgekehrt gesagt, sieht er
das Dasein in seinem Schein und als Schein, welchen das Dasein nicht als sein Subjekt kritisch-
dialektisch aneignen und seine Wahrheit in sich aufheben kann. Diese systematische These des späte-
ren Heideggers resultiert aus seinen immanenten Voraussetzungen von Wahrheit und Dasein. Der
Ausdruck bei Heidegger für die Gottlosigkeit ist der „Fehl Gottes“. Fehl Gottes ist die Erfahrung des
Ausbleibens und des Mangels von Gott und die Not Gottes und nicht nur ein toter Gott, welchen der
Mensch tötet und durch einen neuen ersetzt. Tod und Fehl Gottes sehen ähnlich aus, aber es kann sein,
daß sie total verschieden sind, vorallem dann, wenn - wie später ausgeführt wird - der Fehl Gottes aus
einem „Übermaß des Wollens“ ermittelt wird.
1. 2. Der Nihilismus schafft nicht Raum für die Überwindung der Metaphysik
Oft verwechselt man den Nihilismus und die mit ihm verbundene Erfahrung des Nicht und der
Negativität mit dem ursprünglich nichtenden Nichts im Sein. In Übersetzung folgt eine hierfür typi-
sche Beschreibung.
„Der Nihilismus als Enthaltung einer Identifizierung des Seins mit Gott (Negation, Abneigung zu ei-
ner Niederwerfung-Subsumtion in rationalen Schematismus), oder als Verweis Gottes auf das Nichts
120
(im Sinne des Leeren oder der Unbestimmtheit des Denkens, wenn es die Existenzart des Seins be-
stimmt), also dieser Nihilismus scheint vielmehr theologischer zu sein als die spekulative Metaphysik
oder die utilitaristische Ethik.“93
Eine solche Stellungnahme ist inhaltlich auf die Äußerungen Heideggers in den „Holzwegen“
und in „Identität und Differenz“ bezogen.
„Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben
muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher. Dies sagt hier nur: Es ist freier für ihn, als es die Onto-
Theo-logik wahrhaben möchte“ (I. D., S. 71). Und: „Wer die Theologie, sowohl diejenige des christli-
chen Glaubens als auch diejenige der Philosophie, aus gewachsener Herkunft erfahren hat, zieht es
heute vor, im Bereich des Denkens von Gott zu schweigen“ (I. D., S. 51).
Auch in den „Holzwegen“ (Nietzsches Wort, Bd. 5, S. 203) ist die Kritik des Christentums nicht
zugleich Kritik des christlichen Glaubens. Der Nihilismus ist so der erste Schritt oder zumindest der
Raum für den Einsatz einer nicht metaphysischen Theologie. Wie später zu zeigen versucht wird, ist
der Nihilismus kein Ende, sondern nur vollendender Zwischenzustand in der Logik und im Prozeß der
Metaphysik. So ist er am Ende die selbstbewußte Vollendung der Metaphysik. Die vorherige Interpre-
tation weist aber eine bekannte Hilfestellung auf: Die Christlichkeit ist nicht das Christentum, welche
so im Verfall des Christentums und im Tod Gottes wieder der reine Ursprung sein kann. Dieser Aus-
sicht über die Christlichekit ist der Exkurs in Teil V gewidmet. Die Christlichkeit im Sinne des reinen
Glaubens ist Voraussetzen eines unmittelbaren Gottes als negativ Absoluten und seine Vermittlung
durch eine negative Dialektik. Der in der Geschichte erfolgte Legitimationsversuch ihres im Gott auf-
gehobenen Ansatzes ist Apologetik.
A. Gethmann-Siefert interpretiert den Fehl Gottes in der Intention des Todes von Gott, obwohl
sie seine Bedeutung nicht auf einen ganz adäquaten Ausdruck für den Tod Gottes beschränkt. „Nach
einer solchen Betrachtung der von Nietzsche angeregten und vertieften Auslegung der Geschichte der
Metaphysik als Nihilismus, die ihren Ausdruck im Tod Gottes findet, wird es möglich, Hölderlins dem
Ausdruck Nietzsches ähnliche Erfahrung des >Fehls Gottes<, durch die für Hölderlin das gegenwärti-
93 Giannaras Ch., Chaidegger kai Areopagites (griechisch), Athina 1988, S. 63. In diesem Zusammenhang sieht E. Jüngel dieses Nichts und den Tod Gottes nicht als Destruktion und Abbau des Gottesbegriffs und als Angele-genheit für einen völlig neuen Anfang "remoto deo", sondern, nachdem er diesen Tod nicht als Destruktion, sondern als notwendiges Ende der immanenten Voraussetzungen des metaphysischen Denkens im Beispiel Kants, Fichtes und Nietzsches verstanden hat - obwohl dies unberechtigt und absurd sei, sofern die Metaphysik Gott tötet, weil sie ihn nicht mit dem Tod zusammendenken könne -, läßt er den Tod Gottes dagegen in der Theologie als christologisches und so auch trinitarisches Ereignis vom Gott selber als Identität zwischen Wesen und Existenz, als Trinität und als Bewegung Gottes zu sich und zur Welt bestimmen (E. Jüngel, Gott als Ge-heimnis der Welt, (6. Aufl.) Tübingen 1992). Die vorliegende Untersuchung sieht auch aus verschiedener Per-spektive den Tod Gottes in der Metaphysik nicht als eigentlichen Tod, sondern als ein Moment eines immer wieder anfangenden "circulus votiosus deus". Aus derselben Perspektive kann aber diese Theologie des Todes von Gott fragen (Teil V), ob denn der Tod als Selbstbestimmung Gottes, über welchen Gott als Leben der Sieger ist, eigentlich Tod Gottes ist, "von dem!" er auferstehen kann.
121
ge Weltalter bestimmt ist (Hw 248), im Zusammenhang zu sehen.“94 Der Fehl Gottes ist nicht nur
streng theologische Bezeichnung eines Atheismus oder des nicht daseinsmäßigen Gottes.
„Der erfahrene Mangel Gottes, als der sich Hölderlins Aussage vom Fehl Gottes damit auslegt und der
die Zeit zur >dürftigen Zeit< macht (Hw 253 f.), ist nicht allein problematisch, weil Gott tot ist (Hw
253), sondern darüber hinaus und dieser Erfahrung vom Tod Gottes vorgängig, weil der Mensch kein
adäquates Selbst- und Weltverständnis artikulieren kann.“95
Das nihilistische Gottesverhältnis wird hier in Betracht auf das Seinsverständnis gesetzt. Es
wird von der Überwindung der Metaphysik gesprochen. Das Empfinden der Seinsvergessenheit als
Mangel, als Dürftiges, welches auch den Zugang zu Gott wegen der Selbstverständlichkeit des Unbe-
dürftigen entzieht, und so den Fehl oder den Tod Gottes erbringt, „(...) wäre ein erster und wichtiger
Schritt auf dem Wege einer neuen Seins- und Gotteserfahrung (...).“96 Ist aber die Reflexion des Todes
von Gott als Ende der Metaphysik ein erster Schritt oder der Raum für das Einsetzen einer neuen Got-
teserfahrung? In diesem Sinne sollte die Erfahrung des Todes von Gott das Brechen des metaphysi-
schen Denkens als Onto-theo-logik und das Gefühl der Not und des Bedarfs eines anderen Denkens
sein und so der erste Schritt und der Raum für die Überwindung der Metaphysik. Allerdings bleibt die
Frage offen, ob der Fehl Gottes weiterhin adäquater Ausdruck für den Tod Gottes und die Seinsver-
gessenheit ist.
Nach Heidegger ist das schweigende Denken vor Gott wegen der Grenzen, die gestellt sind,
dem göttlichen Gott näher als die Metaphysik und die Ontotheologik. Dieses Schweigen ist indes kei-
nesfalls der Fall des Nihilismus, worauf demnächst ausführlich eingegangen wird. Nach der oben aus-
geführten Interpretation wird davon ausgegangen, daß ein solches Schweigen die Annäherung des
nihilistischen Denkens an den christlichen Glauben bedeutet. Der Bau der Metaphysik sei ein Produkt
des Christentums und nicht des christlichen Glaubens gewesen, damit am Ende der Metaphysik das
Schweigen vor Gott und der christliche Glaube als der wahre Anfang der Theologie wieder erscheine.
Der Glaube übernimmt dann ohne die Mittel der Ontotheologik den Versuch für eine Theologie. Diese
Ausdrucksstelle Heideggers sagt aber nichts über die Überwindung der Metaphysik oder über den
Einsatz einer nicht metaphysischen Theologie und über ihren Inhalt aus. Sie besagt einfach nur, daß
der christliche Glaube eventuell die Theologie übernimmt. Wie im Teil V ausgeführt wird, ist diese
Christlichkeit nicht selbstverständlich akzeptabel für Heidegger. Im Gegenteil, sie ist der Ursprung
und der Kern des Christentums. Heidegger läßt mehrmals diese Stellungnahme systematisch offen,
ohne ein weiteres Wort. Vielleicht macht er dadurch den Verfall der christlichen Metaphysik als einer
in sich gegen ihr eigentliches Vorhaben widersprüchlichen Ablenkung von der Göttlichkeit Gottes und
Versetzung in die Gottesvergessenheit, indem er ihn in einem gewissen Kontrast versetzt, sehr deut-
94 A. Gethmann-Siefert, Das Verhältnis von Theologie und Philosophie im Denken M. Heideggers, Freiburg-München 1976, S. 87. 95 A.a.O., S. 88. 96 A.a.O., S. 89.
122
lich. So wäre ein Abstieg in den formalen Anfang der Sache - den Glauben - konsequenter. Dieser
Abstieg hat aber bei Heidegger nicht den Charakter der Suche nach einem vergessenen, aber vollzieh-
baren Weg in seiner Reinheit und unausgeschöpfter Ursprünglichkeit mit gleichzeitiger Beseitigung
der Geschichte. Die Geschichte wird übernommen, aber sie wird weder aufgehoben noch dekonstru-
iert, um dann entsprechend kritisch rekonstruiert zu werden. Die Geschichte der Metaphysik wird we-
der annulliert und aus einem Anfang rekonstruiert, noch wird sie vermittelt und aufgehoben, sondern
sie ist schon die Geschichte und das Wesen der Wahrheit des Seins und als solche kann sie ihre ver-
borgene Intention und ihr Wesen in einer anderen Art als in der Art einer unmittelbaren Wahrheit voll-
ziehen.
E. Jüngel hat M. Heidegger gefragt, ob man eigentlich vor Gott schweigen kann.97 Was damit
intendiert war, müßte man aus den Veröffentlichungen und dem gesamten Ertrag des Werks E. Jüngels
rekonstruieren. Ein Schweigen vor Gott als via negationis stellte sich Gott als solchen vor, der in
„>noch so großen Ähnlichkeit jeweils zuletzt der immer Unähnlichere (...) in allem Offenbarsein<“98
ist. Dagegen ist Gott nach Jüngels Konzeption ein positives Geheimnis,99 vor dem das Sprechen von
Gott durch sein Wort schon angesprochen ist. Gott hat uns schon erkannt. Er ist als Trinität Mensch
geworden, und aus diesem Ereignis kommt er zu sich. Aus diesem Ereignis können wir in einer erzäh-
lenden Theologie als in einem Gleichnis von diesem Ereignis über Gott reden, ohne in eine höhere
Un-analogie überzusteigen. Gott kommt zur Welt und so gehört die Welt nicht sich selber, sondern zu
Gott als ihrem positiven Geheimnis. Eine Rede von Gott als erzählender Theologie hat nicht ein un-
ausweichliches Ende im Tode Gottes. Die Sprache versagt nicht, wenn sie Erzählung der von Gott
selber vollzogenen Geschichte mit dem Menschen ist. Diese Konzeption beginnt mit Gott als materiel-
ler Voraussetzung und nicht mit einer schweigenden und aus einem Nullpunkt ansetzenden Rekon-
struktion des theologischen Denkens. Gott ist schon in diesem Tod und hat sich mit ihm bestimmt. So
könnte und sollte man aber eigentlich mit dem Tode Gottes anfangen und nicht unmittelbar mit dem
lebendigen Gott. Die Frage ist: Wo fängt man an? Wenn man mit einem unmittelbaren, lebendigen
Gott anfängt, der auch gestorben ist, ist man trotzalledem außerhalb des Todes. Wenn man aus dem
Tode Gottes, und zwar nicht „remoto deo“, anfängt, kann man nicht über den Tod und den Sieg Gottes
über diesen Tod erzählen, sondern vor dieser Erzählung liegt als ihr dialektisches Element der Tod
Gottes, welcher, und das ist wichtig, der Tod des Menschen -auch des neuzeitlichen atheistischen
Menschen und seiner Theologie- , und nicht nur des Menschen Jesu ist. Die Erzählung über die Ge-
schichte Gottes soll der selbe Prozeß sein oder zumindest im Gleichnis diesem Prozeß nachgeben, und
nicht mit einem unmittelbaren Gott aus seinem Anfang oder Ende anfangen.
97 E. Jüngel, Brief an G. Neske vom 18. August 1988. In: G. Neske, E. Kettering (Hg.), Antwort. M. Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988, S. 258. 98 E. Jüngel und M. Trowitzsch, Provozierendes Denken. In: R. Bubner, C. Kramer, R. Wiehl (Hg.), Neue Hefte für Philosophie, Heft 23, Göttingen 1984, S. 68. 99 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, (6. Aufl.) Tübingen 1992, besonders S. 218 ff., 310 ff., 341 ff., 519 ff. Daher unterscheidet er sich von R. Bultmann; a.a.O., S. 395 und: Provozierendes Denken, a.a.O., S. 69.
123
Gott hat schon von sich selber aus angefangen - gerade das will jedoch die vorliegende Arbeit
bestreiten; wir Menschen sind aber inmitten der Grenzen seiner dialektischen Bewegung zu uns und
von uns weiterhin zu Gott als Trinität. Hegel gibt in seiner Logik nur Gott das Recht, eigentlich unmit-
telbar anzufangen. Heidegger sieht im menschlichen Denken eine vorbereitende Funktion in Bezie-
hung zu der Rettung oder zu dem Untergang im Angesicht Gottes. „Nur noch ein Gott kann uns ret-
ten“ (Spiegel-Gespräch. In: G. Neske, E. Kettering (Hg.), Antwort. M. Heidegger im Gespräch, Pful-
lingen 1988, S. 99 ff.). Wo fängt dann eine erzählende Theologie an, wenn der Tod Gottes auch der
Tod des atheistischen Menschen und des Erzählenden ist? Wenn sie aus diesem Tod anfängt, kann sie
keine erzählende Theologie sein, und ihr würde ein ein weiterer, verschiedenartiger dialektischer Cha-
rakter zukommen. Wenn jedoch Gott das Geheimnis, das Ende und die Zukunft immerhin bleibt, wür-
de diese Rede als ein Moment noch inmitten diesen dialektischen Prozesses liegen. In diesem Sinne
„funktioniert“ die Rede von Gott christologisch, d.h. wie die sterbliche menschliche Natur in Jesus
Christus. Kann man im Heiligen Geist über dieses christologische Geschehen wie von einem abge-
schlossenen und unmittelbaren Geschehen erzählen? Oder wird vielmehr eben im Heiligen Geist eine
solche Rede - wie jede theologische Rede - lediglich vermittelt und kann niemals erzählend sein?
In der Darstellung Heideggers ist die Unterscheidung zwischen dem Nichts beim Nihilismus
und dem Nichts des Seins sehr wichtig. Wir sollten erst Heideggers Darstellung und Erschließung der
Genealogie und des Wesens des Nihilismus in Anspruch nehmen, um so den Sinn seiner Gegenüber-
stellung zu diesem und sein Einsetzen der Metaphysik und des Fehls Gottes im Wesen der Wahrheit
zu verstehen.
2. Genealogie des Nihilismsus als Vollendung der Metaphysik, welche aber Geschichte
der Wahrheit des Seins ist
2. 1. Nihilismus ist Fall der obersten Werte. Enttäuschung. Der Wertcharakter der Metaphysik
Der Nihilismus hat seine vollziehende konstitutive Rolle innerhalb der Metaphysik. Nihilismus
ist der Fall der obersten Werte.
„Die Entwertung der obersten Werte und somit der Nihilismus werden sichtbar für einen Blick, der
schon auf eine Umwertung aller Werte vorausblickt. Das Durchdenken des Wesens des Nihilismus
vollzieht sich im Bereich einer Denkweise, für die der Wertgedanke leitend ist“ (Der europäische Ni-
hilismus, SS. 40, S. 39). Das Wort beschreibt einen Zustand im Umgehen mit den Werten eines „vor-
ausblickenden Blickes“. Es bezeichnet nicht kategorisch eine moralische Situation einer Wertlosigkeit
und deshalb einer gesellschaftlichen oder auch persönlichen Immoralität und eines historischen Ver-
falls der Sitten, sondern besonders eine Enttäuschung eines „vorausblickenden“ Kriteriums und An-
124
blicks für das Verlorengehen einer für wert gehaltenen Sache in Richtung auf das Ende dieses An-
blicks.
„Es ist nichts gefunden worden, nämlich nicht das vermutete Vorkommende und Vorkommen- nicht
das Seiende in seinem Sein“ (a.a.O., S. 40). Und: „Nihilismus ist dann das Bewußtwerden der langen
Vergeltung von Kraft, die Qual des >Umsonst<, die Unsicherheit, der Mangel an Gelegenheit (...), die
Scham vor sich selbst, als habe man sich allzulange betrogen“ (a.a.O., S. 47). „Also die Enttäuschung
über einen angeblichen Zweck des Werdens als Ursache des Nihilismus“ (ebenda). Das Verlorengehen
der wertvollen Sache läßt das setzende und zielende Subjekt los, das somit in seiner Unverbundenheit
unsicher wird. Schon dadurch wird eine Verbundenheit und Angewiesenheit auf den Wert als inhaltli-
chen Apparat für das Vollziehen dieses vorausblickenden denkenden Aktes des Menschen sichtbar. Es
ist aber merkwürdig, welche gravierenden Folgen ein Umschlag dieses inhaltlichen Apparats des Den-
kens im Vergleich zu einem anderem, etwa dem der Naturwissenschaften, hat.
Der Wert ist die Vermittlung zwischen dem Subjekt und dem von ihm gesetzten Ziel, und der
Nihilismus ist der Verfall dieser Vermittlung - und nicht des Zieles selbst. Die verfallene Vermittlung
soll ersetzt werden. Der Wertcharakter der Metaphysik ist bemerkenswert und erhellt den Weg zum
Grund der Metaphysik und somit in die Binnenlandschaft des Charakters des Nihilismus.
„Die Frage nach der Herkunft des Wertgedankens in der Metaphysik wird in gleicher Weise zur Frage
nach dem Wesen des Wertes und zur Frage nach dem Wesen der Metaphysik. Sofern diese in ihrer
Vollendung steht, wird unsere Frage zu einer Entscheidungsfrage, nicht nur über die Philosophie ü-
berhaupt, sondern vor allem über das, was die Philosophie in ihrer Notwendigkeit fordert und begrün-
det“ (a.a.O., S. 106).
Man sollte zusammen mit Heidegger diesem Weg bis zum Ende der Metaphysik folgen. Wenn
man zum Grunde kommt, kann man sich dann für eine Überwindung entscheiden, sonst hat man bloß
einige Züge der Metaphysik erkannt und bleibt innerhalb derselben verstrickt.
2. 2. Der Gang der Vollendung der Metaphysik
• Die intendierende Unterscheidung Platons zwischen Idee und Seiendem
Der Anfang der Metaphysik wird in der Unterscheidung Platons zwischen Idee und Seiendem oder
Sein und Seienden angesetzt. Das Sein als die Seiendheit des Seienden ist das Prius, das Vorherige
oder Frühere, das im Seienden zur Erscheinung kommt und dieses gründet.
„Platon sagt daher, das Sein als die Anweisung ins Unverborgene ist idea, das Sichtsein; idein, sehen,
fid-videre-visio. Weil das Sein Anwesung des Beständigen ins Unverborgene ist, kann Platon das
Sein, die ousia (Seiendheit) als idea auslegen“ (a.a.O., S. 293). Sein ist das Vorherige, das von sich her
auf uns An-wesende. „Das Sein jedoch liegt gemäß seiner Apriorität über das Seiende hinaus“ (a.a.O.,
S. 296). Darüber hinaus ist aber die Vergessenheit dieses Unterschieds entscheidend.
125
„(...) daß sie (die Metaphysik) diese Unterscheidung als solche nicht selbst noch befragt und begrün-
det, vielmehr in eine zunehmende Selbstverständlichkeit aufgehen läßt, um sie schließlich überhaupt
zu vergessen“ (a.a.O., S. 333). Der Unterschied wird einfach noch geduldet, ohne dass dessen Wesen
gedacht wird (a.a.O., S. 305). Das Sein bleibt vergessen, das Seiende soll aber von diesem her gegrün-
det werden.
• Sein ist die ermöglichende Idee. Das agathon.
Der Mensch versucht das Seiende im Ganzen und im Höchsten mit einem unbedingten letzten Grund
zu erklären. Sein ist das von sich her Anwesende, das die Seienden bedingt und ermöglicht. Das Er-
möglichende ist deshalb das Taugliche, das agathon.
„Durch Platons Bestimmung des Wesens der idea selbst durch das agathon wird das Sein und seine
Apriorität auslegbar als das Ermöglichende, als Bedingung der Möglichkeit. Die Vorzeichnung für den
Wertgedanken ist im Beginn der Metaphysik vollzogen, und deshalb ist das Wertdenken zugleich der
Vollzug der Vollendung der Metaphysik“ (a.a.O., S. 303).
Platon ist nicht der Vollender der Metaphysik, er denkt nicht in Wertgedanken, er denkt nur nur
das Sein als Vor-heriges, als idea, als Bedingung und Ermöglichendes, und dadurch setzt er die Meta-
physik auf den Weg des Wertdenkens, welcher das Seiende in seiner Seiendheit unter Bedingungen
denkt. Die höchste Idee des bedingenden Seins ist das agathon, „(...) was tauglich macht, was das Sei-
ende dazu ertüchtigt und ermöglicht, Seiendes zu sein“ (a.a.O., S. 298).
• Die Sein-Idee als Gesichtspunkt
Das Sein als Anwesenheit und Beständigkeit ermöglicht das Sehen und wird so auch von diesem aus-
gelegt. Das Seiende wird in der Anwesung und Beständigkeit des Seins gesehen, auf der gleichen Art
und Weise wie das Licht das Gesehenwerden der Dinge ermöglicht. Genau diese Bestimmung gibt
Heidegger dem Sein in einem historisch fortgeschrittenen Niveau der Metaphysik - allerdings war
dieser Sinn in einem vorausgegangenen Stadium bereits vorgezeichnet. Das Sein ist „Gesichtspunkt“,
das, was Beständigkeit und Ermöglichung und so das Sehen ertüchtigt.
„>Der Gesichtspunkt des Werts ist der Gesichtspunkt von Erhaltungs-, Steigerungs-Bedingungen in
Hinsicht auf komplexe Gebilde von relativer Dauer des Lebens innerhalb des Werdens.< (...) solches,
was ins Auge gefaßt wird, ein Augenpunkt für ein Sehen, und zwar ein Sehen, das es abgesehen hat
auf etwas. Dieses Absehen auf etwas ist ein Rechnen auf etwas, das mit anderem rechnen muß“
(a.a.O., S. 109).
Das Wertdenken als „Gesichtspunkte Haben“ hat bis zu Nietzsche zwei wichtige Zwischenstati-
onen durchlaufen, die seinen geschichtlichen Gang typisch darstellen. Das „Sehen auf“ hat schon eine
Blickrichtung von „aus“ auf „zu“, einen Zweck für die Steigerung „von ... auf“. Leibniz ist die erste
wichtige Station.
„Nach Leibniz ist jedes Seiende durch perceptio und appetitus bestimmt, durch den vorstellenden
Drang, der darauf dringt, je das Ganze des Seienden vorzustellen, zu >repraesentieren<, und in dieser
und als diese repraesentatio erst und allein auch zu sein. Dieses Vorstellen hat jeweils das, was Leibniz
126
den point de vue - Gesichts-punkt - nennt. So sagt auch Nietzsche (...) >Der Perspektivismus< ist es,
>vermöge dessen jedes Kraftzentrum -und nicht nur der Mensch - von sich aus die ganze übrige Welt
konstruiert, d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet ...<“ (a.a.O., S. 111). Bis zu diesem Moment
ist das Sein Bedingung für das Entgegensetzen und Sehen des Seienden. Das Seiende ist noch nicht
Objekt eines Subjekts, weil die Bedingungen noch nicht im Subjekt gegründet sind, sondern in der
Transzendenz, und zwar insbesondere im dort angesiedelten Bereich des Göttlichen. Die Bedingungen
für den Gegenstand sind auch Bedingungen für das Subjekt.
• Die Bedingungen des Subjekts bei Kant
Seit Kant sprechen wir nur noch von Bedingungen des Subjekts. Die metaphysische Grundthese Kants
in seiner Kritik der reinen Vernunft lautet nach Heidegger: „>Die Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung<“
(a.a.O., S. 307). Bedingungen sind die Kategorien und nach Heidegger die Ideen Platons, die Seiend-
heit oder das Sein des Seienden. Das Sein ist so Vorgestelltheit bzw. Zugestelltheit. Die Sicherheit der
Beständigkeit als Gewißheit ist so das „cogitare“, das „Ich denke“ im Sinne des „cogito me cogitare“.
Erst mit Kant ist das Schema Subjekt-Objekt vollkommen gestaltet. Die Subjektivität ist un-bedingt,
sie hat in sich die Bedingungen der Ermöglichung des Seienden.
• Die Wahrheit als Richtigkeit und als Gerechtigkeit. Der Wille zur Macht.
Die platonische idea war das von sich her An-wesende, das die An-wesenheit ermöglichte und so auch
das Sehen. Die idea als das Sein war das Licht des Sehens - das, was Sehen ermöglichte. Nichtsdesto-
trotz blieb in der Vergessenheit dieser Lichtung das Sehen tüchtig. Das Sein als Bedingung und Lich-
tung des Sehens wurde subjektiv. Wir sehen nicht deswegen, weil das Licht lichtet, sondern nur, weil
wir Augen haben. Aber im seynsgeschichtlichen Denken Heideggers haben wir Augen, weil wir se-
hen, weil wir zu sehen und zu denken haben. Die Seiendheit ist in der Metaphysik nicht mehr zu sehen
und zu denken, sondern Gedachtes und Gesehenes eines sich denkenden Denkens. Die idea von der
Hinterwelt ermöglichte Anwesenheit und so Sehen. So meinte der Sehende, daß er von sich selber
fähig war zu sehen. Kant denkt das Sein nicht mehr als idea wie Platon, sondern als die Bedingungen
der Möglichkeit der Gegenstände, die im Subjekt, wenn auch noch nicht als Werte, ruhen.
In diesem Subjekt-Objekt-Schema und in der Unbedigtheit der Subjektivität erscheint der unbe-
dingte Wille zur Macht. Die Idee ist nicht mehr das Vorherige, weil das Sehen nun von unbedingten
Gesichtspunkten des tüchtigen Subjekts „von...auf“ perspektivistisch und vor-blickend, gestaltungsfä-
hig ist. So nimmt dieses allmählich den Charakter des Wollens an.
„Der Wille zur Macht, der die Macht zu ihrem unbedingten Wesen ermächtigt, indem sie sich ständig
selbst übermächtigt, bedarf zumal der Bedingungen der Machterhaltung und der Machtsteigerung. Die
Macht ist in ihrem Wesen nach >perspektivistisch< durch- und vorblickend in ihre Bedingungen“
(a.a.O., S. 169).
Früher waren die Bedingungen das Vorherige, die idea. Jetzt sind die Bedingungen im Subjekt-
Objekt-Schema vom Subjekt für das Erhalten der Wahrheit seiner Objektivität vor-blickend perpekti-
127
vistisch und für seine unbedingende Übermächtigung gesetzt. So beginnt der Anthropomorphismus in
der Metaphysik und der Perspektivismus des Lebens. Selbst die Unwahrheit wird vermittelt, und das
Zweifeln ist auf das Unbezweifelbare und auf seine Sicherung gerichtet und darin aufgehoben. Dies
besagt der Sinn des Selbstbewußtseins. Es ist erst Selbst- und dann Bewußtsein von den Dingen.
„Dieses Bewußtsein von den Dingen und Gegenständen ist wesenhaft und in seinem Grunde zuerst
Selbstbewußtsein und nur als dieses ist Bewußtsein von Gegenständen möglich“ (a.a.O., S. 194). Das
Subjekt stellt sich das Sein, die idea, die Kategorien, die Bedingungen, die Werte für seine Sicherung
und Machtsteigerung unbedingt vor.
• Der Pessimismus der Stärke. Der ekstatische Nihilismus
Die perspektivistisch vorblickende Machtsteigerung innerhalb des Werdens stellt sich neue Bedingun-
gen vor. Im nihilistischen Abbau der alten Bedingungen sucht der Pessimismus der Stärke die neuen.
„Er (sc. der Pessimismus) erkennt aber auch jene Bedingungen, die eine Meisterung der Dinge trotz
allem sicherstellen. Der Pessimismus der Stärke hat daher seine Auslegung in der >Analytik<. Nietz-
sche versteht darunter nicht eine Zergliederung und Zerfesselung als Auflösung, sondern das Ausei-
nanderlegen dessen, was >ist<, ein Zeigen der Gründe, warum das Seiende so ist, wie es ist“ (a.a.O., S.
99). Die Wirklichkeit des Wirklichen wird innerhalb des Werdens neu gedeutet. Die Macht soll mit
neuen Bedingungen gesteigert werden. Der Pessimismus der Stärke ist der Zwischenzustand, der die
neue Wertung von der alten auseinanderlegt. Diese Phase wird als Nihilismus gefühlt.
„Nach einer Hinsicht zeigt sich, daß die Erfüllung der bisherigen Werte nicht zu erreichen ist, die Welt
sieht wertlos aus. Nach der anderen Hinsicht wird durch das analytische Bewußtmachen des Ur-
sprungs der Wertsetzungen aus dem Willen zur Macht der suchende Blick auf die Quelle neuer Wert-
setzungen gelenkt, ohne daß freilich die Welt dadurch schon an Wert gewonnen hätte“ (a.a.O., S. 100).
Die Wahrheit ist dann „Gerechtigkeit“ als Gestaltung des Willens zur Macht und Wert für die Si-
cherstellunng des Subjekts. Die Nichtigkeit der Enttäuschung eröffnet ein freies Feld für die Neuwer-
tung. Dieser ist der klassische, aktive, extreme Nihilismus. Eine Phase und ein Moment dessen ist der
Pessimismus und der unvollständige Nihilismus als analytischer Blick auf die Gründe und enttäuschter
Abbau der alten Werte.
Der Nihilismus ist schon mit dem Ansetzen und weiterhin mit der Vergessenheit der Differenz
vorgezeichnet. Die starre Differenz zwischen Sein als ontologischer Bedingung und Seiendem, die
Vergessenheit der Differenz der idea, die nur geduldet worden war, und ihre Wandlung zur Bedingung
und Ermöglichung des Seienden hat die Metaphysik und so den Nihilismus auf den Weg gesetzt. Bei
Leibniz wurde das Sein als Kategorie - idea - zum Gesichtspunkt und bei Kant zur Bedingung der
Erfahrung des Subjekts, die gleich der Bedingung der Wirklichkeit der Gegenstände ist. Das Subjekt
hat die Bedingungen in sich. Ansonsten ist es unbedingt. Die Objektivität wird die für die Sicherung
eines Subjekts vom Subjekt bewußt bedingende Wahrheit. Das Bewußtsein der Dinge ist erst
128
Selbstbewußtsein. Der suchende Blick des Pessimismus und der extreme klassische Nihilismus als
Wille zur Macht100 ist die Logik und die Vollendung der Metaphysik.
2. 3. Der Nihilismus ist nur die vollendete Logik der Metaphysik, nicht ihre Auflösung
Der Nihilismus markiert so den Zustand zwischen dem Fall der alten Werte und der neuen Wer-
tung. Er ist nicht das Ende und die Auflösung der Metaphysik aus einem gegen sich selber radikal
gerichteten, reflektierenden und entscheidenden Denken, sondern die Vollendung der Metaphysik als
ihre Logik.
Der Nihilismus ist die vorgezeichnete Notwendigkeit und keine Periode in der Geschichte des
Denkens. „Der Nihilismus ist die innere Gesetzlichkeit dieses Vorgangs, die >Logik<, der gemäß der
Hinfall der obersten Werte in ihrem Wesen entsprechend sich abspielt“ (a.a.O., S. 43, 293). Der Nihi-
lismus ist keine Periode des Denkens, die im weiteren Verlauf überwunden werden könnte. Er ist die
Logik und das Wesen der Metaphysik. In diesem Sinne kann er nicht einfach vorbeigehen, ohne dass
über ihn entschieden wird. Wenn der Nihilismus keine Periode, sondern nur die innere Logik der Me-
taphysik ist, dann ist sein Wesen noch nicht begriffen, damit man sich über und aus diesem geschicht-
lichen Wesen entscheiden könnte. Das Denken hat noch nicht das Wesen seines Nihilismus erkannt.
Nietzsche selbst hat nach Heidegger einige Züge des Nihilismus erkannt, aber nicht sein Wesen begrif-
fen. Der Nihilismus ist Gesetzlichkeit, nicht Periode, in der er sein Wesen begreifen und darstellen
könnte. Es gibt noch keinen Nihilist, selbst Nietzsche kann, streng betrachtet, nicht hinzugezählt wer-
den (a.a.O., S. 44).
Ist also Heidegger der erste Nihilist, der die Periode des Nihilismus begreift und eröffnet und so
auch aus seinem Wesen entscheiden kann? Nietzsche denkt in Wertgedanken der Abwertung und
Neuwertung, aber er hinterfragt und denkt nicht das Wesen des Nihilismus. Sein Nihilismus ist
Vollendung, aber keine Reflexion über das Wesen des Nichts.
Das Denken kann sich über die Metaphysik nach ihrem Ende - dem Nihilismus - nicht entschei-
den. Die Metaphysik ist zu ihrer Vollendung geführt worden und nicht zu ihrem Grund und zu ihrem
Wesen. Die Vollendung der Metaphysik als Subjektivismus und Anthropomorphismus ist die Ab-
schaffung der hyperbolischen Naivität101 des Subjekts und so die Umkehrung des Platonismus und die
Auf-den-Kopf-Setzung des Anfangs. Ihre Möglichkeiten sind erschöpft.
100 W. Müller-Lauter übt Kritik an Heideggers Nietzscherezeption. Es gebe so bei Nietzsche nicht einen Willen zur Macht, sondern viele, welche als Einer gesetzt sind, ohne Einer zu sein (Das Willenswesen und der Über-mensch. In: E. Behler, M. Montinari, W. Müller-Lauter, H. Wenzel (Hrsg.), Nietzsche-Studien, Bd. 10/11, Berlin 1981). 101 Trotzdem gibt es eine Naivität des Nihilismus, wenn nach K. Axelos nach dem Nihilismus ein unschuldiges Werden als Maske der Zeit übrig bleibt (K. Axelos, a.a.O., S. 16). Axelos sucht nach einem neuen Anfang mit der Hilfe von Heidegger und Marx, der Wahrheit und Irre unterscheiden kann und in einer Dialektik den Men-schen befreit und als Subjekt ins Weltspiel versetzt. Ein solcher Versuch ist eventuell der Übermensch (ebenda).
129
„Das Ende der Metaphysik ist erst der Beginn ihrer >Auferstehung< in abgewandelten Formen; diese
lassen der eigentlichen und abgelaufenen Geschichte der metaphysischen Grundstellungen nur noch
die ökonomische Rolle, Baustoffe zu liefern, mit denen, entsprechend abgewandelt die Welt des
>Wissens< >neu< gebaut wird“ (a.a.O., S. 267). Das Ende der Metaphysik ist nicht der Raum für den
Ursprung ihrer Überwindung. Wenn Heidegger besonders in den „Beiträgen“ vom anderen Anfang
spricht, der aus dem Ende des ersten Anfangs entspringt, meint er nicht einen direkten Fortgang aus
der Vollendung der Metaphysik und des Nihilismus, sondern das Nicht-verlassen und Nicht-
annullieren der Geschichte der Metaphysik und das Vollziehen einer anderen Art von Wahrheit aus
dieser Unwahrheit.
In diesem Sinne sollte aber die Abschaffung der Naivität der objektiven Wertsetzung nicht ebenso die Naivität und Unschuldigkeit des Subjekts bedeuten, sondern das gerade Entgegengesetzte.
130
2. 4. Der Nihilismus denkt nicht das Nichts
„Der Nihilismus führt deshalb gerade nicht ins Nichts“ (a.a.O., S. 51). Das Nicht des Nihilismus ist
nur ein Moment des Denkens. Das Denken denkt nicht das eigentliche Nichts, sondern es wird ent-
täuscht und versteht die Negation eines Verlusts. Der Verlust ist die Verneinung eines Vorhandenen,
und deshalb bezeichnet man ihn mit der Kategorie des nihil. „Die Entwertung der obersten Werte und
somit der Nihilismus werden sichtbar für einen Blick, der schon auf eine Umwertung aller Werte vor-
ausblickt“ (a.a.O., S. 39). Der Nihilismus kommt, weil man nicht wesentlich das Nichts erfragt. „Viel-
leicht liegt das Wesen des Nihilismus darin, daß man nicht ernst macht mit der Frage nach dem
Nichts“ (a.a.O., S. 43). Das Nichts bleibt wesenhaft nicht begriffen. Das sich sichernde Subjekt kann
nicht im Negativen das Positive „erblicken“. Es kann nicht das Nichts als das nichtende Sein selbst
sehen. So ist das Nichts nur ein Negatives, die Verneinung einer Aussage. Deshalb kommt man nicht
zu einer wirklichen Entscheidung über den Nihilismus. „Das Nichts, das nihil und damit doch aller
>Nihilismus< kann als Ereignis einer bodenlosen Zweifelsucht zum Gleichgültigen geworfen und
übergegangen werden“ (a.a.O., S. 42). Das Nichts ist Verneinung, das Abstrakteste des Abstrakten
(Nietzsche II, S. 52). Das Nichts wird so der Konjugator einer zwingenden Logik (Der europäische
Nihilismus, SS 40, S. 43). Gerade diese Logik charakterisiert die Antwort auf die Frage, die den Nihi-
lismus zu überwinden versucht. „Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ Auf diese Frage
kann die Antwort nur ein wirkliches Seiendes sein und nicht das sich nichtend Er-möglichende, feh-
lende und sich entziehende Sein. Im Nihilismus fehlt die Antwort auf dieses „Warum“ (a.a.O., S. 23).
Jede Antwort auf diese Frage führt in ein Seiendes, weil man das Nichts in der Entweder-oder-Logik
und außerhalb des Seins als der inneren Unterscheidung und der Ermöglichung eines Fehlenden und
Fremden zu denken versucht. Das Nichts kann nicht ein Seiendes sein, deshalb ist es einfach das Nich-
tige als die Verneinung. Wenn man sich aber das Sein über das Nichts vorzustellen versucht, fällt man
in ein Seiendes zurück.
„Wir sehen uns durch die Schlußfrage vor das Bedenken gestellt, daß eine Besinnung, die auf dem
Weg über das Nichts an das Sein zu denken versucht, am Ende wieder zu einer Frage nach dem Seien-
den zurückkehrt. Insofern diese Frage gar noch in der herkömmlichen Weise der Metaphysik am Leit-
faden des Warum? kausal fragt, wird das Denken an das Sein zugunsten der vorstellenden Erkenntnis
von Seiendem aus Seiendem völlig verleugnet“ (Einl. zu W. i. M., Bd. 9, 1949, S. 381). Das nihil des
Nihilismus ist das Nicht als Verneinung und nicht das Nichts des Seins, welches im Grund des Seins
waltet.
131
2. 5. Die Metaphysik denkt nicht das Nichts als das Sein
Im Nihilismus bleibt die Gründung des Seins aus. Und das, weil die Metaphysik das Nichts als
die Verneinung des Seienden vorstellt und nicht als das ermöglichende Wesen des Seins. So kann sie
das Seiende aufgrund der oben genannten Entweder-oder-Logik als das Seiende vorschnell vorstellen
und begründen. Die Angst offenbart aber das Nichts, weil sie das Seiende im Ganzen zum Entgleiten
bringt. „Mit der Grundstimmung der Angst haben wir das Geschehen des Daseins erreicht, in dem das
Nichts offenbar ist und aus dem heraus es befragt werden muß. Wie steht es um das Nichts“ (W. i. M.,
Bd. 9, 1929, S. 112). Das Nichts offenbart dem Dasein das Seiende, daß es Seiendes ist und nicht
Nichts. Das ist noch keine Erklärung, sondern die ermöglichende Offenbarkeit des Seienden. Das Sei-
ende schwebt und entgleitet, es ist im Nichts offenbar. Das Nichts und die Angst ist abweisend und
bricht die Selbstverständlichkeit eines sicheren Seienden und des vorstellenden Subjekts.
„Sich hineinhaltend in das Nichts ist das Dasein je schon über das Seiende im Ganzen hinaus. Dieses
Hinaussein über das Seiende nennen wir die Transzendenz. Würde das Dasein im Grunde seines We-
sens nicht transzendieren, d.h. jetzt, würde es sich nicht im vorhinein in das Nichts hinaushalten, dann
könnte es sich nie zu Seiendem verhalten, also auch nicht zu sich selbst. Ohne ursprüngliche Offen-
barkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit“ (a.a.O., S. 115).
Dieses Nichts ist nicht Gegenbegriff, Verneinung des Seienden, sondern es gehört zum Wesen des
Seins als des das Fehlende und Unterschiedene Ermöglichenden. „Im Sein des Seienden geschieht das
Nichten des Nichts“ (ebenda). Dieses Hineingehaltensein in die nichtende Transzendenz des Seienden
und des Daseins, welche die Offenbarung des Seienden in dem nichtenden Sein ist, das Erleiden im
Nichts der Frage und des Fehls nach einem aus der Abwesenheit entspringenden Sein, wird aber von
der Metaphysik abgebrochen.
Das Nichts ist nicht methodische Bedingung des Fragens nach dem Sein, sondern hinreichende
Bedingung und als solche der ursprüngliche Ab-Grund des Seins. Die Metaphysik handelt aber vom
Seienden, um es vorschnell vom Sein als intentionaler Realität zu erklären und sicherzustellen. Dabei
weicht sie dem nichtenden Sein aus und setzt es in bloße Verneinung herab. Sie ist nicht mehr ein
Hinausgehaltensein, sondern ein Hinausfragen, das Vorstellen eines Grundes, welches das Seiende
verwirklicht. „Metaphysik ist das Hinausfragen über das Seiende, um es als ein solches und im Gan-
zen für das Begreifen zurückzuerhalten“ (a.a.O., S. 118). In der Metaphysik wird das Nichts als die
wesende Transzendenz des Seins des Seienden verleugnet und das Nichts als bloße Verneinung des
Seienden angenommen. Ein Gott soll der Grund des gesicherten Seienden sein.
„(....) ex nihilo fit ens creatum. Das Nichts wird jetzt der Gegenbegriff zum eigentlich Seienden, zum
summum ens, zu Gott als ens increatum. Auch hier zeigt die Auslegung des Nichts die Grundauffas-
132
sung des Seienden an. Die metaphysische Erörterung des Seienden hält sich aber in derselben Ebene
wie die Frage nach dem Nichts auf. Die Fragen nach dem Sein und Nichts als solchen unterbleiben
beide. Daher bekümmert auch gar nicht die Schwierigkeit, daß wenn Gott aus dem Nichts schafft,
gerade er sich zum Nichts muß verhalten können. Wenn aber Gott Gott ist, kann er das Nichts nicht
kennen, wenn anders das >Absolute< alle Nichtigkeit von sich ausschließt. Diese rohe historische
Erinnerung zeigt das Nichts als Gegenbegriff des eigentlichen Seienden, d.h. als dessen Verneinung“
(a.a.O., S. 119).
Die Metaphysik ist aus dem Wesen des Denkens und der Wahrheit des Seins gewachsen. Sie ist
aber eine Abweichung des ursprünglichen Hinausgehaltenseins in der Transzendenz des wesenden
Nichts als des aus dem Fehl und der Abwesenheit entsprungenen Seins.
„Die Metaphysik denkt, insofern sie stets nur das Seiende als das Seiende vorstellt, nicht an das Sein
selbst. Die Philosophie versammelt sich nicht auf ihrem Grund. Sie verläßt ihn stets, und zwar durch
die Metaphysik. (...). Die Metaphysik bleibt das Erste der Philosophie. Das Erste des Denkens erreicht
sie nicht. Die Metaphysik ist am Denken an die Wahrheit des Seins überwunden“ (Einl. zu W. i. M.,
1949, S. 367). Die Metaphysik denkt nicht ihr Wesen, ihre Wurzeln, die Wurzeln des Denkens sind,
das Hinausgehaltensein des Seienden ins wesende Nichts. Das Nicht der Metaphysik als Verneinung
und aufgrund der Entweder-oder-Logik erhält das Seiende zurück, sofern es ist. „Stünde es anders,
dann könnte Leibniz an der genannten Stelle nicht erläuternd sagen: Car le rien est plus simple et plus
facile que quelque chose“ (Einl. zu W. i. M., 1949, S. 382).
So ist das Nicht bloße Verneinung, der Ursprung der Logik in der Metaphysik. Das Sein wird
nicht als Fehl und Entspringen aus dem Nichts und aus der Abwesenheit des sich am Seienden er-
möglichenden Seins verstanden, sondern als die Realität des Realen. Das Nichts wird so Gegenbegriff
des Seins, nicht seine innere Differenz und Wesung. Das Nichts ist aber nicht Gegenbegriff des Seins,
Element einer Logik, die das Seiende in seiner Anwesenheit sicher läßt, sondern das Wesen des Seins
in seinem Da. Der Nihilismus versucht das Nichts zu überholen und ihm auszuweichen. Weil er das
Nichts nicht zu denken vermag und Furcht vor ihm hat, entgleitet er stets in dieses. Man sucht nach
einem ermöglichenden Grund außerhalb des Nichts, nicht nach dem Sein, das jedoch in seiner Diffe-
renz und Wesung als das Mögliche und aus dem Fehl Entsprungene das reale Seiende abgründet und
nichtet und nicht das Nicht(s) als äußere Verneinung ist. „Der klassische Nihilismus enthüllt sich dann
als jene Vollendung des Nihilismus, in der sich dieser der Notwendigkeit für enthoben hält, gerade das
zu denken, was sein Wesen ausmacht; das nihil, das Nichts, d.h. das Sein“ (Der europäische Nihilis-
mus, SS 40, S. 12).
133
2. 6. Die anfängliche Entscheidung über das Wesen des Nihilismus
Der Nihilismus kann sich nicht für einen Anfang entscheiden, wenn er nicht sein Wesen denkt.
Der Nihilismus ist nicht das Ende der Metaphysik oder zumindest nicht der Raum einer Entscheidung
für das Überwinden der Metaphysik.
„Das Wort vom Ende der Metaphysik ist allerdings eine geschichtliche Entscheidung. Vermutlich
führt uns die Besinnung auf das ursprüngliche Wesen der Metaphysik in die Nähe des Standortes der
genannten Entscheidung; diese ist gleichbedeutend mit der Einsicht in das seinsgeschichtliche Wesen
des europäischen Nihilismus“ (a.a.O., S. 269).
Die Entscheidung bedeutet nicht, daß die Metaphysik reflektiert und destruiert wird, sondern
daß das Denken sich geschichtlich102 im Wesen Metaphysik als dem Wesen der Wahrheit aufhält. Der
Blick ist nicht aus der Metaphysik, „(...) sondern auf die Metaphysik zu - wie diese entspringt. Aller-
dings ist auch nicht der Anfang in sich anfänglich - und deshalb ist in rechter Weise nur vom ersten
Anfang zu handeln“ (a.a.O., S. 334).
So ist der Ort des Ursprungs der Metaphysik die Wahrheit des sich nichtend ermöglichenden
Seins. Aus diesem Ursprung des Wesens des Seins und seiner Wahrheit erwächst die Metaphysik als
Ontotheologik, die nicht ein spezifisch religiöses oder theologisches Denken ist. Die übersinnliche
Welt des Platonismus und der Verfall dieses Irrtums ist der unvollendete Nihilismus. Die wissentliche
Durchsetzung desselben wertsetzenden Prozesses übernimmt jetzt selbst das Subjekt unter seinen be-
wußt gesetzten Bedingungen und ohne die projizierende Naivität. Dieser ist der vollständige Nihilis-
mus. Er ist keine Überwindung des unvollendeten Nihilismus, sondern seine Gewißheit und selbstbe-
wußte Übernahme. Für die Philosophie gibt es keinen neuen Anfang, sondern die Verfestigung des
Wertdenkens, und für die Theologie gibt es ebenso keine neue nicht-metaphysische Theologie, son-
dern den Auftritt des Übermenschen an der Stelle Gottes. Ein Ende im Sinne des Übergangs in ein
anderes Denken ist nicht sichtbar. Im Gegenteil: Dionysos ist der „Gott“ der ewigen Wi(e)derkehr des
Gleichen in der Epoche des Willens zur Macht. So ist „das Ende der Metaphysik erst der Beginn ihrer
‚Auferstehung‘ in abgewandelten Formen;“ (a.a.O., S. 267). Für die Überwindung der Metaphysik und
eine neue Theologie braucht man einen wi(e)derkehrenden Sprung, der nicht der Nihilismus ist, und
102 H.-G. Gadamer sieht, daß Heidegger schon in S.u.Z. nicht auf eine Überwindung der Metaphysik und einen radikalen Neu-anfang tendiert, sofern mit dem Bewußtsein einer transzendentalen Phänomenologie, wie Husserl, anfängt (Sein, Geist, Gott. In: Heidegger. Freiburger Universitätsvorträge zu seinem Gedenken, Freiburg-München 1979, S. 49). Es gibt die Herausforderung der Seinsvergessenheit, aber auch die Gegenwart des Ver-gessens (S. 60). Heidegger hat keine Antwort auf das Sein wie auch auf Gott. Er bietet nur ein Bedenken an die entflohenen Götter, sofern alle Versuche, das Sein zu denken, in die Seinsvergessenheit doch gelangen (S. 61 f.). Es ist so nicht der Versuch zu einem radikalen Neu-anfang, sondern der Versuch dem geschichtlichen Anfang inne zu bleiben.
134
welcher sich zum Wesen der Wahrheit zukehrt, zu dem das Dasein schon gehört. Die Ontotheologik103
war eine wesentliche Folge der Ontologie und ihrer Orientierung am Seienden als Seiendem und nicht
Einfluß einer vorexistierenden Theologie auf die Ontologie. „Denn diese (sc. die Metaphysik) ist nicht
nur Theo-Logik sondern auch Onto-Logik. Die Metaphysik ist vordem nicht nur das eine oder das
andere auch. Vielmehr ist die Metaphysik Theo-Logik, weil sie Onto-Logik ist. Sie ist dieses, weil sie
jenes ist“ (I. u. D., 1957, S. 57). Und in der „Einleitung zu Was ist Metaphysik“ heißt es: „Der theolo-
gische Charakter der Ontologie beruht somit nicht darauf, daß die griechische Metaphysik später von
der kirchlichen Theologie des Christentums aufgenommen und durch diese umgebildet wurde. Er be-
ruht vielmehr in der Art, wie sie von früh an das Seiende als Seiende entborgen hat. Diese Unverbor-
genheit des Seienden gab erst die Möglichkeit, daß sich die christliche Theologie der griechischen
Philosophie bemächtigte (...)“ (Einl. zu W. i. M., 1949, S. 379).
Wie es in „Nietzsches Wort: ‚Gott ist tot‘ „ (Holzwege, S. 221) ausgedrückt wird, ist das Christentum
eine Folge der Metaphysik. Wichtig in der Beurteilung der Rezeption des Nihilismus ist, daß man sehr
oft seine Folgen mit seinen Ursachen verwechselt (Nietzsches Wort, a.a.O., S. 204). Die Sache steht
und fällt nicht mit einem neuen Gott. Es fehlt nicht an Gott. Es fehlt am göttlichen Gott und am Wis-
sen, wie er aus dem Nichts des Seins ankommt. Nur von diesem Ansatzpunkt aus könnte die Überwin-
dung der metaphysischen Ontotheologik beginnen und wäre die Gründung einer nicht-metaphysischen
Theologie überhaupt möglich. Die Frage ist, was und woher dieser Fehl ist.
103 Die Stellung Heideggers zu der Metaphysik wird meistens innerhalb der Thematisierung des Bezugs Heideg-gers zu der Theologie verortet und untersucht (z. B. im Beitrag von P. Brkic: M. Heidegger und die Theologie, Mainz 1994). Es sollte aber beachtet werden, daß Heideggers Metaphysikdiagnose auf der Feststellung und Ana-lyse der Ontologie als Onto-theo-logik ruht, wie es der Fall im Aufsatz "Identität und Differenz" ist. Daher ist umgekehrt die Metaphysik und der metaphysischer Gott ein Kapitel der Onto-theo-logik und des Wesens der Wahrheit (was ja bei Heidegger sehr deutlich und systematisch herausgearbeitet wird). Jener Versuch zu einer nicht metaphysischen Theologie setzt jedoch die Berücksichtigung der fundamentalen Charakteren des Denkens und des Wesens der Wahrheit voraus. Insofern kann er nicht direkt mit einer spezifisch theologischen Behand-lung starten. Wenn es im unverbindlichen Versuch eventuell berechtigt ist, darf es bestimmt nicht in einer inner-halb Heideggers sich verstehenden und ansetzenden Systematik passieren.
135
3. Das Wesen der Metaphysik, das nichtende Sein und das In-der-Wahrheit bzw. In-der-Unwahrheit-sein - als Existenzial des Daseins
3. 1. Das Nihil und der Nihilismus west nicht im Subjekt, sondern ist das Monent des Negierens eines Scheins
Das bisher Gesagte könnte als Grundlage einer weitergehenden Analyse dienen. Der Nihilis-
mus104 ist selbst Metaphysik und ihre Logik - er bedeutet keineswegs ihre Auflösung und ihr Veren-
den. Der Nihilismus ist Metaphysik und Logik der Metaphysik, weil er, wie diese, das Nichts und das
Sein nicht denkt, sondern als Vermittlung und Apparat benutzt. Der Nihilismus denkt nicht das Nichts,
sondern er benutzt das Nicht-, die Verneinung als Konjugator seiner verneinenden Logik. Er verhält
sich nicht zu dem Nichts als dem inneren Wesen des Seins und des Logos, sondern als äußerliches
Mittel für die dialektische Verneinung jeder verobjektivierten Blickwendung und Aufhebung in die
Unbedingtheit und Wahrheit des eigentlichen Subjekts. Der Nihilismus west nicht am Ort der nivel-
lierten Blickwendung, des nivellierten Wertes, sondern er steht außerhalb und schaut auf sein Nivellie-
ren. Er akzeptiert nicht, daß dieser Wert, diese negierte Blickwendung sich selbst ist. Er sieht diese als
eine äußerliche Bedingung an. Das Nicht ist eine Kategorie und ein Apparat des Nihilismus und nicht
das Wesen des Nichts in der Wahrheit des Seins als des Ermöglichenden eines Fehlenden und im Da-
sein selber als angesprochenem Ort dieser fehlenden Wahrheit. Das Nihil des Nihilismus west nicht im
Subjekt, sondern ist das Moment der Verneinung seines Scheins.
3. 2. Die Metaphysik denkt nicht das Sein, und der Nihilismus denkt nicht das Nichts
Der Nihilismus ist die dialektische Vollendung der Metaphysik. Die Unwahrheit des Gegens-
tandes der Metaphysik, des Wertes, wird jetzt in der Wahrheit höher aufgehoben, vorgängig im Sub-
jekt. Das Nicht ist ein Moment in der Logik des Nihilismus als dialektischen Vorgangs zur Unbe-
dingtheit und Wahrheit des Subjekts, welches dialektisch als das eigentliche wahre Sub-jectum seiner
unwahren Bedingungen ausgewiesen wird. Das Nicht west nicht im Subjekt und das Subjekt nicht im
Nicht. Das Subjekt wird nicht in der Transzendenz des Nichts vom Sein ausgesetzt, sondern benutzt
beide sowohl in seinem dogmatischen als auch in seinem kritischen Vermögen. Das Denken des Seins
und des Nichts ist dagegen kein verobjektivierendes Vorstellen, sondern das eigene Ausgesetztsein,
die eigene Verantwortung und die eigene Geworfenheit in die Transzendenz des Anspruchs des Seins
als Existenzial des Daseins, welches das gefragte Fehlende aus dem Nichts im eigenen Sein des Da-
seins ermöglicht. In der Metaphysik wird nicht das Sein gedacht, sondern als Erklärung, Idee, Grund,
Wert vermittelt. Die Metaphysik begründet das Seiende außerhalb des Seins und des Nichts aus dem
104 T. Otsuru ist der Ansicht, daß Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche eine Selbstkritik von Heideg-gers S.u.Z. ist (Gerechtigkeit und D¥jg), Würzburg, 1992).
136
Sein. Die Metaphysik will das Seiende gegenüber dem Nichts begründen. Sie ist Onto-theo-logik. Sie
meint, daß das Nichts das Seiende und ihr Vorstellen vernichtet. Sie sieht nicht, daß das Sein selbst
das Nichts ist, weil es und seine ruhende Wahrheit direkt auf das Dasein ansprechen und aus diesem
quasi eine fehlende und abwesende Wahrheit als aus dem im Sein wesenden Nichts verlangen.
3. 3. Das Sein ist das Nichts als Ermöglichung des fehlenden Möglichen und seiner Wahrheit, aber auch Unwahrheit
Das Nichts ist nach Heidegger keine Verneinung, sondern die Motivation, Stimmung und „Er-
möglichung“ dessen, daß wir uns zu uns und zum Seienden verhalten. Das Nichts ist so die Ermögli-
chung des Seinsverstehens. Das Nichten des Nichts west im Sein des Seienden. Das Nichten des
Nichts geschieht im Sein, weil das Sein keine sich verwirklichende Realität des Seienden ist, sondern
der fehlende Sinn des ermöglichenden Anspruchs des Seins am Dasein und am Seienden, die noch
abwesende Wahrheit des Seins. Die Wahrheit hat in ihrem Wesen das Nichts, die Gabelung, die innere
Entzweiung, das Entspringen des Fehlenden und Abwesenden als Möglichen aus dem Nichts und nicht
aus der Verwirklichung einer Idee und einer Realität. Das nichtende Sein ist Er-möglichung und Aus-
ein-ander-setzung und nicht bloß das innerweltliche Sich-zeigen als idea mit ihrer begründenden Bes-
tätigung. Das Dasein, an ihm selber dem Sein ausgesetzt, verantwortlich und schuldig, Sein und
Wahrheit verstehend, ist an ihm selber der Ort des Beneidens der fehlenden Wahrheit des Seins bis zur
Unwahrheit, sofern es nicht das Sein auf einen adäquaten und realen Entwurf projiziert. Das Nichts
west innerhalb des Seins und innerhalb des Logos: es ist das Wesen der Wahrheit als innere Aus-ein-
ander-setzung mit dem Fehlenden und nicht zu Entwerfenden und nicht als äußere Verneinung. Selbst
der aus dem Nichts die Welt schaffende Gott sollte sich zum Nichts verhalten und nicht bloß eine Welt
herstellen und bewirken. (Wie z.B. beim Vorgang der Verkörperung, obwohl man ad intra und ad ext-
ra Gottes unterscheidet). Das Nichts ist die eigene Ermöglichung von Wahrheit als an ihm selbst erfol-
gende Aus-ein-ander-setzung des Fehlenden (gen. obj.) und auch des Gegensätzlichen, die innere We-
sung des Seins aus dem Nichts und nicht die Verneinung oder die bestimmte Negation, in welcher im
Negativen und durch dieses das Positive gesehen wird oder in dieses „schon“ übergegangen ist. Die
Unwahrheit ist nicht ein falscher Entwurf, sondern das Auftreten dessen, welches das Fehlende ver-
deckt und nicht entspringen läßt, das Ausbleiben der Erfüllung, das Beitreten eines Anderen und nicht
des Fehlenden, welches aber unter diesem verborgen bleibt und als Fehlendes weiterhin erstrebt wird.
137
3. 4. Die Wahrheit des Seins, zu der die Metaphysik auch gehört, ist Existenzial des Daseins und nicht seine Konstruktion. Das mitgeborene Nichts und der innere Schmerz des Fehls
Das Dasein, dessen Existenzial die Wahrheit ist, ist an ihm Gedachtes für die Wahrheit, es ist an
ihm selbst Ort der Wahrheit, aber auch der Unwahrheit. Es ist nicht ein Ich, welches - hinter und über
seinen Leistungen, Konstruktionen und Apparaten bleibend - diese verlassen, zurücknehmen und dia-
lektisch oder nihilistisch in sich aufheben könnte. Das Dasein ist nicht das denkend verbindende Ich.
Es ist Gedachtes, Tätigkeit und geschichtliches Ergebnis. In diesem Zusammanhang ist auch die Ge-
schichte der Metaphysik nicht ein menschlicher Schein, welcher am Ich aufgehoben oder korrigiert
werden kann. Und der Nihilismus ist nicht ein Moment im Vorgang zur Unbedingtheit des Subjekts
durch Verneinung seiner Bedingungen und Aufhebung ihrer Unwahrheit in der Wahrheit des Subjekts.
Die Geschichte der Metaphysik ist das Dasein selbst,105 weil die Unwahrheit so wesentlich zur Wahr-
heit gehört wie das Nichts zum Sein als die Gefahr und die ermöglichende Aus-ein-ander-setzung des
Fehlenden und so möglicherweise eines Fremden. Die Metaphysik geschieht aus der Wahrheit des
Seins, welche ein Existenzial am Dasein ist und nicht seine Konstruktion oder Leistung eines verbin-
denen und aus seinem Apparat sich vorstellenden Ichs. Die Metaphysik als Unwahrheit ist nicht ein
falscher Entwurf, sondern das Antreten dessen, was das Fehlende noch ver-birgt und nicht entspringen
läßt.
Deswegen kann man die Metaphysik nicht dialektisch und nihilistisch als einen Fehler und eine
Konstruktion negieren und verlassen106 und im menschlichen Subjekt aufheben. Das Nichts west in
der Wahrheit des Seins innerhalb des Seins und des Daseins und ist nicht die Verneinung für die dia-
lektische Zurücknahme eines Scheins. Das Dasein verhält sich zur Wahrheit nur aus und in der Un-
105 R. Brandner vertritt dagegen die These, daß Heidegger an der Stelle der Metaphysik eine Meta-historik ein-führt. Es geht um eine Ereignisontologie, welche die geschichtlichen Gaben des Seins an den Menschen einfach erhält. Das bedeutet eine Entwirklichung der Natur und des Menschen (Heideggers Begriff der Geschichte und das neuzeitliche Geschichtsdenken, Wien 1994). 106 Wenn man von Destruktion und Ab-bau der Metaphysik und Ontologie oder vom Rückgang in den Grund der Metaphysik spricht, sollte man immer bedenken, daß die Metaphysik nicht eine Wirkung und Folge eines Grundes ist, sondern innerhalb seines Wesensraums entsteht. Wie z.B. bei E. Kettering: E. Kettering, Fundamen-talontologie und Fundamentalaletheiologie, in: a.a.O. Innen- und Außenansichten, S. 204 und 211, wo trotzallem Kettering das Wort Spielraum für den Grund verwendet. Grund und Wachstum stehen so nicht in einer Reihe, in einem Vorgang, welcher kritisch festzustellen und abzubauen ist, sondern sie sind in einem ereignishaften Zu-sammengehören verhaftet. Ebensowenig kann man auf eine "totalisierende Vernunftkritik" hinweisen (nach Apel), oder vom "unüberbrückbaren Verschiedenes einer Fundamentalopposition" oder vom "Abgrund zwischen Wahrheit und Richtigkeit" bei Heidegger in bezug auf die Thematik der Postmoderne sprechen, wie H. Brunk-horst: Adorno, Heidegger und die Postmoderne, in: a.a.O. Innen- und Außenansichten, S. 315. Heidegger vertritt keine Opposition gegen Descartes oder Hegel, und die Wahrheit wird nicht mit einem Abgrund von der Richtig-
138
wahrheit der Metaphysik. Auch in der Unwahrheit kann die fehlende Wahrheit geborgen wesen. Das
Nichts der Wahrheit als Aus-ein-ander-setzung, Gefahr und möglicher bzw. faktischer Eintritt der
Unwahrheit ist das Sich-entzweien des Logos für die fehlende Wahrheit und ihre Darstellung. Das
vorstellende Ich dagegen baut dialektisch und nihilistisch vorhandene Seinsprädikationen ab, welche
weder Wahrheit noch Unwahrheit sind, sondern die Wahrheit als vorhandene Idee und weltliche logi-
sche Form repräsentieren wollen. Nur wenn das Dasein seine Unwahrheit wie seine Wahrheit innehat,
kann es auch zur gefragten und fehlenden Wahrheit des Seins stehen und in dieser bzw. in der Un-
wahrheit sein. Das Nichts Heideggers ist bereits mit der Wahrheit des Seins als innere Entzweiung für
das Fehlende mitgeboren, und es tritt nicht später als Verneinung auf. Die direkt am Dasein verlangte
und fehlende Wahrheit wird von einem äußeren Dritten und Unwahren besetzt, welches aber von der
Wahrheit selber ermöglicht wird. Das Dasein spürt im Eigenen den Fehl der Wahrheit, und das der
Unwahrheit vorgeborene Nichts wird als innerer Schmerz und nicht als Enttäuschung empfunden! Es
ist ein Fehl und kein Fehler. Die erwartete Wahrheit ist ausgeblieben. Sie wurde von der Unwahrheit
beraubt. Sie wurde am Dasein getötet, bevor sie geboren wurde! Sie ist ein Fehl und kein Fehler! Sie
wird erwartet und als etwas Nicht-vorgestelltes in Erinnerung behalten.
So entstammt der Fehl einem Übermaß. Wir könnten sagen, Übermaß wäre der Anspruch auf
eine fehlende Wahrheit am entgegengeworfenen Dasein. „(...) das Nichtaussetzen der von Gott ver-
hängten Bestimmung. Diese ist in der Übernahme immer Fehl und Verfehlung, nicht aus Schwäche,
sondern aus dem Tragenmüssen des Übermächtigen. Aber eben «bis», d.h. so weit, als der Fehl ein
vom Gott her kommender ist, besteht die Treue zur Berufung, auch wenn sie im Werk scheitert“ (Höl-
derlins Hymnen, WS 34/35, S. 232).
Diesen beauftragten Fehl übernehmen die Halbgötter in ihrem Sein. „Der Fehl ist für die Halb-
götter ein göttlicher, nicht ein Fehler, den sie machen und begehen, sondern die Mitgift ihres Ur-
sprungs, d.h. Gottes Fehl“ (a.a.O., S. 233). Die Halbgötter zwischen Menschen und Göttern sind der
Ort dieses angesprochenen Fehls. Gottes Fehl ist ein Fehl in den Halbgöttern, der aber auch Gottes
Fehl, Fehl an Gott und Fehl im Gott gemäß seiner am Halbgott „verhängten Bestimmung“ ist. In die-
sem Auftrag und in diesem Fehl ist die Wahrheit nicht ein ursprüngliches Unmittelbares, das gesucht
wird, sondern ein im Auftrag verlangtes Fehlendes. Deswegen kann sie nicht entworfen werden, son-
dern sie wird am entgegengeworfenen Ort ihres direkten Anspruchs erlitten.
„Erst indem der entsprungene Ursprung sich bahnen muß am Widerstand, wird das Sein des Stromes
ein Schicksal, ein Leiden im Sinne des Erleidens. Dieses aber meint nicht das bloße passive Getrof-
fenwerden von anderem, sondern Er-leiden als im Leiden erst das Seyn erstreiten und schaffen. Das
Seyn als Schicksal hat den Ursprung nicht im Rücken als ein einmal Verhängtes, Zugewiesenes, als
bloß unabänderliches >Los<, als Bestimmung, die einfach ab- und über das Folgende wegrollt, son-
dern das Überstehen des Bruchs und das Zurückwollen aus diesem in den Ursprung kennzeichnen das
keit getrennt. Im Gegenteil, Heidegger sieht die eine Geschichte der Wahrheit des Seins und ist gegen ein loses
139
Seyn als Schicksal. All dieses aber gehört mit in das Geheimnis des Reinentsprungenen“ (a.a.O., S.
235).
Das Erleiden des Fehls führt nicht in den entwerfenden Übergang in ein Adäquates, sondern es
kehrt in den ursprünglichen und vorontologischen und aufgetragenen Fehl wi(e)der, welcher inmitten
des Seins waltet und von diesem am Dasein abverlangt ist. So kann nicht ein unmittelbarer Ursprung
entworfen und verwirklicht werden, sondern ein vorontologisches und fehlendes „Reinentspungenes“
entspringen. An diesem am Dasein der Halbgötter erlittenen Fehl wird das reinentsprungene und nicht
unmittelbare Sein Gottes entspringen.
„Das Reinentsprungene muß umwillen seines E n t s p r u n g e n seins den Ursprung wollen. Dieser
Wille wird zum Gegenwillen gegen die Ursprungsmächte, die die Bestimmung des Entsprungen-
s e i n s wollen. (...) Jetzt ahnen wir, inwiefern diese Halbgötter die Blindesten sind - weil sie sehen
wollen, wie sonst kein Wesen sieht, weil sie ein Auge zuviel haben: den Blick für den Ursprung. Sol-
cher Blick ist kein unverbindliches Anblicken und Zurückblicken, sondern der Vollzug einer ur-
sprünglichen Bindung. Diese im Ursprung selbst gegründete Feindseligkeit ihres Wesens, die zur
Verwegenheit treibt, allein um der Wahrung des Ursprungs willen, - das ist der Fehl“ (a.a.O., S. 267).
Nur ein direkt Angesprochener und Blinder (a.a.O., S. 230) kann einen erleidenden Anblick auf
den vorontologischen und nicht zu entwerfenden Fehl dieses Anspruchs haben. Das Erleiden des Fehls
entwirft nicht das Anfängliche in die reale Zukunft, sondern aus der inneren Fuge des Anspruchs im
Angesprochenen läßt es das Fehlende als Letztes ohne Anfang entspringen. „(...) nicht das nur immer
vorfindliche Heute und Heutige, das Nächste, sondern die Mitte der Zeit ist das Letzte, (...)“ (a.a.O., S.
289). Und in seinem letzten Aufsatz verknüpft M. Heidegger die Erfahrung der Not und des Fehls mit
einem Stehen inmitten eines Weges im Gegensatz zur Methode und zur Dialektik.
„Weg kennt kein Verfahren, kein Beweisen, kein Vermitteln. Erst ein Denken, das in sich Wegcharak-
ter hat, könnte die Erfahrung des Fehls vorbereiten. So könnte es dem Dichter, der die Not des Fehls
zu sagen hat, «verstehen helfen». Hierbei meint verstehen nicht: verständlich machen, sondern: aus-
stehen die Not, nämlich jene anfängliche, aus der erst die Not des Fehls «heiliger Nahmen» entspringt:
die Seinsvergessenheit, d.h. das Sichverbergen (...)“ (Der Fehl heiliger Namen. In: Aus der Erfahrung
des Denkens, Bd. 13, 1974, S. 234). Und: „Schon allein die Herrschaft der Dialektik jeglicher Art
verstellt den Weg zum Wesen des Weges. Doch solange uns der Wegblick dafür versagt ist, daß und
wie auch im Entzug und im Vorenthalt eine eigene Weise das Anwesens waltet, solange bleiben wir
blind und unbetroffen vom betreffenden Anwesen, das dem Fehl eignet, der den Namen des Heiligen
und mit ihm dieses selbst in sich birgt, und jedoch verbirgt. Nur ein Aufenthalt in der offenen Gegend,
aus der der Fehl anwest, gewährt die Möglichkeit eines Anblickes in das, was heute ist, indem es
fehlt“ (a.a.O., S. 235). Das Erleiden des Fehlenden hat seinen Ort am Sein des Daseins und kann nicht
und erhabenes, kritisches Ich gegenüber seinem Schein und seiner Geschichte.
140
innerhalb einer Dialektik in einem Anfang aufgehoben werden, sondern der Ort des Fehls ist der Ort,
aus dem das verborgene Fehlende als das Heilige und Letzte entspringen kann.
Die Unwahrheit ist kein Nicht-treffen, sondern west vielmehr im Ort des Ruhens und des
Wi(e)derkehrens der Wahrheit in ihrem vorontologischen Ursprung. Der Ort der Wahrheit ist ein Fehl,
aus dem Wahrheit oder auch Unwahrheit ermöglicht und dargestellt wird. Sie ist das Opfer ihrer
selbst. Dem Dasein fehlt die Wahrheit solcherweise aus seiner Unwahrheit und nicht aus einer Ich-
Position heraus. So kommt die Wahrheit aus dem erlittenen Fehl an der Unwahrheit viel reicher und
stärker hervor als aus der Leistung eines vorstellenden Ich. Die Wahrheit ist eigentlich der Fehl auch
aus der Unwahrheit. Der Fehl hat einen dreifachen Charakter, könnte man sagen: 1. Der Fehl ist am
Dasein selbst und nicht im Streichen und Fallen eines Versuchs, einer Leistung. Er ist nicht die Ver-
neinung des Scheins der Unwahrheit und das Moment des Übergangs in die dialektisch neue Wahrheit
des Subjekts, sondern das Behalten der Unwahrheit vom Dasein und nicht ihre Funktion als Vernei-
nung. 2. Der Fehl der Wahrheit liegt an der Wahrheit selber als vorontologische Ermöglichung von
Wahrheit und Unwahrheit. Der Fehl ist Schmerz und nicht Enttäuschung ob einer fehlgeschlagenen
Leistung. Das Nichts ist der Unwahrheit vorgeboren und dem Sein und seiner Wahrheit immanent. Die
Wahrheit hat den Nihilismus inne und wird nicht einfach enttäuscht. Das Nichts des Seins ist nicht das
Nicht des Seienden beim Nihilismus (Nietzsche II, 338). 3. Dieser Fehl ist Fehl der nicht geborenen
und ausgefallenen Wahrheit. Die fehlende Wahrheit ist von der Unwahrheit verdeckt, aber sie west
verborgen in dieser. Der Fehl der Wahrheit wird aus der Unwahrheit heraus gespürt, und die Wahrheit
wird aus jenem intendiert und nicht vorgestellt gerufen, und zwar nicht aus einer höheren, der Un-
wahrheit äußeren Ich-Position heraus. Es kann sein, daß die entzogene Wahrheit nicht mehr aufgespürt
und völlig vergessen wird. Aus der Unwahrheit wird aber eine andere Wahrheit erlitten, und ihr Fehl
wird als Fehl eines Fehlenden und nicht Bestimmten erlitten und beneidet.
Die ratio essendi und cognoscendi der Wahrheit, ihre hinreichende Bedingung (!) ist dieser Fehl
und kein setzendes Kriterium oder die „Energie“ einer sich bewährenden Substanz und Idee. Im Er-
leiden dieses Fehls, im Element des Denkens, werden die Bedingungen der Wahrheit konstituiert und
qualifiziert. Dieser Fehl ist aber nicht methodische Voraussetzung für einen aus dem Nullpunkt anfan-
genden, kritischen und konstruktiven Aufbau einer kritischen oder dialektischen Methode. Dieser Fehl
und das Nichts innerhalb des Seins und des Daseins sind nicht Momente des dialektisch-ontologischen
Denkens, sondern der hinreichende vorontologische Abgrund für die Konstitution und Qualifikation
des Sinnes der Denkelemente, welche die fehlende Wahrheit erleiden.
Man kann also bei Heidegger weder vom Abbau der Metaphysik, von totaler Kritik und Abnei-
gung gegen diese noch von ihrer Aufhebung und Rekonstruktion in der „Seynsgeschichte“ sprechen.
Wenn das Sein geschichtlich ist, ist es solches in seiner Geschichte. Die Metaphysik und der Nihilis-
mus sind kein Moment, sondern die Geschichte selbst des Seins und des Daseins, zu der die Unwahr-
heit wesentlich dazugehört. Die Metaphysik wird auf ihren Grund, der Wahrheit des Seins als inneres
141
Wesen des Nichts am Sein und am Dasein, gestellt.107 Diese Wahrheit kann ein Subjekt nicht als sei-
nen Entwurfsbereich und Leistung vorstellen, sondern sie wird aus und am Dasein selber als erstrebte
Abwesenheit er-möglicht. Das Dasein ist schon in der Wahrheit oder Unwahrheit des Seins und als
diese selbst. Das Dasein ist gleichursprünglich in der Unwahrheit wie in der Wahrheit (S. u. Z., S.
222). Das „Kantbuch“ aus dem Jahre 1928 läuft systematisch auf die Intention hinaus, darzulegen, daß
der Schein und die Unwahrheit wesentlich und positiv zum Dasein gehören und nicht kritisch und
negativ abgebaut werden können.
„Auf Grund der Endlichkeit des In-der-Wahrheit-seins des Menschen besteht zugleich ein In-der-
Unwahrheit-sein. Die Unwahrheit gehört zum innersten Kern der Struktur des Daseins. Und hier glau-
be ich erst die Wurzel gefunden zu haben, wo der metaphysische «Schein» Kants metaphysisch be-
gründet wird“ (Kant und das Problem der Metaphysik., Bd. 3, 1928, S. 281, siehe auch 245, 275). Vor
diesem Hintergrund können wir auch die Bedeutung der Uneigentlichkeit bei S. u. Z. verstehen. Daher
läßt Heidegger auch seine geschichtlichen Vorlesungen thematisch um wichtige Stationen und Philo-
sophen der Geschichte der Metaphysik und der Wahrheit des Seins kreisen (Beiträge, S. 175, 176)!
Auch in der Unwahrheit des Daseins kann die Wahrheit des Seins wesen. Sie kann intendiert, erwartet,
in der Phantasie erstrebt, im Unbewußtsein erhofft und so ihr Fehl gespürt und erlitten werden. Des-
wegen spricht Heidegger nicht vom Tod, sondern vom Fehl Gottes. Der Tod Gottes ist ein dialektisch-
nihilistischer Abbau der Gottesvorstellung. Der Fehl Gottes ist der fehlende Gott an der existenzialen
Wahrheit bzw. Unwahrheit des Daseins selbst. Der fehlende Gott ist ein Gott in der Unwahrheit des
Daseins! Er ist der nicht geborene und so verborgene und gestorbene Gott am Dasein selbst und das
nicht vorstellende Verlangen eines Gottes, das gottlose Verhalten zu Gott. Fehl Gottes ist ein nicht
geborener und toter Gott am Dasein selber und so auch der Tod des Daseins. Der Fehl108 Gottes ist
Übermaß des Wollens, welcher aus der Unwahrheit der Wahrheit Gott erstrebt und in der Transzen-
denz ausgesetzt ist, und nicht das Vorstellen eines toten Gottes aus der Unbedingtheit des Ich heraus.
107 B. Merker verwendet auch für Heideggers Destruktion der Metaphysik und Abbau von Mythen das Wort Entmythologisierung im Gegensatz zur Reflexion als Vorstellung von Sein. Dieses führte H. Jonas ein und wur-de besonders durch R. Bultmann durchgesetzt (B. Merker, Konversion statt Reflexion, in: a.a.O., Innen- und Außenansichten, S. 229). Außer der angeführten Argumenten, wie in Exkurs des Teil V über die Theologie bei Heidegger analysiert wird, kann der Ausdruck Entmythologisierung mit seinem spezifischen Inhalt keinen Ein-wand bei Heidegger finden. 108 A. Polti wirft Heidegger das Ausbleiben von Reflexion vor. So bleiben die Situationen der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit unvermittelt nebeneinander. Entweder bleibt man in der Uneigentlichkeit eingeschrenkt, oder steht in seiner Eigentlichkeit unmittelbar und begnadet zum Sein (A. Polti, Ontologie als "Inbegriff von Negativität", in: a.a.O. Innen- und Außenansichten, S 281 ff.). Es gebe keine Reflexion in der Uneigentlichkeit, im Gegensatz zu Adorno, der das Subjekt-Objekt-Schema in der Metaphysik als eine Interpretationsperpektive der Geschichte sehen, reflektieren und kritisch herausholen kann. Dazu ist aber zu sagen, daß die Ausdrücke Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit keinen abwertenden Gegensatz darstellen. Die Metaphysik ist nicht bloß eine Interpretationsperspektive, Versuchsordnung, oder Modell, sondern sie gehört zur Wahrheit des Seins und des Daseins. Deswegen reicht eine Reflexion und dialektische Aufhebung nicht aus. Vielmehr ist eine Verwin-dung aus der Metaphysik und der Uneigentlichkeit nötig. Der Ausdruck "Fehl" des späteren Heidegger ist schon im frühen vertreten: in Form des Verstehens von Wahrheit und Unwahrheit als Existenzial am Dasein selbst etwa, wie in der oben dargestellten Analyse, und zeigt plastisch, daß Sein- und Wahrheitverhältnis nicht eine
142
Der Tod und das Nichts im Dasein ist nicht das Abstrakte oder das methodische Moment der Vernei-
nung, sondern die inhaltsreiche und hinreichende Motivation und der Abgrund des Denkens, welches
nicht vorstellend denkt, sondern den Fehl der Wahrheit in seinem eigenen Tod als das Heilige erleidet.
3. 5. Das Problem der Aneignung der Idee bei den Linkshegelianern
Unter dieser Perspektive kann man auch die Problematik des linken Hegelianismus sehen, die
man an M. Stirners Betrachtungen über den Prozeß und das Niveau des Abbaus der metaphysischen
verobjektivierten Projektion rekonstruieren könnte. Die religiöse Säkularisierung Feuerbachs wird von
der politischen Säkularisierung, Aneignung und Befreiung der Geschwister Bauer kritisiert und diesen
folgt die soziale Kritik und Befreiung des jungen Marx. Die radikalste Kritik gegen diese dialektische
Aneignung liefert aber M. Stirner in seinem Werk „Der Einzige und sein Eigentum“.109 Er sieht, daß
der Prozeß dieser Säkularisierung, Befreiung und Unbedingtheit des Subjekts eine Aneignung der Idee
vom Menschen ist. Der Mensch erweist sich als das eigentliche Subjekt dieser Kategorien und Ideen,
aber letztendlich hat er doch am Ende des Prozesses innerhalb seiner selbst die Spaltung des Heiligen
und Fremden. Er trägt die Entfremdung innerhalb seiner, weil er der Erbe und Träger aller dieser Idea-
le ist. Stirner will jenseits dieses dialektischen Prozeßes der Aneignung und Beerbung der Ideale se-
hen. Er meint, daß der Mensch „seine Sachen auf Nichts gestellt hat“. Er selbst ist ein punktuelles Ich,
ein substanzloses und strukturloses schwarzes Loch.
Wie läßt sich aber der Prozeß dieses Abbaus verstehen? Als Aneignung oder Annullierung? Wie
und mit welchen Mitteln passiert dieses und jenes? Wenn mit den Mitteln der Metaphysik, wie ist man
von dieser befreit? Von woher wäre eine Annullierung dieses geschichtlichen Prozesses möglich? Ist
eine Annullierung110 nicht eine Illusion? Kann man überhaupt von Atheismus und Säkularisierung
sprechen, wenn man nur vom Tode Gottes und nicht vom Tode des Menschen spricht? Spricht eine
Dialektik der Aufklärung vom Tode des Menschen in der Aufhebung seiner Unwahrheit? Wie verläuft
der Gang der Sache bei dieser Dialektik? Wo steht die Vernunft? Gibt es immer noch einen reinen
Anfang oder einen die Unwahrheit aufhebenden Gang dieser Dialektik nach Auschwitz und „jenseits
von Gut und Böse“?
Die Fragen verfügen in doppelter Hinsicht über einen theologischen Hinweis: zum einen, im-
manent, durch die Beziehung des gefallenen Menschen zu Gott, und zum zweiten durch das Verständ-
nis der Beziehung zwischen modernem Atheismus, Säkularisierung und der Theologie.
vorstellende Unmittelbarkeit ist, sondern die "Intendierung" der Wahrheit aus der Unwahrheit, und das ist wich-tig bei Heidegger. 109 M. Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1991.
143
3. 6. Ist das Menschliche in einem circulus vitiosus deus befangen?
In solcher Weise ist nach dem Sinn der Säkularisierung und desweiteren der Geschichte der Me-
taphysik aus diesem Zusammenhang heraus zu fragen.
1. Haben wir eine Annullierung oder Aneignung des Scheins vom Menschen? Und zwar im geschicht-
lichen Ort und Raum dieses Scheins? 2. In diesem Prozeß erweist sich der Mensch als das Subjekt des
Ganges. Das Ende des dialektischen Prozesses sollte dann der eigentliche Anfang und das Erste sein.
Nach Heidegger, besonders in „Identität und Differenz“, ist der Anfang der Metaphysik die Onto-
logie, in der sich das Denken am Seienden versammelte und sich dessen Gründung vollzog. Gott kam
notwendigerweise in der Onto-theo-logik vor. Am Ende des Prozesses der Aneignung und Säkularisie-
rung ist der Mensch wieder die gegenüber dem Seienden vorstellende Instanz. Wir haben keine Revo-
lution innerhalb des Menschen und seines Bezugs zu der Wahrheit. Der Gott erscheint vielleicht wie-
der, wie z.B. der Gott des 20. Jahrhunderts.111 Sucht der Nihilismus Nietzsches deswegen nach einem
neuen Gott? Und wenn nicht nach einem Gott, dann nach dem Übermenschen? Überwindet Nietzsche
die Onto-theo-logik? Was ist der Übermensch? Ist das Menschliche nunmehr unmöglich? Sind wir in
unserer Geschichte, Sprache und unseren mentalen Mitteln befangen? Ist das Übermenschliche der
circulus vitiosus deus? Gilt das selbe auch bei Heidegger nach „Sein und Zeit“? Will er deswegen
keine terminologisch neue gebaute Sprache mehr anwenden wie in „Sein und Zeit“? Will er nicht
mehr die Metaphysik überwinden, sondern verwinden und beschäftigt sich deshalb so intensiv mit der
Geschichte der Metaphysik?
2. Bei Heidegger ist jedoch der Mensch identisch mit seiner Geschichte. Heidegger ist in den Zirkel
eingesprungen und hat ihn aufgenommen. Ist dann der Mensch selbst seine Geschichte und sein
Schein?
3. Ist der Mensch als Erbe dieser Aneignung außerhalb dieser Geschichte der Metaphysik? Ist letztlich
die Geschichte ein Fehler, der aufgehoben werden kann? Die Zusammengehörigkeit der Unwahrheit in
der Wahrheit als Existenzial des Daseins und in ihrem Wesen als Aus-ein-ander-setzung des Fehlen-
den aus dem inneren Nichts der Wahrheit des Seins haben vielleicht Heidegger dazu geführt, jenseits
von einer dialektischen Aneignung oder Annullierung zu sehen und die Wahrheit auch aus der Un-
wahrheit und als ihre Verwindung - und gerade nicht als ihre Überwindung - zu intendieren. Wenn
Wahrheit auch am Ort der Unwahrheit heraus-gefordert wird und verborgen west, ist diese dann die
Wahrheit, welche nicht zu einem dialektisch erwiesenen Ende als zum eigentlichen und wahren An-
fang aufgehoben wird, sondern als letzte Wahrheit und letzter Gott ohne Anfang aus der Mitte, aus der
Unwahrheit und dem Fehl entspringt und sich darstellt und nicht die Bewährung und Energie eines
ersten sich verwirklichenden oder eines weder wahren noch unwahren - jenseits von Gut und Böse -
110 Über ein selbstkorrektives Verfahren beim Fallibilismus, welcher eine pragmatische aber keine theoretische Gewißheit beansprucht, siehe: H. F. Fulda, Theoretische Erkenntnis und pragmatische Gewißheit, in: Hermeneu-tik und Dialektik, a.a.O., Bd. I, S. 145-165.
144
entzogenen Gottes am Anfang ist, welcher in der Vermittlung und Aufhebung des toten Gottes immer
wieder in einer neuen Repräsentation und Auslegung als neuer Gott auftritt.
111 M. Frank, Gott im Exil, Frankfurt a.M. 1988.
145
4. Die Wahrheit als Erschloßenheit und Verstehen des Daseins. Das Nichts als Endlich-
keit des Seins und das Gehören der Unwahrheit in der Wahrheit. Die Metaphysik als
Unwahrheit in der Wahrheit und die „Kehre“ Heideggers als Ankunft des Un-
Gedachten
Heidegger analysiert in seiner Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik“, die er 1929 hält, und in
seiner später (1949) geschriebenen Einleitung zu dieser den immanenten Gang von „Sein und Zeit“
und der Wahrheit des Daseins zu der Destruktion der Metaphysik, zur Bedeutung des Nichts und der
Ankunft des Seins, welche seither als Kennwort der Kehre Heideggers zum Sein selbst gilt. Als Zu-
sammenfassung der vorausgegangenen Paragraphen wird nun vor dem Hintergrund dieser beiden Auf-
sätze die Vorgehensweise Heideggers herausgearbeitet.
4. 1. Das Sein als Sein-zu ermöglicht seine Wahrheit, sein Nichtsein. Die Un-verborgenheit
Heidegger sieht „Sein und Zeit“ als Vorbereitung für die Überwindung der Metaphysik (Einl. zu
W. i. M., Bd. 9, 1949, S. 368). Der Mensch gehört zum Sein und ist nicht bloß das Subjekt einer Aus-
sage über das Seiende, weil die Wahrheit Unverborgenheit ist (a.a.O., S. 369). Im Teil I ist schon dar-
gestellt, daß Heidegger die Phänomenologie und ihren Logos als direkten Anspruch und Zusammen-
gehören des „Seins-zu“ zu seinem Nichtsein versteht. Das Dasein ist der Wahrheit des Seins gegen-
über verantwortlich. „Zur Entscheidung steht, ob das Sein selber aus seiner ihm eigenen Wahrheit
seinen Bezug zum Wesen des Menschen ereignen kann (...)“ (a.a.O., S. 369). Das Wort Ereignen hat
die Bedeutung des Wortes Ereignis im späteren Heidegger. In der Fußnote (a) aus dem Wort des Tex-
tes „ereignen ... kann“ taucht die Bemerkung auf: „5. Auflage 1949: Brauch“. Das Dasein wird in die-
sem Aufsatz oft als die Ortschaft der Wahrheit des Seins gebraucht. Die Wahrheit des Seins ist direk-
ter Anspruch auf das Dasein und nicht ein Sich-zeigen oder Entworfen-werden. Die Wahrheit des
Seins ist - wie gesagt - das Existenzial des Daseins. Die Transzendenz ist Existenzial des Daseins. Das
Dasein zeigt sich nicht bloß in der Transzendenz und der Wahrheit, sondern erleidet und dimensioniert
diese.
„«Der Mensch existiert», bedeutet: der Mensch ist dasjenige Seiende, dessen Sein durch das offenste-
hende Innenstehen in der Unverborgenheit des Seins ausgezeichnet ist. Das (5. Auflage 1949: ereig-
net-gebrauchte) existenziale Wesen des Menschen ist der Grund dafür, daß der Mensch Seiendes als
ein solches vorstellen und vom Vorgestellten ein Bewußtsein haben kann“ (a.a.O., S. 375).
Jede Intentionalität auf Seiendes beruht auf die Transzendenz als Existenzial des Daseins, wel-
ches die angesprochene und fehlende Wahrheit des Seins in seiner Endlichkeit und Sterblichkeit erlei-
det. „Es ist der ekstatische, d.h. im Bereich des Offenen innestehende geworfene Entwurf. Der Be-
146
reich, der sich im Entwerfen als offener zustellt, damit in ihm etwas (hier das Sein) sich als etwas (hier
das Sein als es selbst in seiner Unverborgenheit) erweise, heißt der Sinn (vgl. S. u. Z. S. 151): «Sinn
von Sein» und «Wahrheit des Seins» sagen das Selbe“ (a.a.O., S. 377).
Das Dasein als geworfener Entwurf bietet sich an und wird an ihm selber innenstehender, ru-
hender Ort für die fehlende und erst entspringende Wahrheit des Seins als Unverborgenheit. Das Sein
ist keine reale Substanz, welche auf einem adäquaten und realen Entwurf transformiert werden könnte,
sondern es ist der direkte Anspruch auf das Dasein, in welchem es als Fehlendes und noch Abwesen-
des beneidet wird. Das wird besonders nach „S. u. Z.“ reflektiert und ist immanenter Ansatzpunkt bei
Heidegger. So bedeutet das Sein als eªmai oder esse Anwesenheit. Anwesenheit ist aber die unverbor-
gene Zeit aus der Verborgenheit (a.a.O., S. 376 f.). Insofern sind Sein und Zeit der Bezug des Seins
auf seinen Sinn, seine Wahrheit. Heidegger hinterfragt diese Spannung und dieses „Zwischen“ von
Sein und seiner Wahrheit oder der Un-verborgenheit. Das Sein wird als Anwesenheit unverborgen.
Zeit hat der Mensch ausgezeichnet, und deswegen wird Sein auf die Zeit des Daseins entworfen. Die
Zeit ist nicht bloß zeitlich als leerster und letzter realer Horizont, sondern Geschichte (a.a.O., S. 377),
und das bedeutet: in der Wahrheit eines Da-Seins verwickelt und versammelt und daher dargestellt.
Zeit bedeutet nicht eine zeitliche Disposition und ein Werden des Seins innerhalb der Zeit, sondern die
Geschichte des Seins, seine innere Spannung zwischen Verborgenheit und Un-verborgenheit112 und
seinen Entzug und sein Verwickeln im fremden Da, an welchem der mögliche Fehl aufgespürt wird.
Zeit bedeutet so schließlich nicht ein innerzeitliches Vorkommnis als Sich-zeigen des Vorzeitlichen,
sondern den Entsprung der fehlenden Wahrheit aus der Endlichkeit der Zeit des Daseins.
4. 2. Das Nichts gehört zum Sein. Eine höhere Wahrheit wird in der Unwahrheit verborgen in-tendiert und nicht im ontologisch-dialektischen Wechselspiel von Wahrheit und Unwahrheit
Die Wahrheit ist aus dem Sein ermöglicht. Auch die Ershloßenheit der Wahrheit am Dasein
trägt an ihr selber die Ermöglichung von Wahrheit und Unwahrheit. Diese innere, aktive, vorontologi-
sche und quasi ethische und nicht ontologische oder reaktiv-dialektische Aus-ein-ander-setzung der
Wahrheit des Seins ist das Nichten des Nichts als das Sein. Das Sein ist die innere Negation als Aus-
ein(em)-ander(es)-setzung, was anders Entzug, Verborgenheit, Unter-scheiden, Mitteilung oder gestri-
chenes Sein bei Heidegger genannt wird. Seither reflektiert Heidegger intensiver zwischen Sein und
Wahrheit, Verborgenheit und Unverborgenheit und sieht eine Spannung nicht als einfache und über-
112 Die Verschiedenheit zwischen der Entdecktheit bei S.u.Z. und der Un-verborgenheit als Zusammengehörig-keit von Lichtung und Verbergung beim späteren Heidegger, und zwar im Aufsatz "Das Wesen des Kunst-werks", stellt G. Faden in seinem wichtigen Beitrag über den Schein der Kunst bei Heidegger fest (Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhetik, Würzburg 1986, S 15 ff., 32, 37). Die vorliegende Untersuchung versucht in diesem Kontext zu zeigen, daß schon beim frühen Heidegger die Zusammengehörigkeit von Wahr-heit und Unwahrheit präsent ist, und es nicht um ein phänomenologisches Entdecken geht, und daß Heideggers immanente Voraussetzungen bewußter und operativer nach S.u.Z. eintreten.
147
gehende Folge, als ein ins Licht-Bringen des Verborgenen. In diesem Ver-bergen der Wahrheit in der
Unwahrheit und aus diesem Ermöglichen des Nichtseins im Sein wird etwas Höheres verborgen inten-
diert und nicht der unmittelbare Übergang in eine Entdecktheit. Die Un-verborgenheit113 ist kein Sich-
zeigen im Licht eines noch nicht Erschienenen und so Verborgenen, sondern das ruhende und anspre-
chende Verwickeln der Wahrheit im Da als Ermöglichung und Erwartung eines Fehlenden und so
wesentlich Verborgenen und nicht innerhalb einer weltlichen logischen Form Sich-zeigenden. Es geht
nicht um Verborgenheit eines vorhandenen Verborgenen, das dann innerhalb der Sichtsamkeit einer
logischen weltlichen Form erscheint, sondern um eine verborgene Wahrheit, welche die Welt über-
haupt weltet und darstellt. Die verborgene Wahrheit des Seins ist seine vorontologische Unterschei-
dung, Tat und Wi(e)derkehr in einem anderen Ursprung als Fehl an darzustellender Wahrheit. Die
ruhende Wahrheit verwickelt sich direkt am Dasein, nicht um in einen weiteren, verwirklichenden
Entwurfsbereich aufzugehen, sondern um an einem entgegengeworfenen Da-sein eine fehlende und
„höhere“ Wahrheit zu ermitteln und welterschließend darzustellen. Die Wahrheit als Existenzial des
Daseins ist in diesem zugleich (Ermöglichung von) Wahrheit und Unwahrheit. Das Dasein ist schon in
der Wahrheit oder Unwahrheit. Das Sein und seine Wahrheit am Dasein ermöglichen das Fehlende im
Eigenen, haben das Nichts inne und sind so endlich und nicht ein unendliches Sich-zeigen.
„Sein und Nichts gehören zusammen, aber nicht weil sie beide - vom Hegelschen Begriff des Denkens
aus gesehen - in ihrer Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit übereinkommen, sondern weil das Sein
selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Da-
seins offenbart“ (W. i. M., Bd. 9, 1929, S. 120). So trägt die Wahrheit des Seins die Ermöglichung von
Unwahrheit in sich.
Die Metaphysik ist nicht aus sich und ihrer Art nach ein Irrtum und ein Fehler, sondern sie ge-
hört zur Wahrheit des Seins und ihrer Geschichte, und das nicht als Geschehen in einer äußeren Zeit,
sondern als Geschehen innerhalb der Wahrheit. Diese ent-eignet sich zugunsten des Fehlenden mit der
Gefahr der Unwahrheit. Die Metaphysik ist kein Fehler, sondern Ereignis der Wahrheit von der Un-
wahrheit (Einl. zu W. i. M., S. 370). Die Unwahrheit ist Ermöglichung der Wahrheit als verborgener
Wahrheit. Die Metaphysik ist nicht ein Irrtum an sich, sondern sie stammt aus dem Wesen der verbor-
genen Wahrheit des Seins, welche in sich ein tieferes Wesen zeigt. Sie ist Wahrheit nicht als Bewäh-
rung einer Idee oder des Lichtes, sondern des Fehls an Wahrheit, in welchem das Nichts und der Fehl
der Unwahrheit vorgeboren sind. Nur so kann Unwahrheit eintreten. Diese Unwahrheit wird so nicht
kritisch oder dialektisch destruiert und aufgehoben, sondern sie läßt sich in ihren Ab-grund tauchen.
Die verborgene Wahrheit wird nicht durch eine ontologisch-dialektische Vermittlung von Wahrheit
und Unwahrheit ermittelt, sondern sie ist die Wahrheit der Unwahrheit aus ihrer vorontologischen und
113 Dagegen unterscheidet B. Mikulic bei Heidegger die Metaphysikgeschichte als Geschichte des Denkens von der Geschichte des Seins (Sein, Physis, Aletheia, a.a.O., S. 310). Die Seinsgeschichte bleibt unvermittelt (S. 312). Die Geschichte der Metaphysik als Geschichte der Wahrheit des Seins ist doch die Geschichte des Seyns in Heideggers seynsgeschichtlicher Philosophie. Bei O. Pugliese ist auch das historische Moment ein begründetes und sekundäres (Vermittlung und Kehre, Freiburg-München 1965, S. 209).
148
sie auch ermöglichenden und darstellenden Motivation. Das heißt nicht, daß die Unwahrheit in einem
gemeinsamen Ursprung von Wahrheit und Unwahrheit destruiert oder aufgehoben wird, sondern daß
dieser in der von diesem ermöglichten und dargestellten Unwahrheit zugrundeliegt und in dieser affek-
tiv, aber immerhin konstitutiv lebendig bleibt. Die angesprochene und dargestellte Unwahrheit des
Seins hat in sich ein affektiv-reflexives und nicht reflexiv-kritisches oder reflexiv-dialektisches Poten-
tial, das den Fehl der verborgenen Wahrheit erleidet und so diese motiviert und sich konstituieren läßt.
Aus diesem Potential der dargestellten Unwahrheit kann eigentlich Wahrheit überhaupt dargestellt
werden und nicht aus einer sich bewährenden Idee in einem äußerlich reflektierenden und sie reprä-
sentierenden Ort.
Ist es das „höchste“ Wesen der Wahrheit, verborgen zu bleiben zugunsten einer anderen „Wahr-
heit“? Sie bliebe so als Fehl bewahrt und kann auch die Unwahrheit „gewähren“ (lassen) und quasi be-
wahren. Das wäre ein höheres und eigentliches Wesen der Wahrheit! Daß sie auch aus der Unwahrheit
entspringen kann und diese ge-währen und nicht die eigene Bewährung ist! Sie ist die verborgene
Wahrheit der Unwahrheit (gen. subj.) und nicht einfach eine verborgene Wahrheit hinter der Unwahr-
heit! Die Wahrheit ist in der Unwahrheit verborgen und nicht einfach hinter dieser. Die Wahrheit ist
nicht bloß die innere Negation zugunsten der anderen Wahrheit auch als Unwahrheit, sondern viel-
mehr das Intendieren von Wahrheit auch in dieser Unwahrheit,114 der Fehl von Wahrheit. Aus dieser
wird eine „höhere“ Wahrheit intendiert, aber nicht dialektisch im höheren, dritten Gang. In der Un-
wahrheit und nicht nur hinter dieser wird eine Wahrheit als Fehl gespürt - als Phantasie oder Illusion.
Diese Wahrheit wird nicht unmittelbar vorgestellt, sondern sie wird herausgefordert und erlitten. Es
handelt sich mehr um Affektion und weniger um dialektische Reflexion. Das Wesen der Unwahrheit
im Entzug der Wahrheit oder der Unverborgenheit aus der Verborgenheit ist nicht ein statisches Spiel
zwischen beiden, sondern das immanente Wesen und Vordringen dieser Herausforderung der Wahr-
heit in die Gefahr und in den Fehl, in eine innere und nicht höhere Fuge zwischen Wahrheit und Un-
wahrheit, aus der das Rettende aufbricht. Der wesentliche Ertrag des Entzugs ist nicht diese dialek-
tisch-ontologische Situation und Zusammensetzung von Wahrheit und Unwahrheit, sondern aus dem
vorontologischen Fehl der Wahrheit wird eine andere Ankunft erwartet, etwas, was nicht ins Spiel
gesetzt war - auch nicht mit dem freien Entzug der Verborgenheit (verborgenen Wahrheit). Diese
Wahrheit ist nicht Ergebnis des dialektisch-ontologischen Spiels zwischen Wahrheit und Unwahrheit,
sondern der Fehl der Unwahrheit (gen. subj.), welcher auch das vorontologische Wesen der Wahrheit
des Seins als die entspringende Qualifikation und Konstitution aus ihrer vorontologischen und quasi
ethischen Tat für die Er-möglichung eines Fehlenden ist. Diese Ankunft ist nicht Beseitigung der Un-
wahrheit und ihre Aufhebung in einer unmittelbaren Wahrheit, sondern ihre Erlösung und Erfüllung
des gespürten Fehls und der erlittenen Herausforderung von Wahrheit oder ihrer verborgenen Motiva-
114 Der Fall einer versuchten Konstruktion ist dagegen der Schein bei der Phänomenologie Lamberts, welcher weder Wahres noch Falsches ist, und als solches später ausgewiesen werden wird. Darüber siehe: R. Wiehl, Begriffsbestimmung und Begriffsgeschichte. In: Hermeneutik und Dialektik, Bd. I, Tübingen 1970, S. 167-213.
149
tion und Intendierung. Der Fehl an Wahrheit ist die innere Fuge von Wahrheit und Unwahrheit, das im
Sein waltende Nichts, die vorontologische qualifizierende Tat, welche in der dargestellten Unwahrheit
affektiv-reflexiv motiviert und lebendig bleibt, und nicht das dialektisch-ontologische und vermit-
telnd-aufhebende Wechselspiel zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Diese höhere Wahrheit kommt
aus der dargestellten Unwahrheit und kann nicht die Rehabilitation einer unmittelbaren Wahrheit oder
eines anderen rekonstruktiven Anfangs sein.115
4. 3. Eine seynsgeschichtliche Phänomenologie der „unreinen Vernunft“ kann „denkender“ ihr Ungedachtes denken. Die Wahrheit kommt aus dem Ungedachten des Gedachten und nicht aus einem gereinigten Ich
Das Dasein ist seine Wahrheit oder Unwahrheit. Es ist nicht ein Ich mit seinen Versuchsmodel-
len über sich selbst, welche es annullieren kann. Es ist seiner Geschichte verfallen und für ihren Gang
verantwortlich. Es ist seiner sich übertreffenden Wahrheit oder Unwahrheit schuldig. Es kann, wie
gesagt, nicht seinen Schein verlassen, sondern aus diesem als Gedachtem der Wahrheit des Seins die
fehlende Wahrheit erleiden. Als verantwortliches Gedachtes der Wahrheit des Seins kann es die feh-
lende und intendierte Wahrheit des Zu-Gedachten nicht verlassen, als wäre es ein punktuell verbin-
dendes und Modelle von Wahrheit versuchendes Ich.
„So liegt alles daran, daß zu seiner Zeit das Denken denkender werde. Dahin kommt es, wenn das
Denken, statt einen höheren Grad seiner Anstrengung zu bewerkstelligen, in eine andere Herkunft
gewiesen ist. Dann wird das vom Seienden als solchem gestellte und darum vorstellende und dadurch
erhellende Denken abgelöst durch ein von Sein selbst ereignetes und darum dem Sein höriges Den-
ken“ (Einl. zu W. i. M., 1949, S. 371 f.).
Das Denken kann nicht dialektisch in einer höheren Ebene seinen Schein verlassen. Es hört al-
lein auf und denkt allein an das Sein, sofern es selbst Gedachtes, Ort der Wahrheit oder Unwahrheit
des Seins ist. Es soll diese Verantwortung übernehmen und die Wahrheit und Unwahrheit direkt an
115 Sehr häufig geht das Verständnis sowohl der Phänomenologie als auch der seynsgeschichtlichen Philosophie Heideggers von einem Versuch für eine anfängliche Neugründung der Metaphysik und Stellung der vergessenen Seinsfrage aus. So spricht D. Melcic von Überwindung, Umkehrung und Neugründung der Metaphysik (Heideg-gers Kritik der Metaphysik und das Problem der Ontologie, Würzburg 1986, S. 3). Heidegger wie Husserl woll-ten die Metaphysik phänomenologisch erneut gründen (S. 20). Der transzendentalontologische Versuch der Phä-nomenologie fand erhebliche Schwierigkeiten beim Seinsdenken und wurde aufgegeben (S. 118 f.). Das funda-mentalontologische Sein ist eine totale ontologische Funktion als Ermöglichung aller. So ist das Sein in der Me-taphysik, Vollendung, Leerheit und Ermöglichung aller (S. 120 f., 124, 128). Daher ergibt sich das metaphysi-sche Sein mit seiner Wahrheit nicht mehr als transzendentale Konstitution (S. 126). Wir haben also keine trans-zendental-phänomenologische Neugründung der Metaphysik, sondern mit der "Kehre" eine seynsgeschichtliche. Es ist merkwürdig, daß nach W. Marx die Gründung der Metaphysik auch nach der "Kehre" eine transzendentale im Sein des Daseins ist, und daher die Metaphysik nach dem Versuch ihrer Destruktion von den Wissenschaften abgetrennt wird, sofern dieses Sein des Daseins nicht das Sein überhaupt ist, sondern nur ein Stück von Welt (Die ontologische Differenz in der Perspektive der regionalen Ontologie des Seins, a.a.O., besonders S. 183 f., 187, 196 f.).
150
ihm verstehen, anstatt eine neue Konstruktion116 aus einer von Fehlern gereinigten Position zu versu-
chen. Die eigene Kritik und Dialektik erweist sich als unzureichend. Eine Kritik aus einer reinen Posi-
tion kann keine andere Wahrheit und keine fehlende Wahrheit als Wahrheit überhaupt ermöglichen.
Eine seynsgeschichtliche Phänomenologie der „unreinen Vernunft“ aber, die innerhalb ihrer die Un-
wahrheit behält, kann bestimmt an ihr selber eine neue, fremde und überhaupt fehlende Wahrheit der
Unwahrheit erwarten. Das Denken ist nicht ein verbindendes und vorhandene Wahrheitsmodelle mit
der Gefahr des Fehlers vorschlagendes Ich, sondern es ist selbst angesprochene Wahrheit oder Un-
wahrheit gegenüber dem Sein, weil die Wahrheit nicht die Bewährung einer Idee als adaequatio ist,
sondern die innere ruhende und erleidende Entzweiung und Er-möglichung für eine abwesende Wahr-
heit. Das ist das Dasein als Logos, Als-Aussage und Existenz aus seinem Tod. Die Unwahrheit gehört
zur Wahrheit und zum Anspruch des Seins auf Wahrheit, und nur aus dieser und nicht aus einem
punktuellen und vorstellenden Ich wird Wahrheit intendiert, sie bleibt als fehlende Wahrheit affektiv-
reflexiv gefragt und motiviert und ist im Gang.117 Sie ist schon im „immanenten Gang“.
„Denn je denkender das Denken wird, je entsprechender es sich aus dem Bezug des Seins zu ihm voll-
zieht, um so reiner steht das Denken von selbst schon in dem einen ihm allein gemäßen Handeln: im
Denken des ihm Zu-gedachten (5. Auflage 1949: Zu-gesagten, Ge-währten, Ereigneten) und deshalb
schon Gedachten. Doch wer denkt noch an Gedachtes? Man macht Erfindungen“ (a.a.O., S. 372).
Die Wahrheit ist keine neue Konstruktion oder ein höherer, dialektischer, dritter Gang, sondern
der entzogene, aber doch immanente und fehlende Gang der verborgenen Wahrheit der Unwahrheit.
„˘Aküheia könnte das Wort sein, das einen noch nicht erfahrenen Wink in das ungedachte Wesen
des esse gibt. (...), sondern um das Achten auf die Ankunft des noch ungesagten Wesens der Unver-
borgenheit, als welche das Sein sich angekündigt hat (5. Auflage 1949: Sein, Wahrheit, Welt, Sein
gestrichen, Ereignis)“ (a.a.O., S. 369).
Die Wahrheit wird nicht auf ein Drittes entworfen und ist nicht ontologisch-dialektische Ver-
mittlung von Wahrheit und Unwahrheit. Das Dasein ist schon angesprochen in der Wahrheit bzw. in
der Unwahrheit des Seins. Aus diesen heraus wird die fehlende Wahrheit des Seins dargestellt und
nicht aus einer gereinigten Position entworfen. Sie ist so die Ankunft dieses immanenten Ganges und
116 In diesem Sinne verläßt Heidegger auch die stilisierte und erfundene Terminologie von S.u.Z. und übernimmt eine alltägliche, dichterische und absterbende Sprache, welche das "Einfache" sagt. Darüber: R. Wisser, Martin Heidegger im Gespräch. In: G. Neske, E. Kettering (Hg.), Antwort. M. Heidegger im Gespräch, Freiburg-München 1970, S. 77. 117 Die Wahrheit und Unwahrheit kommen aus diesem Gang, aus dieser Geschichte. Die Wahrheit des Seins ist in diesem Gang verwickelt. Keine Destruktion und keine Reflexion ist möglich aus einer gereinigten und gleich-gültigen Position. Die Wahrheit des Seins west nur in seiner entgegengeworfenen Verwicklung und ist nicht zu destruieren. Daher ist eine phänomenologische Vorbereitung der Geschichte des Seyns unmöglich. Eine solche schlagen dagegen F.W. von Hermann und P.-L. Coriando (im Hinweis auf den ersten) vor (F.W. von Hermann, Wege im Ereignis, Frankfurt 1994, S. 20; P.L. Coriando, Der letzte Gott als Anfang, München 1998, systema-tisch in ihrem Beitrag). Die Wahrheit des Seyns ist aber der Weg der Wahrheit, und sie wird aus diesem ge-schichtlich ankommen und nicht aus einer Vorbereitung, welche nicht schon in dieser geschichtlichen Verwick-lung verschuldet ist und zu büßen hat.
151
der Intendierung der fehlenden Wahrheit am Ort ihrer affektiv-reflexiven Motivation und nicht bloß
die Beseitigung der Unwahrheit als eines Fehlers durch eine ontologische Dialektik.
Die Wahrheit als angesprochenes Existenzial des Daseins, welches schon und zwar gleichur-
sprünglich in der Wahrheit und in der Unwahrheit des Seins sein kann, und das Ver-bergen der Wahr-
heit des Seins auch in der Unwahrheit leiteten Heidegger in der Diagnose der Metaphysik. Diese ver-
ortete er im Wesen der Wahrheit des Seins als ermöglichendem und vorontologischem Ursprung des
fehlenden Gefragten und weiterhin als innerer, verborgener Fuge von Wahrheit und Unwahrheit im
affektiv-reflexiven erleidenden Fehl, in welchem eine andere und „höhere“ Wahrheit verborgen und
gefragt bleibt, die so auch aus der Unwahrheit entspringen kann.118 Heidegger sieht „Sein und Zeit“
und seine spätere Reflexion über das Wesen der Wahrheit als Einheit und ist unzufrieden mit dem
Mißverständnis, das sein Werk - diese Verbindung von „Sein und Zeit“ mit dem Wesen der Metaphy-
sik ist in der Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?“ dargestellt - und sein Programm hervorgerufen
haben.
„Man hat sich aber noch nie einfallen lassen, zu überlegen, weshalb eine Vorlesung, die aus dem Den-
ken an die Wahrheit des Seins her an das Nichts und von da in das Wesen der Metaphysik zu denken
versucht, die genannte Frage als die Grundfrage der Metaphysik in Anspruch nimmt“ (a.a.O., S. 381).
4. 4. Der Nihilist als unbedingtes Subjekt seiner Geschichte ist selbst keine Geschichte und so braucht er eine Abbildlichkeit, einen bewußt ästhetischen Schein
Der Nihilismus Nietzsches sieht nicht, daß die Geschichte der Metaphysik und des Nihilismus
vom Sein selber, welches in seinem Nichtsein ausgesetzt ist, ermöglicht wurde, und daß sich das Sein
und seine Wahrheit in diesem inneren Entzogensein des Seins, in seinem Verwickeln im Nichtsein und
in einem Zwischen als in einer inneren Fuge mit diesem und nicht in einer höheren dialektisch-
ontologischen Zusammengehörigkeit aufhält. Er sieht nicht das ursprüngliche Nichts des Seins, wel-
ches den Nihilismus entgegengeworfen und ermöglicht hat, so daß die Geschichte der Metaphysik und
des Nihilismus zur ursprünglichen Geschiche des Seins und seiner Wahrheit gehört. „Deshalb gelangt
118 G. Figal versteht die Verwindung der Metaphysik bei Heidegger als ihre Wiederbelebung und nicht als ein nachmetaphysisches Denken. Heidegger richtet sich nach G. Figal nicht gegen das Wesen der Metaphysik, son-dern gegen ihr Ende, welches ihr Verfall ist, die Verfestigung einer faktischen Antwort als Seins des Seienden, und der Verfall der Sprache, das Verenden des übersteigenden Hinausfragens über das Seiende nach dem Sein (Verwindung der Metaphysik. Heidegger und das metaphysische Denken, in: Ch. Jamme (Hg.), Frankfurt a.M. 1997). Heidegger wendet sich deutlich gegen die Metaphysik als Onto-Theo-Logik, gegen das Hinausfragen nach dem Sein als einer Erklärung und Gründung des Seienden. Er verortet aber die Metaphysik im Wesen der Wahrheit des Seins. Daher zielt die Verwindung der Metaphysik nicht auf die Wiederbelebung der Metaphysik und der Leitfrage nach dem Sein des Seienden, sondern sie läßt die immanente und fehlende Wahrheit aus dem Abgrund der Unwahrheit entspringen. Sein Denken ist ein nachmetaphysisches, aber kein anti-metaphysisches. Heidegger denkt an das Wesen der Metaphysik, welches das Wesen der Wahrheit des Seins ist. Das Sein ist das Sicher-möglichende und Gefragte am Seienden und nicht seine fundamentalontologische Realität, welches aus dem Fehl und dem Nichts ins Anwesen antritt und weiterhin das Gefragte und Fehlende auch in der Unwahrheit bleibt und sich nicht an einem kritisch gereinigten Ich bewährt.
152
er schon durch die Art seines Fragens nicht in den Bereich dessen, was die Frage nach dem Wesen des
Nihilismus sucht, daß er nämlich und wie er eine Geschichte sei, die das Sein selbst angeht“ (Nietz-
sche II, 341).
Deswegen ist der Nihilismus Nietzsches keine Periode der Geschichte des Seins, sondern die
Logik der dialektischen Aufhebung. Innnerhalb dieser Logik erweist sich der Mensch dialektisch als
das eigentliche Subjekt seiner Wertschätzungen (Nietzsche II, 296 f.), welche jetzt keine Wahrheit an
sich haben, sondern ihre Wahrheit von der Unbedingtheit des Subjektes als Willens zur Macht vorge-
setzt bekommen (a.a.O., 306). Ihre Wahrheit ist keine an sich geltende, sondern sie hat den Charakter
eines bewußt ästhetischen Scheins des Willens zur Macht als Kunst. Der Nihilismus bringt keinen
neuen Inhalt mit sich. Sein Prinzip ist quasi die „unbedingte Verneinung“ (Nietzsche II 293), welche
als „verneinende Bejahung“ (ebenda) den Übermenschen als Subjekt des Verneinten setzt. Er ist Kritik
und Dialektik der vorstellenden Vernunft, welche sich als sich vorstellende, prädizierende und setzen-
de erweist. „Die nihilistische Verneinung der Vernunft schaltet aber das Denken (ratio) nicht aus, son-
dern nimmt es in den Dienst der Tierheit (animalitas) zurück“ (a.a.O., S. 294). Am Ende dieses Pro-
zesses erweist sich, welcher der eigentliche und naiv sich bedingende Anfang war. Die ewige
Wi(e)derkehr des Gleichen führt in den Willen zur Macht als Leib des sich wollenden Subjekts. Dieses
souveräne und unbedinbte Subjekt ist der Übermensch. Er will nichts außer sich. So gehört im Nihi-
lismus das Subjekt nicht in seiner Geschichte. Diese ist ein Schein, dessen bedingende Wahrheit im
eigentlichen und unbedingten Subjekt zurückgenommen wird. Nietzsche kehrt den Platonismus um
und vollendet ihn dadurch (Beiträge, S. 219). Er verfestigt die Leitfrage über das Seiende in ihrem
dialektisch erwiesenen, eigentlichen und stillgelegten Anfang.119 Die Leitfrage wird nicht im Wesens-
119 Der Anfang ist ein möglicher Ansatz bei Heidegger. Dieser kann ein phänomenologisch-transzendentaler oder ein ontologisch-geschichtlicher sein. O. Pugliese sieht in seinem wichtigen Beitrag "Vermittlung und Keh-re, Freiburg-München 1965" die Vermittlung und Aufhebung des ersten Anfangs im zweiten. Anfang ist die erste Denkerfahrung des Abendlandes, in der die Zusammengehörigkeit von Sein und Zeit, Sein und Grund, Sein und Denken und Wahrheit erschloßen wurde (S. 209). Heidegger gibt nach der Kehre auf, die vergessene Seins-frage als Frage nach dem Anfang zu wiederholen (S. 215). Die existenziale Wiederholung ist nur ein Moment nach der Aufhebung der phänomenologischen Erschließungsweise auf dem Weg nach dem Anfang (S. 216). So ergibt sich eine Aufhebung der phänomenologischen Ontologie und "Rekonstruktion" und Wiederholung des Weges vom Anfang (S. 217). Das ist eine ontologische Vermittlung (S. 215), das Zusammen von Unmittelbar-keit und Vermittlung (S. 219). Gehört somit auch Heideggers Phänomenologie zur Geschichte des ersten An-fangs und der Metaphysik? Wird dann diese Geschichte des Denkens, der Wahrheit des Seins und der Metaphy-sik, in der schon Heideggers erster, phänomenologischer Anfang aufgehoben ist und gehört, in einem zweiten und eigentlichen, ontologischen Anfang aufgehoben? In diesem Sinne ergibt sich ein unmittelbarer Anfang nach einer Periode von Geschichte. Diese Unmittelbarkeit wird dann wieder in einer anderen Periode der Geschichte vermittelt (F. W. von Hermann und P.-L. Coriando, a.a.O., sehen dagegen eine phänomenologische Vorberei-tung der Geschichte des Seins und eine Fundamentalhistoriologie, in welcher die Geschichte weiterhin phäno-menologisch erschloßen werden könnte). Oder ist dieser zweiter Anfang der letzte Anfang? Wird der Mensch nie wieder in die Irre verfallen, weil er unter der unmittelbaren Gewalt des Anfangs steht? Richtet sich Heidegger gegen den Nihilismus und einen circulus vitiosus deus durch die Unmittelbarkeit eines zweiten seynsgeschichtli-chen Anfangs? Ist dann der Verdacht jeder Vermittlung und jeder Irre als Schickung des Seins in einer Seins-dizee unter einer Unmittelbarkeit schon legitimiert und aufgehoben? Oder denkt Heidegger jenseits von Vermitt-lung und Unmittelbarkeit eine Geschichte des Seins, in welcher es als Nicht-sein nie wieder zu sich zurück-kommt, sondern seinen ersten Anfang, seinen Urgrund und Willen zur Vermittlung letztendlich nicht aufhebt, sondern "von" dieser Vermittlung erfüllt? In diesem Sinne "kann uns nur ein Gott retten" aus der Geschichte der
153
raum der Wahrheit des Seins entwickelt, sondern in ihrer Logik und Notwendigkeit vollendet und
dialektisch im eigentlichen Subjekt aufgehoben.
Der eigentliche Gang der Wahrheit ist aber das Sein und sein Anspruch auf Wahrheit, welches
den Wesensraum seiner Wahrheit und daher auch die Leitfrage ermöglicht. In diesem direkten An-
spruchsbereich wird die Wahrheit des Seins in einer Geschichte erlangt und erstritten, welche nicht
den Menschen als ihr eigentliches kritisch-dialektisches Subjekt hat, sondern dieser als Dasein direktes
Nichtsein und Eigentum des Seins-zu ist, in dessen Sein die Wahrheit des Seins geschieht.120
„Indem Nietzsches metaphysisches Denken in den Anfang zurückgeht, schließt sich der Kreis; sofern
hierbei jedoch nicht der anfängliche Anfang, sondern der bereits stillgelegte Anfang zur Geltung
kommt, verfängt sich der Kreis in seiner eigenen nicht mehr anfänglichen Erstarrung“ (Nietzsche I, S.
469).
So bleibt der Nihilismus als dialektische Aneignung und Unbedingtmachung immer reaktiv
(Beiträge, S. 315) und entwickelt nicht die Geschichte der Wahrheit des Seins. Der stillgelegte Anfang
ist das Erste und das Ende des dialektischen Zirkels. Der Nihilist meint, daß er das eigentliche Subjekt
seiner Geschichte und somit selbt nicht die Geschichte einer höheren und in sich nichtenden Herkunft
ist. Er sieht das Falsche und Nichtige außer sich. Ein solches Subjekt sieht wie ein punktuelles und
verbindendes Ich aus, dessen Leib und Körperlichkeit nicht in den Raum des Scheins reicht, sondern
die sich wollende Rückbezüglichkeit eines punktuellen, sich prädizierenden und nie sich darstellenden
Ich ist. Es kann nicht in seinem Leib seine Geschichte aufnehmen und seine Geschichte sein. Dieses
sich wollende Ich braucht einen bewußt toten Gott, ein totes Prädikat Gottes als absoluter Position und
summi entis und kann nicht die dargestellte und innere Gottlosigkeit und Unwahrheit seiner „Ver-
nunft“ ertragen. Daß der Nihilist des Scheins bewußt ist, bedeutet nicht, daß er den Schein nicht
braucht. Und zwar braucht er ihn umso mehr, je mehr er des Scheins bewußt ist (Beiträge, S. 112:
entflohenen Götter, welche nicht wieder mit einem anfänglichen zirkulären Weltgott anfängt, sondern mit einem letzten erfüllt wird, welcher weder vermittelter noch unmittelbarer ist. 120 Alle Versuche, die eine Neugründung der Seinsfrage in der Seinsgeschichte intendieren, unterscheiden die Seinsgeschichte von der Geschichte des Denkens. Das Dasein aber kann nicht nach dem Sein fragen, wenn es nicht aus dem Fehl der Wahrheit diese erleidet. Es geht nicht mehr um das Ausbleiben der Unmittelbarkeit des Seins, welche phänomenologisch wieder aufgenommen werden kann. Das Sein als Geschichte in der "Kehre" von der Phänomenologie in die Seinsgeschichte ist nicht der Grund der Schickungen der Seinsgeschicke, welche als circulus vitiosus deus phänomenologisch vor dem Dasein gestellt werden. Das Sein ist selbst geschichtlich, und das Dasein trägt innerhalb seiner selbst die Unwahrheit und aus dieser auch den Fehl der Wahrheit. P.-L. Coriando sieht eine Rückkehr in das Sein durch eine phänomenologische mitvollziehende und mitgeworfe-ne Kehre mit der Kehre des Seins zu sich (Der letzte Gott als Anfang, a.a.O.). Die Kehre ist so keine Dialektik (S. 54 f.), sondern andenkendes Vordenken des Ereignisses (S. 91). Das Dasein hat aber so keine Zukunft wie in S.u.Z.. Diese ist schon von der Schickung des Seins vorweggenommen. Nur eine Phänomenologie der Gegen-wart (S. 95) als Zwischen im Horizont der Geschichte des Seins ist möglich. Gegenwart ist keine Gleichzeitig-keit einer Dialektik von Sein und Denken oder ein Übergang zwischen Gewesenheit und Zukunft, sondern das entsprechende phänomenologische Warten auf die schon seynsgeschichtlich geschickte Zukunft des Seins. Das Sein ist so Unmittelbarkeit, obwohl es geschichtlich ist. Die Geschichte der Schickungen des Seins ist das Phä-nomen des Denkens, und zwar als Geschichte hat sie die Zukunft vorweggenommen. Welche ist aber dann die Geschichte des Seins, welche ist die geschichtliche Vermittlung des Seins in seinen Schickungen, und wieso kann man von Enteignis des Seins (S. 49, 98 ff.) sprechen, wenn es um eine unvermittelte und undialektische (S.
154
Über die Notwendigkeit des Scheins. S. 364: Über den Willen zum Schein. S. 362: Der Nihilist sieht
nicht, daß der bewußt bedingte Schein doch der Ab-grund seiner essentia ist). Er ist nicht in der Lage,
seine Geschichte, seine Un-wahrheit und sein Leiden zu übernehmen. So braucht er einen Stellvertre-
ter, die Abbildlichkeit des Scheins im Gegensatz zu einem Halbgott, welcher in seinem Sein den Gott
oder die Gottlosigkeit aus einem angesprochenen Fehl austrägt und erstreitet. Der Nihilismus erweist
sich so als ein unvollkommenes Projekt, sofern er die methodische Verneinung und dialektische Auf-
hebung des Scheins in seinem Subjekt ist und nicht das Wesen des Nichts innerhalb des Seins und des
Daseins. Das Menschliche ist so unmöglich121 und undarstellbar. Der Übermensch braucht eine prädi-
zierende Abbildlichkeit, den Schein, welcher er nicht ist. So bleibt er immer reaktiv in der Leitfrage
und benuntzt das Sein und das Nichts als bewußte Bedingungen seiner Unbedingtheit. Er sieht nicht,
daß zum Sein das Nichts gehört und zur Wahrheit die Unwahrheit, und daß er selbst ihr Ort ist. Des-
wegen kann er nicht das Nichts des Nihilismus und die Unwahrheit als Ort der verborgenen Wahrheit
überwinden und verwinden (Beiträge, S. 175), sondern sieht das Nichts als verneinende Bedingung im
Gang zu seiner Unbedingtheit an und kehrt so immer wieder in den stillgelegten Anfang der Metaphy-
sik zurück (Nietzsche I, S. 471). Er kann nicht sehen, daß er selbst als Da-sein der Ort der Wahrheit
und des direkten Anspruchs der Wahrheit und Unwahrheit, der Ort des Nicht-seins und des Fehls an
Wahrheit des Seins ist, aus welchem eigentlich und zum ersten mal un-bedingt mit Heidegger und mit
der Beseitigung der umwegigen Leitfrage die Wahrheit als fehlende Möglichkeit im Da west und aus
dem Fehl in diesem Da sich nicht als circulus vitiosus Weltgott, summum ens und absolute Position
prädiziert, sondern als letzter Gott ohne Anfang entspringt und sich darstellt. In diesem Sinne kann
man anerkennen, daß ein in der Unwahrheit verborgener, gekreuzigter, fehlender, letzter und aus dem
Tod auferstandener Gott gegen einen immer wieder anfangenden circulus vitiosus deus zu denken ist.
Der letzte Gott aus dem Tod und dem Fehl im Dasein, aus einer vorontologischen Qualifikation des
nichtenden Seins, ist nicht der Gott einer ontologischen Dialektik, die Anfang und Ende in einem im-
54 f.) Geschichte des Seins geht, in welcher man nicht an das Anwesenlassende hinter dem horizontalen Anwe-sen des Seins ankommen kann (S. 44 f.)? 121 In diesem Sinne ist der Nihilismus nicht das Wesen des Nichts im Menschen, sondern die Verneinung seiner hyperbolischen Naivität. Der Mensch ist noch nicht das eigentliche Subjekt seiner Geschichte, welches an ihm selber Wahrheit oder Unwahrheit, Gott oder Gottlosigkeit erstreitet. Er stellt keinen Anspruch mehr auf Wahr-heit und trägt auch nicht die Schulden der Unwahrheit (christlich bis zum Tode). Heidegger würde diese Unvoll-ständigkeit des Nihilismus "Not der Notlosigkeit" nennen. Der Nihilismus ist so als Projekt und Geschichte un-vollständig geblieben. Sie war nie eine Periode, sondern die Logik des Verfalls und der Verneinung der Werte und die dialektische Aufhebung ihrer Wahrheit in einem anderen Subjekt. Wir könnten sagen, daß die romanti-sche und subjektidealistische Radikalität der Metaphysik- und Nihilismus-vollziehung systematisch und ge-schichtlich unvollständig geblieben ist und von der Periode und Reflexion des Kritizismus überholt wurde. Das Projekt der Kritik als Kritik der Aufklärung und Kritik der Kritik hat nicht mehr den Charakter des Nihilismus und seiner destruktiven Kraft. Die Interesselosigkeit der kritischen und ästhetischen Vernunft wehrt sich mit der Kraft der Reflexion gegen den Anspruch auf Wahrheit, aber auch gegen die Schuld und den Tod der Unwahrheit. Daher erscheint die Hoffnung einer Auferstehung als metaphysische Illusion. Der Tod ist Ableben (Euthanasie) und das Leben ein Nicht-Ableben. Nicht der Mensch setzt sich mit dem Sein und dem Nichts auseinader, son-dern seine pragmatischen Konstruktionen und Leistungen als Bedeutsamkeiten und Spiele des Seins und Nichts. In solcher Weise ist die Rede von Gott heute akzeptabel. Es bleibt aber die Frage, ob dieser Gott Gott des Lebens und der Auferstehung aus dem Tode ist, oder bloß eine gegen Wahrheit und Häresie reflektierte Gottheit.
155
mer gleichwertigen und unmittelbaren Ganzen, im Gott am Anfang, vermittelt, sondern ist der be-
wahrte und wahr dargestellte Gott aus der Mitte, dem Tod, der Unwahrheit und dem Fehl des endli-
chen Daseins.
156
V. Die Wahrheit des Seins. Vier Schritten beim Verstehen von Wahrheit
1. Die Maßlosigkeit der Wahrheit
1. 1. Das Dasein wird nicht zur richtigen oder besseren Erkenntnis aufgefordert, sondern es ist schuldig ohne verschuldetes Maß. Das am Dasein innerlich wesende Nichtsein des Seins
Man könnte berechtigterweise sagen, daß das Dasein bei Heidegger keine spezifisch er-
kenntnistheoretische Aufgabe erhält. Die Motivation und der Anspruch des Seins auf Wahrheit ist
nicht in erkenntnistheoretischen Situationen und Kategorien eines erkennenden Subjekts verortet, son-
dern wird in und aus existenzialen Strukturen des Seins des Daseins bezogen. Diese dürfte man quasi
als die „Ideen“ des Daseins charakterisieren.
Vergegenwärtigt man sich die Bedeutung der „Ideen“ bei Heidegger, so wird man erkennen,
daß diese nicht eine erkenntnistheoretische Funktion haben, als könnten sie dem Menschen beim Er-
kennen der Wirklichkeit helfen. Als solche Ideen, die das Sein des Seienden und des Daseins dem
Dasein offenbaren sind in „Sein und Zeit“ das In-der-Welt-sein, die Sorge, die Angst, der Tod und das
Schuldigsein anzutreffen. In noch deutlicherer Ausprägung begegnet man dieser Dimension in den
später auftretenden „Kategorien“ des Nichts oder in der Langeweile. In „Einleitung zu Was ist Meta-
physik“ und in „Was ist Metaphysik“ ist das Nichts nicht die Verneinung der Seienden, sondern es ist
das Sein, das Hinausgehaltensein im Nichts als Offenbaren der Seienden. Im Nichts offenbart sich das
Seiende, und das Dasein verhält sich zu diesem. Das Nichts gehört zum Sein der Seienden. „Würde
das Dasein im Grunde seines Wesens nicht transzendieren, d.h. jetzt, würde es sich nicht im vorhinein
in das Nichts hineinhalten, dann könnte es sich nie zu Seiendem verhalten, also auch nicht zu sich
selbst. Ohne ursprüngliche Offenbarkeit des Nichts kein Selbstsein und keine Freiheit“ (Was ist Meta-
physik, 1929, 115). Dieselbe Wirkung entfaltet die Langeweile in den „Grundbegriffen“ (29/30), wel-
che in einem Schlag das Seiende im Ganzen offenbart. Das Im-Ganzen der Langeweile ist ein In-die-
Wurzel-Gehen in den direkten Anspruch auf das Dasein, welches für die fehlende Wahrheit verant-
wortlich ist. Das Nichts und die Langeweile offenbaren das Seiende in seinem gefragten Sein - aller-
dings nicht als Ideen, sondern in einem radikalen Sinne. Es geht nicht mehr um Er-kenntnistheorie.
Das Dasein wird nicht mehr dazu aufgefordert, sich neue, bessere Kenntnisse anzueignen, sondern es
wird irgendwohin geworfen und als verantwortlich berufen. Das Nichts ist nicht die kritisch als fun-
damentalste gesetzte Idee im Erkenntnisvorgang. Der Mensch wird nicht kritisch durch das Nichts
reflektiert und fundamental auf einem Nullpunkt angesetzt, sondern einer Transzendenz ausgesetzt
und überantwortet. Er nimmt diesen Anspruch mit und ist überantwortet. Das Nichts wird nicht me-
thodisch angesetzt und vermittelt, sondern ist hinreichender Ursprung der Wahrheit. Es ist nicht die
157
Verneinung oder ein nichtig leeres Worinnen für das Dasein, sondern das innere Wesen des Nichts im
Sein als innere Negation und Ermöglichung der fehlenden Wahrheit, welche das angesprochene und
endliche Dasein erleidet. Die Frage „Warum ist Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“ fragt nicht mehr
aus einer zu begründenden Position her und auf ein zu beantwortendes Wohin hin, sondern die Frage
als Frage ist die hinreichende Motivation der Wahrheit. Der Mensch ist nicht beobachtendes Subjekt,
welches das im Nichts entgleitende Seiende fragend begründen will. Das Nichts ist nicht das vernei-
nende Nicht, dem gegenüber das Sein seine verneinende Position und daher die das Seiende gründen-
de Prämisse ist. „(...) eine Besinnung, die auf dem Weg über das Nichts an das Sein zu denken ver-
sucht, am Ende wieder zu einer Frage nach dem Seienden zurückkehrt. Insofern diese Frage gar noch
in der herkömmlichen Weise der Metaphysik am Leitfaden des Warum? kausal fragt, wird das Denken
an das Sein zugunsten der vorstellenden Erkenntnis von Seiendem aus Seiendem völlig verleugnet“
(Einl. zu W. i. M., 1949, S. 381); wie Thales - der in den Himmel schaut, aber in das Loch fällt und
das Sein als Wasser hält - das Sein meint, aber ein Seiendes ausspricht.
Das Nichts aber als das Sein, welches innerhalb seiner das nichtende Nichtsein ermöglicht, ent-
setzt das Dasein in eine ab-gründige Frage nach dem Fehl der Wahrheit des Seins, als welche es selbst
ist. Das ursprüngliche Nichts des aufwerfenden Seins erschreckt und entsetzt das Dasein in das
Nichtsein des Seins und läßt dieses vor dem Nichtsein des Seins mit dem Auftrag seiner fehlenden
Wahrheit stehen. Dieser Frage steht keine latende Wertschätzung zugrunde, welche das Seiende dem
nichtigen Nichts gegenüber vorstellen und begründen wollte. Das Seiende offenbart sich nicht im
Blickpunkt und im Licht einer Idee, sondern im Licht, in welchem sein gefragtes Sein erst aus dem
Dunklen entspringt. Das Dasein ist schuldig, ohne eine maßgebende Verschuldung zu haben. Das Sein
nichtet das Dasein mit dem Anspruch seiner eigenen Verantwortlichkeit und seines eigenen Erhaltens
des Nicht-Seins als fehlender Wahrheit des Seins. Es geht nicht um Erörterung der Grenzen, der Fä-
higkeit und der Leistung des Daseins, sondern um Ausgesetztsein des endlichen Daseins einer Trans-
zendenz, welche es in seinem Sein zu sein hat. Diese Wahrheit ist die Auslösung einer fehlenden
Wahrheit und nicht eine bessere Leistung des kritischen Subjekts innerhalb der Grenzen seiner durch
Ideen reflexiv relativierten Kenntnis. Das Dasein ist schon an der Grenze zu seinem Tod und dem in
seinem Inneren wesenden Nichts. Das Nichts, nicht als meth-odisches Moment, sondern als Fehl und
Ursprung, waltet im Logos der Phänomenologie, in der Als-Aussage und in der Existenz des Daseins
und der Darstellung der Wahrheit.
158
2. Das vortheoretische Sich-verhalten des Daseins als mitgehende Weltlichkeit
2. 1. Das vortheoretische, phänomenologische Verhalten als Zusammengehören des Daseins zum weltenden Anspruch des Seins auf Wahrheit
Das Fehlen jeder vermittelnden Idee gibt dem Sich-verhalten des Daseins in der Welt einen
nicht erkenntnismäßigen Charakter und ist ein vortheoretisches Befangen- und Gefallen-sein in der
Wahrheit des Seins. Eine wichtige Intention im Werk Heidegger ist dessen Stellungsnahme gegen
Husserl, in welcher er für ein vortheoretisches Aneignen der Sachen nicht aus dem eidetisch gereinig-
ten Bewußtsein, sondern aus dem vortheoretischen Sein des Daseins plädiert. Das wird z.B. in seiner
Vorlesung „Einführung in die phänomenologische Forschung“ im Bd. 17 aus dem WS 23/24 deutlich.
Heidegger will hinter jede Thematisierung und Theoretisierung gehen. Die Intentionalität gibt schon
eine Richtung aus dem Subjekt auf das Seiende vor, und das Bewußtsein ist sowohl in passiver als
auch in aktiver Hinsicht regional, aber durch die Reduktion verliert es wieder seinen ursprünglich re-
gionalen Charakter. Das eidetisch gereinigte Bewußtsein und seine Sorge sind nicht mit dem zu den
Sachen gefallenen Dasein zu verwechseln, dessen Sorge sich auf sein Sein und nicht auf sein Bewußt-
sein richtet.
Schon im Jahr 1919 und in der Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus der Marburger
verlangt Heidegger das Zurückfragen jeder Theoretisierung aus und zu den Sachen selbst. Die theore-
tische Vernunft und das Urteil haben etwas Ursprünglicheres in sich, welches die Marburger in der
praktischen teleologischen Vernunft sahen. Heidegger zitiert und kommentiert nicht nur das Werk der
Marburger, sondern er weist dieses für seine Schlußfolgerungen explizit als fruchtbaren Problembe-
reich aus. So ist die Theorie, nachdem der Verfall des nach System und Lebensganzheit strebenden
Hegelianismus eingetreten ist - die Erklärung eines Seienden durch ein Anderes - eine sinnlose und
letztlich wahrheitslose Zurückführung. „Erklärung durch Zerstückelung, d.h. hier Zerstörung: Man
will etwas erklären, das man gar nicht mehr als solches hat und als solches gelten lassen will und kann.
Und was ist das für eine merkwürdige Realität, die auf dem Wege so gewagter Theorien erklärt wer-
den soll? Versuche ich die Umwelt theoretisch zu erklären, dann fällt sie in sich zusammen. Es bedeu-
tet keine Steigerung des Erlebnisses kein Besser-Erkennen der Umwelt, (...). Der Widersinn des kriti-
schen Realismus besteht darin, daß er das Bedeutungshafte, überhaupt den Umweltcharakter nicht nur
aufhebt, er sieht ihn überhaupt nicht einmal und kann ihn nicht sehen, sondern kommt schon mit der
Theorie und sucht ein Seiendes durch ein anderes zu erklären. Je kritischer er wird, desto widersinni-
ger ist er“ (Zur Bestimmung der Philosophie, WS 19, S. 86). Das Seiende hat kein Sein und keine
159
Wahrheit. In einem immer weiter treibenden Zirkel der Theoriebildung wird etwas durch ein anderes
Seiendes erklärt, ohne dass es als Sein und Wahrheit freigelegt worden wäre. Demgegenüber ist jedes
Seiende ein Umweltliches, es bildet Welt, „es weltet“ und wird nicht erklärt oder zurückgeführt. „(...)
sind nicht Sachen mit einem bestimmten Bedeutungscharakter, Gegenstände, und dazu noch aufgefaßt
als das und das bedeutend, sondern das Bedeutsame ist das Primäre, gibt sich mir unmittelbar, ohne
jeden gedanklichen Umweg über ein Sacherfassen. In einer Umwelt lebend, bedeutet es mir überall
und immer, es ist alles welthaft, «es weltet», (...)“ (a.a.O., S 72). Das Umweltliche wird nicht auf einen
dritten Sachinhalt zurückgeführt, sondern es hat seinen eigenen, welcher Welt bildet: Sein und Wahr-
heit für das Leben aller und Darstellung von Wahrheit ist und weltet.122 Deswegen ist das Verhalten
des Daseins zu diesem nicht in Vorstellungsinhalten erkennend, sondern es erschließt die fehlende und
aus dem Nichts weltbildende Wahrheit der Sache.
Die Phänomenologie Heideggers ist schon in der fehlenden Wahrheit angesprochen; somit ist
sie deskriptiv und steht jenseits des geltenden Vorurteils einer das Objekt voraussetzenden Theoreti-
sierung. „Ist denn die phänomenologische Intuition ein Sehen, das dem zu Sehenden gegenübersteht,
(bildlich) außerhalb seiner steht? Mit anderen Worten, ist es nicht versteckte Theorie, die Erlebnis-
sphäre zu einem Gegebenen zu stempeln, das nun beschrieben werden soll? Besteht denn überhaupt
diese Zweiheit und Auseinandergerissenheit von Gegenstand und Erkenntnis, von Gegebenem (Geb-
barem) und Beschreibung? Unterliegen wir nicht auch hier einer Täuschung durch die Sprache, und
zwar durch die theoretisierte?“ (a.a.O., S. 111). Das Umweltliche wird nicht als ein Innerweltliches
erklärt, beschrieben, zurückgeführt, ausgesagt, in Verbindung mit einem Vorstellungsinhalt gesetzt,
sondern ausgelegt, in sein Welten miterlebt und freigelegt. Es ist das Weltende, Welt, Sein und Wahr-
heit für alle Aufreißende und nicht das Innerweltliche oder einfach in der vorhandenen geometrischen
Welt Mitanwesende. „Es ist vielmehr der Index für die höchste Potentialität des Lebens. Sein Sinn
ruht im vollen Leben selbst und besagt gerade, daß dieses noch keine genuine, welthafte Charakterisie-
rung ausgeprägt hat, daß sehr wohl aber motivierend eine solche im Leben lebt. Es ist das «Noch-
nicht», d.h. noch nicht in ein genuines Leben Herausgebrochene, es ist das wesenhaft Vorweltliche“
(a.a.O., 115). Das Umweltliche wird nicht zurückgeführt, sondern aus seinem vor-ontologischen,
weltbildenden Sich-fragen beim Dasein aus dem Nichts dargestellt. Das Sein ist nicht ein Ontologem,
sondern Kategoriales, vorgängig Gefragtes, formal Offenes, Weltendes und Wahrheit Darstellendes.
„Aus diesem vorweltlichen Lebensetwas motiviert sich erst das formale gegenständliche Etwas der
Erkennbarkeit, oder, um es etwas formaler auszudrücken: die Theoretisierung. Eine vorherrschende
Tendenz in einer Welt kann vor ihrer Ausprägung theoretisch abgebogen werden. Daher eignet sich
122 U. Guzonni weist auf ein solches ruhendes und nicht innerweltliches Welten, welches im späteren Heidegger die "Gegnet" ist, hin (Das Denken der Gelassenheit und der Bezug des Seins zum Menschenwesen, in: U. Gu-zonni (Hg.), Wege im Denken a.a.O.). So ist die Gegend oder die Gegnet das Offene nicht als uninteressierter Raum oder als ein kategorial zugeordneter Raum, sondern als ein spezifisches Ganzes (S. 210). Die Offenheit eines Einzelnen ist Offenheit als solche (S. 212), und solches drückt auch die Nähe aus, welche die Nähe zur Ferne ist (S. 213).
160
die Universalität des formal Gegenständlichen seinen Ursprung aus dem Ansich des strömenden Erle-
bens des Lebens an. So gesehen, d.h. vom Vorweltlichen aus, aus dem Leben an und für sich verstan-
den, ist das formal Gegenständliche schon nicht mehr Rück-griff, sondern bereits Be-griff. Radikale
Umstellung des erlebnisverstehenden Verhaltens“ (a.a.O., S. 116). Die Wahrheit wird nicht theoretisch
zurückgeführt, sondern sie ist ein „Noch-nicht“, welches am Sein des Daseins zur Darstellung kommt
und als Sein selbst die Welt weltet. Sie ist nicht eine absolute Position, welche nur im modus acciden-
tialis zirkulär abgebildet wird.
Das Dasein besitzt seine erkenntnistheoretische Aufgabe nicht darin, durch Vorstellungsinhalte das
Seiende zu erklären, sondern es nimmt das darstellende Aufbrechen des Seins aus dem Nichts und das
Welten des Umweltlichen mit und lebt es. „Wenn alles Sein Bewußtseininhalt ist, wie soll es da noch
ein Original geben, für das die Vorstellungen das Abbild sein sollen?“ (a.a.O., S 184). „(...), so zwar,
daß es «einen über den Bewußtseininhalt hinaus reichenden Maßstab für das Erkennen» bildet“
(a.a.O., S. 185). Aus diesem Vorgehen entsteht nicht eine erkenntnismäßige Tätigkeit und Verände-
rung, Fortschritt im Wissen, sondern es ist ein seinsgeschichtliches und welterschließendes Einbrechen
von Wahrheit und Sein, zu dem das Dasein gebraucht wird. Deswegen steht es außerhalb des Dualis-
mus von res cogitans und res extensa. „Spaltung des Seins in Dinge und Vorstellungen; diese als Ab-
bild an einem Ort. Aus «einfachsten erkenntnistheoretischen Überlegungen» heraus wird die An-
schauung problematisch: «Raumproblem»! Ding und Vorstellung - zwei Objekte im Subjekt, das de-
ren Übereinstimmung feststellt. Aristoteles: Erkenntnis=Urteilen (Verbinden von Vorstellungen?
Nichts Neues gewonnen)“ (a.a.O., S. 183).
Das originäre Entdeckendsein in § 44 von “Sein und Zeit” zielt also nicht so sehr auf ein schlichtes
originäres Erkennen der Sache selbst aus ihrer Verdecktheit im eidetischen Bewußtsein, sondern viel-
mehr auf die weltende Wahrheit, welche nicht noch eine neue originäre innerweltliche Alternative ist,
sondern die Welt weltet, sich als das Vorweltliche aus seinem vor-ontologischen Ursprung darstellt.
Die Wahrheit zielt nicht auf die originäre Wiedergabe des An-sich einer Sache, sondern auf das welt-
ende Geschehen der Welt überhaupt, auf die Darstellung der Wahrheit des Seins am Dasein. Die er-
schlossene Wahrheit am Dasein ist Geschehen der Welt und so modus essentialis und nicht modus
accidentialis oder cognoscendi. Das Dasein ist nicht ein vorstellendes und verbindendes Subjekt in-
nerhalb einer Welt als logischer Form, sondern es ist Welt-Aufreißendes. „Das bemächtigende, sich
selbst mitnehmende Erleben des Erlebens ist die verstehende, die hermeneutische Intuition, originäre
phänomenologische Rück- und Vorgriffs-bildung, aus der jede theoretisch-objektivierende, ja trans-
zendente Setzung herausfällt. Allgemeinheit der Wortbedeutungen besagt primär etwas Originäres:
Welthaftigkeit des erlebten Erlebens“ (a.a.O. S. 117). Das sich ohne vermittelnde Idee verhaltende und
direkt vom Sein angesprochene Dasein ist Ausdruck der Beseitigung des Dualismus von res cogitans
und res extensa. Die Wahrheit ist kein Vorstellungsinhalt, sondern ein welthaftes Ereignis, die Darstel-
lung des Seins am Dasein, welches so kein summum ens und absolute Position ist, die prädiziert wird,
sondern das Welten der Welt. Schon in den frühen Werken, in der Dissertation- und Habilitationschrift
161
etwa, ist die Wahrheit nicht ein Buchstabieren der Wirklichkeit, sondern ein Aufbruch in diese. Wenig
später kommt die Transzendenz als Voraussetzung der Inten-tionalität hinzu. Das Dasein ist schon in
der fehlenden und gefragten Wahrheit des Seins, welche am ihren Fehl erleidenden Dasein zur Dar-
stellung aus dem Nichts des Logos kommt.
3. Die vier Schritte im Verstehen von Wahrheit
Die Behandlung der ersten drei Teile der vorliegenden Arbeit soll nun im Hinblick auf das Ver-
ständnis von Wahrheit in vier Schritten retrospektiv durchschaut und progressiv weiterentwickelt wer-
den. Hiermit ist die Hoffnung verbunden, das innere und intendierte Wesen der Wahrheit als das Hei-
lige und Plötzliche ausweisen zu können.
Im ersten Teil wurde darauf hingewiesen, daß die Wahrheit schon beim frühen Heidegger nicht als
phänomenologische Entdecktheit angesehen werden kann, sondern als der direkte an das Dasein ge-
richtete Anspruch des Seins auf eine nicht adäquate Wahrheit. Das Sein ist keine absolute Position,
sondern es kommt zur Darstellung aus einem den Fehl der gefragten Wahrheit erleidenden Ursprung,
welcher am Dasein aufgespürt und konstituiert wird.
Nach dem zweiten Teil ist das Sein des Seienden nicht seine Realität und Verwirklichung als eines
Realen, sondern das Sich-am-Dasein-aus-der-Frage-des-Seienden-Er-möglichende und solcherweise
erst aus dem Dunklen ins Licht entspringende Gefragte und Abwesende. Im dritten Teil haben wir
gesehen, wie die Unwahrheit und die Verborgenheit der Wahrheit in dieser nicht in einem ersten und
eigentlichen Anfang und Gang der Wahrheit aufgehoben wird, aus welchem ein sich entziehender Gott
des Anfangs, ein summum ens und eine absolute Position als neuer Gott wieder anfangen kann und
anders prädiziert wird, sondern gerade aus der Unwahrheit als aus dem Ort des Erleidens des Fehls an
Wahrheit diese als letzter Gott aus der Mitte des Weges ohne einen unmittelbaren oder vermittelten
Anfang erwachen wird. Das Sein und der letzte Gott sind so in allen diesen untersuchten Fragestellun-
gen keine absolute Position, kein summum ens, keine Realität, deren Existenz nichts hinzufügt, son-
dern die aus einem vorontologischen Ursprung am angesprochenen Dasein welterschließende Darstel-
lung des Seins als weltenden, realen Prädikats. Die Wahrheit ist keine sich bewährende Idee, die als
circulus vitiosus deus innerweltlich anders prädiziert und ausgelegt wird, sondern die aus dem Tod
und dem Fehl entspringende Erfüllung und Darstellung der gefragten Wahrheit. Es geht um eine Um-
kehrung in die Richtung des Satzes und des Urteils. Im folgenden soll überwiegend unter Bezugnahme
auf den späteren Heidegger das bisher Ausgeführte fortschreitend in Hinsicht auf den Sinn der Wahr-
heit und seine Entwicklung im Werk Heideggers näher beleuchtet und ausgearbeitet werden.
162
3. 1. Wahrheit als Unverborgenheit oder “eher” als Unverborgenheit
3. 1. 1. Gehalt, Vollzug und das Entdeckend-sein der Sachen
Außer der ontologischen Differenz zwischen Sein und Seiendem ist der am meisten bekannte
Locus beim frühen Heidegger das Verstehen der Wahrhheit als Unverborgenheit. Andererseits steht
aber Heidegger gegen die Offenheit, die Sichtbarkeit, die Wirklichkeit und Vorhandenheit, gegen das
„Zum-Erscheinen-bringen“ der Idee. Das Verstehen von Unverborgenheit ist also nicht unbedingt
einfach zu erreichen, und man sollte versuchen, seiner in seinem ganzen Zusammenhang habhaft zu
werden. In „Sein und Zeit“ wird die gesamte Intention des frühen Heideggers um die Unverborgenheit
mehr oder weniger systematisch dargestellt. In Paragraph 44 wird der ursprüngliche Begriff von
Wahrheit behandelt. Er trägt den Titel: „Dasein, Erschloßenheit und Wahrheit“. Im Titel ist keine Re-
de von Entdecktheit oder Unverborgenheit. Es wird vielmehr der Zusammenhang erwähnt, in welchem
Wahrheit als Unverborgenheit aufgeht. Die Wahrheit in der herkömmlichen Form wird als Bezug zwi-
schen idealem Urteilsgehalt und realem Ding verstanden. Dieser Bezug ist Übereinstimmung, adäqua-
tio.
Wie läßt sich nun diese Beziehung zwischen Idealem und Realem charakterisieren? „Sie besteht
doch und besteht in faktischen Urteilen nicht nur zwischen Urteilsgehalt und realem Objekt, sondern
zugleich zwischen idealem Gehalt und realem Urteilsvollzug; und hier offenbar noch «inniger»?“ (S.
u. Z., 216). Zur Wahrheit gehört also nicht nur der ideale Urteilsgehalt und das reale Objekt, sondern
auch der reale Urteilsvollzug. Dieser gehört wesentlich zur Erschlossenheit der Wahrheit im Sein des
Daseins. Es ist merkwürdig, daß Heidegger, während er noch in den Frühschriften den Blick aus dem
realen Urteilsvorgang ablenkt, jetzt diesen thematisch als entscheidenden in der Sache der Wahrheit
ansieht. Der reale Urteilsvollzug ist entscheidend in der Beziehung zwischen realem Objekt und idea-
lem Urteilsgehalt. Heidegger sieht zwar grundsätzlich den Versuch Husserls gegen den Psychologis-
mus, das Psychische als Ideal zu erweisen, als berechtigt an, letztendlich aber - vom Ergebnis aus be-
trachtet - als unzutreffend.123 Die „ideale Wahrheit“ soll eine weltende und nicht nur ideal geltende
sein. Das Sein des Daseins ist der entscheidende Ansatz des Denkens. Dieser Vorgang beruht in der
Erschlossenheit und Weltlichkeit des Daseins. Er wird auf eine geradezu revolutionäre Art und Weise
thematisiert, indem die selbstverständliche Trennung zwischen Realem und Idealem oder res extensa
und res cogitans vereinheitlicht wird. „Und ist nicht mit Rücksicht auf das «wirkliche» Urteilen des
Geurteilten die Trennung von realem Vollzug und idealem Gehalt überhaupt unberechtigt? Wird die
Wirklichkeit des Erkennens und Urteilens nicht in zwei Seinsweisen und «Schichten» auseinanderge-
123 Es ist merkwürdig, daß Heidegger in den frühen Schrifften die Wahrheit als eine ideale und unzeitliche Gel-tung ansah. Dadurch wollte er aber das revolutionäre Aufbrechen und das ideale Gelten gegen die Wirklichkeit und nicht das zur Wirklichkeit analoge Gelten der Wahrheit betonen. Siehe z.B. S. 281 in: "Frühe Schriften" (a.a.O.).
163
brochen, deren Zusammenstückung die Seinsart des Erkennens nie trifft? Hat der Psychologismus
darin nicht recht, daß er sich gegen diese Trennung sperrt, wenngleich er selbst die Seinsart des Den-
kens des Gedachtens ontologisch weder aufklärt, noch auch nur als Problem kennt?“ (S. u. Z., 217). Es
ist kaum möglich, daß Heidegger auch anderswo meint, daß der Psychologismus gegen diese Tren-
nung gerichtet ist. Zumindest die Frühschriften und die ersten Werke sind programmatisch gegen die
Vorstellung des Denkens als psychischen Vorgangs gerichtet - eine Feststellung, die im Prinzip für
Heideggers Gesamtwerk gültig ist. Nichtsdestotrotz hält aber Heidegger eine einheitliche Betrachtung
des Denkvorgangs gegenüber der Trennung in zwei Schichten, in die reale und ideale, als richtiger.
Andererseits muß aber angemerkt werden, daß Heidegger hier den realen Urteilsvorgang in die Span-
nung zwischen realem Objekt und idealem Gehalt setzt, was in den Früschriften nicht der Fall war. Er
will den realen Vollzug und den idealen Gehalt in ihrer Einheit sehen. Das Problem der Wahrheit wird
aber nicht ununterbrochen aus dieser Thematisierung der Weltlichkeit des Daseins und seines realen
Urteilsvollzugs behandelt, sondern dieser erste Anlauf wird unterbrochen, und die Analyse setzt mit
einem Beispiel direkt auf den offenbar untersuchten und erstrebten Sinn der Wahrheit an, welcher kein
anderer ist als die Ausweisung und Bewährung des realen Dinges. Insofern geht das Ergebnis nicht so
weit, wie der erste Anlauf aus dem realen Urteilsvollzug andeutete.
Heidegger führt das Beispiel eines mit dem Rücken gegen die Wand gekehrten Menschen ein,
welcher die Aussage vollzieht: „Das Bild an der Wand steht schief“. Er bezieht sich weder auf Vor-
stellungen noch auf ein Vorgestelltes, welche er nicht (mehr) haben kann, sondern auf das reale Bild
an der Wand und auf nichts anderes. So ist das aussagende Sein ein Ausweisen und ein Entdecken des
entdeckten Seienden selbst. „Das gemeinte Seiende selbst zeigt sich so, wie es an ihm selbst ist, das
heißt, daß es in Selbigkeit so ist, als wie seiend in der Aussage aufgezeigt, entdeckt wird. Es werden
nicht Vorstellungen verglichen, weder unter sich, noch in Beziehung auf das reale Ding. Zur Auswei-
sung steht nicht eine Übereinstimmung von Erkennen und Gegenstand oder gar von Psychischem und
Physischem, aber auch nicht eine solche zwischen «Bewußtseininhalten» unter sich. Zur Ausweisung
steht einzig das Entdeckt-sein des Seienden selbst, es im Wie seiner Entdecktheit. (...) Das ist nur so
möglich, daß das aussagende und sich bewährende Erkennen seinem ontologischen Sinne nach ein
entdeckendes Sein zum realen Sein selbst ist“ (S. u. Z., 218). Solcherweise aber fällt der Vollzug mit
dem sich ergebenden Gehalt zusammen. Der Vollzug kann sich nicht vom Gehalt zurückziehen und
diesen dann auf den Gegenstand beziehen. Es gibt keinen idealen Gehalt, der ohne den Vollzug gelten
könnte und separat ausgewiesen werden sollte. Der Vollzug, „das aussagende und sich bewährende
Erkennen“ trägt in sich seinen Gehalt, ist dieser und ist in sich zugleich seine Ausweisung, sofern er
direkt „ein entdeckendes Sein zum realen Seienden selbst ist“. Die Sache steht ihrerseits ebensowenig
als hypothetisches oder intentionales Objekt vor dem vorstellenden Denken, sondern sie ist nur und
schon in ihrer das Dasein ansprechenden Transzendenz und in ihrem Entdeckend-sein. Das direkt an-
gesprochene Denken ist Tätigkeit und Ergebnis in einem, es ist sein Gedachtes als Gedachtes der Sa-
che und nicht das Übereinstimmen seiner Vorstellungsinhalte von den Sachen oder mit den Sachen. Es
164
gehört nur dem direkten Anspruch des Seins der Sache auf Wahrheit. Aus dem Beispiel könnte Hei-
degger ein weiteres Vorkommnis bemerken. Der Mensch sieht weder auf das Bild noch auf ein ande-
res in bezug auf das Bild. Er ist quasi dem Dunkel selbst überantwortet, und aus diesem und aus dem
Nichts schafft er überhaupt das Sein des Bildes. Es geht nicht nur um eine intentionale Richtung auf
das reale Objekt, sondern vielmehr um seine Konstituierung aus dem Nichts, und zwar am Sein des
vollziehenden, direkt angesprochenen und transzendenten Daseins und nicht in einem dritten und idea-
len Gehalt.
Das Dasein ist der Ort des direkten Anspruchs des Seins der Sache auf Wahrheit, seines Ruhens
und seiner Wi(e)derkehr in einem verborgenen Ursprung, aus dem das „Entdeckt-sein“ und nicht ein
unmittelbar und adäquat Sich-zeigendes zur Darstellung kommt. Die Sache ist schon in ihrer Wahrheit
und Darstellung und in keiner nachträglich prädizierenden kategorialen adäquaten Form einer absolu-
ten Position, wie auch das Dasein in der Wahrheit der Sache ist. „Wahrsein (Wahrheit) der Aussage
muß verstanden werden als entdeckend-sein. Wahrheit hat also gar nicht die Struktur einer Überein-
stimmung zwischen Erkennen und Gegenstand im Sinne einer Angleichung eines Seienden (Subjekt)
an ein anderes (Objekt)“ (S. u. Z., 218 f.). Das Wahrsein ist das Sich-zeigen der Sache selbst, im
„Wie“ ihrer Entdecktheit. So gehört zum Logos die Unverborgenheit (S. u. Z., 219). Die Sachen wer-
den so nicht in ihrer adäquaten Identität entdeckt, sondern im „Wie“ ihrer Entdecktheit, welche das
Entdeckend-sein eines verborgenen Ursprungs ist. Die Wahrheit der Sachen ist nicht in einer die Sache
als absoluter Position prädizierenden Form, sondern schon in ihrem dargestellten Entdeckend-sein und
sonst nirgendwo. Die Wahrheit als Darstellung und Unverborgenheit ist die vorgängig sich fragende
Wahrheit des Seins als direkter Anspruch am Dasein und als Erfüllung der angesprochenen und ge-
fragten Wahrheit im Gegensatz zu einer Wahrheit, die in Übereinstimmung mit ihrem Entwurf ausge-
wiesen wird. Deswegen spricht Heidegger von „Selbigkeit“ in der Wahrheit, aber nicht von „Überein-
stimmung“ (S. u. Z., S. 218 ff.). Das Entdeckend-sein ist der einzige und direkte Ort der Wahrheit der
Sachen, in dem sie sich fragt, und aus dieser vorgängigen Frage zur Darstellung kommt. Nur so
kommt die Sache nicht zum adäquaten Sich-zeigen, sondern zu ihrer Darstellung als welterschließen-
dem Geschehen. Heidegger sagt: „Das gemeinte Seiende selbst zeigt sich so, wie es an ihm selbst ist,
(...) „(S. u. Z., 218). Er sagt nicht, wie es „an sich“ ist, sondern „an ihm“. Im Sein des Seienden ist
auch sein Auftritt in seiner Wahrheit eingeschlossen. Sein verborgener und gefragter Ursprung und
seine darstellende Erfüllung im direkt gefragten Entdeckend-sein gehören wesentlich zum Sein des
Seienden. Das Sein kommt zur Darstellung aus dem Nichts und nicht zur kategorialen und adäquaten
Form. Seine Bewährung ist diese welterschließende Darstellung am direkt angesprochenen Dasein.
Deswegen ist diese nicht Bewährung und Ausweisung einer Übereinstimmung, einer sich bewähren-
den Idee in einem Prädikat, sondern Bewährung als Darstellung und Erfüllung einer Frage! Das Sein
ist keine absolute Position, welche sich nur in adäquater, prädizierender, kategorialer und abkünftiger
Form zeigt, sondern Darstellung. Es geht um Umkehrung des Urteils und des Satzes. Nicht Gott ist das
Heilige, sondern das Heilige ist Gott. So fährt Heidegger fort und wendet den Ausdruck um. Er sagt
165
nicht „es zeigt sich so, wie es ist“, sondern er sagt, „es ist so, wie es sich zeigt“: „(...) das heißt, daß es
in Selbigkeit so ist, als wie seiend es in der Aussage aufgezeigt, entdeckt wird“ (ebenda). Das Seiende
ist schon in seiner Wahrheit und nicht ein An-sich, welches sich in seinen adäquaten Bildern bewährt.
Es gibt keine Bewährung und keine Ausweisung, welche (als Ich, Vorgang mit einem weiteren Krite-
rium) zwischen dem realen Ding als einem An-sich und seinem vorhandenen Entdeckend-sein stünde
und diese innerhalb einer weltlichen logischen Form vergleichen würde. Etwas Verborgenes, Gefrag-
tes und noch Abwesendes wird entdeckt, und nicht etwas Vorhandenes, das einfach noch nicht ent-
deckt worden war und jetzt originär und unmittelbar sich ergibt. Es geht nicht um „(...) Übereinstim-
mung zwischen Erkennen und Gegenstand im Sinne einer Angleichung eines Seienden (Subjekt) an
ein anderes (Objekt)“ (S. u. Z., 218 f.). Die Wahrheit als Entdecktheit und Unverborgenheit erhebt
keinen Anspruch und ist kein Postulat auf eine originäre und adäquate Wiedergabe der Sache, wie sie
an sich ist, sondern sie ist der direkte Anspruch des Seins an das Dasein und das darstellende Ent-
springen der Wahrheit und des Seins aus der Verborgenheit und nicht aus einer vorhandenen und wie-
dergegebenen Identität. Es gibt eine Vereinigung als Erfüllung des angesprochenen Fehls der Wahrheit
und nicht als unmittelbare Wiedergabe einer Sache. Das Sein der Sache tritt aus dem Dunklen und
dem fehlenden Ursprung ins Anwesen an, und dies ist als Erfüllung die Bewährung! Es geht, wie ge-
sagt, um eine Umkehrung des Satzes. Die Wahrheit ist Darstellung und Erfüllung des Anspruchs der
Sachen und das Dasein ist als direkter Anspruch und Entdeckend-sein der Ort dieser Wahrheit. Das
Sein der Sachen ist schon in seiner darstellenden Wahrheit, es ist welterschließende Darstellung und
nicht absolute Position. Heidegger denkt nicht im Subjekt-Prädikat-Schema. Es gibt kein Subjekt,
welches prädiziert wird, von welchem ausgesagt wird. Das Sein ist schon in seiner Wahrheit, in seiner
aus dem Nichts entspringenden Darstellung am Dasein und nicht ein Subjekt, eine absolute Position.
Diese Wahrheit des Seins ist keine Prädikation mehr, deshalb sollen wir diese außerhalb des Schemas
Subjekt-Prädikat verstehen. Sie ist darstellender modus essentialis.
Genau das erinnert an den ersten Anlauf der Behandlung des Themas, mit dem Hinweis auf den
Vollzug und den idealen Inhalt, in welchem man letztlich sehen konnte, daß das Dasein selbst Gedach-
tes und Ort des Sich-fragens der Wahrheit ist und nicht ein punktuelles Ich oder realer Vorgang, der
von seinem realen Objekt oder seinem inhaltlichen Ergebnis getrennt ist. Die Wahrheit ist nicht ein
innerweltliches Sich-zeigen der Sache in einem adäquaten und idealen Entwurf. Sie ist weder ein Wis-
sen in den bereitliegenden und idealen Vorstellungsinhalten noch ein Urteil des realen und psychi-
schen Vorgangs, sondern der weltende, sich fragende und sich darstellende Anspruch auf das trans-
zendente Sein und die Weltlichkeit des Daseins und das Erschließen der Wahrheit an diesem. Sie ist
Darstellung des Seins am Dasein als verantwortlichem, endlichem Sein zum Tode und Entdeckend-
Sein.
166
3. 1. 2. Die Erschloßenheit und Weltlichkeit des Daseins als Ort des weltenden Anspruchs der Wahrheit des Seins
Heidegger stellt in anderen Stellen von S.u.Z. die Unverborgenheit noch expliziter in ihren Vor-
aussetzungen dar. Er sieht, daß die Wahrheit die Weltlichkeit und die Erschloßenheit des In-der-Welt-
seins des Daseins als ontologische Voraussetzung hat. „Durch die frühere Analyse der Wetllichkeit der
Welt und des innerweltlichen Seienden wurde aber gezeigt: die Entdeckt-heit des innerweltlichen Sei-
enden gründet in der Erschloßenheit der Welt. (...), daher wird erst mit der Erschloßenheit des Daseins
das ursprünglichste Phänomen der Wahrheit erreicht“ (S. u. Z., 220). Die Wahrheit wird aus der Welt-
lichkeit des angesprochenen Daseins in einem ursprünglicheren Sinne gesehen. Das Dasein ist nicht
ein innerweltliches punktuelles Ich mit vorhandenen Kriterien, sondern es soll in sich transzendent als
Ort der sich darstellenden Wahrheit stehen. Solcherweise hat es kein Kriterium der Wahrheit, keine
Vorstellung als Maß, sondern es ist „in der Wahrheit“ (S. u. Z., 221). Es ist kein Haben von Kriterien
als reines Denken, sondern es ist der Ort der Wahrheit, ihr Gedachtes, ihre Geschichte, der Ort des
Sich-fragens und des Erleidens der Wahrheit, der Wi(e)derkehr im fehlenden Ursprung für die Darstel-
lung der gefragten Wahrheit des Seins. Die Wahrheit ist nicht der richtige Vollzug der idealen Krite-
rien, sondern das welterschließende Darstellen des Seins aus einer vorontologischen Frage am Dasein.
„Die Wahrheit (Entdecktheit) muß dem Seienden immer erst abgerungen werden. Das Seiende wird
der Verborgenheit entrissen. Die jeweilige faktische Entdecktheit ist gleichsam immer ein Raub“ (S. u.
Z., 222). Es wäre zu unvollständig zu sagen, daß Heidegger hier die Wahrheit als Entdecktheit im
Sinne des originären Erscheinens eines Vorhandenen aus der Verborgenheit versteht. Vielmehr ent-
steht die Wahrheit als welterschließendes und das Sein darstellende Erfüllen einer dem Sein selber
vorgängigen Frage! Das „Kriterium“ ist diesem darstellenden Erfüllen des Anspruchs und Fehls der
Wahrheit immanent und nicht ein vorhandener Vorstellungsinhalt und seine Anwendung durch das
Ich. In der Darstellung des Seins soll nicht das Prädikat einem Subjekt adäquat sein, sondern in der
Umkehrung des Satzes be-wahrt es und konstituiert das vermeintliche Subjekt! Wahrheit ist so nicht
das Haben eines Kriteriums, sondern der Vollzug der Wahrheit aus der Verborgenheit in die Unver-
borgenheit als Entspringen einer fehlenden und verborgenen Wahrheit im Sein des Seienden. Sie ver-
fügt über einen ursprünglicheren Charakter als den erkenntnistheoretischen des besseren, vorausset-
zungslosen oder originären Wissens von etwas. Sie bekommt den quasi ethisch-vorontologischen Sinn
des Vollzugs von der Unwahrheit in die Wahrheit. Das ist weder das Haben eines Kriteriums noch das
Aufdecken eines verborgenen Vorhandenen, sondern das Wahr-Sein aus der Verborgenheit, die Dar-
stellung des Seins aus dem Nichts.
167
3. 1. 3. Die Wahrheit ist so mehr als nur Unverborgenheit und Entdecktheit im Sinne der wie-dergegebenen Originalität
Auf diese Weise schreitet Heidegger weiter voran: „Die existenzial-ontologische Interpretation
des Phänomens der Wahrheit hat ergeben: 1. Wahrheit im ursprünglichsten Sinne west übergehend in
der Erschloßenheit des Daseins ein, welche Entdeckendsein der Sache ist. 2. Das Dasein ist gleichur-
sprünglich in der Wahrheit und Unwahrheit“ (S. u. Z., 223). Damit kommt er nunmehr explizit viel
weiter als mit seinem zweiten Anlauf: mit dem Sich-zeigen der Sachen selbst in einer originären adae-
quatio und Bewährung. Heideggers erster und von ihm verlassener Anlauf aus der Weltlichkeit des
Denkvorgangs und seines Zusammengehörens mit seinem Gehalt wird jetzt wieder aufgenommen, und
so haben wir es nunmehr mit zwei weiteren Punkten der Erschlossenheit der Wahrheit am Dasein und
des Gehörens des Menschen in der Wahrheit und in der Unwahrheit zu tun. Wieder kommt aber die
Schlußbetrachtung direkt zum letzten entscheidenden Punkt der Wahrheit: zum Punkt der originären
Selbigkeit und Bewährung. Demzufolge ist die Aussage im Nachsagen, im Gerede, nicht mehr Wahr-
heit, weil sie nicht mehr originäre Entdecktheit ist, sondern vorhandene Gemäßheit und Übereinstim-
mung zweier Vorhandener, des Dinges und der Aussage. Das Wichtigste bei diesem Verstellen der
Wahrheit geht die Wahrheit als Entdecktheit an. „Die Entdecktheit des Seienden rückt mit der Ausge-
sprochenheit der Aussage in die Seinsart des innerweltlich Zuhandenen. Sofern sich nun aber in ihr als
Entdecktheit von... ein Bezug zu Vorhandenem durchhält, wird die Entdecktheit (Wahrheit) ihrerseits
zu einer vorhandener Beziehung zwischen Vorhandenen (intellectus und res)“ (S. u. Z., 225). So kreist
Heidegger um die Entdecktheit herum und vertreibt den Eindruck, daß die erste Stufe der Analyse der
Wahrheit als Entdecktheit das Entscheidende ist. Man könnte daher die Entdecktheit als Entdecktheit
einer Sache, wie sie an sich ist und so wiedergegeben und originär entdeckt ist, verstehen und nicht als
Entdeckend-sein und ein „Wie“ der Entdecktheit, in welcher das Sein des Seienden aus einer vorgän-
gigen Frage am Dasein dargestellt und nicht einfach adäquat und unmittelbar im modus accidentialis
wiedergegeben ist.
Der letzte Sinn von Entdecktheit trägt daher in sich folgende Charaktere, bzw. er wird vollzieh-
bar in weiteren Voraussetzungen: Die Weltlichkeit und Erschlossenheit des Daseins, die Wahrheit als
weltender und direkter Anspruch am zusammengehörenden Dasein als Entdeckend-sein, die Wahrheit
als Darstellung des Seins und nicht als Prädikation einer absoluten Position und das Gehören des Da-
seins in der Wahrheit und in der Unwahrheit. Natürlich kommen diese weiteren Momente in der Ana-
lyse vor, aber man bleibt doch mit dem Eindruck der Betonung der Wahrheit als originärer Entdeckt-
heit zurück. So dürfte klarer geworden sein, daß Heidegger mit der Feststellung der Abkünftigkeit der
Wahrheit als adequatio aus der Entdeckt-heit nicht einen erkenntnistheoretisch ursprünglicheren Mo-
dus der Wahrheit findet, nämlich den der originären Erfahrung und Entdeckung der Sache selbst - der
originären adäquatio -, sondern daß er die Wahrheit ganz anders versteht. Die Rückreflexion von Ror-
168
ty124 und Tugendhat125, daß Heideggers Wahrheit als Entdecktheit auch eine Wahrheit als originäre
Sprache und Richtigkeit erstrebt, welche dann aber jede andere und jedes Metakriterium einer Rich-
tigkeit und Geltung von dieser überbietet, reicht nicht aus, um Heideggers nicht nur in „Sein und
Zeit“, sondern auch in seinem ganzen frühen Werk zugrunde gelegte Wahrheitsintention und ihre Fol-
gen zu erfassen. Heideggers Wahrheit ist keine originäre, wiedergebende und prädizierende adäquatio,
sondern die Darstellung der Wahrheit des Seins am transzendenten Dasein aus einer vorontologischen
und dem Sein vorgängigen Frage, die Umkehrung des Satzes und des Urteils.
3. 1. 4. Das Dasein ist nur als der Ort des direkten Anspruchs des Seins auf seine Wahrheit
Das Dasein ist gleichursprünglich in der Wahrheit wie in der Unwahrheit. Die Wahrheit ist das
aufbrechende Welten des Seins-Seienden am Sein des Daseins, ohne daß es das Maß eines vorhande-
nen Vorstellungsgehalts hat. Das einzige „Maß“ ist der Anspruch des Seins auf das Dasein. Daher ist
der Vollzug der Wahrheit nicht das Haben eines Kriteriums, dessen falscher Vollzug korrigiert werden
könnte, sondern das Dasein steht schon in der Wahrheit und Unwahrheit, aus denen es nicht aussteigen
kann126. So kehrt bei Plato der Philosoph in die Höhle zurück. Weder ist die Unwahrheit die falsche
124 R. Rorty sieht daß Heideggers Unverborgenheit will, "..., uns eine neue Sprache zu geben - eine Sprache, in der neue Kriterien für die Richtigkeit von Aussagen niedergelegt sind. Wahrheit als das Unverborgene verhält sich zu den Kriterien wie diese zur Richtigkeit" (Heidegger wider die Pragmatisten. in: Neue Hefte für Philoso-phie, Heft 23, 1984, S. 11). Es gibt also kein konventionelles Kriterium für die Begründung des Kontemplatio-nismus von Wahrheit außer der Entdecktheit. Wir sollen aber hier hinzufügen, daß Heidegger nicht optisch auf die Wahrheit angerichtet ist und keine Abbildlichkeit und originäre Entdecktheit versucht, sondern das Dasein ist der Ort des Anspruchs des Seins auf Wahrheit. Es geht so nicht um Entelechie und Erfüllung eines Kriteriums, sei es eigentliches oder konventionelles, sondern um Genese und Geschehen der Wahrheit mit der Rückfrage nach der Konstitution eines immanenten Kriteriums. Heideggers Wahrheit ist Umkehrung des Satzes. Die Wahr-heit wird dargestellt, und sie ist selbst das "Kriterium" der Erfüllung des Anspruchs auf Wahrheit und seines Gefragten. Die Darstellung der Wahrheit ist selbst das "Kriterium", nicht weil sie unmittelbar evident ist, son-dern weil sie die Bewegung der Erfüllung aus dem Fehl ist und den Satz umkehrt, das Subjekt des Satzes konsti-tuiert und wahr macht. 125 E. Tugendhat versteht Heideggers Voraussetzung der Erschlossenheit des Daseins als eine conditio sine qua non, die als Offenheit notwendige aber nicht hinreichende Bedingung des spezifischen Wahrheitsbegriffs ist und daher diesen nicht überbieten kann. Die Frage der Ausweisung bleibt (Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, (2. Aufl.) Berlin 1970, S. 351 ff.). Heidegger fragt aber nicht nach einer verifizierenden oder auswei-senden nachträglichen Bedingung, sondern nach einer notwendigen und hinreichenden, die immanent im We-sensgang der Wahrheit ist und nicht nachträglich eine adäquatio feststellt. Eine solche ist das direkt vom Sein angesprochene Dasein und sein Fehl. Das Dasein ist schon in der Wahrheit bzw. Unwahrheit des Seins, im We-sensgang der Wahrheit des Seins. Eine ausweisende, ex post verifizierende Bedingung ist keine Bedingung. Wahrheit ist nicht die Verbindung eines Subjekts mit einem Prädikat, seine Bewährung und ihre Feststellung, sondern die Darstellung der Wahrheit, welche das Subjekt konstituiert und die eigentliche Bedingung und das einzige "Kriterium" der Wahrheit des Subjekts sein kann. Das Dasein ist dieser Darstellung immanent als Ort ihres Erleidens und ihres Entsprugs. In dieser die Form eines Satzes umkehrenden Darstellung der Wahrheit, aus der das Subjekt ist, bewährt sich nicht eine Idee bzw. ein Subjekt des Satzes, sondern entspringt die Wahrheit und jedes "Wahrheitskriterium" aus dem den Fehl erleidenden Dasein als Logos (Über das Dasein als Logos mit innerer Grenze aus Ohnmacht, siehe Teil II). 126 Heideggers frühes Werk enthält schon immanent und mehr oder weniger explizit (z.B. Sophistesvorlesung, S.u.Z.) diese Voraussetzung, und daher kann man nicht von einer Kehre im Denken Heidegger sprechen, welche 1930 oder 1932 vollkommen ist (für 1932 plädiert F. W. von Hermann. Wege ins Ereignis, a.a.O., S. 1 f.). Hei-degger zieht die immanenten Konsequenzen seines Werkes nach und entwickelt radikaler sein Denken.
169
Anwendung eines Kriteriums und Maßes noch ist sie eine bloße negative Voraussetzung, aus deren
Korrektur jemand näher zur Wahrheit käme, sondern die Unwahrheit ist der Ort der Wahrheit des
Seins. Jeder Kritiker und Skeptiker, der nach einem Kriterium der wahren Erkenntnis der Wirklichkeit
sucht und es methodisch voraussetzt, sucht die Wahrheit außerhalb der Unwahrheit und dessen, was
sie eigentlich als Wahrheit ist, nämlich als Entspringen aus dem angesprochenen und erleidenden Da-
sein und nicht als Bewährung einer Idee. Er sucht nach einem absoluten Anfang vor jedem Wahrheits-
geschehen und meint dabei unter Anwendung von Mitteln einer Dialektik und Kritik, daß die Wahr-
heit keinen Ort hat, daß sie die Bewährung einer Idee ist. Dagegen kommt der wahre Dialektiker (und
Phänomenologe) in die Höhle zurück, weil er unter dem Anspruch der gefragten und fehlenden Wahr-
heit des Seins, dem einzigen „Maß“, stehen will. Das Dasein ist der Ort als geworfener Entwurf (S. u.
Z., S. 223), in dem das Sein schon in seiner Wahrheit als Anderssein und aus dem Nichts übergehen-
des Sein einwest. Es ist nur das und niemals ein über die Wahrheit eines Sub-jekts reflektierendes Ich.
„Wahrheit setzen «wir» voraus, weil «wir», seiend in der Seiensart des Daseins, «in der Wahrheit»
sind. Wir setzen sie nicht voraus als etwas «außer» und «über» uns, zu dem wir uns neben anderen
«Werten» auch verhalten. Nicht wir setzen die «Wahrheit» voraus, sondern sie ist es, die ontologisch
überhaupt möglich macht, daß wir so sein können, daß wir etwas «voraussetzen». Wahrheit ermöglicht
erst so etwas wie Voraussetzung“ (S. u. Z., S. 227 f.).
Der Logos der Phänomenologie, wie er in Teil II dargestellt wurde, ist schon beim frühen Hei-
degger der direkte Anspruch des Seins und der Ort seiner Wahrheit und ihres Geschehens, aus wel-
chem das Aussteigen sich als unmöglich erweist. „Die existenzial-ontologische Bedingung dafür, daß
das In-der-Welt-sein durch «Wahrheit» und «Unwahrheit» bestimmt ist, liegt in der Seinsverfassung
des Daseins, die wir als den geworfenen Entwurf kennzeichneten. Sie ist ein Konstitutivum der Struk-
tur der Sorge“ (S. u. Z., 223). Die Wahrheit als Entdecktheit und Entdeckend-sein ist der direkte An-
spruch des Seins der Sache an das Dasein. Dieses ist schon in der Wahrheit oder Unwahrheit des
Seins. Der gefragte und verlangte Sinn des Seins und sein aus seinem Anspruch am Dasein ausgewie-
sener immanenter Fehl ist dem Sein selber vorgängig. Das Sein hat seinen Ursprung in seiner Wahr-
heit und in seiner welterschließenden Darstellung aus dem Nichts im angesprochenen Dasein und ist
nicht intentionale Realität des realen Seienden oder absolute Position, die nur prädiziert werden darf.
In der Geschichte der Philosophie fragen alle nach der Wahrheit, als ob sie Bewährung, Ver-
wirklichung und Energie einer Substanz und eines Subjekts - bzw. des Subjekts eines Satzes - wäre.
Heidegger fragt aber nach einer fehlenden und dem Sein vorgängigen und vorontologi-schen Wahr-
heit, aus welcher bzw. als welche es ist und sich darstellt. Die Frage des Seins als Sinn vom Sein stellt
es in Frage und fragt nicht einfach vom Sein her. Die Frage des Seins fragt aus einer dem Sein selber
vorgängigen Frage und nicht aus einer adäquaten, vorverstehenden und zirkulären Frageposition. So
steht das Sein unter einer vorontologischen Frage. Das Sein ist schon und nur in seiner gefragten und
fehlenden Wahrheit. Aus dieser Frage und seiner Wahrheit wird nicht einfach das Sein entworfen,
170
ausgelegt, prädiziert und verstanden, sondern aus dem Nichts und dem Fehl welterschließend darge-
stellt.127
3. 2. Die Direktheit und Gründung der Wahrheit am Dasein
Nachdem wir zu zeigen versucht haben, daß die Wahrheit als Entdecktheit und Entdeckend-sein
in “Sein und Zeit” der direkte Anspruch des Seins an das Dasein und die Darstellung der Wahrheit aus
einer dem Sein vorgängigen Frage ist und nicht einfach originäre Wiedergabe einer noch nicht ent-
deckten Sache, sollten wir in diesem Abschnitt die Zusammengehörigkeit von Sein und Dasein in
Heideggers späterem Werk unter die Lupe nehmen. Danach sollten wir - ebenfalls auf der Grundlage
des Spätwerks - auf die Zusammengehörigkeit des Daseins in der Wahrheit wie auch in der Unwahr-
heit eingehen. Schließlich könnte die Schwerpunktsetzung auf das Entspringen einer unerwarteten und
fehlenden Wahrheit aus der Verborgenheit des Anspruchs im Da-sein hinauslaufen, welche weder
Unmittelbarkeit noch Vermittlung eines Anfangs ist, sondern der letzte Gott, das Heilige und Plötzli-
che.
3. 2. 1. Die Wahrheit ist nicht einfach Originalität, sondern der verlangende Anspruch des ent-zogenen Seins an einem Da und die Erfüllung eines erleidenden Fehls und nicht eines dirigieren-den oder regulativen Kriteriums
Der Ursprungsbereich der Wahrheit ist das Sein des Daseins. Das Dasein ist schon in der Wahr-
heit nicht als Kriterium und Ich, sondern als angesprochenes Dasein. Es ist nicht ein Ich, die erste128
oder letzte Substanz des Ansatzes der Wahrheit. Es ist nicht die erste Materie, dasjenige Atomkong-
lomerat, aus dem das Ganze entstehen kann. Der Ursprungsbereich der Wahrheit ist die Existenz, nicht
weil sie so die originäre Leistung eines Ich-Atoms als Zelle der Freiheit ist, sondern weil sie im Ge-
genteil der Ort des weltenden Anspruchs des Seins ist, in der Welt als Geworfenheit des Seins steht
und Erschloßenheit und Weltlichkeit ist. Ihre Freiheit ist Schicksal, eigenste Möglichkeit und Notwen-
digkeit des Übernehmens der Verantwortung dieses Anspruchs, ohne diese Aufgabe einem Dritten zu
übermitteln, und nicht bloß der Ansatz einer ursprünglichen Leistung und autonomen Freiheit. Es geht
nicht um das Aufreißen eines ursprünglichen Ich-Bereichs, welcher als Grundcharakter der Wahrheit
ihre Urspünglichkeit und Echtheit bedeuten würde, sondern um das Geschehen der Wahrheit in einem
127 Besonders die heutige analytische Philosophie, die Hermeneutik und der Pragmatismus sollen an diese dem Sein vorgängige Frage und Wahrheit andenken. Ihre Auslegungen sind nicht innerweltliche adäquate Sätze, sondern diese enthalten als übermäßige Mitte und Ursprung das Nichts und den Fehl des sich fragenden und gefragten Seins. Im Logos überhaupt herrscht das Nichts einer radikalen Frage, die aus einem Fehl der Wahrheit nach dieser fragt und diese erleidet. Die heutige Angelegenheit ist, was diese vorontologische und vorgängige Wahrheit des Seins ist und wie sich eine solche Frage konstituieren läßt, welche keine vorverstehende, inner-weltliche und zirkuläre ist, sondern im Tod vorlaufend sich in/aus der fehlenden Wahrheit des Seins fragt und der Ursprung der Erfüllung ist. Diese Frage soll selbst der Ursprung der Erfüllung und Darstellung der fehlenden Wahrheit sein.
171
ruhenden und transzendenten Da. Die Ursprünglichkeit um der Urspünglichkeit willen ist reaktiv, sie
will innerweltlich oder metaweltlich als Erstes vor-mitanwesen und vor-teilnehmen129. Der Anspruch
des Seins verlangt aber die Wahrheit aus einem entgegengeworfenen Da und nicht aus einer adäquat
übermittelnden Position. Dieser entgegengeworfene Ort erhält den Auftrag der Wahrheit und versteht
ihn, erleidet ihn als einen Fehl an Wahrheit. Das Dasein als Logos, als erleidende
d…malir letÇ k¡cou, ermöglicht das angesprochene Gefragte mit seiner inneren, ruhenden Ent-
zweiung, Entgrenzung und Negation, in welcher dieses aus dem motivierenden Fehl und dem
Nichtsein aufbrechen und sich darstellen kann und nicht irgendwo gefunden oder aus einem dirigie-
renden oder regulativen Kriterium erfüllt wird. Das Dasein hat eine innere Grenze, seine Sterblichkeit
und Endlichkeit, welche den Fehl der Wahrheit erleidend ermöglicht, nicht erklärt und nicht transzen-
dentallogisch oder aus einem gründenden Kriterium erfüllt.130
3. 2. 2. Das Dasein ist das Gedachte und die Wahrheit des Seyns
Das Sein als Grund des Denkens in der Metaphysik ist das Gedachte des sich vorstellenden
Denkens, und in seiner äußersten und vollendeten Form das Selbstbewußtsein des unbedingten Den-
kens. „(...) die eigentümliche Vorherrschaft des Denkens des Denkens und seines Gedachten als sol-
chen, d.h. des Ich und „Selbst“bewußtseins in der neuzeitlichen Philosophie, eine Vorherrschaft, die
sich ins Äußerste steigert mit der Gleichsetzung der Wirklichkeit (des Seins) als des Absoluten mit
dem Denken als dem unbedingten; (...)“ (Beiträge, 1935-38, S. 457). Das Sein ist solcherweise das
Gedachte des Denkes, das intentional Präsente als absolute Position für das Denken. Diese Zusam-
mengehörigkeit ist aber nicht die einzig mögliche. Gegen diese Zusammengehörigkeit tritt die seyns-
geschichtliche Zusammengehörigkeit in Erscheinung, die schon die phänomenologische ist, in welcher
das Denken das Gedachte, der Logos und die Transzendenz des zu seinem Nichtsein und seiner Wahr-
heit übergehenden Seyns ist. In diesem Sinne ist das Sein weder der Begriff noch die intentionale und
128 R. Rorty, a.a.O., S. 5 f., 16 ff.. 129 Gegenüber einem solchen vermeintlichen Verständnis der Wahrheit als Originalität und der Stelle des Da-seins in dieser spricht man von der "Kehre" bei Heidegger. K. Löwith z.B. spricht von einem Richtungswechsel des Heidegger´schen Weges nach "Sein und Zeit" (Heidegger, Denker in dürftiger Zeit, Göttingen, 1953, S. 20). Das Durchsetzen dieser Ansicht in der Heideggerforschung hängt nicht so sehr von Heideggers Werk nach "Sein und Zeit" und seinem neuen Ansatz ab, sondern entscheidend vom Verständnis der Vorlesungen bis "Sein und Zeit" und von "Sein und Zeit" selbst. Die Betrachtung des Angebots Heideggers nach "Sein und Zeit" als eines neuen Durchbruchs im Denken Heideggers sollte vielleicht mit einer anderen Verständnisweise des früheren Werks eingeführt und begleitet werden. 130 Dieser ist der immanente Sinn der Wahrheit schon beim frühen Heidegger, und daher kann man nicht von einer Kehre aus der phänomenologisch-transzendental gegründeten Wahrheit des Daseins in den ontologischen Anfang des Seins sprechen. Auch nicht von einer Aufhebung der phänomenologischen Ontologie und Rekon-struktion des Anfangs, wie es z.B. der Beitrag von O. Pugliese tut (Vermittlung und Kehre, a.a.O., S. 17, 209, 216 ff.). Die Wahrheit des Seins ist schon vor S.u.Z., wie z.B. in der Vorlesung des SS. 24 und in der Sophistes-vorlesung vom WS. 24/25, das ansprechende Verwickeln im Da und der Überschlag in das fehlende Nichtsein und keineswegs ein Sich-zeigen in der vorhandenen Innerweltlichkeit. Daher verfügt das Sein über keine An-fänglichkeit und dialektische Aufhebung jeder Vermittlung und ist demgegenüber das Wesen in und aus diesem
172
transzendental-logische Realität und absolute Position als letzter Horizont des Denkens, sondern die
das Dasein ansprechende und fragende Abwesenheit. „Gründung ist zweideutig: 1. Der Grund grün-
det, west als Grund (vgl. Wesen der Wahrheit und Zeit-Raum). 2. Dieser gründende Grund wird als
solcher erreicht und übernommen. Ergründung: a) den Grund als gründenden wesen lassen; b) auf ihn
als Grund bauen, etwas auf dem Grund bringen. Das ursprüngliche Gründen des Grundes (1) ist die
Wesung der Wahrheit des Seyns; die Wahrheit ist Grund im ursprünglichen Sinne. Das Wesen des
Grundes ursprünglich aus dem Wesen der Wahrheit, Wahrheit und Zeit-Raum (Ab-grund)“ (Beiträge,
1935-38, S. 307). Der Grund des Grundes ist die Wahrheit des Grundes, der Abgrund. Das Sein west,
ergibt sich nur in - aus - seiner ihm vorgängigen Wahrheit und Darstellung aus dem Nichts. Die Wahr-
heit des Seins ist in einem entgegengeworfenen und angesprochenen Da ab-gegründet. Sie ist nicht
Verwirklichung des Seins. Wir sind schon in der Wahrheit des Seyns mit dem Auftrag und dem ver-
langenden Anspruch auf Wahrheit. Das Dasein ist das Gedachte des Seyns, seine Wahrheit. Wie wir
schon weiter oben gesehen haben, setzt es keine Wahrheit und keinen Sinn von Sein voraus. „Dem-
gemäß wird die Er-gründung zur Gründung des Da-seins als der Er-gründung des Grundes: der Wahr-
heit des Seyns“ (Beiträge, 307). Das Seyn ist nicht mehr der intentional erfaßte leerste transzendental-
logische Horizont und die absolute Position des unbedingten und prädizierenden Denkens, sondern die
Wahrheit des Seyns. Diese wird nicht auf ein Reales entworfen, sondern in der Zusammengehörigkeit
mit dem angesprochenen Dasein versammelt und aufbewahrt. Solche ist die Funktion des Logos (Lo-
gos, Vorträge und Aufsätze, 1944, S. 203).
Das Sein ist kein Subjekt im Urteil, kein realer Horizont, sondern es kommt erst am Dasein zur
Darstellung. Das Seyn ist Ab-grund. Sein Wesen ist seine direkt ansprechende Wahrheit, sein vorgän-
giges Übergehen in sein Gefragtes. „Im Seyn allein west als seine tiefste Klüftung das Mögliche so
daß in der Gestalt des Möglichen zuerst das Seyn gedacht werden muß im Denken des anderen An-
fangs. (Die Metaphysik aber macht das „Wirkliche“ als das Seiende zum Ausgang und Ziel der Be-
stimmung des Seins.)“ (Beiträge, S. 475). Das Seyn als das Mögliche west in seiner Wahrheit am Da-
sein weiterhin als das Mögliche und wird eventuell seine Wahrheit am Ende noch mal übertreffen.
„Und die denkerische Besinnung auf dies Einzige: die Wahrheit des Seyns, kann nur ein Pfad sein, auf
dem das Unvordenkliche dennoch gedacht, d.h. die Verwandlung des Bezugs des Menschen zur
Wahrheit des Seyns angefangen wird“ (Beiträge, S. 415). Das Wesen des Seyns ist seine Wesung,
seine Wahrheit, der Grund ist Ab-grund. So kommt das Unvordenkliche des Seyns und seine Wahrheit
zur Einwesung131. Die Wahrheit des Seyns ist der Pfad, den eine von seinen Möglichkeiten einschlägt.
von ihm selber ermöglichten fremden Da. In diesem Sinne sollten wir auch die Rede von einer Rekonstruktion und Neugründung der Metaphysik betrachten. 131 G. Figal (Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, a.a.O.) spricht von der 4. Dimension der Zeit (S. 348), welche als das Ermöglichende (S. 285, 348 f.) das immer wieder anfangende Begegnen ermöglicht (S. 348, 350). So ist sie die Präsenz aller zeitlichen Schemata (S. 341) die Einheit von Entdecken und Entdecktem (S. 340). Diese Einheit als Praesenz sollten wir aber nicht als letzten intentional-transzendentalen Horizont und als Ermöglichung des Begegnens von Seiendem, sondern als den direkten Anspruch und Auftrag des Seins auf das Dasein betrachten. So ist die Wahrheit etwas mehr als das Sich-zeigen des Seins und das phänomenologi-sche
173
3. 2. 3. Die Wahrheit des Seyns ist nicht seine Verwirklichung, sondern sein Entspringen an sei-ner entgegengeworfenen Grenze
Die Wahrheit des Seyns ist nicht die Verwirklichung des Seyns, das Erscheinen des Wesens,
sondern sie ist umgekehrt Wesen des Seyns, die Wesung des Seyns in seiner Wahrheit. Nur so kommt
das Seyn in sein Entspringen und ist wahrhaft als un-endlich dargestellt. „Wenn das Seyn als unend-
lich gesetzt wird, dann ist es gerade bestimmt. Wird es als endlich gesetzt, dann wird seine Ab-
gründigkeit bejaht. Denn das Un-endliche kann ja nicht gemeint sein als das verfließende, nur sich
verlaufende Endlose, sondern als der geschloßene Kreis!“ (Beiträge, S. 269). Das Seyn hat in seinem
Grund seine Unendlichkeit als Möglichkeit seiner Darstellung aus einem den Fehl der Wahrheit erlei-
denden Ursprung. Das Sein ist nicht unendliches Sich-verwirklichen, sondern es fragt sich in einem
entgegengeworfenen Dasein. In diesem Da kommt das Seyn in seine Wahrheit und in seinen Ur-
sprung, von dem es entspringt132. Daher ist es kein Ausfließen, sondern Strom, in welchem der Ur-
sprung aus seiner Grenze wieder entspringt. „Das Seyn als Schicksal hat den Ursprung nicht im Rü-
cken als ein einmal Verhängtes, Zugewiesenes, als bloß unabänderliches >Los<, als Bestimmung, die
einfach ab- und über das Folgende wegrollt, sondern das Überstehen des Bruchs und das Zurückwol-
len aus diesem in den Ursprung kennzeichnen das Seyn als Schicksal“ (Hölderlins Hymnen, Bd. 39,
WS 34/35, S. 235). Das Seyn ist nicht seine Identität und seine Verwirklichung, actus purus, sondern
seine Wahrheit, welche es als Möglichkeit an seiner Grenze verlangt133, und hat sein Eigenes in der
Ferne. Das Seyn ist somit nicht Realität des Realen und absolute Position, sondern es bewährt sich, es
konstituiert sich in seiner Darstellung aus dem Nichts und ist nicht Selbstverwirklichung, Prädikation
Zeigen-lassen des Daseins (gen. sub.). Sie ist der übermäßige Auftrag am Dasein und die Verwicklung im Da, welche nicht den Anfang oder ein immer wieder schlichtes anfangendes Begegnen ausmacht, sondern die Wahr-heit aus dieser Verwicklung und aus dem aufgesprürten Fehl am Dasein. In diesem Sinne gibt es doch eine ent-zogene Gewesenheit und eine aus diesem Entzug und dem Fehl am Da entspringende und alles übertreffende Zukunft, als Erfüllung und Darstellung der Gewesenheit und der fehlenden Wahrheit. 132 Dagegen spricht R. Brander in bezug auf Heidegger von einer Meta-historik an der Stelle der Metaphysik (Heideggers Begriff der Geschichte und das neuzeitliche Geschichtsdenken, Wien 1994, 17 ff.). Dasselbe inten-diert B. Mikulic und unterscheidet die unvermittelte Geschichte des Seins von der Geschichte des Denkens (Sein, Physis, Aletheia, a.a.O.). In diesem Sinne könnte man auch das Verständnis von P. L. Coriando hinzuzäh-len, demzufolge eine Rückkehr des Daseins in das Sein aus seiner Enteignis als vorbereitendes Mitvollziehen des Vollzugs des Seins angesehen wird (Der letzte Gott als Anfang, a.a.O.). Aber auch, wenn man wie D. Melcic von einer Rekonstruktion und Neugründung der Metaphysik bei Heidegger ausgeht (Heideggers Kritik der Me-taphysik, a.a.O.), hat man es mit derselben Voraussetzung eines unvermittelten und immer wieder anfangenden Anfangs zu tun. Dasselbe versteht auch O. Pugliese und spricht von einer Rekonstruktion des Weges vom An-fang, von Wiederholung und Zusammengehörigkeit von Vermittlung und Unmittelbarkeit (Vermittlung und Kehre, a.a.O.). Solche Versuche sehen nicht das Ermöglichen des Seins als direkten Anspruch auf das Da-sein, als Verwicklung, Entzug und Entspringen aus diesem Da. 133 So ist das Sein als Ermöglichendes nicht seine Verwirklichung, nicht eine totale ontologische Funktion und endgültige Grundlage der Metaphysik (D. Melcic, a.a.O., S. 120), welche als leerster und letzter Horizont das Seiende verwirklicht, sondern als Ermöglichendes ist es Verwickeln am Fremden, Entzug und Wesen in und aus diesem fremden Da. In diesem Sinne überbietet die Möglichkeit und Ermöglichung die Wirklichkeit und ist nicht reaktiv mitanwesend und absetzend.
174
eines Subjekts. Diese Zugehörigkeit des Eigenen zur Ferne und des Heimischen zum Unheimischen ist
das Leitmotiv der Vorlesung „Hölderlins Hymne, « Der Ister»“ (Bd. 53, SS 42). Das Seyn kommt
immer aus dem Entgegengeworfenen und Fremden in seine Wahrheit und ist kein Fortfließen seiner
Identität. „Vielmehr ist das ganze Wesen des Ursprungs der gefesselte Ursprung in seinem Entsprin-
gen. Allein, das Entspringen selbst wird erst, was es ist, im Verlauf des ganzen Stromlaufs, es be-
schränkt sich nicht auf den Beginn des Laufs. Der ganze Stromlauf gehört zum Ursprung. Voll ist
dieser erst genommen als der gefesselter Ursprung in seinem Etnspringen als dem Entsprungenen“
(Hölderlins Hymnen, WS 34/35, S. 202).
Heidegger spricht vom Strom in den Beiträgen (S. 476) und in Nietzsche I (S. 569). Die Ströme
sind die Halbgötter, welche den Fehl Gottes erleiden. Der ganze Strom entspringt in einem engegen-
geworfenen Bruch und Gegenstoß134. Deswegen entspringt das Ganze des Stromes aus diesem Ort, es
entspringt als Unvordenkliches aus einem Ab-grund. Die Wahrheit des Seyns ist immer der Ursprung
aus einem Da135 und nicht bloß der überall fortwährende, aus einem einzigen Anfang begonnene und
zum Ende zerfließende Fluß, die Wanderschaft. „Der Strom ist die Wanderschaft des geschichtlichen
Heimischwerdens am Ort der Ortschaft. Der Strom ist Ortschaft und Wanderschaft“ (Der Ister, SS 42,
S. 39). So gehört zum Wesen des Seyns seine Wahrheit. Der Bruch und das Entspringen seines An-
dersseins aus diesem Bruch ist nicht Mangel, sondern seine Größe (Hölderlins Hymnen, WS 34/35, S.
234).
3. 2. 4. Der Zeit-Raum
Dieses Zusammengehören von Ortschaft und Wanderschaft ist das Zusammengehören von
Raum und Zeit, der Zeit-Raum, die Endlichkeit der Zeit. Die Zeit ist nicht der leerster Horizont als
Anschauungsform des Seins, sondern das Seyn ist selbst zeitlich, aber nicht innerzeitlich. „Ort ist eine
Bestimmung des Raumes. Wanderung, Bewegung ist Ablauf in der Zeit. Wenn schon Ortschaft und
134 Dagegen sieht U. Guzonni, daß die Geschichte des Seins vom Sein auf den Menschen geht, ohne umgekehrt verfahren zu können (Anspruch und Entsprechung und die Frage der Intersubjektivität. In: U. Guzonni (Hsg.), Nachdenken über Heidegger, a.a.O., S. 131). Eine zweite Kehre wäre bei Heidegger zu diagnostizieren, wenn das Sein vom Menschen bestimmt würde (S. 132). Das ist genau der Fall, trotzdem markiert dies weder eine erste noch eine zweite Kehre bei Heidegger, sondern schlicht und ergreifend den operativen Aufgang der imma-nenten Voraussetzungen seines frühen Werks. 135 In diesem Sinne ist die in der einschlägigen Bibliographie einzigartige Interpretation H.-G. Gadamers her-vorzuheben, nach welcher das Sein des Da nicht transzendentale Bedingung oder transzendentale Selbstauffas-sung der Fundalmentalontologie ist, sondern das, was sich ereignet, wenn Dasein ist (Sein, Geist, Gott. In: a.a.O., Freiburger Universitätsvorträge, S. 53). Außerdem liefert O. Pöggeler einen ähnlichen Beitrag, wenn er von einer Topik aus der Rhetorik und Hermeneutik spricht (Dialektik und Topik. In: Hermeneutik und Dialektik Bd. II, a.a.O.). So sind die Topoi atomare Elemente, Klischees als Quellen der Sprachgeschichte, in welchen ein Wort weder spekulativ in einer Dialektik vermittelt noch in einer Tradition übergeschichtet wird (S. 288f.). Die-se Topologie des Seins ist allerdings nicht einfache Problemübung, sondern transzendental-eschatologische Sprachkritik (S. 286). Die Topoi des Seins sind nicht nur topologisch Orte des Wahrheitsgeschehens, sondern auch Orte einer utopischen Ortssuche (S. 299). Die vorliegende Arbeit sieht sich ausdrücklich in der Nachbar-schaft dieser beiden Aufsätze.
175
Wanderschaft so ursprünglich zusammengehören, wie behauptet ist, dann bietet sich die Zusammen-
gehörigkeit von Raum und Zeit als das an, was die Einheit von Ort und Wanderung durchherrschen
muß“ (Der Ister, SS 42, S. 53). Das Seyn ist genauso wenig das Unendliche wie auch seine Zeit. Diese
ist quasi räumlich geworden und versammelt sich in einem Ort, der nicht innerzeitlich präsent ist. Man
kann sich nicht die Zeit als eine absolute, unendliche Reflexionsform vorstellen, sondern man kann
nur an der Zeit, an die man geworfen ist, zeitlich sein, und so auch zukünftig sein. Wie das Dasein
nicht Sein anderswoher und anderswohin aus einem vor- und nachgehenden auf einen realen entwer-
fenden Sinn versteht, sondern es schon zu seiner Wahrheit entgegen geworfen und als solche in Positi-
on gebracht hat, so ist es auch in der Zeit und im Raum, sofern es zu der Zukunft steht und von der
Gewesenheit beauftragt ist. „Wo aber, und das heißt doch sogleich: in welchem Raum, ist der Behälter
«Raum» selbst? Und «wann» (zu welcher Zeit) ist der Behälter Zeit selbst? Oder ist der Raum selbst
nicht irgendwo und die Zeit selbst nicht irgendwann? Solange wir den Raum und die Zeit noch denken
als in einem Raum und in einer Zeit vorkommend, denken wir noch nicht den Raum selbst und die
Zeit selbst. Wir müssen also darauf verzichten, Raum und Zeit als Gegenstände «zwischen» anderen
Gegenständen zu denken“ (Der Ister, SS 42, S. 55).
Die Zeit hält an. Die Zeit ist selbst zeitlich, und sie hat keinen weiteren Horizont. Sie steht an
ihren Grenzen. Sie ist nur Augenblick. Das Dasein kann die Zeit denken, soweit es in der Wahrheit der
Zeit steht, diese Wahrheit ist, vom verlangenden Anspruch der Gewesenheit beauftragt ist und zu der
Zukunft steht. Der Augenblick, das Ereignis als Eräugen, hat kein bestimmtes höheres Wohin, sondern
er versammelt sich an seiner Grenze. So gründet die Geschichte des Seyns abgründig in der Zeitlich-
keit des Daseins und verlangt ihre Wahrheit am Ort eines Gegenstoßes, an dem sie entspringen, sich
darstellen kann. „Der Weg zum Wesen der Geschichte, aus der Wesung des Seyns selbst begriffen, ist
«fundamentalontologisch» vorbereitet durch die Gründung der Geschichtlichkeit auf die Zeitlichkeit.
Das bedeutet im Sinne der in «Sein und Zeit» allein leitenden «Seinsfrage»: Die Zeit als der Zeit-
Raum nimmt in sich das Wesen der Geschichte zurück; sofern aber der Zeit-Raum der Abgrund des
Grundes, d.h. der Wahrheit des Seins ist, liegt in seiner Auslegung der Geschichtlichkeit die Verwei-
sung in das Wesen des Seins selbst“ (Beiträge, 33). Es könnte aber doch so sein, daß diese Grenze in
eine offene und leere Zukunft führt und die Zeit ein punktuelles Zwischen ist, in welchem kein Raum
entstehen kann. So sei der Augenblick das Moment des unmittelbaren Überschreitens in einen anderen
abgesonderten, gleichwohl nicht intentionalen Zeitraum.
Dieses Entspringen aus einem Bruch, einem Zwischen wollen wir im folgenden näher in den
Beiträgen betrachten, um so das in der Vorlesung „Hölderlins Hymnen“ aus dem SS 34/35 und der
Vorlesung „Der Ister“ des WS. 42 über den Strom, den Ort und die Wanderschaft Gesagte im Kontrast
genauer verfolgen zu können.
176
3. 2. 5. Das Zögern und der neue Anfang
Das Seyn als Ursprung kommt nicht in seine erscheinende Verwirklichung, sondern es entzieht
sich und kommt als Ab-grund, am Dasein einwesend, in seine Wahrheit als sein gefragtes und fehlen-
des Nichtsein. „Ab-grund das Ausbleiben; als Grund im Sichverbergen, ein Sichverbergen in der Wei-
se der Versagung des Grundes. Versagung aber ist nicht nichts, sondern eine ausgezeichnete ursprüng-
liche Art des Unerfüllt-, des Leerlassens; somit eine ausgezeichnete Art der Eröffnung“ (Beiträge, S
379). Der Grund kommt nicht an eine Grenze, nach der das Gegenteilige, das Leere und Offene oder
das ganz Andere existiert, sondern die Versagung ist ein ruhendes Nicht-sich-verwirklichen-wollen.
Daher öffnet sich eine Lichtung als Möglichkeit des unerfüllten Grundes und nicht als Gegenüberste-
hen eines vorhandenen Dispositums. „Ab-grund ist die zögernde Versagung des Grundes. In der Ver-
sagung öffnet sich die ursprüngliche Leere, geschieht die ursprüngliche Lichtung, aber die Lichtung
zugleich, damit sich in ihr die Zögerung zeige. Der Ab-grund ist die erstwesentliche lichtende Verber-
gung, die Wesung der Wahrheit“ (Beiträge, S. 380). Im Ab-grund kommt der Grund in seine Wahr-
heit, aber nicht als seine Verwirklichung, sondern als Sich-entziehen und Sich-aussetzen im Fremden
und so als verborgene Wahrheit, lichtende Verbergung. Diese Leere und Zögerung gehören allerdings
zum Grund. So entsteht ein Raum der Zögerung. Das Seyn geht unmittelbar weder in seine Verwirkli-
chung noch in ein Anderes. Es zögert und bekommt einen Gegenstoß, es kehrt in sich zurück und war-
tet. Das Zwischen als Augenblick ist der Raum der Zögerung - des Rückschlags in den Anfang für den
Start eines neuen Anlaufs - und nicht ein punktuelles „Zwischen“ als Übergang in ein ganz Anderes.
Das Seyn versammelt sich innerhalb seiner selbst in seinem Entzug136 und in seiner Zögerung. Es ist
der Reichtum von Möglichkeiten, in denen es aus seinem (und als) Entzug und sich fragenden Fehl
wiederkommen kann.
Im Entzug und Zurückbleiben, im Nicht-sich-verwirklichen-wollen scheint das Seyn doch auf
einem neuen Gang des Kommens zu stehen. „Der Wink ist das zögernde Sichversagen. Das Sichver-
sagen schafft nicht nur die Leere der Entbehrung und Erharrung, sondern mit diesen die Leere als eine
in sich entrückende, ent-rückend in Künftigkeit und damit zugleich aufbrechend ein Gewesendes, das
mit dem Künftigend auftretend die Gegenwart als Einrückung in die Verlassenheit, aber als die erin-
nernd-erharrende, ausmacht“ (Beiträge, S. 383). Die Zukunft aus dem Übergang ist nicht das Überge-
hen in das intentional Offene oder ins ganz Andere der Gewesenheit, sondern der Übergang auch des
entzogenen Anfangs und nicht sein Hinterbleiben als eines festen Anfangs. So kommt der gewesene
Anfang aus seiner Grenze her in seine Zukunft als Zukunft und ist das Gewesende und nicht das in
eine vorhandene Zukunft Übergehende. Diese Zukunft ist innerhalb des Seyns als gestimmt-
136 Dieser Entzug wird nicht als ein Moment im Sein aufgehoben, sondern das Sein enthält innerhalb seiner seinen Entzug, es ist Entzug und west in und aus diesem. Daher können wir nicht weiter von einer Phänomeno-logie der Geschichte des Seins wie P. L. Coriando (Der letzte Gott als Anfang, a.a.O.) und auch nicht von einer Rückkehr des Seins aus dieser begegneten Entfernung zu sich selbst sprechen (wie z.B. bei P. L. Coriando, a.a.O. und O. Pugliese, a.a.O.).
177
eingefügte, unerfüllte Leere, verborgene Lichtung, ermöglicht. Das Gewesene und Entzogene kommt
mit dem zweiten Anlauf als Gewesendes in seine Kunft, welche es mit seinem sich entziehenden Zö-
gern geschafft hat. So ist mit diesem Zögern ein neuer Anfang gebildet, vor dem ein Zeit-Raum als
Leere, lichtende Verberung, Reichtum von Möglichkeiten steht, zu denen der Anfang - die Zögerung
überschreitend - kommt. Ohne die Zögerung und den Entzug wäre der Übergang ein unmittelbares
Überschreiten in das vorhandene Leere, welches kein wesendes Überschreiten des Anfangs wäre, son-
dern das Trennen zwischen Vorher und Nachher innerhalb einer umfassenden zeitlichen Erstreckung.
Dieses Überschreiten ist so eine Darstellung des Gefragten und Fehlenden als verborgenen Anfangs,
seine Erfüllung und seine Zukunft und nicht ein Übergang in einen leeren oder vorhandenen Raum.
Solcherweise ist der Strom von seinem zögernden Entspringen ein in jedem Da entspringendes Ganze
- das Gewesende als das Künftigende. Aus diesem Überschreiten des Gewesenden aus seiner Grenze
her und nicht aus seinem Fortfließen entsteht Zukunft, welche erfüllt wird und Gegenwart ist. So ist
die Grenze und der Bruch nicht nur das Ende, sondern auch die Mitte als Anfang, welche den Entzug
innerhalb des Seyns ermöglicht und das Seyn in seine mögliche und entzogene Wahrheit wiederkom-
men läßt. In solchem Sinne spricht Heidegger in „Der Ister“ (1942) vom Gehen ins Heimische durch
das Unheimische, vom Eigenen im Fremden und von der Gastfreundschaft (z.B. 168 ff.).
3. 2. 6. Das Sichversagende kommt aber so nicht als der erste Anfang, sondern als wesende Mög-lichkeit und Schenkung aus einer inneren Fuge
Das Gewesende kommt aber gerade aus der Zögerung und Unentschiedenheit und ist nicht ein
Festgestelltes, welches mit souveräner Sicherheit wieder eintritt. Der Zeit-Raum seiner Wesung ist
geöffnet, aber er kommt gerade aus der allerdings nicht leeren, sondern sich fragenden und so ge-
stimmten Unentschiedenheit. „Die «Leere» ist ebenso und eigentlich die Fülle des Noch-
unentschiedenen, zu Entscheidenden, das Ab-gründige, auf den Grund, die Wahrheit des Seins Wei-
sende“ (Beiträge, S. 382). In der innerhalb des Seyns gestimmten, aber noch mit Unentschiedenheit
bereicherten Leere kommt der Grund als das Zögernde und Sich-entziehende wieder, aber eben nicht
mehr als der erste Anfang. Sein Wesen hat sich als der Ab-grund, das Sich-entziehen und das Sich-
versagen erwiesen. „«Weg-bleiben» als Sich-versagen (zögerndes) des Grundes ist Wesung des Grun-
des als Ab-grund. Und das Lichten, das im Sichversagen geschieht, ist kein bloßes Aufklaffen und
Aufgähnen (wÇor - gegen v…sir), sondern das stimmende Erfügen der wesentlichen Ver-rückungen
eben dieses Gelichteten, das jenes Sichverbergen in es hereinstehen läßt“ (Beiträge, S. 381). Die ge-
öffnete und eigeräumte Leere ist der Zeit-Raum des Wiederkommens des Unentschiedenen und ist
selbst nicht das Wiederkommen. Sie ist nicht der vorhandene Raum für den freien Einmarsch des ein-
malig Zurückgezogenen, sondern die Augenblicks-Stätte (a.a.O., S. 384) für dieses als das Gewesen-
de. Das Gewesende als der andere Anfang (a.a.O., S. 385) ist nicht mehr der erste Anfang, sondern es
178
kommt aus der lichtenden Verbergung, welche im Sein als gestimmter Entzug, sich fragender und
motivierender Fehl innewohnt und sein Wesen ist. „Die Offenheit des Lichtens der Verbergung ist
daher ursprünglich keine bloße Leere des Unbesetztseins, sondern die gestimmt stimmende Leere des
Ab-grundes, der gemäß dem stimmenden Wink des Ereignisses ein gestimmter und d.h. hier gefügter
ist“ (Beiträge, S. 381). Das Gewesende kommt aus der Fügung des Grundes im Abgrund wieder. Hin-
ter der Fügung des Grundes west und entspringt die Fügung des Abgrundes, eine Äqlom¥a Ävam°r.
Und in „Der Ister“ schreibt Heidegger: „Echte Erinnerung ist Zuwendung zum unerschloßenen Inwen-
digen des Gewesenen. Echtes Erinnern ist Ahnen. Vielleicht ist die Erinnerung sogar ein ursprüngli-
cheres Ahnen als dasjenige, das nur in ein Kommendes hinausvermutet. Und vollends wäre die Erin-
nerung dann die tiefste Ahnung, wenn das Kommende, worauf das Ahnen sonst geht, aus dem Gewe-
senen kommt“ (Der Ister, SS 42, S. 34).
So kommt das Sichversagende als Sichversagen letztendlich doch als wesende Möglichkeit und
Schenkung eines gestimmten Entzogenen und Fehlenden wieder, jedoch nicht als eine dialektisch
durch die Vermittlung des Daseins als Gegenstoßes erzielte Verwirklichung des ersten Anfangs.137
Das Kommende kommt als das Gewesene und nicht als das dialektisch in seiner Verwirklichung sich
vollendete Erste. Seine Zukunft ist nicht der Horizont seiner Verwirklichung, sondern ein Versäumnis,
eine verlorene Gewesenheit, ein Fehl und Ursprung aus dem Bruch und dem Nichts, aus welchem
eigentlich das „unerschloßene Inwendige des Gewesenen“, Entzogenen und Fehlenden wieder ent-
springt. Aus dem Bruch, der Grenze und dem Nichts entspringt das fehlende und verborgene Inwendi-
ge des Gewesenen. Das Seyn ermöglicht und fragt sich am Bruch des Fremden, am entgegengeworfe-
nen Dasein als seiner eigenen Grenze und Mitte und stellt sich aus seinem Entzug als Ursprung aus
einem sich vorgängig fragenden Fehl dar.
3. 2. 7. Der Tod als exzentrische Mitte des Daseins
Das Da des Daseins als Ort der Gründung und des verlangenden Anspruchs des Seyns ist nicht
eine in sich geschlossene Selbigkeit, sondern es hat sein Zentrum außer sich als Auftrag; es ist - wie
bereits gesagt - sich selber vorweg in der Wahrheit und als Wahrheit, als Logos des Seyns. In „Der
Ister“ sagt Heidegger: „Das Reißende und Gewisse der eigenen Bahn der Ströme ist es gerade, was
den Menschen aus der gewöhnlichen Mitte seines Lebens herausreißt, damit er in einem Zentrum au-
ßerhalb seiner und d.h. exzentrisch sei. Das Innenstehen der exzentrischen Mitte des menschlichen
Seins, der selbst «zentrische» und «zentrale» Aufenthalt im Exzentrischen hat seine Vorstufe in der
137 Deswegen können wir nicht von einer Wiederholung und Rekonstruktion des Anfangs nach der Metaphysik (D. Melcic, a.a.O.) oder vom zweiten Anfang nach der phänomenologischen Ontologie des Daseins (O. Pugliese, a.a.O., D. Thömä, a.a.O.) sprechen. Ebensowenig ist eine Rückkehr zum gewesenen Anfang möglich und ber-rechtigt, die vom Sein selber vollzogen wird und vom Dasein nur phänomenologisch mitvollzogen und als gewe-sene zum Anfang zurückkehrende Zukunft bloß vorbereitet wird (P. L. Coriando, a.a.O.).
179
Liebe. Die eigentliche Sphäre des Stehens in der exzentrischen Mitte des Lebens ist der Tod“ (Der
Ister, SS 42, S. 32 f.). Das Dasein ist das Zentrum des Anspruchs des Seyns und wohnt „zentral“ in
diesem, aber hat sein Zentrum selbst außerhalb seiner, in seinem Tod. Das Dasein ist das Erhalten und
die erleidende Verantwortung des Anspruchs des Seyns auf Wahrheit. Es läßt den dem Sein vorgängi-
gen Anspruch und Fehl an Wahrheit innerhalb seiner - am sterblichen Dasein - einwesen, aufspüren
und erleiden. „Das Sein zum Tode und Sein muß immer als Bestimmung des Da-seins begriffen wer-
den, das will sagen: das Da-sein selbst geht nicht darin auf, sondern umgekehrt schließt das Sein zum
Tode in sich, und mit diesem Einschluß erst ist es volles, ab-gründiges Da-sein, d.h. jenes «Zwi-
schen», das dem «Ereignis» Augenblick und Stätte bietet und so dem Sein zugehörig werden kann“
(Beiträge, S. 285). Das Dasein als Sein zum Tode ist nicht ein vorhandenes Ich, welches in seiner
Verneinung verendet, sondern es holt vorlaufend die Negation und das Nichts innerhalb seiner hervor
und ermöglicht das Nichtsein als Eigenes. Das Noch-nicht, der bevorstehende Tod, gehört zum Dasein
und ist nicht ein ausgelassener, vorhandener Teil (S. u. Z., S. 243). Das Dasein wird dieses Noch-nicht
nie einholen, und zwar deswegen, weil es in/an diesem Noch-nicht ein Nicht-mehr ist; es ist zwischen
Noch-nicht und Nicht-mehr. Das Noch-nicht ist sein Nicht-mehr, und beide fallen mit dem Dasein
zusammen. Bedeutet das, daß das Dasein ein punktuelles „Zwischen“ ist, eine Selbigkeit? Oder im
Gegenteil, daß das Dasein dieses Noch-nicht und Nicht-mehr als wesende Möglichkeit und nicht mehr
Wirklichkeit ist?
Das Dasein kommt als Sein zum Tode nie zu seiner Verwirklichung, es wird als Sein nie actus
purus und existentia, sondern trägt als vorlaufende Erschlossenheit den Tod und das Nichts - und so
auch sein Nichtsein - als Möglichkeit innerhalb seiner selbst. Das Dasein als Sein-zum-Tode trägt und
ermöglicht den Tod innerhalb seiner selbst als seine Mitte und seine höchste einwesende „letzte“ Mög-
lichkeit, aus welcher sein Sein kein sich verwirklichender Anfang, sondern ein Letztes aus der Mitte
ist. „Die nächste Nähe des Seins zum Tode als Möglichkeit ist einem Wirklichen so fern als möglich.
Je unverhüllter diese Möglichkeit verstanden wird, um so reiner dringt das Verstehen vor in die Mög-
lichkeit als die der Unmöglichkeit der Existenz überhaupt. Der Tod als Möglichkeit gibt dem Dasein
nichts zu «Verwirklichendes» und nichts, was es als Wirkliches selbst sein könnte. Er ist die Möglich-
keit der Unmöglichkeit jeglichen Verhaltens zu..., jedes Existierens. Im Vorlaufen in diese Möglich-
keit wird sie «immer größer», das heißt sie enthüllt als solche, die überhaupt kein Maß, kein mehr oder
minder kennt, sondern die Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz bedeutet“ (S. u. Z.,
S. 262). Das Dasein ist der Gegenwurf des verlangenden Anspruchs für die Wahrheit des Seyns, der
ab-gründige Ort seines Entzugs, des Erleidens seines Fehls aus der Sterblichkeit und die Augenblicks-
stätte seiner möglichen und unerfüllten wiederkommenden Schenkung. So ist der Tod nicht das Ver-
enden der Wirklichkeit des Daseins, sondern der Anfang seiner fehlenden Möglichkeiten. „Er ist als
äußerste Möglichkeit des sterblichen Daseins nicht Ende des Möglichen, sondern das höchste Ge-birg
(das versammelnde Bergen) des Geheimnisses der rufenden Entbergung“ (Moira, in: Vorträge und
Aufsätze, 1954, S. 248). Aus dem Tod und dem Nichts ist das Seyn selbst sein Sein, es ist welter-
180
schließend dargestellt und nicht als absolute Position innerweltlich prädiziert. Das gilt vorerst für das
Sein des Daseins als Existenz.
3. 2. 8. Die direkte Frage des Seyns an das Dasein und sein Entspringen aus dem Nichts
Die Leitfrage der Metaphysik hat mit der Frage nach dem Sein des Seienden angefangen. Sie
fragte das Seiende nach seinem Sein. Diese Frage war eine Frage, welche nach dem Warum als Reali-
tät des Realen, als dem Früheren und so auch alles Abschließenden, als dem Wozu fragte. Das Denken
des Seyns aber braucht weder das Warum noch das Wozu, weil seine Notwendigkeit keiner reflektier-
ten Fragestellung bedarf (Beiträge, S. 19). Allerdings gehört auch die Leitfrage zum Wesen und zur
Geschichte der Wahrheit des Seyns, sie ist aber nur aus diesem Anfang und Ende der Geschichte zu
verstehen und zu gründen. In ihrer Gründung aus der Grundfrage des Seyns würde sie ihre eigentliche
Fragerichtung und ihre ursprüngliche Ermöglichung und radikale Fragwürdigkeit, aus welcher sie
kommt, anerkennen. „Aber die Grundfrage hat auch als gefaßte Frage einen ganz anderen Charakter.
Sie ist nicht die Fortsetzung der Fragefassung der Leitfrage bei Aristoteles. Denn sie entspringt unmit-
telbar aus einer Notwendigkeit der Not der Seinsverlassenheit, jenes Geschehens, das wesentlich mit
bedingt ist durch die Geschichte der Leitfrage und ihre Verkennung“ (Beiträge, S. 233). Die Leitfrage
und die Metaphysik wurden von der ursprünglichen Frage des Seyns ermöglicht, und die Geschichte
der Metaphysik gehört zur Geschichte der Wahrheit und Unwahrheit des Seyns, wie auch das Dasein
schon in der Wahrheit oder Unwahrheit des Seyns steht. Die Leitfrage fragt vom Seienden aus nach
dem Sein. Die Grundfrage hingegen fragt aus dem Seyn heraus nach dem Dasein als Wahrheit des
Seyns. „Wahrheit als Festmachung und, weil Gleichmachung, immer notwendig für diejenigen, die
von unten nach oben blicken, nicht aber für die mit dem umgekehrten Blick“ (Beiträge, S. 224). Die
Frage des Seyns ist aber eine ursprünglichere und direktere Frage des Seyns an das Dasein für seine
Wahrheit. „Hier ist keine «Begegnung» mehr, kein Erscheinen für den Menschen, der zuvor schon
feststeht und das Erschienene fortan nur festhält. Das tiefste Wesen der Geschichte ruht mit darin, daß
die erklüftende (Wahrheit gründende) Ereignung erst jene entspringen läßt, die, einander brauchend,
erst im Ereignis der Kehre einander sich zu- und abkehren“ (Beiträge, S. 311). Hier ist mehreres ge-
sagt und angedeutet. In diesem Zusammenhang ist gesagt, daß die Wahrheit kein Sich-zeigen einer
Idee ist und ihre Sichtsamkeit, sondern der ursprüngliche verlangende Anspruch des Seyns auf das
Dasein.
Das Dasein läßt den Übergang des Seyns in seine Wahrheit in ihm einwesen und ist selbst der
Ent-wurf des Seyns, welches nicht in ein adäquates Gegenüber kommt, sondern als Weltendes und
Aufbrechendes direkt auf ein Da-sein vorstößt, aus dem beide (sc. Seyn und Dasein) entspringen und,
sich darstellend, Sein bekommen. „Die Übergangsstelle muß beides gleich hell in der Besinnung ha-
ben: das Herkommliche des Entwurfs des Seyns und das Andere: das Seyn als Entwurf, wobei auch
181
das Entwurfswesen sich nun gleichfalls nicht mehr aus dem Vorstellungshaften bestimmt darf, son-
dern aus dem Er-eignungscharakter des Seyns“ (Beiträge, S. 452). Das Seyn kommt am Dasein zu
seiner Wahrheit. Das Dasein verfügt über keine transzendentale Vorstellung, um die Wahrheit des
Seyns zu übertragen. Es spürt sich als Verweigerung und Fehl auf und liegt in der erleidenden Not
dieses Fehls. „Oder kommt dem Menschen die Ahnung des Seyns gerade nicht aus dem Seienden,
sondern aus dem, was allein noch dem Seyn gleichrangig, weil ihm zugehörig bleibt, aus dem Nichts?
Wie aber verstehen wir da das Nichts? (vgl. Der Sprung, 129. Das Nichts) Als das Übermaß der reinen
Verweigerung. Je reicher das «Nichts», umso einfacher das Seyn“ (Beiträge, S. 245). Und im nächsten
Abschnitt: „Wie aber, wenn das Seyn selbst das Sichentziehende wäre und als die Verweigerung wes-
te? Ist diese ein Nichtiges oder höchste Schenkung? Und ist gar erst kraft dieser Nichthaftigkeit des
Seyns selbst das «Nichts» voll seiner zuweisenden «Macht», deren Beständnis alles «Schaffen» (Sei-
enderwerden des Seienden) entspringt“ (Beiträge, S. 246). Das vom Seyn angesprochene Dasein erlei-
det138 den Entzug und den Fehl als den Ursprung der Darstellung des Seyns.
3. 2. 9. Das Erleiden des Fehls als Reichtum im „Harmonischentgegengesetzten“
Das Dasein west inmitten dieses Gegensatzes von Entziehen, Versagen, Erharren und Warten.
Die beiden widerstreitenden Gegensätze erwachsen aus einer Innigkeit und sind nicht von außen bei-
gefügt (Hölderlins Hymnen, WS 34/35, S. 117). Beide sind dasselbe. Der Entzug und das Zögern stei-
gern die Not und den Fehl und zeigen den Reichtum des ermöglichenden Möglichen und Fehlenden
an. Diese Innigkeit der Gegensätze und der Umschlag des Einen in das Andere ist ein harmonisches
Gesetz. „Es meint erstens höchste Kraft des Daseins. Zweitens: diese Kraft bewährt sich im Bestehen
der äußersten Widerstreite dessen, was in der Entgegensetzung eine ursprüngliche Einheit hat, das
«Harmonischentgegengesetzte»“ (a.a.O.). Das Dasein ist dieses gestimmte Innenstehen in diesem Ge-
gensatz, das Erleiden der Not und des Schmerzes (a.a.O., S. 135). Diese Zusammengehörigkeit und
Verwicklung ist aber Entgegensetzung, weil das Seyn in diesem verlangenden Anstoßen sich entzieht
und nicht als dasselbe wiederkommt, sondern in seine Wahrheit, seine welterschließende Darstellung
und sein Nichtsein (Sein aus dem Nichts) gelangt. Das Erleiden des Fehls ist somit kein unmittelbares
Wahrnehmen und Vorstellen eines Ausgebliebenen, Fehlgeschlagenen, sondern eben das Erleiden
138 R. Pocai vergleicht Heideggers Befindlichkeit mit Schellings offenbarungsdialektischer Erschließung des Absoluten. "Indem die PhOff die Vernunftbewegung mit einer Beziehung der Identität von Identität und Nicht-identität zwischen der Vernunft und dem Absoluten auf den Weg bringt, birgt sie das Potential zu einer Konzep-tion in sich, wonach die endliche Subjektivität weder bloß passiv einer übersubjektiven Macht ausgeliefert ist noch in Verkennung ihrer eigenen Ohnmacht diese restlos zu internalisieren trachtet. In Heideggers Modell hin-gegen wird menschliches Dasein spannungslos an eine übersubjektive Machtinstanz ausgeliefert" (Heideggers Theorie der Befindlichkeit, Freiburg-München 1996, S. 180 f.). Eine Philosophie der Endlichkeit, im Gegensatz zu einer Philosophie des Absoluten, kann nach Pocai nicht das Sein erschließen. Das Nichts und das Subjekt ist aber ein aufgehobenes Moment in einer absoluten Philosophie, während dagegen bei Heidegger die Endlichkeit des Daseins der unaufgehobene Ort des Ursprungs der Wahrheit des Seins ist.
182
eines Fehls in diesem harmonischentgegengesetzten Da. Dieser Fehl und diese Entgegensetzung wird
nicht in einem anderen Gang dialektisch aufgehoben und bewährt: wie das Erleiden eines Neugebore-
nen, dessen Mutter bei der Geburt gestorben ist, aus seinem Erleiden als aus einer „ursprünglichen
Einheit“ die entzogene Wahrheit erwartet, und nicht ein bestimmtes Versäumtes - welches der Neuge-
borene nicht kennenlernen konnte - aufsucht. Dieses Leiden der fehlenden und entzogenen Wahrheit
am Dasein ist die „ursprüngliche Einheit“ der „Entgegensetzung“ und nicht eine Aufhebung in eine
höhere und sie versöhnende Zusammengehörigkeit beider Entgegengesetzten. Ort der Einheit ist der
Ort der Entgegensetzung. „Dieses Leiden, darin das Seyn als Schicksal offenbar wird, ist jedoch nicht
ein bloßes Vermögen, ein gleichsam vorhandenes Schicksal nur aufzunehmen, sondern dieses Leiden
ist schöpferisch. Es erschließt und entwickelt die Not“ (Hölderlins Hymnen, WS 34/35, S. 175 f., siehe
auch S. 185). Der diesen Fehl Erleidende sucht und verlangt nach etwas, das er nicht transzendentallo-
gisch begründen und sich vorstellen kann. Der Grund des Daseins ist nicht eine Position, deren Aus-
bleiben als Fehl identifiziert werden kann, sondern er ist grundsätzlich der Fehl ohne ein Versäumen
und Verpassen eines festgestellten Grundes zu sein. Er ist Fehl aus Übermaß und nicht als Ausbleiben
(a.a.O., S. 209). Es ist Fehl aus einem aktiven Entzug und einem Anspruch auf etwas erst Fehlendes
und nicht Ausbleiben einer vorhandenen Realität und Wirklichkeit! Er ist nicht ein Fehl innerhalb
einer Ganzheit und Zusammengehörigkeit, welche dialektisch zusammengefügt werden könnte, son-
dern aus einer inneren Fügung, die den Fehl eines Abwesenden aus dem Da erleidet. Dieser Fehl wird
nie aus Bewährung einer Idee erfüllt, nie identifiziert, sondern ist selbst der Ursprung seiner Erfüllung
aus einer Verschenkung, die als Wahrheit-Unverborgenheit aus dem Nichts und dem Fehl dargestellt
wird. Die Entgegensetzung von Anspruch/Entzug und Erleiden des Daseins wird nicht höher in einer
äußeren Harmonie und Zusammengehörigkeit bzw. in einer höheren Idee und Realität aufgehoben und
befriedigt, sondern aus einer inneren Harmonie, welche das Entspringen des Fehlenden aus dem Er-
leiden des Fehls beim Dasein ist! Die Harmonie entsteht aus der Entgegensetzung, als Ankommen des
Gefragten und Erfüllenden aus dem Fehl als Fehl und nicht aus einer Aufhebung beider in einer höhe-
ren Einheit. Der Ort der Entgegensetzung und des Fehls ist zugleich der Ort der Harmonie, der Ur-
sprung der Erfüllung und Darstellung der gefragten Wahrheit. Das gefragte Seyn kommt selbst aus
dem Fehl in Darstellung, ist selbst die Erfüllung des Fehls und nicht seine rückgängige Beantwortung
aus einem Vorhandenen als einer absoluten Position, die als das Erfüllende oder Antwortende prädi-
ziert werden könnte.
Solche Erleidenden und Suchenden sind die Dichter und Halbgötter. „Ihr Tun und Leiden läßt
sich am Vorhandenen überhaupt nie bestätigen, es spricht immer gegen sie. Die Wahrheit ihres Seins
findet überhaupt nie eine angemessene Bestätigung, denn wenn dergleichen sich einstellt, dann ist ihr
Sein bereits aus der Überlegenheit herausgekommen, es ist gang und gäbe geworden und klein ge-
macht“ (a.a.O., S. 208 f.). Wir sollten aber an dieser Stelle hinzufügen, daß dieses Leiden echtes Er-
leiden des entzogenen Seyns ist und nicht ein übermäßiges wollendes Sich-vorstellen. Der Grund des
183
Daseins als Fehl ist exzentrisch. Deswegen wartet es auf keine Bestätigung außer der Verschenkung139
des entzogenen Gewesenden. Der Fehl und das Nichts werden nicht methodisch vermittelt, sondern
sind der eigentliche Ursprung für das An-kommen des Fehlenden.
3. 2. 10. Keine Energie und Teleologie eines Ontologems, welche sich als Erfüllung des Anfangs
am Ende erweist, sondern der erleidende Fehl als Wahrheit des Da
Die Frage der Wahrheit des Seins am Dasein ist direkte Frage an das Dasein, und dieses bietet
sich als Ort für die „Antwort“ an, welche nicht aus einer Realität her erklärt und zurückgeführt werden
kann; aus diesem dem Sein vorgängigen Erleiden der Frage und des Fehls der Wahrheit wird die
Wahrheit des Seins und sogar das Sein dargestellt. Nur so ist die Antwort nicht ein Vorstellungsinhalt
oder ein erklärender Grund, sondern die Erfüllung des Anspruchs auf eine fehlende Wahrheit. Die
innere Negation des Logos und der Als-Aussage als Erleiden eines Fehls läßt Wahrheit entspringen;
die dialektische äußere Negation vermittelt dagegen in ein Drittes, welches weder die Wahrheit des
einen Negierten noch die Wahrheit des anderen Negierten ist, sondern ihre Aufhebung in einem vor-
handenen Anderen, welches wesentlich keine Wahrheit ist, sondern Erklärung, Übergang der eigenen
Wahrheit in einem dritten, höheren Ansatz der Sache. Solche Wahrheit ist Unwahrheit, Erklärung - sie
139 Diese Verschenkung aus dem Fehl und der Not der Wahrheit kann keine Verwirklichung und Selbsterfah-rung des Begriffs sein. H. G. Gadamer verweist in diesem Zusammenhang auf die Erfahrung des Geistes bei Hegel, welche keine formaldialektische Aufhebung und äußere Reflexion ist, sondern wirkliche Erfahrung des Geistes im Sich-versöhnen mit dem Fremden (Wahrheit und Methode, a.a.O., S. 352). Die Erfahrung hat eine produktive Negativität, und in dieser erlangt der Erfahrene ein besseres (Verbesserung des alten nicht bloß neu-es) Wissen, einen neuen Horizont (S. 359). Mit Heidegger sieht H. G. Gadamer, daß Hegel nicht die Erfahrung dialektisch, sondern umgekehrt das, was dialektisch ist, aus der Erfahrung denkt (S. 360). Das ist eine Umkeh-rung des Bewußtseins, im Fremden und Anderen sich selbst zu erkennen. So ist die Wahrheit der Erfahrung nicht abgeschlossen, sondern immer offen für neue Erfahrung (S. 361). Diese Negativität der Erfahrung ist das Stehen in einer Frage, welche ein Erleiden ist und nicht ein methodisches Tun (S. 372). So öffnet die Frage einen Hori-zont und ermöglicht eine Horizontveschmelzung der beiden Gesprächspartner: sie ist nicht historische Rekon-struktion (S. 380). Damit haben wir eine Antwort auf eine wirkliche Frage (S. 380). Demgegenüber ist die völli-ge Aufklärung ein Phantom, der Horizont des Fragens ist immer offen (S. 383). Dieses Fragen und Gespräch hat eine Sprachlichkeit, welche ihr zugrunde liegt (S. 384). Die Verständigung in einer Sache setzt eine gemeinsame Sprache voraus, und eine gemeinsame wird gerade herausgearbeitet (S. 384). So kommen beide Gesprächspart-ner, unter der Wahrheit der Sache stehend, zu einer neuen Gemeinsamkeit, über die sie vorher nicht verfügten (S. 384). Wir sehen hier, daß H. G. Gadamer von Heidegger beinflußt ist. Die Dialektik ist keine formaldialektische Aufhebung, sondern eine Erfahrung in einem Da. Es geht aber um eine Erfahrung und Verbesserung des alten Wissens und nicht um ein Entspringen aus dem Da als Ereignis. Weiter ist die Frage als wirkliche Frage und Erleiden das Stehen vor einem und Öffnen eines neuen Horizontes und nicht das Rekonstruieren und Aufklären des Anfangs. Das Fragen aber, das in ein Aufklären führt, ist nicht Erleiden des Fehls eines Nichtseins, sondern das Fragen des Sinnes des Textes, welcher über den Urheber hinausgreift und durch die Hebammenmethode der Frage freigelegt wird. Daher ist auch die Sprache Voraussetzung des Gesprächs über eine Sache. Es geht so nicht um ein direktes Verlangen eines Nichtseins, welches aus dem sich fragenden und erleidenden Fehl des Da ent-springt, sondern um das Herausholen einer Verständigung aus dem Sinn der Sprache als einer neuen Horizont-verschmelzung im unendlichen "Anders Verstehen". Der Urtext ist der Fragende und der Interpret der Befragte, welcher antwortet. Die Antwort stammt aber aus dem Sinn des Textes und nicht aus dem Erleiden des Interpre-ten. Der Fortschritt ergibt sich so nicht aus dem Fehl und Erleiden im Da, sondern aus dem übergreifenden An-fang.
184
vollzieht auch nicht den Übergang von der Unwahrheit in die Wahrheit. Nur die innere Negation als
Erleiden des Fehls an Wahrheit ist der Ort ihres Aufbruchs und nicht bloß methodischer dialektischer
Beitrag140 für den formal-logischen Übergang in eine höhere dritte Stufe. Deswegen erweist sich in
der Dialektik der Anfang am Ende des Prozesses, welcher der eigentliche und höhere Ansatz und An-
fang der Wahrheit sein sollte und immer wieder als circulus vitiosus deus im Gegensatz zum letzten
Gott anfängt, um ein Anundfürsich-sein wieder zu werden. Die äußere dialektische Negation ist Ver-
neinung und Versetzung des Ganges der Wahrheit zum letzten und eigentlich ersten Grund der erklä-
renden Wahrheit und ist nicht Brechen der Substanzontologie und ihrer ontologischen Dialektik, wel-
ches nur die innere Negation des die fehlende Wahrheit erleidenden Daseins leistet. Die Wahrheit ist
keine Energie, Entelechie141 und Teleologie eines wirklichen Ontologems im Sinne eines Anfangs
oder seiner Dialektik, sondern die das Fehlende als Fehlendes ermöglichende innere Grenze des Logos
als erleidenden Fehls, aus welchem die gefragte und fehlende Wahrheit und das Sein zur Darstellung
kommen. Die Wahrheit ist nicht die Energie eines Anfangs, sondern die Erfüllung eines Fehls (am
Dasein) und inneren Selbstentzugs142 (der angesprochenen, sich entziehenden und fehlenden Wahrheit
des Seins). Die Wahrheit als Ankommen des Gefragten und als Erfüllung des Erleidens der fehlenden
Wahrheit am Ab-grund des Daseins ist Darstellung des Seins, sein Entspringen aus dem Nichts und
nicht Zurückführung, Aufhebung oder Prädikation des Seins als absoluter Position.
3. 3. Die Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Unwahrheit
Wir haben schon im ersten, aber auch in diesem Teil versucht zu zeigen, daß Heidegger schon
vor „Sein und Zeit“ das Dasein als Ort der Wahrheit, aber auch der Unwahrheit betrachtet. Das Dasein
ist kein verbindendes Ich, welches sich von seinen Konstruktionen und Leistungen zurückziehen und
deren Wahrheit oder Unwahrheit es kritisch und dialektisch in sich aufheben bzw. in neuen Versuchen
140 Dagegen ist im Verständnis von P.-L. Coriando das Da, aus dem die Zukehr zu dem Sein anfängt, nicht der Ort seines Entspringens, sondern die Mitte und das Zwischenspiel ein und derselben Bewegung des Seins (Der letzte Gott als Anfang, a.a.O., S. 55), dessen Entzug ein Phänomen von ihm ist und keine vermittelte Geschichte im Fremden (S. 53 ff.). Das Da als Mitte ist weiterhin der Wink des kommenden Anfangs nach seiner Enteignis aus diesem Ort (S. 84). So wartet dieses Zwischen auf die Rückkehr zu dem Sein (S. 95), welches als Ereignis nicht aus diesem Zwischen entspringt, sondern als gewesene Zugehörigkeit zum Sein (S. 98 f.) vom Dasein ausgewertet wird. Wir könnten sagen, daß dieses Zwischen nicht der Ort des Geschehens des Seins ist, sondern ein äußeres Datum und ein punktuelles Zwischen als formale Übergangs- bzw. Umkehrungs-stelle, welche auf das Geschehen des Seins optisch und phänomenologisch hinblickt und dieses bloß anschaulich markiert. Es geht nicht um den Zeitraum und den Tod als "Gebirg des Seins", als Entspringen des Seins aus seiner Grenze, aus dem Fehl und dem Nichts. 141 Über den Zusammenhang von Freiheit und Entelechie als Ermöglichung dessen, was am Anfang Ziel war, siehe: G. Figal, Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, a.a.O., S. 85 f., 89, 91 ff., 97, 101 (besonders 157, 285). 142 So können wir weder von einem unvermittelten Anfang als Geschichte des Seins sprechen (B. Mikulic, a.a.O.) noch von einer Vermittlung, Aufhebung der phänomenologischen Ontologie und Wiederholung des An-fangs als Vermittlung in eine Unmittelbarkeit (O. Pugliese, a.a.O.). Wir haben es auch nicht mit einer Rückkehr des Seins zu sich zu tun, welche sowohl als Entfernung als auch als Rückkehr nicht eigentliches Geschehen im und aus dem Fremden ist, sondern ein und dieselbe Bewegung des Seins um ein kehriges Zwischen bloß als Phänomen des Seins (P. L. Coriando, a.a.O.).
185
vom Reinen wieder aufnehmen könnte. Die Wahrheit und die Unwahrheit sind Existenziale des Da-
seins, und sie können nicht von diesem verobjektiviert betrachtet werden bzw. von einer freien und
reinen Position aus. Später bemerkt Heidegger über die in „Sein und Zeit“ erfolgte Behandlung der
Wahrheit und Unwahrheit: „Wenn es zu Bestimmungen kam wie: das Da-sein ist zugleich in der
Wahrheit und Unwahrheit, dann hat man diesen Satz sogleich moralisch-weltanschaulich genommen,
ohne das Entscheidende der philosophischen Besinnung zu fassen, die Wesung des «Zugleich» als
Grundwesen der Wahrheit, ohne ursprüngliche Fassung der Un-wahrheit im Sinne der Verbergung
(und nicht etwa der Falschheit)“ (Beiträge, S. 352).
3. 3. 1. Der Eintritt der Unwahrheit. Das Fehlen an Erfüllung
Wieso aber tritt die Unwahrheit ein? Weil das Sein am Dasein seine Wahrheit als seine welten-
de Darstellung aus dem Nichts verlangt und am Dasein einwesend zu dieser übergeht. Das Sein
kommt nicht zu seinem Sich-zeigen in adäquaten innerweltichen transkategorialen Formen. Das Sein
entzieht sich in seinem Verlangen und entzweit sich, das Nichts wohnt ihm inne und ist sein Wesen,
aus welchem das dem Sein vorgängige Gefragte ankommen kann. In dieser Entzweiung und Gabelung
der Wahrheit, welche eine innere im Sein ist, tritt die Wahrheit aus dem Fehl und der Abweseheit ein
und ist nicht innerweltlich ergreifende Wahl zwischen vorhandenen Prädikaten. In dieser inneren Ent-
zweiung ist die Unwahrheit schon ermöglicht und kann demzufolge auch faktisch eintreten, aber nicht
als falsche Korrespondenz mit einem Vorhandenen, sondern als Verdeckung des Fehls und seiner Un-
erfülltheit. Das Kriterium für das Erfüllen des Fehls an Wahrheit kann nicht außerhalb des Anspruchs
an das Dasein liegen. Die Unwahrheit ist nicht falsche Richtigkeit, die man gegenüber der richtigen
feststellen könnte, sondern Ausbleiben der Erfüllung. In der Unwahrheit fehlt es an etwas, welches
aber noch nicht wissen, noch nicht haben kann! Unter der Unwahrheit bleibt der Fehl immer noch
lebendig.
Im folgenden wollen wir versuchen, uns formalisierenderweise der Wahrheit ebenso wie der
Unwahrheit anzunähern: Wenn wir sagen A ist B, meinen wir Folgendes: A ist kein Vorhandenes und
schon Bekanntes und keine absolute Posizion, welche mit einem entsprechenden Prädikat verbunden
werden könnte, sondern es stellt uns in Frage und unter seinem direkten Anspruch auf eine unbekannte
und es darstellende Bestimmtheit. Für eine Weile gibt es eine Unentschiedenheit zwischen A und B.
Es gibt ein unentschiedenes Angesprochensein und eine Zögerung im Zwischen von A und B. B ist
keine Bestimmung, die dem bekannten A oder dem A als absoluter Position zukomme, sondern A geht
eigentlich in B, ins Neue, über. A kann nicht als A unmittelbar in B übergehen. Also kommt B nicht
von A, und A stellt einen Anspruch, aus welchem heraus es in B übergehen will. Woher kommt dann
A in B über? A kann nur aus dem Zwischen und aus der Unentschiedenheit in B übergehen. Eigentlich
geht es aber um keinen unmittelbaren und adäquaten Übergang aus A zu B und um kein Wiederkom-
186
men von A nach der ersten Zögerung und so um keine identische Bestimmtheit zwischen A und B. B
entspringt aus dem Zwischen und aus der Unentschiedenheit. A ist nicht mehr A, sondern B, welches
aus dem Zwischen des Anspruchs und des Fehls entspringt! Nur so sind synthetische Sätze möglich.
Wenn wie „A ist B“ sagen, meinen wir eigentlich: A ist nicht mehr A, sondern ist B geworden, und
zwar aus seinem eigenen Anspruch und Fehl heraus und nicht als Resultat irgendeiner Verwirkli-
chung! A ist A, weil B existiert! B ist Darstellung, Erfüllung des Fehls und des Sich-fragens bei A und
nicht Bewährung und Prädikation des Subjekts eines Satzes.
B entspringt aus dem angesprochenen Dasein und ist kein Vorhandenes, sondern das aus dem erlitte-
nen Fehl des angesprochenen Daseins Ermöglichte und Dargestellte. B als Gehalt liegt am Dasein und
ist „ideal“, es ist erst entsprungen und keine Realität. B ist im Fall der Wahrheit Erfüllung des An-
spruchs und des Fehls. Im Fall der Unwahrheit bleibt der Anspruch unerfüllt. A verschwindet nicht,
sondern stellt uns wieder in Anspruch, und der Fehl bleibt. B hat dem Anspruch des A nicht genügt
und ihn nicht be-wahrt. A ist so noch nicht verschwunden! B ist eigentlich kein Fehlschuß auf ein
Vorhandenes, sondern Unwahrheit. Es verdeckt die mögliche Wahrheit, kann aber nicht den Fehl er-
füllen, welcher in der Unwahrheit, und zwar aus der Unwahrheit, bleibt. Wenn A nicht entschwunden
ist, dann ist seine angesprochene und fehlende Wahrheit nicht entsprungen, es ist nicht aus dem Zwi-
schen in B übergegangen. B als Unwahrheit ist weder falsche Korrespodenz zwischen dem vohande-
nen A und den vorhandenen B, C, etc. noch Konstruktion und Schein des Ich, sondern Existenzial des
Daseins. Der Anspruch von A ist immerhin auf uns gerichtet, welche wir kein Ich sind, sondern das
unwahre B! So erleiden wir diesen Anspruch auf die fehlende Wahrheit dann, wenn wir in der Un-
wahrheit sind. Die mögliche Wahrheit C kann aus uns angesprochen und aus dem unwahren B, dem
Zwischen und dem Fehl entspringen. Zur Darstellung der Wahrheit reicht eine Prädikation aus Vor-
handenen nicht aus.
Wie wir schon in Teil III gesehen haben, betrachtet Heidegger bereits in der Vorlesung „Die Grund-
probleme der Phänomenologie“ aus dem SS 27 das Sein als Ermöglichung von Wahrheit in einem
degenerativen Sinne und nicht mehr in Form eines adäquates Wachstums, in welchem etwas auf ein
Wohin entworfen wird. Dasselbe Seinverständnis ist im gesamten Werk Heideggers involviert. In
seiner Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik“ kommt bereits das Nichts mit dem Sein zusammen.
Noch klarer ist es in der Schellingsvorlesung (Bd. 49, SS 41) geworden, in der die Freiheit Freiheit
zum Guten und Bösen ist. Eventuell könnte man versuchen, dem Seyn als ab-gründige Ermöglichung
von Wahrheit und Unwahrheit analog zu dieser Vorlesung über Schelling oder eben zu Schelling
selbst in dessen Freiheitsschrift habhaft zu werden.
187
3. 3. 2. Die Wahrheit ist die Un-wahrheit, weil sie keine Verwirklichung und kein Sich-zeigen ist, sondern ihr Einwesen und Entspringen am Fremden
Sofern die Wahrheit kein einfaches Sich-zeigen oder adäquates Übertragen ist, sondern das di-
rekte Verlangen von Wahrheit an einem entgegengeworfenen Dasein als Einwesung in ein Nichtsein
und in seine gefragte Darstellung, entsteht sowohl im Seyn als auch im Dasein eine ontologische oder
sogar vorontologische Spannung. Das Seyn verwirklicht sich nicht, kommt nicht in seine adäquate
wahre Form, sondern es verwickelt sich und verlangt Einwesen am Fremden und Darstellung als Er-
füllung eines vorgängigen gefragten Fehls. „Nur weil das Seyn nichthaft west, hat es zu seinem Ande-
ren das Nichtsein. Denn dieses Andere ist das Andere seiner selbst. Als nichthaftes wesend ermöglicht
und erzwingt es zugleich Andersheit“ (Beiträge, S. 267). Die Auswirkungen dieses Zitats sind zwar
durchaus interessant, auf sie wird aber erst im thematischen Zusammenhang des nächsten Paragraphes
eingegangen. Indem das Seyn in seine Wahrheit kommt, ist es nicht verwirklicht, und so entzieht und
verbirgt es sich, und seine Wahrheit wird aus seiner Verborgenheit und seinem Entzug aufbrechen und
nicht aus seiner Wirklichkeit. „Die Frage nach der Wahrheit ist die Frage nach der Wesung der Wahr-
heit. Die Wahrheit selbst ist jenes, worin das Wahre seinen Grund hat. Grund hier: 1. das, worin ge-
borgen, wohin einbehalten; 2. wodurch ernötigt; 3. wovon durchragt. Das Wahre: was in der Wahrheit
steht und so seiend bzw. unseiend wird. Wahrheit: die Lichtung für die Verbergung (Wahrheit als die
Un-wahrheit), in sich strittig und nichthaft und ursprüngliche Innigkeit (vgl. Gründung und Frankfur-
ter Vorträge), und dieses, weil Wahrheit: Wahrheit des Seyns als Ereignis. Das Wahre und das Wahre
sein zugleich bei sich das Unwahre, das Vestellte und seine Abwandlungen“ (Beiträge, S. 345). Die
Wahrheit ist nicht Wahrheit als Un-verborgenheit oder Entdecktheit aus der vorhandenen Verborgen-
heit der Sache selbst. Erst aus der fehlenden und dargestellten Wahrheit läßt sich das Sein anwesen.
Die Wahrheit ist kein originäres Erscheinen, sondern der sich verbergende Entzug in der entgegenge-
worfenen Grenze des Daseins, aus dem das Wahre, die wiederkommende Wahrheit als das Gewesende
entspringt. „Die Lichtung der Verbergung meint nicht die Aufhebung des Verborgenen und seine Frei-
stellung und Umwandlung ins Unverborgene, sondern gerade die Gründung des abgründigen Grundes
für die Verbergung (die zögernde Versagung)“ (Beiträge, S. 352). Die Wahrheit ist weder eine Un-
Verborgenheit aus dem eigenen verborgenen, vorhandenen und noch nicht enthüllten Wesen noch ein
einfaches Sich-zeigen dieses Wesens, sondern sie ist als Wahrheit zugleich Verborgenheit in ihrem sie
gründenden Abgrund. Die Wahrheit kommt nicht als erscheinende Bewährung einer vorhandenen Idee
und absoluten Position, sondern sie entspringt aus ihrer erwiesenen Verborgenheit in einem entgegen-
geworfenen Da, in welchem die vorgängige Frage nach der Wahrheit des Seins als affektiv-reflexiver
Fehl der Ursprung der Wahrheit ist. Sie kommt nicht als vorhanden verborgene und noch nicht ent-
hüllte Wahrheit, sondern eben aus der Verborgenheit als Verborgenheit, welche den Fehl und den
188
Entzug der Wahrheit ernst erleidet. Dieses Entspringen ist eine innere Zusammengehörigkeit143 von
Wahrheit und Unwahrheit und nicht eine Dialektik und Vermittlung der Unwahrheit. Das Dasein ist
seine Wahrheit oder Unwahrheit, welche von der Wahrheit des Seyns ermöglicht wurde, sofern diese
als Un-wahrheit im oben dargestellten Sinne einwest.
Deswegen ist die Metaphysik kein Irrtum, sondern sie gehört zum Wesen der Wahrheit. „Die
Auseinandersetzung des anderen Anfangs mit dem ersten kann nie den Sinn haben, die bisherige Ge-
schichte der Leitfrage und somit die «Metaphysik» als einen «Irrtum» nachzuweisen. Damit wäre das
Wesen der Wahrheit ebenso verkannt wie die Wesung des Seyns, die unerschöpflich bleiben, weil sie
das Einzigste sind für jedes Wissen“ (Beiträge, S. 188). Wie schon in Teil IV ausgeführt wurde, ist die
Metaphysik kein Fehler des Daseins, sondern dieses gehört zu ihrer Geschichte als Ort der Wahrheit
des Seyns. Die Wahrheit kann nur aus der Not der Wahrheit ankommen und dargestellt werden und
nicht aus einem gereinigten Ich, welches auf ein Reales diese entwerfen würde. Die Wahrheit ist das
Ungedachte des Gedachten, auch wenn dieses ein Irrtum ist. „Ausschau halten und zwar innerhalb des
schon Gedachten nach dem Ungedachten, das sich im schon Gedachten noch verbirgt. Durch solches
Warten sind wir bereits denkend auf einen Gang in das zu-Denkende unterwegs. Der Gang könnte ein
Irrgang sein. Es bliebe jedoch einzig darauf gestimmt, dem zu entsprechen, was es zu bedenken gibt“
(Was heißt Denken?, in: Vorträge und Aufsätze, 1952, 133 f.).
3. 3. 3. Die Dialektik und Unbedingtheit des Nihilismus als Vollendung der Metaphysik
Die Geschichte der Metaphysik erfährt bei Nietzsche ihre Vollendung. In ihrer Vollendung ist
der Mensch als Subjekt in der Metaphysik unbedingt geworden. So ist das Ende der Metaphysik die
Umkehrung des Anfangs. „(...) Nietzsche als übergehender Denker zuletzt aus dem Platonismus und
seiner Umkehrung herausgedreht wird, kommt es nicht zu einer ursprünglich-überwindenden Frage-
stellung nach der Wahrheit des Seyns und nach dem Wesen der Wahrheit“ (Beiträge, S. 219). Die
Wahrheit als Richtigkeit steigert sich ins Unbedingte hinauf (a.a.O., S. 201). Das Ich ist der Grund der
Richtigkeit, es setzt eigentlich die Bedingungen der Wahrheit als Richtigkeit. Der Weg zu dieser
Vollendung war dialektisch, wobei das Nichts das verneinende und ins Unbedingte als Ziel schließen-
de Nichts innerhalb des „programmatischen Nihilismus“ war (Beiträge, S. 267). Solches Nicht ist wie
143 Vor diesem Hintergrund kann man Heideggers Beschäftigung mit der Kunst und dem Kunstwerk unter die Lupe nehmen. G. Faden stellt Heideggers Auseinandersetzung mit der Kunst dar (Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhetik, Würzburg, 1986). So ist die Wahrheit im Kunstwerkaufsatz nicht mehr die Ent-decktheit wie in S.u.Z. (S. 36 ff.). G. Faden erwähnt, daß nach der Ansicht O. Pöggelers (Philosophie und Politik bei M. Heidegger, Freiburg-München 1972) Heidegger nach der Enttäuschung in der Politik auf die Kunst stößt. Dagegen sehe von Hermann in der Kunst das Bezeichnen der Wahrheit als Verborgenheit und Unverborgenheit (S. 45). Man könnte sagen, daß der zweite Vorschlag inhaltlich gerechtfertigt ist, obwohl der erste historisch berechtigt sein mag.
189
dasjenige Hegels144, das verschwindet und nur die Bewegung der Aufhebung im Gang hält (Beiträge,
S. 264). In der Unbedingtheit und Vollendung der Metaphysik ist der Mensch das eigentliche subjec-
tum seiner von ihm gesetzten Bedingungen. Der Nihilismus ist ekstatischer Nihilismus als Wille zur
Kunst des bewußt ästhetischen Scheins. Nietzsche fragt aber nicht, ob damit der Mensch in seiner
Wahrheit bzw. Unwahrheit und in seinen von ihm gestellten Bedingungen und Begründungen seiner
selbst ab-gegründet ist und eigentlich da sein Wesen hat (Beiträge, 364 f.). Dagegen sieht er den Men-
schen als das eigentliche und wahre Subjekt seiner unwahren Bedingungen. So kommt - wie gesagt -
der Gott wieder als circulus vitiosus deus und Weltgott, als innerweltliche und adäquate Prädikation
und hermeneutische Als-Auslegung eines Gottes am Anfang, eines summi entis und einer absoluter
Position, die undargestellt bleibt. Jede Gegenmetaphysik bleibt Metaphysik (Beiträge, S. 173, 317)
aufgrund des verbindenden und dialektischen Wechselsspiels der prädizierenden und auslegenden
Bedingungen mit ihrem eigentlichen, aber undargestellten Subjekt. Dieses problematische Wesen des
Nihilismus sehen wir auch im linken Hegelianismus. Hier geht es außerdem um das Problem der Sä-
kularisierung. In diesem Prozess scheint es so, als ob der Mensch seine Geschichte als seinen Schein
aufhebt.
Bleibt er so von seiner Geschichte unangetastet? Hat er Geschichte, oder ist er selbst Geschich-
te, und das hieße dann, daß er in seinem Schein, in seiner Geschichte und aus dieser weiter geht, wie
aus der Unwahrheit in die Wahrheit und nicht als Ich, welches von seiner Geschichte unberührt bleibt.
Was ist Säkularisierung? Kommt der Mensch wieder in die Welt als Nullpunkt? Ist das Ende der An-
fang? Ist der Mensch der Erbe dieses Prozesses? Wo steht er, wenn er seinen Schein als eigentlicher
Verursacher erbt? Gerade nicht auf diesem Schein? Oder wird dieser Prozeß annulliert? Mit welchen
Mitteln kann diese Geschichte rückgängig gemacht werden? Wenn der Schein und die Bedingungen
notwendig für die Steigerung des Ich sind, wieso ist dieses unbedingt? Oder ist es unbedingt nur in
Anbetracht seines Todes, wobei es von jeder Bedingung befreit wird, und sagen kann: „Ich sterbe“? Ist
die konsequente Form des Nihilismus und der Ästhetik des bewußten Scheins die Todesphilosophie?
Oder ist der Mensch nicht der Erbe, das Subjekt seiner von ihm in hyperbolischer Naivität gestellten
Bedingungen, so daß er kein verbindendes und sich bedingendes Ich ist? Gibt es eine echte Naivität,
welche das bedingende Ich trotzalledem nicht in seinen Bedingungen bedingt? Kann eine solche un-
weltliche Naivität in der Welt existieren?
Heidegger sieht in „Identität und Differenz“, daß das Ziel und der Grund der Theologie die On-
tologie war. Deswegen geht es um Onto-theo-logik. Dieselbe Frage, die Leitfrage um das Seiende,
bleibt bis zum Nihilismus Nietzsches bestehen. Wenn dies so ist, wird gefragt, inwiefern es überhaupt
um eine Säkularisierung geht. Der alte Ansatz bleibt. Das ontotheologische Denken bleibt. Vielleicht
144 Auch in dieser Hinsicht gilt, was K. Axelos (Einführung in ein künftiges Denken, a.a.O., S. 17 ff.) über den Kommunismus sagt, nämlich daß es nie zu einer vollkommenen Aufhebung der Wirklichkeit kommt, daß er nicht selbst zum Ideal der Wirklichkeit wird, sondern er ist die Bewegung, welche die Wirklichkeit immer auf-hebt und niemals ihr Ende ist.
190
kommen die Götter zurück.145 Die Götter aus der Leitfrage und nicht der letzte Gott. Der Mensch er-
weist sich als innerweltliches Ich, welches nicht aus der Not seiner Unwahrheit diese darzustellen,
sondern dieselbe Leitfrage durch eine andere Vorstellung von Sein prädizierend oder innerweltlich
auslegend zu beantworten versucht. Er ist ein innerweltliches Ich mit dem Apparat des Seins als Ideen,
Kategorien, bewußt ästhetischem Schein u.s.w., welches das Seiende dadurch zu erklären, beantwor-
ten, gründen und bewähren versucht. Er ist nicht Gedachtes, Weltlichkeit, Dasein für die Darstellung
der fehlenden Wahrheit. Max Stirner versucht in seinem Werk „Der Einzige und sein Eigentum“ die-
sen dialektischen Schein zu kritisieren. Ist der Mensch der Erbe seiner Ideen, ändert sich nichts. So
wendet er sich gegen die Geschwister Bauer und gegen L. Feuerbach. Er radikalisiert die Kritik der
Geschwister Bauer an L. Feuerbach, die die von diesem vollzogene Säkularisierung des Religiösen auf
das Politische übertragen haben. M. Stirner radikalisiert auch das Politische, indem er die Säkularisie-
rung auf das quasi leibhaftig Existenzielle anwendet. Es geht nicht mehr um dialektische Aneignung,
denn dann ist der Mensch das, was er innehat, wessen er sich als unbedingtes Subjekt erwiesen hat.
Der Nihilismus ist die dialektische Vollendung und Unbedingtheit der Metaphysik und ihres
Subjekts. Der Nihilismus als Ende kommt dem anderen Anfang am fernsten und am nächsten zu-
gleich. Wieso eigentlich? Wenn der Nihilismus den Gang der Aufhebung umkehrt, und wenn der
Mensch, statt das eigentliche und wahre Subjekt seiner Wahrheit oder Unwahrheit zu sein, sich selber
in seinem Schein und in seinen Bedingungen aufhebt und sich als un-bedingender und eigentlich un-
bedingter Ort der Wahrheit oder der Unwahrheit erweist, ist der Nihilismus überwunden und die Me-
taphysik verwunden. „So ist die abendländische Metaphysik an ihrem Ende der Frage nach der Wahr-
heit des Seyns am fernsten und doch zugleich am nächsten, indem sie den Übergang dorthin als Ende
vorbereitet hat. Die Wahrheit als Richtigkeit vermag nicht ihren eigenen Spielraum als solchen zu
erkennen und zu begründen. Sie hilft sich, indem sie sich selbst in das Unbedingte steigert und alles
unter sich bringt, um so selbst des Grundes (so scheint es) unbedürftig zu werden“ (Beiträge, S. 201).
Das Ich als unbedingtes Subjekt wird sich nie der Metaphysik und des Nihilismus entziehen, weil es
verbindendes und bedingendes Ich bleibt. Nur das Dasein als Ab-grund des Grundes, als der Ort seines
direkten Anspruchs und seiner gefragten Wahrheit ist der Bedingungen, der Metaphysik und ihres
Nihilismus unbedingt und unbedürftig. „Dieser Standort, der sich selbst erst Raum und Zeit neu grün-
det, ist das Da-sein, auf dessen Grunde erstmals das Seyn selbst ins Wissen kommt, als die Verweige-
rung und damit als das Er-eignis. In der Grunderfahrung, daß der Mensch als Gründer des Da-seins
gebraucht wird von der Gottheit des anderen Gottes, bahnt sich die Vorbereitung der Überwindung des
Nihilismus an“ (Beiträge, S. 140 f.). Aus der Wahrheit oder Unwahrheit des Daseins wird ein letzter
Gott dargestellt - und nicht ein circulus vitiosus deus als summum ens und neuer Gott wieder vor-
gestelllt und prädiziert.
145 Über die Götter des 20. Jahrhunderts siehe: M. Frank, Gott im Exil, Frankfurt a.M. 1988.
191
Das Projekt des Nihilismus und der Säkularisierung ist somit unvollkomen geblieben. Das nihi-
listische Subjekt ist nicht der Ab-grund des Anspruchs auf die Darstellung der Wahrheit und hat das
Nichts und die Unwahrheit nicht als Fehl inne, sondern es ist das kritische und dialektische Ich, wel-
ches sich nur als das eigentliche und wahre Subjekt, das summum ens und die absolute Position seiner
unwahren Bedingungen erweist. Der Nihilismus bleibt im ursprünglichen Vorhaben der Onto-theo-
logik befangen: der Beantwortung und Erklärung des Seienden aus dem Sein als sich bewährender
absoluten Position. Dagegen ist das eigentliche Nichts der Ort der „Be-wahrung“ und Darstellung des
Seins, die Umkehrung des Satzes, das Sein aus seiner Wahrheit.
3. 3. 4. Die negative Dialektik des Scheins bei Nietzsche und Adorno
Wir könnten hier das Beispiel des bewußt ästhetischen Scheins im Fall des Nihilismus und der
negativen Dialektik erörtern.146 Die Musik ist nach Nietzsche der unendliche Strom des Werdens und
des Bildungslosen, welches sich in dieser darstellt. Der Strom der Musik kann sich aber in der Form
einer apollinischen Vision anschauen und erfahren, einer Verdoppelung des Scheins in einem anderen.
Neben der Musik und der Darstellung des Dramas tritt der erzählende Chor mit auf. Aus der Musik
und der Darstellung entsteht der erzählende Mythos. Der apollinische Bildschein verweist aber klar
auf den zu erklärenden Grund und hängt an diesem. „Jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in
einem gleichnisartigen Traumgebilde, unter der apollinischen Traumerscheinung sichtbar. Jener bild-
und begriffloser Widerschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt
jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichnis und Exempel“ (Geburt der Tragödie, KSA 7, S.
44). Der Strom wird in seinen Momenten durchsichtig. So ist das scheinlose Werden in einen musika-
lischen Widerschein übergegangen, und dieser ist auf den apollinischen Schein dieses Widerscheins
übertragen worden. Das Bild hat aber eine immanente Einheit und beansprucht ferner, eine eigene
Darstellungskraft zu haben. Deswegen, obwohl es sich zugunsten des scheinlosen Scheins auflöst und
ständig auf diesen hinausweist, tritt ein Moment auf, in dem es sich vom anderen Strom abtrennt und
auf den scheinlosen Schein nicht mit seiner Vernichtung, sondern mit seiner Abbildungskraft verweist.
Es wird dem scheinlosen Werden entgegengehalten und beansprucht, auf diesen positiv zu verweisen.
Trotzdem ist diesmal sein Anspruch der Grund seiner endgültigen Auflösung, sofern es als scheinhafte
Abbildlichkeit nicht gegenüber seinem Urbild den Anspruch immanenter Verweiseffizienz erheben
kann. Die Mittel seiner Aufhebung sind aber jetzt nicht die Selbstauflösung oder die Auflösung von
einem anderen Schein am Strom der Scheinproduktion, sondern eine reflektierte Anwendung des An-
spruchs des Scheins gegen sich selbst, welcher so zum Opfer seiner eigenen immanenten Verwei-
sungskraft auf das Urbild wird. Sofern er selbst auf ein Urbild in unvollständiger Form verweist, sollte
er sich jetzt zugunsten eines anderen, besser verweisenden Scheins auflösen. So tritt erstens eine posi-
146 Für den bibliographischen Hinweis und weitere Anregungen bedanke ich mich herzlich bei K. Maras.
192
tive Dialektik auf, und zweitens kommt es zum Auflösen des Scheins nicht zugunsten des Urbildes,
sondern eines anderen besseren Scheins. An dieser Stelle kommt die Theorie und Sokrates ins Spiel.
Die Theorie als Dialektik will das Urphänomen erreichen. Obwohl die Figur des musikalischen Sokra-
tes und des in die Höhle zurückkehrenden Philosophen auf anderes hindeuten, können wir sagen, daß
es sich um eine positive Dialektik handelt. „Die hellste Deutlichkeit des Bildes genügte uns nicht:
denn dieses schien eben sowohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen; und während es mit seiner
gleichnisartigen Offenbarung zum Zerreißen des Schleiers, zur Enthüllung des geheimnisvollen Hin-
tergrundes aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge
gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen“ (Nietzsche, KSA 7, S. 150). Die Reflexion der philosophi-
schen Theorie intendiert so eine progressiv fortschreittende Mannigfaltigkeit von Abbildungen und
eine kunstnegierende positive Dialektik. Der Schein unter der Verwaltung philosophischer Kritik und
Rationalität forciert eine totalisierte und gültige Weltdeutung. Dies kommt einem Verfall des Scheins
und seiner ästhetischen Funktion gleich.
Bei Adorno verweist das Kunstwerk auf ein „Mehr“, es ist nicht abbildliche Reproduktion, son-
dern gebrochene Reflexion und ästhetischer Schein eines Nichtästhetischen. Der ästhetische Schein
darf sich zugunsten des Nichtästhetischen dieser Scheinhaftigkeit und seiner eigenen Widerrufung
nicht entziehen (Th. Adorno, GS. 7, S. 157). Das Mehr und Nichtästhetische ist äußerlich nicht imma-
nent, das Nichtidentische des Identischen. Das moderne avantgardistische Kunstwerk soll dieses Hi-
nausweisen ins Nichtidentische auslösen. Es soll die immanente Form-einheit, den Anspruch auf Ge-
setztlichkeit und die Materialverfügung eines einheitgebenden transzendentalen Zentrums der schon
herausgebildeten Gestaltungen stürzen und überwinden. „Fortgeschrittenes Bewußtsein versichert sich
des Materialstandes, in dem Geschichte sich sedimentiert bis zu dem Augenblick, auf den das Werk
antwortet; eben darin ist es aber auch veränderte Kritik der Verfahrungsweise, es reicht ins Offene,
über den status quo hinaus“ (Th. Adorno, GS. 7, S. 287). Jedes Niveau soll überboten werden. Es sieht
so aus, als ob das Neue nicht im Alten beruht, von dem aus das höhere Niveau antizipiert wird, son-
dern auf einen anderen Anspruch hört und nur das Vorherige disponieren will, während es auf ein
Nichtidentisches aller negativ hinweist. Dieser bildungslose Messianismus ist eine negative Dialektik
oder Theologie und via negativa. So ist wiederum die bewußt philosophische Pluralisierung und stän-
dige Überbietung jedes Darstellungsniveaus die einzelne kritische Dekonstruktion gegen den Selbstan-
spruch auf Evidenz und Gültigkeit eines jeden Scheins. In dieser Hinsicht wird ein vom Schein selber
depotenzierender und diskursiver Modus zum Bewahrer der Scheinhaftigkeit des Scheins, welcher
seiner ursprünglichen Funktion entleert wurde. Das ist ein Verfall des Scheins. Der Schein ist kein
Schein mehr, sondern ein (selbst)bewußt ästhetischer Schein.
Wieso ist die Kraft des Scheins keine rein ästhetische Kraft mehr, sondern eine theoretisch be-
wußte und auf ihre Vorschriften hin transparente und zielgerichtete? Der Schein gehört nicht mehr
zum Werden des Bildungslosen, sondern er verweist auf dieses mit den Mitteln einer negativen Dia-
lektik. Er setzt sich gegen den Evidenz und vollkommene Weltinterpretation beanspruchenden abbil-
193
denden Schein ab, indem er ihn und sich negiert und daher negativ auf das bildungslose „Ursein“ hin-
weist. Seine Scheinhaftigkeit ist eben eine selbstzerstörerische und somit hinweisende, sie ist aber
keine zum ursprünglichen Werden des Scheins gehörende, weil dieser kein Schein von jenem ist. Das
auflösende Widerrufen des ursprünglichen Scheins lag nicht in seiner eigenen bewußten Selbstnegati-
on oder Negation aller anderen, sondern in seiner (sich) negativ hinausweisenden Funktion auf das
Ursein. Seit aber diese Unmittelbarkeit verloren ist, soll der vermittelte Schein durch eine bewußte
Selbstnegation vermittelnd auf das Ursein verweisen. Dieses Urphänomen, deus sive natura, ist die
Urmutter oder der Natur-Geist.
Wieso aber kam es zu dieser Abhebung des Scheins vom Urwerden und vom Fluß des Scheins?
Wir können sagen, daß die hinausweisende Funktion des Scheins auf eine Urmutter oder An-sich in
sich den Keim seiner Autonomisierung und Degeneration trägt. Dieses verborgene Ursein, oder auch
Nihil, kommt zum Schein, indem es sich verbirgt. Es kann nur zum Schein kommen, zu einer Sicht-
samkeit, welche sich wieder auflöst. Man schaut aus dem Schein zu dem Ursein, obwohl es immer
verborgen bleibt und bildungslos ist. Man schaut von dem Schein weg. Es gibt schon eine negative
Gegenüberstellung von Schein und Strom des Scheins. Der Schein gehört nicht wesentlch zum Strom,
sondern ist der Schein. Der Gang der eigentlichen Bewegung ist ein anderer! Er trägt nicht positiv die
Bewegung des Stromes in sich, sondern er vermittelt diese immer höher mit seiner negativen Schein-
haftigkeit. Die anfängliche positive Dialektik und die bestimmte Negation zwischen Ursein und
Schein ist allmählich - und zwar im Schein des Scheins, im Bild und in der Sprache - in eine negative
Dialektik abgewandelt worden. Der Schein verweist nicht mehr auf sein Negativum, sondern ist nur
die bewußte Selbstnegation in einer unbestimmten und abstrakten Negation, welche nicht auf das Ur-
sein hinausweist, sondern nur den Schein zugunsten des Phantoms des Urseins unbestimmt negiert. So
ist diese Negation eine äußere Reflexion und Negation, bewußte und keine ästhetische Funktion mehr.
In solchem Sinne hat sich erwiesen, daß die Scheinhaftigkeit keine direkte Beziehung zum Sein mit
dem Vollauftrag auf Wahrheit oder Unwahrheit hat. Das Ursein ist nicht der gewalttätige und Wahr-
heit verlangende Grund, der in seinem Ab-grund einwest. Der Schein ist weder Ort der Wahrheit noch
der Unwahrheit. Er trennt sich vom Fluß und der Bewegung des Werdens und kann auf dieses Urphä-
nomen bloß hinweisen. Er kann keinen Beitrag für seine Wahrheit oder Unwahrheit leisten und selbst
nicht der Ort von diesen sein. Das ist des Urphantoms wegen verboten. Der Schein kann weder aus
seiner Wahrheit noch aus seiner Unwahrheit auf das Sein zuspielen, sondern er vermittelt nur negativ
in der Form des bewußt ästhetischen Scheins, wobei er unter der Verwaltung der reflexiv und gesetz-
gebenden Kritik steht, welche außerhalb des Ästhetischen steht,147 weil er selbst (der Schein) keinen
Anspruch auf Wahrheit und Unwahrheit, auf das unangetastete und nur negativ vermittelte bildungslo-
147 R. Bubner verweist auf den theoretischen Charakter der ästhetischen Theorie des künstlerischen Scheins von Th. Adorno (Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, S. 77 ff.). Das Kunstwerk ist nicht unmittelbares und zwangloses Spiel der Reflexion und so Alternative zur Wirklichkeit und zum Begriff, sondern eine mechanische Reaktion, in welcher jede Erfahrung ausgeschlossen ist, sofern sie als Theorie fungiert, die ihretwegen den Schein der Kunst hofiert und aufhebt.
194
se Götzen erheben konnte, und kein Ort und keine Stätte der Versammlung des Ganges der Wahrheit
bzw. des Stromes des Werdens war. Dieser ästhetische Schein kann nur unter der Verwaltung eines
reflektierten und von Wahrheit und Unwahrheit entledigten Bewußtseins stehen, welches punktuell
und rein ist. Im Gegensatz zu einer solchen negativen Dialektik steht, wie wir schon gesehen haben,
die Vorstellung Heideggers vom Strom, wie sie in den Hölderlinvorlesungen entwickelt ist. Derzufol-
ge ist der Strom das Zusammengehören von Ort und Wanderschaft, der immer entspringende und sich
darstellende Fluß an jedem Ort des Gegenstoßes und seiner Versammlung wie im Ort des Da-seins.
Insofern sind diese Vorlesungen eine Auseinandersetzung mit Nietzsche.
3. 3. 5. Die Wahrheit aus der Not
Das Dasein als Ort des direkten Anspruchs des Seyns auf Wahrheit ist in der Wahrheit oder
auch in der Unwahrheit. Wahrheit und Unwahrheit sind das Wesen der Wahrheit des Seyns als Un-
wahrheit und das heißt Entzug, Sich-verbergen und -verwickeln am Fremden, aus dem dann der ein-
wesende Übergang in seine Wahrheit erfolgt: als ein Entspringen und Dargestellt-werden aus diesem
Da und nicht als Sich-zeigen, Übertragen- und Prädiziert-werden in vorhandenen adäquaten Formen.
Das Dasein ist der Ort dieser (Un)Wahrheit des Seyns und kann sich dieser nicht entledigen, diese
nicht verlassen bzw. kritisch und dialektisch aufheben. Es ist seine Wahrheit oder Unwahrheit. Wenn
daher die Metaphysik als Unwahrheit und Seinsvergessenheit ausgewiesen ist, kommt und liegt sie im
Wesen der (Un)Wahrheit des Seyns. Deswegen kann das Dasein nur aus der Metaphysik heraus der
Fragwürdigkeit des Seyns habhaft werden; mit anderen Worten: es kann sich in der Metaphysik an die
verborgene Fragwürdigkeit der Seynsfrage erinnern und aus dem Fehl der Wahrheit des Seyns zur
vergessenen Seynsfrage des Wesens der Wahrheit und der Metaphysik zurückkommen. „Aber die
Grundfrage hat auch als gefaßte Frage einen ganz anderen Charakter. Sie ist nicht die Fortsetzung der
Frageverfassung der Leitfrage bei Aristoteles. Denn sie entspringt unmittelbar aus einer Notwendig-
keit der Not der Seinsverlassenheit, jenes Geschehens, das wesentlich mit bedingt ist durch die Ge-
schichte der Leitfrage und ihre Verkennung“ (Beiträge, S. 233). Das Dasein kehrt in die Not der Leit-
frage und der Metaphysik überhaupt zurück. Die Leitfrage wird nicht anders konstituiert bzw. auf ihr
Gefragtes hin richtig positioniert, sondern sie wird aus ihrer Not wieder gefragt und radikal gegründet.
Die Leifrage fragt aus einer Frageposition auf eine Antwort hin. Die Grundfrage ist der Ort der Frag-
würdigkeit, das Fehlen von jeder Antwort und so der Ort des Fehls und der Not von Wahrheit, der Ort
des direkten Fragens des Seyns148.
148 Nach K. Axelos (Einführung in ein künftiges Denken, a.a.O., S. 34 ff., S. 86) bleibt nach dem Eintritt des Nihilismus und der Vollendung des Kommunismus ein geschichtliches und abgründiges Weltspiel übrig. Das Sein hat keinen Sinn und wird ein wanderndes Werden (S. 72). So sucht Axelos nach einem künftigen Denken, welches als wanderndes und weltspielendes doch zwischen Wahrheit und Irre unterscheidet (S. 20 ff.). Dieses kann nach Heidegger aber nicht eine Idee und ihre Bewährung und nicht die Verwirklichung und Vermittlung
195
Dieser Ort kann überall in der Geschichte des Wesens der Wahrheit und der Metaphysik liegen.
Jeder Ort als Ort der Seynsfrage ist der Ab-grund der Wahrheit des Seyns. „Wie aber, muß dann nicht
das «Nein» (und das Ja) seine wesentliche Gestalt in dem vom Seyn gebrauchten Da-sein haben? Das
Nein ist der große Ab-sprung, in dem das Da- im Da-sein ersprungen wird. Der Ab-sprung, der sowohl
das, wovon er abspringt, «bejaht», der aber auch selbst als Sprung nichts Nichtiges hat. Der Absprung
übernimmt erst die Erspringung des Sprunges, und so überholt hier das Nein das Ja. (...) Solche Ver-
neinung freilich genügt sich nicht mit dem Absprung, der nur hinter sich läßt, sondern sie entfaltet
sich, indem sie den ersten Anfang und seine anfängliche Geschichte freilegt und das Freigelegte zu-
rücklegt in das Besitztum des Anfangs, wo es, hinterlegt, alles auch jetzt und künftig noch über-ragt,
was einstmals in seinem Gefolge sich ergab und zum Gegenstand der historischen Verrechnung wur-
de. Dieses Erbauen des Ragenden des ersten Anfangs ist der Sinn der «Destruktion» im Übergang zum
anderen Anfang“ (Beiträge, S. 178 f.). Diese Destruktion ist nicht das Erreichen eines festen oder eines
neuen Anfangs durch eine äußere Reflexion und Kritik, sondern eine immanente und affektive Refle-
xion als Not und Erleiden des Nichts und des Fehls, die sich in diesem direkt angesprochenen, ge-
schichtlichen und dargestellten Da gründet und nicht einen rekonstruierenden und auf Anderes entwer-
fenden Anfang bildet, sondern der überragende Ab-srpung aus diesem dargestellten Da des ersten
Anfangs ist. Der Sprung oder Ursprung ist nur ein Ab-sprung aus dem angesprochenen Dasein.
3. 3. 6. Die zu sich zurückkehrende und direkte Frage sucht keine Antwort, sondern sie erleidet den Fehl der Wahrheit. Die Bewahrung des Gesetzes
Das Dasein hat kein drittes Kriterium oder eine dialektische und kritische äußere Position, son-
dern hinterfragt sich, in der Wahrheit und in der Unwahrheit wesend, welche es nicht als reines Ich
verläßt. Das Dasein hebt weder den Irrtum in einer höheren Position dialektisch auf noch fragt es re-
konstruktiv, sondern erleidet aus der Not der unerfüllten Fragwürdigkeit des Fehls (und nicht des Feh-
lers) heraus die Wahrheit. Jede Frage kehrt sich in sich, bis sie ihre innere Not als direkte Frage des
Seins und nicht als Frage über ein Drittes findet. Die Frage aus der Not ist keine vorstellende149 Frage
über ein Drittes, sondern die in sich zurückkehrende bzw. direkte Frage nach einer unvorgestellten und
fehlenden Wahrheit. Sie läuft auf kein dialektisches Vemitteln des Ganges der Wahrheit auf eine ande-
re oder höhere Position hinaus. In diesem Sinne könnte man sagen „omne ens est verum“. „Von hier
aus läßt sich in die Seinsfrage eine wesentliche Unterscheidung und Klärung bringen. Sie ist niemals
die Beantwortung der Seinsfrage, sondern nur Ausbildung des Fragens, Erweckung und Klärung der
Fragekraft zu dieser Frage die je nur aus Not und Aufschwung des Daseins erfolgt“ (Beiträge, S. 75).
des Anfangs sein, sondern der Fehl der Wahrheit aus jedem abgründigen Da, das Entspringen der Wahrheit aus dem Fehl der "Wirklichkeit" und nicht aus ihrer Aufhebung im Subjekt. 149 Auf die Unmöglichkeit einer Abstraktion über das Sein weist B. Merker hin. B. Merker, "Konversion statt Reflexion", in: Innen- und Außenansichten a.a.O., S. 228 ff.
196
Die Seynsfrage sucht nicht nach einer vorhandenen Antwort, sondern sie ist die Not und das Erleiden
des Fehls der Wahrheit, aus welchem diese entspringen und sich darstellen kann. Es gibt keinen ande-
ren Ort dieses Erleidens und Fehls außer den des Da-seins. „Neuzeitlich gesonnen denken wir von uns
aus und stoßen, wenn wir von uns wegdenken, immer nur auf Gegenstände. Diesen gewohnten Weg
des Vor-stellens eilen wir hin und her und erklären in seinem Umkreis Alles und bedenken nie, ob
nicht dieser Weg unterwegs einen Absprung zulasse, durch den wir erst den >Raum< des Seyns sprin-
gen, uns die Ent-scheidung er-springen“ (Beiträge, S. 88). Diese Entscheidung ist keine Aufhebung in
einem höheren Gang, sondern die Not und Erleidung der Wahrheit in jedem geschichtlichen Da der
Seynsgeschichte. „Entscheidung ist somit in einem ausgezeichneten Sinn gemeint, daher auch die
Rede von der äußersten Entscheidung, die zugleich die innerste ist. Weshalb aber diese Entscheidung?
Weil nur noch aus dem tiefsten Grunde des Seyns selbst eine Rettung des Seienden; Rettung als recht-
fertigende Bewahrung des Gesetzes und Auftrags des Abendlandes“ (Beiträge, S. 100). Die Rede vom
Gesetz und der Rettung als gerechtfertigte Bewahrung des Gesetzes deutet auf das Entsprigen der Ret-
tung und der Wahrheit aus dem Inneren des Gesetzes als Geschichte und Fuge, Harmonie, innere Fü-
gung der entspringenden Wahrheit in der Geschichte des Seyns, die auch die Geschichte der Metaphy-
sik sein kann. Aus diesem Gesetz und dieser Harmonie, strittige Innigkeit und Fügung von Wahrheit
und Unwahrheit im Erleiden des Fehls, kann die Wahrheit entspringen. Sie ist Be-wahrung des Geset-
zes und der Geschichte und nicht Aufhebung oder neuer, rekonstruierender Anfang150.
3. 3. 7. Die Wahrheit ist nicht, sondern sie west aus der Verbergung
Die Wahrheit des Seyns ist kein Sich-zeigen, Entworfen- oder Übertragen-werden, sondern sie
entspringt am Ort ihres verlangenden Anspruchs, ihrer Verbergung, ihres Fehls und ihrer Not. „Wenn
das Wesen der Wahrheit ist: die Lichtung für das Sich-verbergen des Seyns, dann ist Wissen: das
Sichhalten in dieser Lichtung der Verbergung und somit der Grundbezug zum Sich-verbergen des
Seyns und zu diesem selbst. Dieses Wissen ist dann kein bloßes Für-wahr-halten irgend eines oder
eines ausgezeichneten Wahren, sondern ursprünglich: das Sichhalten im Wesen der Wahrheit“ (Bei-
träge, S. 369). Die Wahrheit ist kein Für-wahr-halten, keine prädizierte Bewährung und Sich-zeigen,
sondern sie west in der lichtenden Verbergung, sie entspringt nur am Ort ihrer verlangenden Verber-
gung und ihres Fehls. Die Wahrheit kommt wieder aus ihrem Entzug als Gewesendes, indem sie nicht
sich zeigt, sondern indem sie am Ort ihrer Verbergung wesend entspringt und sich darstellt. „(...) das
verborgene Wesen des Seyns. Diese Verbergung bedarf der tiefsten Lichtung. Das Seyn «braucht» das
Da-sein. Die Wahrheit «ist» nie, sondern west. Denn sie ist Wahrheit des Seyns, das «nur» west“ (Bei-
150 So kann nach H. G. Gadamer die Seinsvergessenheit nicht durch eine Erinnerung an den Anfang beantwortet werden. Solche Versuche sind schon in die Seinsvergessenheit geraten. Heidegger gibt keine Antwort auf das Sein und auf Gott, sondern nur Bedenken. Die Götter sind entflohen, und kein Anfang reicht aus, jemandem Anfänglichkeit zu bieten (Sein, Geist, Gott. In: a.a.O., Freiburger Universitätsvorträge, S. 59 ff.).
197
träge, S. 342). Die Wahrheit des Seyns kommt nicht als Sichzeigendes, sondern sie west und ent-
springt am Ort ihrer Bergung und ihres Ausbleibens. „Der Anfall des Seyns, der dem geschichtlichen
Menschen beschieden ist, bekundet sich diesem nie unmittelbar, sondern verborgen in den Weisen der
Bergung der Wahrheit“ (Beiträge, S. 236). Hierbei geht es aber nicht um Dialektik, da keine äußere
Negation und Aufhebung in einem höheren Gang entsteht, aus dem sich dann die Wahrheit zeigt, son-
dern diese west, entspringt und stellt sich am Ort ihres Bergens und Fehls dar. „Die Lichtung der Ver-
bergung meint nicht die Aufhebung des Verborgenen und seine Freistellung und Umwandlung ins
Unverborgene, sondern gerade die Gründung des abgründigen Grundes für die Verbergung“ (Beiträge,
S. 352). „Wahrheit ist also niemals nur Lichtung, sondern west als Verbergung ebenso ursprünglich
und innig mit der Lichtung. Beide, Lichtung und Verbergung, sind nicht zwei, sondern die Wesung
des Einen, der Wahrheit selbst. Indem Wahrheit west, Wahrheit wird, wird das Ereignis Wahrheit. Das
Ereignis ereignet, sagt nichts anderes als: Es und nur es wird Wahrheit, wird dies, was zum Ereignis
gehört, so daß eben Wahrheit wesentlich Wahrheit des Seyns ist“ (Beiträge, S. 349). Wir können viel-
leicht den letzten Genitiv als genitivus objektivus lesen. Wahrheit ist nicht Bewährung einer wahren
und sich bewährenden Idee, sondern eigentlich das Ge-währen und Entspringen der Wahrheit aus der
Unwahrheit.
Aus dem Fehl und der Verborgenheit der Wahrheit und Gottes kann ein letzter Gott aufwachen,
entspringen und sich darstellen. „Der Fehl Gottes und des Göttlichen ist Abwesenheit. Allein Abwe-
senheit ist nicht nichts, sondern sie ist die gerade erst anzueignende Anwesenheit der verborgenen
Fülle des Gewesenen und so versammelt Wesenden, des Göttlichen im Grie-chentum, im Prophetisch-
Jüdischen, in der Predigt Jesu. Dieses Nicht-mehr ist in sich ein Noch-nicht der verhüllten Ankunft
seines unausschöpfbaren Wesens“ (Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, 1950, S. 177).
3. 4. Exkurs: Heidegger und die Theologie
Vor der Ausführung des vierten Schrittes im Verstehen der Wahrheit als des Heiligen und Plötz-
lichen steht ein Exkurs über den Bezug Heideggers zur Theologie. Die Beleuchtung dieses Verhältnis-
ses erscheint sinnvoll, weil sie hilft, einen Hintergrund zu erhalten, vor dem das Verstehen des Heili-
gen erfolgen kann. Man könnte Heideggers Beziehung zur Theologie unter fünf Aspekten bzw. in fünf
Phasen oder Ansätzen betrachten: 1. Heideggers Deutung der Transzendenz und der Geschichte in
seinem frühen Werk, welche theologischer und christlicher Herkunft ist. 2. Die Behandlung der Trüb-
sal und des Vollzugs der Welt bzgl. des Thessalonikeer-Briefs des Paulus, die ebenfalls aus seinem
frühen Werk stammt. 3. “Phänomenologie und Theologie” aus dem Jahr 1927. (Diese erstgenannten
drei Punkten werden im vorliegenden Exkurs behandelt.) 4. Die Genealogie der Metaphysik als Onto-
theo-logik und des Nihilismus aus der Wahrheit des Seins. Darüber wurde bereits in Teil III dieser
198
Arbeit berichtet. 5. Heideggers seynsgeschichtliche Theologie, die in Teil IV eine beherrschende Rolle
spielt.
3. 4. 1. Heideggers Ausgangangspunkt ist die Theologie und nicht die Phänomenologie Husserls
Ein Topos in der Heideggerrezeption ist die Feststellung, daß sein Gang in die Philosophie theo-
logischen Ursprungs ist. Das legen sowohl seine biographischen Daten als auch sein Werk nahe. Dem
theologischen Aspekt kommt bereits in seinen ersten Werken und Vorlesungen eine nicht zu unter-
schätzende Bedeutung zu, kann doch kaum bestritten werden, daß sich Heidegger bemühte, aus expli-
zit theologischen Voraussetzungen einen Übergang in die Phänomenologie zu finden. Vielleicht muß
man ja gerade im Heideggers Bezug zum Göttlichen den Keim der Vergeschichtlichung der Ontologie
und des Stellens der Seinsfrage als Frage nach der Darstellung des Seins selbst erblicken.
In seinen frühen Schiften, in der Dissertation ebenso wie in der Habilitationsschrift, beschäftigt
sich Heidegger mit der Konfrontation zwischen Psychologismus und Sinngebung in der Philosophie.
Der psychische Gang des Urteils ist nicht mit seiner logischen Sinngebung identisch. In der „Katego-
rien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus“ (1916) schreibt Heidegger über den Sinn bzw. das Ge-
dachte des Denkens: „Das >ens rationis< bedeutet also den Gehalt, den Sinn der psychischen Akte; es
ist ein Sein im betrachtenden, denkenden Bewußtsein, es ist das >ens cognitum<, das Gedachte, Geur-
teilte. Dieses muß unterschieden werden von dem, was >subjektive in intellectu< ist; auf diese Weise
sind die Verstandestätigkeit und die Wissensakte in der Seele, als realpsychische Anlagen nämlich“
(Frühe Schriften, S. 277). Das Ich und das Denken sind geschichtlich das Denken als Gedachtes. So ist
hier der Gehalt und das Wesen des Denkens sein Gedachtes, der Sinn. Heidegger richtet sich gegen
den Psychologismus151, folgt dabei aber jedoch nicht Husserl, bei welchem der Urteilsgehalt ideal
gegenüber dem Urteilsvollzug ist, weil er sich zu diesem wie die Gattung zur Species verhält. Heideg-
gers Argument beruht und zielt auf das Wesen der Wahrheit, welche nicht subjektimmanent verbleibt,
sondern mit einem weltenden und darstellenden Anspruch aufbricht und daher nicht eine ideale gat-
tungsmäßige Hingeltung und immanente Adäquation der Realität beansprucht, sondern eine gesche-
hende, aufbrechende und welterschließende Tat in der bisher bestehenden Wirklichkeit ist. Der Sinn
und das Gedachte sind nicht analog und abbildlich zum Realen, sondern univok. Sie sind Hingeltung,
Aussagbarkeit, Schaffung ordnender Beziehungen (Frühe Schriften, S. 281). Das Denken ist nicht
Verbinden von analogen Vorhandenheiten, als bloßer Akt, sondern das Schaffen von Bezügen und
völlig neuen Geltungs- und Bedeutungsinhalten.
Das Denken west und ist in seinem Gedachten dargestellt. Es ist nicht instrumentelles Verbin-
den eines neutralen und reinen Ich. Schon in diesem Zusammenhang kommt die Bedeutung der Spra-
che als Mitteilung des Sinnes zum Tragen (Frühe Schriften, S. 305). Die Sprache ist kein Zeichen für
151 Darüber siehe: C. F. Gethmann, Dasein: Erkennen und Handeln, a.a.O., S. 147 f.
199
ein Objekt, sondern der gedachte Sinn und Ort des Gegenstandes, und zwar in dessen Mitteilung. Die
Bedeutungen gehören nicht zum realen psychischen Zusammenhang, in dem sie verursacht wurden,
sondern sie sind intentionale Inhalte (a.a.O. S. 308). Wahrheit des Bewußtseins ist nicht die Genetik
der Akte als Anlage einer formalen Funktion. Das Denken und die Metaphysik sind als Einheit ge-
dacht teleologische, sinngebende lebendige Tat. Das Denken erzeugt Sinn, eine neue Wirklichkeit,
eine aufbrechende Wirklichkeit. „(...), weshalb es ein prinzipieller und verhängnisvoller Irrtum der
Philosophie als >Weltanschauung< genannt werden muß, wenn sie sich mit einem Buchstabieren der
Wirklichkeit begnügt und nicht, was ihres eigentlichen Berufes ist, über eine immer vorläufige, die
Gesamtheit des Wißbaren aufraffende Zusammenfassung hinaus auf einen Durchbruch in die wahre
Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit abzielt. Nur mit dieser Orientierung am Begriff des lebendigen
Geistes und seiner >ewigen Bejahungen< (Fr. Schlegel) (...)“ (a.a.O., S. 406). Das Gedachte ist nicht
ein immanenter Akt im Bewußtsein, ein Abbild oder eine species in der Seele, sondern ein Durch-
bruch und welterschließendes Aufreißen von Wahrheit in die Wirklichkeit. „Der lebendige Geist ist als
solcher wesensmäßig historischer Geist im weitesten Sinne des Wortes. Die wahre Weltanschauung ist
weit entfernt von bloßer punktueller Existenz einer vom Leben abgelösten Theorie. (...) Die Geschich-
te und deren kulturphilosophisch-teleologische Deutung muß ein bedeutungsbestimmendes Element
für das Kategorienproblem werden. (...), um so über eine dürftige, schematische Kategorientafel hi-
nauszukommen“ (a.a.O., S. 407). Die Bedeutung, die Heidegger der Geschichte beimisst, offenbart
seine Nähe zu Dilthey. Die Geschichte als Bedeutungs- und Geltungssinn ist nicht die Erscheinung des
Geistes in einem prädizierenden Satz. Der Geist ist nur in und aus seiner entspringenden Darstellung
zu verstehen. Die Teleologie und Darstellung der Wahrheit hat eine theologische Herkunft. Die Ana-
logie im Mittelalter sollte in diesem Zusammenhang die qualitative Erfüllung des historischen Lebens
und nicht seine einseitige Aufhebung in der Transzendenz bedeuten. „Die Transzendenz bedeutet kei-
ne radikale, sich verlierende Entfernung vom Subjekt - es besteht eben ein auf Korrelativität aufgebau-
ter Lebensbezug, als welcher er nicht einen einzigen starren Richtungssinn hat, sondern dem hin- und
zurück-fließenden Strom des Erlebens in wahlverwandten geistigen Individualitäten zu vergleichen ist,
wobei allerdings die absolute Überwertigkeit des eines Gliedes der Korrelation nicht mitbeachtet wird.
Die Wertsetzung graviert also nicht ausschließlich ins Transzendente, sondern ist gleichsam von des-
sen Fülle und Absolutheit reflektiert und ruht im Individuum“ (a.a.O., S. 409). Der Geist ist keine
absolute Setzung und Position, sondern er wird am Dasein reflektiert, verbunden und dargestellt.
All das ist schon in den frühen Schriften Heideggers von großer Wichtigkeit. Die Erscheinung
eines heranblickenden Geistes mit seiner Scheinhaftigkeit und seinen ihn prädizierenden Konstruktio-
nen ist auszuschließen. In jedem Ort des Gedachten kann der Geist dargestellt werden. Der Geist ist
lebendig und geschichtlich. Und die Geschichte ist lebendig, weil sie der Ort seiner Darstellung ist.
„Die Philosophie des lebendigen Geistes, der tatvollen Liebe, der verehrenden Gottinnigkeit, (...)“
(a.a.O., S. 410). Das ganze Leben hat eine Teleologie, weil der Geist in bzw. aus der Geschichte dar-
gestellt wird. Nichts bleibt eine gleichgültige Breite als Leistung und Akt einer höheren Gattung oder
200
als ein bloß eine kosmische und logische Form repräsentierender Punkt, nichts ist instrumentelle An-
lage, sondern beseelter Organismus und Ort der Einladung für die Darstellung des Geistes im Span-
nungsverhältnis von Gott- und Transzendenzinnigkeit. Das alles neigt schon deutlich zum Leben der
Zeit, zum Welten, zur Weltlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit und zur Wahrheit des Seins, zum
Wohnen des Ungeheuren im Geheuren.
In „Grundprobleme der Phänomenologie“ (WS 19/20, Bd. 58 der G.A.) schreibt Heidegger eine
deutliche, wenn auch noch vorsichtig formulierte Replik auf die aweltliche Lebenserfahrung der Epo-
che Husserls: „Das eigentliche Organon des Lebensverstehens ist die Geschichte, nicht als Ge-
schichtswissenschaft oder als eine Sammlung von Kuriositäten, sondern als gelebtes Leben, wie es im
lebendigen Leben mitgeht“ (S. 256). Das Dasein soll nicht vom Leben und der Geschichte heraustre-
ten, um sich und sein Leben zu haben. Das Leben und das Denken ist keine Gattung und kein punktu-
elles Ich, sondern der Ort der Darstellung und der Geschichte des Geistes. Es geht um eine Umkeh-
rung des eidetischen Subjekts von Husserl. Das Leben hat kein Zentrum und kein Absolutes hinter
sich, sondern ist sein vollziehendes Darstellen, ein Durchbruch in die Wirklichkeit als Wahrheit. Das
Leben und die Geschichte ist immer Ursprung. Das ist die Situation: das erstreckende und versam-
melnde Wesen des Geschehens, ohne ein überhistorisches zuschauendes und übermächtiges „Woher“
und bereitliegendes „Wohin“ zu haben. Es gibt keine Nachbildung und kein Einholen einer Ursituati-
on, des Seins als absoluter Position, in eine prädizierende Phase, sondern diese ist nur ihr Darstellen.
Das Sich-verstehen des Lebens ist seine Darstellung, die Sinngebung des Gedachten. „Die Adaequati-
on des Ausdrucks bestimmt sich durch die Ursprünglichkeit der Motive, die in der Darstellung leben-
dig sind“ (a.a.O., S. 263). Das Leben und der Sinn, das Gedachte des Denkens ist selbst Ort der Dar-
stellung des Geistes als Motivation auf eine Teleologie und nicht ein verbindendes und prädizierendes
Ich. „Weil das Leben in all seinen Gestalten irgendwie sich ausdrückt und damit einer Deformation
unterliegt, welche als lebendige gerade seine Lebendigkeit erfährt, seine Fraglichkeit, Spannung u.s.f.,
ist der Grundsinn der phänomenologischen Methode und der philosophischen überhaupt das Neinsa-
gen, die Produktivität des Nicht (Sinn der Hegelschen Dialektik).
Ursprung nicht ein allgemeines Prinzip, eine Kraftquelle, sondern die Gestalt der Produktion des
Lebens in allen seinen Situationen, die Gestalt, die ich immer nur verstehe und erreiche in einer be-
sonderen Gestaltqualität“ (a.a.O., S. 148). Ursprung selbst bedeutet die Gestaltungen und Darstellun-
gen des Lebens. So ist die Negation nicht eine äußerliche, in der jede Gestaltung negiert wird und der
Ansatz der Bewegung in ein höheres Prinzip übertragen wird, z.B. das Ich der Gestaltung als deren
Gattung, sondern die Negation ist eine produktive Negation, die „Deformation“, „Spannung“, der Ur-
sprung der Darstellung aus dem Nichts, die Darstellung überhaupt. Die Reduktion ist dagegen nicht
produktiv (a.a.O., S. 151). Das Nicht ist nicht methodisches Moment wie in der Leitfrage, sondern die
hinreichende Motivation der Wahrheit. Anstatt Reduktion betreibt die Fülle des Lebens und die Pro-
duktivität des Nicht eine Produktion und nicht eine Aufhebung in einer Gattung.
201
Das Geschichtliche ist, wie gesagt, ein Durchbruch in die Wirklichkeit und kein Buchstabieren
derselben. So kehrt Heidegger den Intentionalitätsbegriff Husserls um. Das Dasein ist schon in der
Transzendenz der Wahrheit des Seins und selbst Transzendenz für diese. Die Transzendenz ist Grund-
voraussetzung der Intentionalität (Grundprobleme der Phänomenologie 1927, S. 89-91). Das faktische
geschichtliche Leben des Ausdrucks und der Bedeutung ist transzendierender Durchbruch und Ur-
sprung der Darstellung der Wahrheit, kein Verbinden der transzendentalen und punktuellen Vorhan-
denheit des Ich. Die eidetische Reinigung des Bewußtseins ist Naturalismus (Einf. in die phän. For. SS
24, S 80-81). Husserls Bewußtsein ist regional, aber durch die Reduktion gerät es in die Epoche des
Ich (a.a.O. 264). Nur in der Habilititationschrift in Bd. 1, S. 285 meint Heidegger, daß Rickert mit
Husserl - gegen die Tendenz des Psychologismus - das Denken nicht als Akt, welcher vergeht, nicht
als psychische Realität mit Sachkategorien betrachten, sondern als idealen Gehalt, als Werte mit Sinn-
begriffen. Heidegger lässt jedoch die Seele hinter sich und geht weiter als Husserl, indem er diesen
Gehalt als idealen im Sinne des geschichtlichen und welterschließenden Durchbruchs in die Wirklich-
keit begreift.
Der lebendige Bezug des Menschen zur Transzendenz Gottes und nicht die Akte eines dem Sein
als absoluter Position gegenüber stehenden theoretischen Ich waren beim frühen Heidegger das Bei-
spiel für die Geschichte und Darstellung des Geistes. Es scheint, daß Sein gleichbedeutend mit Dar-
stellung und Geschichte des Geistes in jedem Ort und in jeder teleologischen Motivation und Fülle ist.
3. 4. 2. Der Glauben als thlipsis, als Warten und Vollzugszussammenhang gegen jeden Gehalts- und Bezugszusammenhang
In „Phänomenologie des religiösen Lebens“ (Bd. 60 der G.A.) interpretiert Heidegger im Dienst
(!) seines phänomenologischen Anliegens die Thessalonikäer-Briefe des Paulus. Dabei nimmt er Stel-
lung gegen die damaligen Entwürfe einer Religionsphilosophie. Heideggers Ziel ist allerdings Phäno-
menologie und nicht Religionsphilosophie. In den „Philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen
Mystik“ sagt er: „Ein Stück Ontologie der Religion, Hauptziel Phänomenologie. Nur ein bestimmter
streng methodischer Umkreis. Keine hochfliegende Religionsphilosophie. Wir stehen am Anfang oder
genauer: wir müssen in die echten Anfänge zurück, und die Welt kann ruhig warten. Denn ich brauche
keine Spur von Religionsphilosophie als religiöser Mensch. Leben zeugt nur Leben, aber nicht die
absolute Schau als solche; ein ganz originaler und eigenrechtlicher Sachzusammenhang“ (Phän. Rel.,
WS 20/21, S. 309). Das religiöse Leben ist Phänomenologie und Ursprung. Es gibt kein religiöses,
theologisches oder philosophisches Apriori als sui generis152 Blickrichtung auf die anderen Elemente
152 Der Prozeß der Ausbildung der Autonomie der Theologie hat nach G. Wieland im 12. Jahrhundert angefan-gen (Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen Physiognomie des 12. Jahrhunderts. in: Philo-sophie im Mittelalter, Festschrift, W. Klugxen, zum 65. Geburtstag, J.P. Beckmann, L. Honnefelder, G. Schrimpf (Hg.), Hamburg 1987). Es geht um eine Dialektik zwischen der Universalität der Vernunft und der
202
des Lebens. Das Leben ist in seinen Darstellungen präsent, und aus diesen soll das „Ganze“ „in der
Welt“ „vollzogen werden“. Die Änderung des Bezugszusammenhangs, das Wählen eines höheren
Anblicks auf die Anderen, trägt nichts zum Angeschauten bei. Jedes Element des Lebens, jedes Dasein
kann Ursprung und Motivation auf Vollzug im Ganzen sein, obwohl es keine „absolute Schau“ geben
kann, keine äußere absolute Reflexion auf das Leben und Sein als Ganzes. Das Leben und Sein wer-
den nicht von einer äußeren (sui generis oder theoretischen) Blickposition angeschaut und reflektiert,
sondern dargestellt.
Der Mensch bleibt ursprünglich in seinem Leben in der Welt. Das ist ein „ (...), sich in die Not
des Lebens hineinzustellen („ïm hk¥x® [in Trübsal])“ (a.a.O., S. 95). „(...) ist ein Sich-hinein-Stellen
in die Not. Diese Bedrängnis ist ein Grundcharakteristikum, sie ist eine absolute Bekümmerung im
Horizont der paqous¥a, der endzeitlichen Wiederkunft. Damit sind wir in die Selbstwelt des Paulus
eingeführt“ (a.a.O., S.98). Die Wiederkunft ist nicht eine Trennung, sondern - wie gesagt - eine Wie-
derkunft. Es gibt eine Geschichte, und das Wiederkommende gehört zu dieser und kommt aus dieser
oder zu dieser zurück. Es kommt aus der Not des Da als ihre Erfüllung und Darstellung an diesem Da.
„(...) das Gewordensein der Thessalonikeer ist zugleich ein neues Werden“ (a.a.O., S.98). Das Gewor-
densein ist ein Gewesendes. Das Ausharren in dieser Geschichte, ihr Vollzug und nicht ihre Aufhe-
bung ist ihr eigentliches Ende. „Das Entscheidende für Paulus ist nicht das Begnadetsein, er schaltet
das aus und macht darüber keine Mitteilung“ (a.a.O., ebenda). Diese Geschichte ist die Trübsal. Das
Begnadetsein und Sich-freuen zusammen ist die Trübsal in der Welt (a.a.O., S. 95 und 98). In seinem
Sich-freuen hat der Mensch die Trübsal. Wir haben hier vermutlich ein Zeichen von der wenig später
eingeführten Zusammengehörigkeit von Wahrheit und Unwahrheit. Der Crhist wechselt nicht seinen
Bezug, er tritt nicht aus der Welt heraus. Seine Geschichte ist die Stätte der Geschichte des Geistes,
deswegen kann er diese im Ganzen anders vollziehen. „Er (sc. Paulus wie jeder Christ) begibt sich
aller weltlichen Mittel und Bedeutsamkeiten und kämpft sich doch durch. Durch den Verzicht auf die
weltliche Weise des Sich-Wehrens wird die Not seines Lebens gesteigert“ (a.a.O, S.121). Der Christ
kann keine höhere Stellung innerhalb der Welt einnehmen. Er kann nicht eine neue innerweltliche
Konstruktion, oder Stellung anbieten, als ob er ein reines aweltliches Subjekt wäre. Er ist nicht bloß
geschichtlich, weil er auch wirkt, sich reaktiv wehrt, sondern er ist überhaupt aktiv, weil er die ganze
Geschichte aufnimmt, mitleidet und nur so anders vollziehen kann. Er erklärt und hebt nicht die Welt
außerweltlich und in Gott auf, sondern er vollzieht diese auf dem Weg zum kommenden Gott auf an-
dere Art und Weise und läßt den Geist sich an dieser als das Heilige darstellen.
nunmehr geschichtlich bedingten und bewußten Partikularität und Andersheit: "(...), daß es dem Menschen nicht möglich ist, Universalität ohne partikulare Vermittlungen zu realisieren" (S. 75). So gibt auch die Theologie den anderen Wissenschaften gegenüber Rechenschaft über ihre Lehren mit den Mitteln der allgemeinen und univer-salen Vernunft, und somit wird sie dialektisch (a.a.O., S. 76 f.). Ort der Theologie ist die Universität und nicht mehr ihr selbstverständlicher Betrieb im sacerdotium und imperium. Die universale Vernunft wird seither allein der Philosophie überlassen (a.a.O., S. 79).
203
Die innerweltlichen Bezugszusammenhänge spielen keine Rolle. Die Welt überhaupt, und hierin
auch die innerweltlichen Bezugszusammenhänge, vollzieht sich und weltet anders. Diese Bezüge sind
’r l†. „Paulus erhebt den Vollzug ins Thema. Es heißt: ’r l†, nicht o«. Dieses l† zeigt die Ten-
denz auf das Vollzugsmäßige an“ (a.a.O., S. 121). „Diese Bezüge zur Umwelt bekommen ihren Sinn
nicht aus der gehaltlichen Bedeutsamkeit, worauf sie gehen, sondern umgekehrt, aus dem ursprüngli-
chen Vollzug bestimmt sich der Bezug und der Sinn der gelebten Bedeutsamkeit“ (a.a.O., S. 118).
Nicht die umweltliche Bezugsstelle und ihre eventuelle Änderung oder das Aussteigen aus dieser ist
entscheidend, sondern das aktive Haben und Sein dieser Geschichte und Welt und das in sich, in der
Selbstwelt und aus der Not anders Vollziehen. Gerade, wenn Heidegger Paulus Ressentiments vor-
wirft, ist er mit Nietzsche nicht einverstanden (Bd. 60, S.120). In den Nietzsche-Vorlesungen wirft
Heidegger Nietzsche vor, daß sein Nihilismus in der Leitfrage reaktiv verbleibt, während die Verwin-
dung der Geschichte der Metaphysik mit der Grundfrage not-wendig wird und nicht als eine Gegen-
metaphysik oder als unbedingte Vollendung dieser fungiert. Der Christ ist nicht reaktiv in seinen um-
weltlichen Bezügen, er wehrt und verteidigt sich nicht bloß und nimmt nicht eine andere Stelle in der
umweltlichen Ordnung ein, sondern er ist die Versammlung der Geschichte und ihrer Bezüge, das
Sich-hineinstellen in die Not des Lebens, das Leiden im Unterwerfen unter dieser und so der Vollzug
dieser, der erleidende Vollzug und die Darstellung einer anderen und fehlenden Welt überhaupt cem¡-
lemor »p¡ m¡lou. Die Umweltbezüge werden nicht äußerlich negiert und als Schein verlassen, damit
sie aus einem anderen und bereit-liegenden Anfang gegründet werden, sondern sie werden direkt auf
ihre Not und ihren Fehl gestellt und aus diesen anders vollzogen. Gott und die Transzendenz werden
nicht durch außerweltliche negative Begriffe vorgestellt, sondern sind geschichtlicher Einbruch und
Aufbruch in der/die Geschichte der Welt. „Jede kosmisch-metaphysische Verdinglichung des Gottes-
begriffes, auch als irrationaler Begriff ist abzuwehren. (...). In dir selbst sinne nach, wenn ich sage
>Ausbreitung<“ (a.a.O., S. 290).
Jede Selbstwelt, das Dasein, ist nicht bloß eine innerweltliche Substanz einer undarstellbaren
logischen und weltlichen Welt, sondern der Ort des Geschehens der Welt, des Anders-vollziehens der
Umweltbezüge. So ist auch die Situation nicht ein Verlassen und Aufhören der Geschichte, ein äußer-
licher Bruch der Geschichte, sondern die Wiederkunft des Gewesenen. Die Geschichte wird nicht äu-
ßerlich in einer Metageschichte negiert, sondern innerlich: in und aus ihr bricht ein neues Geschehen
auf. In und aus diesem Da wird der Geist dargestellt und nicht verwirklicht oder prädiziert. In den
„Philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik“ setzt Heidegger das „Heilige“ Schleierma-
chers und R. Ottos gegen sein Motiv des Heiligen als Gegenstück eines historischen, mannigfaltig sich
vollziehenden Glaubens. „Treffbar kann nur sein nicht ein leeres Blatt, ein ausgehöhltes Ich, ein punk-
tuelles Selbst, sondern nur erfülltes und nach Erfüllung wesenhaft verlagendes personales Sein, das
eine solche Struktur hat, die ihm das Erfülltsein von bestimmten Lebensweltgütern und im Erfülltsein
das Weiterwachsen und Erfülltwerden ermöglicht. (>Abhängig-fühlen< grenzt schon zu sehr an theo-
204
retische Objektivierung, an aus sich selbst Herausgehen und ein Feststellen einer Beziehung dieses
objektivierten Selbst zu einem anderen.). >Schlechthinnige Abhängigkeit<: dieser Deutungssinn ist zu
roh, er objektiviert zu sehr in einer seinstheoretisch-spezifischen die Naturrealität betreffenden Rich-
tung. Es muß viellmehr das Urverhältnis als von Seele zu absolutem Geist und umgekehrt schwingend
gedeutet werden, so zwar, daß es eine Struktur aufweist, in der die Möglichkeiten (der Struktur nach)
für Erfüllugen der mannigfaltigsten Art angelegt sind. (...) Historisch ist das Bewußtsein immer nur in
der Momenterfüllung, nie in der bloßen Reine-Ich Reflexion“ (a.a.O., S.331). Der Bezug ist nicht ein
abstrakter im reinen Ich in bezug auf Gott als negatives Absolutes, summum ens und absolute Positi-
on, der vielleicht dialektisch prädiziert werden könnte, sondern ein geschichtlicher Vollzug und eine
Erfüllung mannigfaltiger Lebenselemente, in welchen Gott sich nicht als im voraus wahrer (!) Gott
verwirklicht und bewährt, sondern entspringt und als wahrer sich darstellt. „Das Heilige darf nicht als
theoretisches Noema - auch nicht als irrational theoretisches - zum Problem gemacht werden, sondern
als Korrelat des Aktcharakters >Glauben<, welcher selbst nur aus dem grundwesentlichen Erlebniszu-
sammenhang des historischen Bewußtseins heraus zu deuten ist. Das bedeutet nicht die Erklärung des
>Heiligen< als einer >Bewertungskategorie<. Vielmehr ist das Primäre und Wesenhafte in ihm die
Konstituierung einer originären Objektität“ (a.a.O., S. 333). Das Heilige bietet nicht als absolute Posi-
tion oder Bewertungskategorie einen Bezugshalt an, sondern ist der Vollzug der Welt im Ganzen. Das
Heilige ist nicht eine dominierende, bewertende und sich bewährende Bezugsstelle in einem Bezug
oder innerhalb einer ontologischen Dialektik, sondern der Vollzug und die Erfüllung, der Aufbruch in
und aus einem die Not und den Fehl erleidenden Dasein. „Nicht die Versicherung, daß auch den Ent-
schlafenen eine Auferstehung bevorsteht, (...) sondern die, daß Gott durch Jesus (beim Eintritt der
messianischen Reichsherrlichkeit) mit ihm bringen wird: aŒnei s…m a»t‚ (4,7)“ (a.a.O., S. 152). Das
Ereignis der Auferstehung ist nicht ein von außen erfolgtes Brechen der Zeit, sondern das pk†qy-
la toÀ wq¡mou, die Versammlung der Zeit und aller und der Vollzug ihrer Not im geschichtlich
gewordenen Gott und nicht ihre Aufhebung und Bewährung in einer Idee. „Primär ist der Vollzugszu-
sammenhang, das ist das entscheidende >Wann<, daß er gefaßt ist darauf“ (Bd. 60, S. 153). Der religi-
öse Erlebniszusammenhang ist Ort des Ursprungs für den Vollzug und der Darstellung des Geistes.
Der Mensch ist geschichtliche Stätte des Geistes. Dieser ist der Sinn der Wahrheit bei Heidegger, wie
schon gesagt worden ist: Nicht eine sich bewährende wahre Idee, sondern die Darstellung der Wahr-
heit aus einer vorgängigen Frage und aus der den Fehl der Wahrheit erleidenden Not heraus.
Das Christliche ist nicht ein Absetzen gegen die Welt, sondern der Vollzug der Geschichte.
„‘Christlich‘ nicht einfach eine Determination, daß verschiedenartiges zusammenwächst und etwas
dominiert“ (a.a.O., S. 135). Gott ist nicht das Korrelat eines Bezugs als die dominierende und ontolo-
gisch vorausgesetzte, alles setzende und aus dem Anfang vermittelnde Bezugsstelle in einem ontolo-
gisch-dialektischen Ganzen, sondern er ist die Erfüllung, der Vollzug und die Darstellung Gottes aus
der Not der Geschichte. „Es geht nicht auf die Bedeutsamkeit eines zukünftigen Inhalts, sondern auf
205
Gott. Der Sinn der Zeitlichkeit bestimmt sich aus dem Grundverhältnis zu Gott, so allerdings, daß die
Ewigkeit nur versteht, wer die Zeitlichkeit vollzugsmäßig lebt. Erst aus diesem Vollzugszusammen-
hang kann der Sinn des Seins Gottes bestimmt werden“ (a.a.O., S.117). Das ist ein Grundmotiv bei
Heidegger. Das Dasein ist schon in der Wahrheit des Seins, und fragt nach dem Sinn des Seins über-
haupt. Das Sein ist keine absolute und zu prädizierende Position, sondern es wird erst in seiner Wahr-
heit und in seinem Sinn konstituiert. Es geht, wie schon gesagt, um die Umkehrung des Satzes. Nur
aus dem Leiden und der Not kann das Heilige aufbrechen und nicht als Bewährung einer wirklichen
Idee und Realität. Das Heilige ist der wahre Gott und nicht der sich bewährende und sich verwirkli-
chende Gott das Heilige.
Es ist zu bezweifeln, ob Heideggers historische Zeitlichkeit und deren lebendiger Vollzug mit
dem Sinn der Plötzlichkeit und des „kairos“ vergleichbar oder gar identisch ist. Zeitlichkeit und Voll-
zug der Weltgeschichte ist nicht eine Übergangsstelle in ein anderes Entstehen, aus einem anderen
Anfang, sondern das Geschehen der Geschichte überhaupt, ihre Versammlung und ihr Vollzug in der
einzigen Dimension des Geschehens. So stellt beispielweise K. Lehmann fest: „Der Kairos kann ei-
gentlich nicht >erwartet< und >ergriffen< werden, (...)“ (K. Lehmann, Christl. Geschichtserfahrung u.
ontol. Frage beim jungen Heidegger, in: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung sei-
nes Werks, Weinheim, 1994, S. 143). In dieser Hinisicht stimmt auch O. Pöggeler mit K. Lehmann
überein (Der Denkweg M. Heideggers, Pfullingen 1990, S. 36 ff.). K. Lehmann geht allerdings noch
darüber hinaus, indem er sieht, daß der Übergang dieser Beschreibung der christlichen Erfahrung
durch Heidegger in seine existenziale Analytik, wie sie in „Sein und Zeit“ offenbar wird, die Plötz-
lichkeit des Kairos in den Bedingungen des Menschen unterbindet, wie auch R. Bulltmann letztendlich
erkannt hat. „Die Wahrung des ‚absoluten‘ Charakters des Kairos in seiner Plötzlichkeit wird nun zu
einer fast unlösbaren Aufgabe. Die Transposition der Grundstrukturen der beschriebenen Erfahrung in
die existenziale Analytik und Fundamentalontologie versteht nicht mehr ‚Gott‘ unmittelbar als die
‚absolute‘ Forderung, sondern fragt zunächst einmal nach den im Wesen des Menschen liegenden
Bedingungen für diese Strukturen“ (a.a.O., S. 146). Es soll aber eine offene Stelle in der Zeit für das
Selbsterscheinen des Kairos geben (a.a.O:, 149). Das Zukunftige soll ein wirklich Anderes sein
(a.a.O., S. 151). Nach K. Lehmann gibt es schließlich bei Heidegger ebenso wie bei Dilthey und Hus-
serl keine Zukunft, weil diese bei ihm eine „ungeschichtliche Vorwegnahme von Zukunft“ ist. (a.a.O.,
S. 159). Nur nach der Kehre kann man bei Heidegger mit Einschränkungen von Zukunft des Seins
sprechen (a.a.O., S. 160).
Angesichts dieses hier skizzierten Verständnisses von Heidegger und aus der weiter oben ge-
führten Interpretation von „Phänomenologie des religiösen Lebens“ (Bd. 60) können folgende Schluß-
folgerungen gezogen werden:
1. Der in den Vorlesugen des Bd. 60 verortete Begriff des Glaubens als Warten in Trübsal und Voll-
zug der Geschichte kann werkgeschichtlich als direkter Vorlauf sowohl der Zeitlichkeit des trans-
206
zendenten Daseins in „Sein und Zeit“ als auch des Zeit-Raums des späteren Heideggers aufgefasst
werden.
2. Gott als Forderung eines Absoluten und ganz andere Zukunft wird zum Korrelat eines theoreti-
schen Bezugs zwischen Ihm und einem punktuellen Ich. Auf jeden Fall soll Gott deswegen Erfül-
lung oder Erlösung sein und nicht ein neutrales, erweitertes Bezugsmoment für ein indifferentes
Ich. Der Mensch soll ein „Woher“ in Richtung zu Gott haben und nicht bloß einen Halt für sein
vorhandenes Ich finden. Dieses „Woher“ als ein nach Erfüllung verlangendes Element soll die
Wahrheit Gottes als Transzendenz und „Bedingung“ des Seins Gottes sehen. Der Mensch braucht
eine Stimmug und eine notwendige Motivation zu Gott, welche nicht die Aufhebung unter einer
bevorstehenden Idee und Realität sein kann, sondern auch Gott irgendwie konstituieren153 und
vollziehen soll! Sonst wird Gott als Realität vorausgesetzt und unter den realen Bedingungen des
Menschen trotzalledem bedingt. Gott soll als Wahrheit dargestellt und nicht als Sein vorausgesetzt
werden. Dieser ist der Sinn von Wahrheit bei Heidegger.
Auch die Welt, das Sein und das Leben werden nicht als sich entziehende absoluta vorausgesetzt,
obwohl es keine totale äußere Reflexion über diese geben kann, sondern in ihrer Wahrheit dargestellt.
3. 4. 3. Das Christliche bei Heidegger in „Phänomenologie und Theologie“
3. 4. 3. 1. Christentum und Christlichkeit
In den Holzwegen („Nietzsches Wort «Gott ist tot»“, Bd. 5, S. 202) und in der Auseinanderset-
zung mit Nietzsche unterscheidet Heidegger zwischen Christentum und Christlichkeit.154 Überhaupt
ist diese Unterscheidung kennzeichnend für die Heideggersche Position.155 Christentum ist „die ge-
schichtliche, weltlich-politische Erscheinung der Kirche und ihr Machtanspruch innerhalb der Gestal-
tung des abendländischen Menschentums.“ Christlichkeit ist die echte Nachfolge Christi. Das Christli-
153 In seinen Entwürfen zu einer nicht gehaltenen Vorlesung "Die philosophischen Grundlagen der mittelalterli-chen Mystik" (Bd. 60, 1918/19) fragt sich Heidegger., ob Gott vorgegeben im Glauben ist oder im Gebet konsti-tuiert wird, und ob eine Mannigfaltigkeit von Konstitutionstypen besteht (S. 307). In diesen Entwürfen sucht Heidegger bei der mittelalterlichen Mystik und hinter einem religiösen und theologischen Apriori nach der ur-sprünglichen Motivation des Verhältnisses zu Gott. Weiterhin ist das Heilige nicht ein theoretisches Noema einer punktuellen Existenz in einer schlechthinnigen Abhängigkeit, sondern das Korrelat eines nach Erfüllung stre-benden historischen Bewußtseins bzw. des Glaubens (S. 330 ff.). 154 Nach G. Haefner findet sich diese Unterscheidung noch bis 1964 (Christsein im Denken. Zu Heideggers Kritik der christlichen Philosophie. In: Theologie und Philosophie, 68. Jg., Heft 1, 1993, S. 6 ff.). 155 Sehr oft beginnt die Untersuchung des Bezugs Heideggers zur Theologie mit der Erörterung dieser Themati-sierung und teilt sich insgesamt in 3 Teile, von welchen der zweite die Kritik Heideggers an die metaphysiche Theologie und der dritte Heideggers seynsgeschichtliche Theologie ist. Solcherart ist z.B die Gliederung bei P. Brkic (M. Heidegger und die Theologie, Mainz 1994). In dieser Thematisierung sollte man allerdings die Theo-logie des christlichen Glaubens im Hintergund der Marburger Theologie und in der Auseinandersetzung mit R. Bultmann betrachten. Die Kritik der metaphysischen Theologie sollte aus der Diagnose der Ontotheologik und
207
che Leben bedarf nicht unbedingt des Christentums. In diesem Sinn sei aber der Glaube der echte und
immer reine Ansatzpunkt der Theologie. Die Christlichkeit selbst gab es nur wähernd der ersten 20
Jahre der christlichen Religion vor der Abfassung der Evangelien und der Missionspropaganda des
Paulus. Das Christentum selbst ist ein Abfall aus der Christlichkeit. Es ist die Verwirklichung der Kir-
che mit ihrer Theologie als einer selbstbewußten, in sich begründeten Lehre, die metaphysischen Cha-
rakter hat. Die Christlichkeit aber habe die Fähigkeit, aus eigenem Wesen eine verschiedenartige, nicht
metaphysische Theologie zu entwickeln, sofern sie der ursprüngliche Glaube ist. Die Theologie
wächst auf dem Boden des Glaubens. Nach Heidegger „...(ist) die positive Aufgabe für die Theologie,
in ihrem eigenen Bereich des christlichen Glaubens aus dessen eigenem Wesen zu erörtern, was sie zu
denken und was sie zu sprechen hat“ (Phänomenologie und Theologie, Bd. 9, 1927, S. 77). Oder in
den Holzwegen: „Darum ist eine Auseinandersetzung mit dem Christentum keineswegs und unbedingt
eine Bekämpfung des Christlichen, so wenig wie eine Kritik der Theologie schon eine Kritik des
Glaubens ist, dessen Auslegung die Theologie sein sollte“ (Nietzsches Wort, a.a.O., S. 203).
3. 4. 3. 2. Die Christlichkeit entscheidet über das Christentum
Im Aufsatz „Phänomenologie und Theologie“ vom Jahr 1927156 untersucht aber Heidegger das
Christliche und die Christlichkeit von einem radikaleren Standpunkt aus. Hier übt Heidegger Kritik an
der Christlichkeit und am Glauben und nicht nur am Christentum. Im Aufsatz wird die Theologie als
positive Wissenschaft gekennzeichnet. Eine positive Wissenschaft hat als Gegenstand ein vorliegendes
Seiendes, welches im Fall der Theologie das Christentum ist. Auf der anderen Seite gehört die Theo-
logie ihrerseits selbst zum Gegenstandsbereich und zum Geschehen des Christentums. Sie ist somit
Selbstbewußtsein des Christentums, und zwar nicht einfach entsprechend seiner geschichtlichen Pro-
zessualität und der weltgeschichtlichen Parameter, sondern vielmehr auf Grund seines ermöglichenden
Wesens, welches die Christlichkeit ist. Die Christlichkeit entscheidet, ermöglicht und gestaltet das
Christentum, dessen Selbstbewußtsein die Theologie ist.
Im folgenden wird eine Interpretation des Aufsatzes „Phänomenologie und Theologie“ in erhel-
lender Kontrastierung zu einer Theologie des Glaubens versucht. Dabei steht nicht die Auseinander-
setzung mit einer solchen Theologie im Vordergrund, sondern durch diese Kontrastierung sollen die
theologischen Bezüge Heideggers im besagten Aufsatz deutlicher gemacht und angeeignet werden.
Im besagten Aufsatz sieht Heidegger Christlichkeit und Theologie in erster Linie als Bewußt-
sein ihrer ermöglichenden Funktion. In der Geschichte hat die Theologie eine hohe reflektierende Fä-
dem Wesen der Metaphysik und der Wahrheit erörtert werden, und die seynsgeschichtliche Theologie als imma-nente Entwicklung des heideggerschen Denkens angesehen werden. 156 Nach H. G. Gadamer beginnt die Freundschaft Heideggers mit R. Bultmann im Jahr 1923 (Hegel, Husserl, Heidegger, GW Bd. 3, Tübingen 1987, S. 314). Nach O. Pöggeler birgt sich hinter dem Aufsatz "Phänomenolo-gie und Theologie" eine lange Diskussion Heideggers mit R. Bultmann (Hegels Idee, a.a.O., S. 354). So impli-ziert die Thematisierung in diesem Aufsatz die Problematik der Entmythologisierung (S. 415). Auch A. Jäger
208
higkeit entwickelt, ohne die sie ihren Ansatzpunkt und ihr Wesen verloren hätte. Sie soll dieses Wesen
weiter reflektieren und bewahren und nicht im Zuge ihrer Forschungsgeschichte modifizieren, wie es
z.B. in der Physik, deren Gründe heute anders sind als vor 500 Jahren, von statten ging.
Die Christlichkeit bestimmt die Form der Theologie. Es gibt eine enge Verbindung zwischen
„Objekt“ und Methode, wodurch die Methode immer von diesem Positum als dessen begriffliches
Bewußtsein bestimmt bleibt. Das begriffliche Wissen des „ursprünglich geschichtlichen Ereignisses“
ist keine fundamentale Analytik aus einem neutralen Standpunkt heraus, sondern es ist damit nur die
schlichte Verknüpfung von „Objekt“ und Methode gemeint. „Deshalb ist die Theologie ihrem Positum
nicht in der Weise fremd und beliebig, wie der messende Zugriff bei den Naturwissenschaften etwa,
sondern sie ist als Wissenschaft die Darlegung eines selbst geschichtlich sich lebenden „Wissens“
bzw. Verstehens.“157 Letztendlich braucht aber die Theologie, wie wir sehen werden, die korrektive
Anzeigung der Philosophie.
3. 4. 3. 3. Christlichkeit ist der gläubige Glaube an den geoffenbarten Gott
Die Weise der Annäherung ist die schlichteste: der Glaube. Die Christlichkeit ist der christliche
Glaube. „Christlich nennen wir den Glauben. Dessen Wesen läßt sich formal so umgrenzen. Der
Glaube ist eine Existenzweise des menschlichen Daseins, die nicht aus dem Dasein und nicht durch es
aus freien Stücken gezeitigt wird, sondern aus dem, was in und mit dieser Existenzweise offenbar
wird, aus dem Geglaubten“ (Phän. und Theol., 1927, S. 53). Glaube ist Glaube an den Christus als den
gekreuzigten Gott (ebenda). Der gekreuzigte Gott ist der einzige geoffenbarte Gott. Christlichkeit ist
der Glaube an den gekreuzigten Christus als den geoffenbarten Gott. Christus ist der Geglaubte in
einem gläubigen Verhältnis. Der Glaube ist die Gläubigkeit der Existenz und nicht das ganze Dasein.
Der Glaube ist keine modifizierte Erken-ntnisart des Daseins, sondern der sich glaubende Glaube.
„(...) an dem Geschehen der Kreuzigung wird das ganze Dasein als christliches, d.h. kreuzbezogenes
vor Gott gestellt, und die von dieser Offenbarung betroffene Existenz wird sich selbst offenbar in ihrer
Gottvergessenhheit (...) das Gestelltwerden vor Gott ist ein Umgestelltwerden der Existenz in und
durch die ergriffene Barmherzigkeit Gottes. Der Glaube also versteht sich selbst immer nur gläubig“
(ebenda). Es geht um die Schwierigkeit einer Disziplin, die ihren Gegenstand nicht als einen vorhan-
denen und vorfindlichen untersuchen, nicht objektiveren will, die sich aber ebenso von diesem als
einem Fremden und nicht vom Subjekt begriffenen bestimmen lassen will. Der Gegenstand des Glau-
bens ist von ihm zirkulär und höchst reflektiert bestimmt worden. „Fides qua creditur“ und „fides quae
sieht diesen Aufsatz aus der Perspektive der Auseinandersetzung Heideggers mit R. Bultmann (Gott. Nochmals M. Heidegger, a.a.O., S. 86) und verortet ihn im Hintergrund von S.u.Z. (S. 64). 157 A. Gethmann-Siefert, Das Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken M. Heideggers, Freiburg-München 1974, S. 52.
209
creditur“ fallen in eins. Solcherweise vollzieht sich eine transzendental-dialektische Genese, die so-
wohl passiv als auch aktiv ist.
3. 4. 3. 4. Die Dialektik des Glaubens
So verschwindet Gott aus einem dem Subjekt entgegengesetzten Raum. „Auch objectum forma-
le quod und objectum formale quo - die Erhellung der wissenschaftlichen Umgangsart mit dem Positi-
vum der Theologie und die Erhellung des noch unbegrifflichen Seinsverständnisses fallen in diesem
Wissen von einer geschichtlichen und damit als Wahrheit gelebten Existenzweise teilweise zusam-
men.“158 Die Theologie erweist sich als eine Dialektik, in der aber ihr Anfang sowohl im glaubenden
Subjekt als auch im Geglaubten verortet werden könnte. Das Problem der Beziehung einer Disziplin
zu ihrem Gegenstand ist in der Theologie das Problem des Anknüpfungspunktes oder des Anfangs.
Das Problem in der Theologie scheint schwieriger zu sein als in der Philosophie, weil ihr Gegenstand
der überweltliche Gott ist. Der logos anthropou kommt in Beziehung mit dem logos theou. Es ist
wegweisend, daß es um Logos geht - und das im Sinne der Logostradition des Abendlandes - und wie
dieser in der Metaphysik gedeutet ist. Hier wird der Logos zum Glauben, der seine Aktivität dialek-
tisch passiv umsetzt. Er macht Gott zum Subjekt und läßt sich von ihm bestimmen. Also ist dadurch
die Subjektivität projiziert, die dann durch die Bestimmung des Menschen vom göttlichen Subjekt
vermittelt wieder Gott voraussetzt. Die Vermittlung der Aktivität bringt auf dem Gang einer Dialektik
einen unmittelbaren Gott hervor, welcher sich am Ende wieder als der eigentliche Anfang erweist.
Vielleicht sollte eine solche Theologie die -logie nicht durch eine Dialektik überwinden wollen und
jenseits einer solchen Dialektik zweier Logoi, des göttlichen und menschlichen, ansetzen. So wäre
Gott kein Logos und keine Idee seiner Göttlichkeit, keine absolute Position, die dialektisch zu sich
kommt, sondern - wie im nächsten Abschnitt über das Heilige dargestellt wird - der gekreuzigte und
auferstandene Gott, welcher aus einem Da entspringt und sich undialektisch konstituiert. Das Heilige
und der Gott der Eschatologie stehen gegen einen ewigen Gott des Anfangs, welcher zu seinem Ende
kommt.
Der Glaube ist dialektisch. Der Glaube kommt aus der formaldialektischen oder positiven Nega-
tion und Aufhebung des Unglaubens.159 Dem Verständnis R. Bultmmanns nach: „(...)Glaube ist immer
nur im Überwinden des Unglaubens; denn als Mensch kommt der Glaubende immer aus dem Unglau-
ben und steht immer in der Paradoxie des ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben“ (Glauben und
158 ebenda. 159 Interessant ist in diesem Kontext die Kantsche Beschreibung des Erhabenen dem Schönen gegenüber. "Jenes aber (sc. das Gefühl des Erhabenen) eine Lust ist, welche nur indirekt entspringt, nähmlich so daß sie durch das Gefühl einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich desto stärkeren Ergießung der selben erzeugt wird" (I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Reclam Ausgabe Nr. 1026, Stuttgart 1991, §23, S. 134). Der Text von Kant ist vielleicht hermeneutisch falsch angesetzt, aber er gibt ein Beispiel der umstellenden und dialektischen Funktion des glaubenden Glaubens.
210
Verstehen, Bd. 1, Tübingen 1958, S. 311) Deswegen ist der Glaube immer Glaube an den gekreuzig-
ten Gott (Phän. und Theol., 1927, S. 52). Sonst ist er kein Glaube. Im Glauben an den gekreuzigten
Gott ist der offene Gott der natürlichen Theologie verborgen und so geglaubt. Der verborgene Gott ist
durch Christus geoffenbart. Der metaphysische Gott ist durch eine bestimmte Negation in der Verkör-
perung und im Kreuz negiert, und diese Negation ist durch die Negation des Unglaubens noch einmal
negiert. Die Offenbarung ist Nicht-Offenbarung. Die Theologie des Glaubens weiß, daß ein vom Be-
ginn an unmittelbarer Gott Herabsetzung der Göttlichkeit Gottes wäre, und deswegen vermittelt sie
Gott im gekreuzigten Christus. Auf diese Erkenntnis läuft auch eine Interpretation von Luthers Ver-
ständnis des Glaubenszusammenhangs hinaus: „Besonders im großen Galaterkommentar kann sich
Luther nicht genug darin tun, immer wieder auf Christus als den einzigen Offenbarungs-mittler hin-
zuweisen. (...). Christus ist das jucundum spectrum, in dem wir Gott sehen.“160 Deshalb ist er am Ende
der eigentliche unmittelbare Anfang. Das Geglaubte ist somit der dialektisch abgewonnene Gehalt des
glaubenden Denkens und nicht das unmittelbare Zusammenfallen des Glaubens mit dem Geglaubten
als seinem Gehalt. Im Glauben ist die Negation des Unglaubens als ein Moment enthalten. Glaube ist
das dialektische Selbstbewußtsein des Geglaubten. Das Geglaubte entsteht nicht aus einem direkten
Bezug zu einem zu glaubenden Gott, sondern dieser ist nur der geglaubte Gott und niemals der Gott
des Unglaubens, die Erfüllung und Darstellung Gottes am erleidenden Unglauben. Der Unglaube wird
negiert und nicht erfüllt. Der Glaube wird ebenfalls nicht erfüllt, sondern ist nur als Selbstbewußtsein
einer Unmittelbarkeit durch die Aufhebung des Unglaubens vorhanden. Der Glaube ist Selbstbewußt-
sein durch die Aufhebung des Unglaubens und nicht einfaches Glauben eines Zu-Glaubenden. „Der
Glaube ist nicht etwa, wodurch-worin lediglich das Heilsgeschehen als ein Vorkommnis offenbar
wird, also gewissermaßen eine andere Er-kenntnisart, sondern der Glaube macht als Offenbarungsan-
eignung selbst das christliche Geschehen mit aus“ (a.a.O., S. 54). Die Gegenstandslosigkeit161 des
Glaubens macht seinen Gegenstand aus. Gott ist der geoffenbarte Gott des Glaubens in seiner „Got-
tesvergessenheit“ (a.a.O., S. 53). Dieser nach der Vermittlung des Unglaubens unmittelbare Gott ist
das Positum der Theologie als positiver Wissenschaft. Gott ist positive Voraussetzung und Aufhebung
aller, er ist der geoffenbarte Gott im gekreuzigten Christus.
3. 4. 3. 5. Das äußerste Ende der Offenbarung und die Abgeschlossenheit der Geschichte
Die Offenbarung hat einen Anfang und ein Ende als bestimmtes Verenden dieses Anfangs. Die
Offenbarung hat ein Ende, deshalb soll ihre Aneignung einen Beginn haben, der nicht mit der Ge-
schichte vereinbar ist. Der Gott offenbart sich nicht in der Geschichte als in einem öffentlichen Leben,
160 W. von Loewenich, Luthers theologia crucis, Schwerin 1967, S. 44. 161 G. Kuhlmann (Zum theologischen Problem der Existenz. In: G. Noller (Hsg.), Heidegger und die Theo-logie, München 1967, S. 37) sagt über Schleiermacher: "Denn die Gegenstandlosigkeit ist gerade die Gegenständlich-keit", und in S. 36 verweist er auf K. Barth bezüglich der Offenbarung als Nicht-Offenbarung.
211
sondern stellt einen Vertreter162, in dem die Gottheit ausschließlich versammelt ist, und angesichts
dessen die Geschichte der Schauplatz und nicht das „Wozu“ oder „Womit“ der Offenabarung ist. Die
Stellvertreter-Theologie weist eine monotheistische und ungeschichtliche Intention auf. In der Stell-
vertretertheologie war Christus nicht nur Vertreter der Gottheit, sondern auch der Menschheit. Die
Offenbarung ist als eine stellvertretende abgeschlossen. Die menschliche Geschichte kann nicht das
„Wozu“ und „Womit“ der Offenbarung Gottes sein, und sie kann auch nicht an Gott ihr Ende und ihre
Erfüllung haben, sondern sie soll sich aufheben, um so an Gott zu glauben und zu ihm zu gehören.
Die Theologie als Verkündigung Christi in seiner abgeschlossenen Geschichte und Wahrheit fährt fort,
eine Mitteilung dieses vermittelt-unmittelbaren Positums zu sein. Sie ist nicht die Geschichte des Seins
und seiner Wahrheit, sondern sie hat eine Mitteilungsrichtung in dieser. „Um dieses Faktum kann nur
im Glauben >gewußt< werden. (...). Diese Offenbarung ist als Mitteilung keine Übermittlung von
Kenntnissen über wirkliche bzw. gewesene oder erst eintretende Vorkommnisse, sondern diese Mittei-
lung macht zum >Teil-nehmer< an dem Geschehen, welches die Offenbarung = das in ihr Offenbare
selbst ist“ (a.a.O., S. 52).
3. 4. 3. 6. Die Theologie ist historische Wissenschaft, weil sie keine Geschichte hat
Die Theologie ist keine Geschichte, sondern ihr positiver Inhalt soll in der Zeit mitgeteilt wer-
den. Von ihrer Natur her ist die Theologie historische Wissenschaft. „(...) sie ist historische Herme-
neutik, deren Ziel das Verstehen eines historischen Ereignisses in seinem gelebten Vollzug ist, nicht
die Frage nach der bedingenden ontologischen Geschichtlichkeit.“163 So sind die historische und sys-
tematische Seite der Theologie eng verbunden. Theologie ist das System eines positiven „geschehen-
den Geschehens“, weil sie historische Wissenschaft mit allgemeinem existenziellem und weltge-
schichtlichem Anspruch ist.
Das historisch Ereignete soll aus seiner Abgeschlossenheit im jeweiligen Jetzt begründet wer-
den. Die „fides specialis“ affiziert im Gegensatz zu der „fides historica“ das glaubende Subjekt. Die
fides historica soll fides specialis werden. „Denn dieses Geschehen, auf das sich der Glaube richtet, ist
nicht historisch im Sinne eines abgeschlossenen, hinter uns liegenden Ereignisses, sondern ist im
162 Im Gegensatz zu der Positivität der hier referierten theologia crucis steht die trinitarische theologia crucis. Einer ihrer Vertreter ist J. Moltmann (Der gekreuzigte Gott, München 1976). Das Kreuz ist ein intertrinitarisches Ereignis. Dadurch ist die immanente Trinität geoffenbart und die Geschichte an ihr angeschlossen und eschato-logisiert. "Der ewige Gott hat seine Majestät keineswegs in die Menschheit Jesu `verhüllt´, um den Menschen gnädig zu nahen. Eine solche modalistische Christologie muß eschatologisch im christlichen Monotheismus und Pantheismus enden" (S. 254). "Die Geschichte Gottes ist dann (sc. in der trinitarischen theologia crucis) als Ho-rizont der Welt zu denken, nicht umgekehrt die Welt als Horizont seiner Geschichte" (S. 204). "Durch das Kreuz wird die trinitarische Geschichte in Gott zwischen dem Vater und dem Sohn im Geist als eschatologische Ge-schichte nicht abgeschloßen, sondern erst eröffnet" (S. 254). "Aus der funktionalen und soteriologischen Stell-vertretersoteriologie wird dann eine doxologische Sohnchristologie" (S. 254). 163 A. Gethmann-Siefert, Das Verhältnis, a.a.O., S. 53.
212
Glauben täglich neu.“164 Dieses Neu-werden ist neu aus seinem überholten Zustand heraus und nicht
selbst als Geschichte, die jeden positiven Anfang überholt. Dieses besondere Geschehen hält seinen
positiven und deshalb ungeschichtlichen Charakter in der Schrift als das geoffenbarte Wort Gottes.
Christus und die heilige Schrift, und nicht die Geschichte, sind beide Stellvertreter und Orte der Ver-
sammlung der einmaligen Offenbarung Gottes. „(...) und zwar bezeugt sich dieses Geschehnis als sol-
ches in seiner spezifischen Geschichtlichkeit nur für den Glauben in der Schrift“ (a.a.O., S. 52), „(...)
daß eben diese Bezogenheit auf das Wort alle Unbezogenheit von aller gegenständlichen Erfahrung
bedeutet, und daß diese inhaltliche Erfülltheit exklusiven Charakter hat.“165 Das Wort166 bewahrt die
historische Positivität dieses vermittelten und nun unmittelbaren Geschehens. Alle Offenbarungsreli-
gionen haben Texte im Sinne eines bestimmten Testaments für die Mitteilung des positiven und abge-
schlossenen und unmittelbaren Geschehens. Diese Mitteilung übernimmt die Mission.167
3. 4. 3. 7. Die dialektische Theologie ist Vertiefung der historischen Methode. Die Theologie ist systematisch, weil sie historisch ist
Die fides historica soll vergeschichtlicht und fides specialis werden. Dies ist der Grund der dia-
lektischen Theologie, die keine Ersetzung oder Umwandlung, sondern Vertiefung168 der historischen
Methode ist. Sie soll in jedem „Jetzt“ aus ihrem alten positiven historischen Zustand neu werden. Die
Theologie gibt Rechenschaft für ihren unglaubenden Ansatz. Der letzte wird in der Geschichte immer
wieder im eigentlichen Anfang aufgehoben.169 Deshalb ist die Theologie fides quaerens intellectum.
164 W. von Loewenich, Luthers theologia crucis, a.a.O., S. 130. 165 A.a.O., S. 131. 166 Wir können sagen, daß die Theologie des Wortes, welche überwiegend eine systematische Leistung der pro-testantischen Theologie ist, Heideggers Konzept der Sprache, besonders der späteren Werke, sehr nah kommt. So ist das Wort kein Zeichen und kein Übertragen auf einen adäquaten Sinninhalt und kein Instrument des Men-schen, sondern ein Rufen im Ort des Versammelns der Wahrheit, ein Wohnen des Seins in seinem Haus, welches die Sprache ist. Im theologischen Konstext siehe: E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., S. 12ff., 222, 311, 402 ff. In diesem Sinne und im Zusammenhang mit dem deutschen Idealismus siehe: W. Schulz, Anmer-kungen zur Hermeneutik Gadamers. In: Hermeneutik und Dialektik Bd. I, a.a.O., S. 312. 167 Wenn die Mission als eine mechanische Bewegung der Kirche für ihre mitgeteilte Ausbreitung verstanden wird, dann ist sie Missionspropaganda. Die Mission soll zuerst eine organische und "innere" Aufgabe der Theo-logie und der Kirche sein, und sie hat die Bedeutung des In-die-Ferne-Gehens im Inneren. So ist die Mission kein weltpolitisches Machtinteresse, sondern die Eschatologie und geschichtliche Unabgeschlossenheit der Wahrheit Gottes. Die Theologie ist dann in ihrem Wesen Mission, Unhemmung der Wahrheit, keine Selbstge-wißheit. 168 R. Bultmann, Die Bedeutung der dialektischen Theologie für die neutestamentarische Wissenschaft. In: Glauben und Verstehen, Bd. I, Tübingen 1958, S. 118. 169 Bei Hegel verlangt der hypothetische Anfang eine Begründung. So ist der Gang der Sache eine Zurückfüh-rung in den Grund. "Die Einsicht, daß das Absolut-Wahre ein Resultat sein müsse, und umgekehrt, daß ein Re-sultat ein erstes Wahres voraussetzt, das aber weil es Erstes ist, objektiv betrachtet, nicht notwendig und nach subjektiver Seite nicht erkannt ist, hat in neueren Zeiten den Gedanken hervorgebracht, daß die Philosophie nur mit einem hypothetischen und problematischen Wahren anfangen (...) sein könne (...) jene Ansicht schließt die Rücksicht auf das Fortgehen sogleich in sich. Und zwar stellt sich es vor, daß das Vorwärtsschreiten in der Phi-losophie vielmehr ein Rückwärtsgehen und Begründen sei, durch welches erst sich ergebe, daß das, womit ange-
213
Die fides quaerens intellectum begründet ihren ersten historischen Ansatz in weiteren historischen
Ansätzen, hebt aber diese Begründung in ihrem positiven und vermittelt-unmittelbaren Anfang auf.
„Die Theologie ist systematisch, weil sie historisch ist“ (a.a.O., S. 55 ff.). Derartig ist die Theologie
fides quaerens intellectum, oder anders gesagt, Bewegung170 des Glaubens. Die Theologie des Glau-
bens oder des Kreuzes ist eine fundamentale Ablehnung des Rationalismus, die aber nichtsdestotrotz
dessen entscheidende Voraussetzung wiederholt: Das Gegenübersetzen zweier Logoi, des menschli-
chen und göttlichen und ihre Dialektik. Weiterhin das Funktionieren des Glaubes als sich gründenden
Grundes. Glaube ist Bewußtsein der Mittelfunktion der Mittel, weil er seinen unglaubenden Ansatz
immer wieder vermittelt. Der Ansatz des Glaubens wird immer als negative Voraussetzung des Ge-
glaubten aufgehoben. Der Glaube kann oder soll sogar jeden beliebigen und unglaubenden Ansatz im
Geglaubten aufheben - in diesem Sinne drückt er Freiheit und Liberalität aus. Sofern Gott weder Erfül-
lung des Unglaubens noch des Glaubens ist, sondern unmittelbarer Gott durch die Aufhebung des Un-
glaubens, kann der Glaube nicht des Geglaubten gewiß sein, wenn er nicht zuvor den Unglauben als
negative Voraussetzung aufgehoben hat. Die früher erwähnte Mitteilung hat ebenso diese negative
Voraussetzung inne.
3. 4. 3. 8. Die radikale Freiheit des Glaubens und die formal korrektive Anzeigung der Philoso-phie
Der positive Glaube ist frei und fähig alles im Geglaubten zu vermitteln. Gegenüber dem ge-
glaubten deus revelatus ist alles Mittel. K. Löwith beschreibt es präzise. „Weil der Protestantismus,
insbesondere der dialektischen Theologie, prinzipiell skeptisch ist gegen alle Empirie und empirische
Äußerung des Glaubens, weil er so radikal protestantisch ist: sogar auf jeden ethischhen und religiösen
Ausweis des Glaubens als einen allzu menschlichen zu verzichten, und weil er an nichts anderes
glaubt als an den puren Glauben selbst, deshalb kann er sich auch mit einer ungläubigen, rein philoso-
fangen wurde, nicht bloß ein willkürlich Angenommenes, sondern in der Tat teils das Wahre, teils das erste Wahre sei" (GWF Hegel, Logik, Die Lehre vom Sein 1832, Meiner Verlag Ausgabe, Hamburg 1990, S. 59). 170 Ein ähnliches Beispiel wäre das Räsonieren bei Hegel. "Das andere, das Räsonieren, hingegen ist die Freiheit von dem Inhalt, und die Eitelkeit über ihn; ihr wird die Anstrengung zugemutet, diese Freiheit aufzugeben, und statt das willkürliche bewegende Prinzip des Inhalts zu sein, diese Freiheit in ihn zu versenken, ihn durch seine Natur, das heißt, durch das Selbst als das seinige, sich bewegen zu lassen, und diese Bewegung zu betrachten. (...) Es sind an dem räsonierenden Verhalten die beiden Seiten bemerklicher zu machen, nach welchen das be-greifende Denken ihm entgegengesetzt ist. Teils verhält sich jenes negativ gegen den aufgefassten Inhalt, weiß ihn zu widerlegen und zunichte zu machen. Daß dem nicht so sei, diese Einsicht ist das bloß Negative, es ist das Letzte, daß nicht selbst über sich hinaus zu einem neuen Inhalt geht, sondern um wieder einen neuen Inhalt zu haben, muß etwas Anderes irgendwoher vorgenommen werden. Es ist die Reflexion in das leere Ich, die Eitelkeit seines Wissens (...). Dadurch, daß diese Reflexion ihre Negativität selbst nicht zum Inhalte gewinnt, ist sie über-haupt nicht in der Sache, sondern immer darüber hinaus, sie bildet sich deswegen ein, mit der Behauptung der Leere immer weiter zu sein, als eine inhaltsreiche Einsicht" (GWF Hegel, Phänomenologie des Geistes, Meiner Verlag Ausgabe, Hamburg 1988, S. 43 ff.).
214
phischen Interpretation eines ungläubiges Daseins vereinigen.“171 Diese Vereinigung ist nichts anderes
als die Mittelfunktion der Mittel, aber nicht im Sinne der Philosophie als ancillae theologiae, sondern
als einer formal korrektiven Anzeigung für die Theologie. Diese Entwicklung bezeichnet den Unter-
schied zwischen der philosophisch-metaphysischen Theologie und der dialektischen Theologie des
reinen und radikal positiv-freien Glaubens. Die Philosophie ist das formal korrektiv Anzeigende für
die Theologie. „Philosophie ist das formal anzeigende Korrektive des ontischen, und zwar vorchristli-
chen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe.“(a.a.O., S. 65). Das korrektiv Anzeigende zwingt die
Theologie zur Korrektur ihrer selbst, ihres positiven Anfangs als Aufhebung des ansetzenden Unglau-
bens. Das Aufgehobene ist für die Theologie etwas Vorhandenes und Zufälliges. Es könnte auch ein
anderes sein, z.B. ein anderes Wort, eine andere Sprache, eine andere Ontologie, ein anderer Lebens-
zusammenhang. Gott ist nicht die Erfüllung des Unglaubens und der Geschichte, sondern ihre Aufhe-
bung. In der Geschichte sind aber diese aufgehobene unglaubende Worte nicht zufällig, sondern sie
haben genau eine Geschichte. In dieser Geschichte wird das von der Theologie Gebrauchte philoso-
phisch und sogar geschichtlich entwickelt. So soll auch die Theologie hinter diese Geschichte ihres
aufgehobenen Ansatzpunktes laufen und diesen und sich selber begründen und diese Begründung wie-
der in sich aufheben. Sie zeigt, daß ideengeschichtlich heute ihr alter Ansatzpunkt auch in einem ande-
ren Entwicklungszusammenhang korrigiert, entmythologisiert und begründet ist. So antwortet sie auf
die formal korrektiv anzeigende Frage der Philosophie und der Geschichte. Sie ist positiv frei in der
Geschichte und soll ihren aufgehobenen unglaubenden Ansatz in einer geschichtlich anderen Situation
rechtfertigen und begründen. Sie ist eine solche Rechtfertigung gegenüber der korrektiven Frage der
Philosophie nach außen und gegenüber ihrer eigenen Positivität nach innen, sie soll die neue Korrektur
und Begründung wieder im Geglaubten aufheben. Gott ist keineswegs Erfüllung, sondern die voraus-
gesetzte vermittelte Unmittelbarkeit.
3. 4. 3. 9. Die Theologie des gläubigen Glaubens ist Theodizee Gottes und nicht seine Darstellung
Auch nach R. Bultmann ist die Philosophie formal korrektiv Anzeigendes für die Theologie.
„Die Theologie lernt in diesem Falle ja im Grunde nicht von der Philosophie, sie übernimmt nicht
deren System oder Dogmen, sondern sie läßt sich von ihr an das Phänomen weisen; Sie läßt sich von
dem Phänomen belehren, vom Dasein, dessen Struktur die Philosophie aufdeckt.“172 Das heißt, daß
die Theologie nicht mit dem Phänomen aus der Geschichte des Seins anfängt, sondern dieses als for-
mal korrektiv Anzeigendes für ihren aufzuhebenden Ansatz benutzt. Die Theologie vollzieht „selbst
die Bewegung des Philosophierens.“173 „Sie (die Bewegung) kann nur begründet sein in einem Au-
171 K. Löwith, Phänomenologische Ontologie und Protestantische Theologie. In: G. Noller (Hsg.), Heidegger und die Theologie, München 1967, S. 123. 172 R. Bultmann, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, In: G. Noller, a.a.O., S. 77. 173 R. Bultmann, Die Bedeutung der dialektischen Theologie. In: Glauben und Verstehen Bd. I, Tübingen 1958, S. 118.
215
genblick, nicht als Spekulation von einer Idee des Systems der Wissenschaften aus, sondern nur als
konkreter Vollzug des Glaubens gegen die Forderung einer konkreten Situation.“174 Und das, weil die
Philosophie nur formal und nicht inhaltlich korrektiv Anzeigendes ist. Gott gründet den ersten christli-
chen Ansatz und seine spätere Korrektur in der Geschichte. Der Logos der Theologie ist schon legiti-
miert. Er hat seinen Logos-Grund. Es geht nicht um Sprache, die sich an Gott wagt, Gott anspricht, in
der Gott wohnt, sondern um Sprache, deren Bestand von Gott gegründet ist, und um die Reklamation,
Dialektik, Apologetik dieses Bestandes. Anstatt, daß die Theologie wagende und ansprechende, einfa-
che Rede „zu“ Gott ist, ist sie vorauseilende Rechtfertigung des Vollzugs dieser Rede. Solcherweise
ist sie Rechtfertigung, Apologie des Bestandes ihres Logos durch Gott und so Rechtfertigung Gottes,
Theo-logie. Sie ist nicht Logos, sondern Rechtfertigung desselben durch seine Aufhebung im geglaub-
ten Gott. Die Theo-logie gründet sich in Gott.
Der unglaubende Ansatz des gläubigen und nicht einfachen Glaubens ist negative Vorausset-
zung und Vermittlung, damit ins Geglaubte übergegangen werden kann. Die vorchristliche Existenz ist
negiert und überwunden, aber auch aufbewahrt, weil sie notwendiges Moment des Prozesses ist. „Im
Glauben ist zwar existenziell-ontisch die vorchristliche Existenz überwunden. (...) in der gläubigen
Existenz das überwundene vorchristliche Dasein existenzial-ontologisch miterschloßen liegt. (...) Alle
theologischen Begriffe bergen notwendig das Seinsverständnis in sich, das das menschliche Dasein als
solches von sich aus hat, sofern es überhaupt existiert“ (Phän. und Theol., S. 63). Eine natürliche
Theologie175 ist metaphysische Spekulation. Nach R. Bultmann ist das Verstehen als Hören profan176,
sonst hätte die Verkündigung keinen Sinn. Die Offenbarung aktualisiert die Fragwürdigkeit dieses
Verständnisses. Dieses Verstehen ist aber kein Lebenszusammenhang, sondern Verständnis der Ohn-
mächtigkeit des Lebenszusammenhangs aus seiner sündigen Situation heraus. „Vielmehr wird der
Lebenszusammenhang durch das Verstehen erst voll konstituiert.“177 Der alte Lebenszusammenhang
ist nicht ein Vor-verstehen, sondern die zu negierende Prämisse als ein Nicht-Verstehen. „Auch dann
aber wird das Neue vom Alten her verstanden, gerade wenn es seine Negation ist.“178 Verstehen ist
Verstehen der Ohnmächtigkeit des Lebenszusammenhangs: Das Neue ist Negation des Alten. Konti-
nuität ist die Kontinuität einer Verneinung im Verstehen. „Der pure Akt des Glaubens macht ihn zum
Christen, ohne ihn aber als Menschen substantiell zu verändern.“179 „Die Vergebung setzt gerade die
Kontinuität des Gläubigen als den neuen mit dem alten Menschen voraus. Er, der Mensch, ist es, der
174 R. Bultmann, Das Problem der natürlichen Theologie. In: Glauben und Verstehen Bd. I, a.a.O., S. 312. 175 R. Bultmann, Das Problem der natürlichen Theologie, a.a.O., S. 294. 176 R. Bultmann, Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube, a.a.O., S. 80 ff. 177 R. Bultmann, Das Problem der natürlichen Theologie, a.a.O., S. 296. 178 Ebenda. Dagegen versteht E. Jüngel in bezug auf K. Barth das Neue positiv als eine "eschatologisch ausge-richtete Gegenwart" (Gott als Geheimnis der Welt, a.a.O., S. 236). "Man darf es also nicht so verstehen, als lasse Gott das Bestehende nichtig werden, um sozusagen wieder ganz von neuem anfangen zu können. Sondern um-gekehrt: weil Gott, wenn er uns auf sich so anspricht, daß er sich uns zuspricht, immer ein Neues schafft, deshalb wird das Alte nichtig" (ebenda. In diesem Kontext siehe auch S. 395). 179 K. Löwith, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie, a.a.O., S. 123.
216
glaubt-simul peccator, simul justus.“180 Das glaubende Subjekt ist kein Dasein, das sein Sein über-
nimmt, sondern sich selbst als negative Voraussetzung einer formaldialektischen181 Aufhebung ansetzt
und so an Gott glaubt, oder besser, Gott als eigentlichen Anfang dieser Dialektik bis zum Ende voraus-
setzt. „Er kann vielmehr diese Existenzmöglichkeit nur >glauben<. Als eine solche, deren das betrof-
fene Dasein von sich aus nicht mächtig (...) (sc. ist)“ (Phän. und Theol., S. 53). Eine Erfüllung des
Menschen würde nach R. Bultmann einen Idealismus182 bedeuten. Nach der Vergebung ist auch wei-
terhin das glaubende Ich keine neue wirkliche Welt. Die Behauptung einer solchen Wirklichkeit „(...)
darf auch im Sinne des Glaubens gar nicht ausgewiesen werden. Denn der Glaube versteht sich als
eschatologisches Ereignis.“183 Es handelt sich um eine dauernde Aufhebung der Korrektur in der
Theo-logie als Rechtfertigung Gottes.
Es erhebt sich die Frage, wie die Verkörperung Gottes bei einer gläubigen Theologie und ihrer
negativen Dialektik verstanden wird: ob der gekreuzigte Gott ein Moment der Aufhebung im unmit-
telbaren Gott war, ob der kommende Gott der Eschatologie der gekreuzigte und auferstandene Gott ist
oder der anfangende, aufhebende, alles vermittelnde und unmittelbare Gott, ob eine Eschatologie ohne
Heilsgeschichte einen Sinn hat, oder ob die Kirche und die Menschlichkeit Gottes überhaupt innerhalb
eines metaphysischen Gottes als ein Moment aufgehoben werden. Solche Theo-logie ist Rechtferti-
gung Gottes, aber nicht seine Ge-währung, Götterung und Darstellung als Wahrheit aus dem Nichts
und dem Fehl und nicht als Verwirklichung Gottes als absoluter Position und summi entis. Solche
Theo-logie und Theodizee ist die Geschichtsphilosophie Hegels. „Unsere Erkenntnis geht darauf, die
Einsicht zu gewinnen, daß das von der ewigen Weisheit Bezweckte wie auf dem Boden der Natur so
auf dem Boden des in der Welt wirklichen und tätigen Geistes herausgekommen ist. Unsere Betrach-
tung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, (...). Diese Aussöhnung kann nur durch
die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in welchem jedes Negative zu einem Untergeordne-
ten und Überwundenen verschwindet, (...)“ (G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der
Geschichte, Frankfurt a.M. 1989, S. 28). Solcherweise kommt der unmittelbare und vorausgesetzte
Gott zu sich. Die Theo-logie ist die Rechtfertigung und Aufhebung Aller im Gott, die Theodizee184
180 R. Bultmann, Das Problem der natürlichen Theologie, a.a.O., S. 296. 181 In diesem Sinne versteht A. Jäger (Gott. Nochmals M. Heidegger, a.a.O.) den späteren Heidegger. So ist das Sein nach S.u.Z. nicht mehr zirkelhaft mit dem Dasein bestimmt, sondern wie das Absolute im deutschen Idea-lismus, und zwar bei Schelling (S. 267-269). Das Sein ist wie Gott das negativ Absolute, welches alles negiert und in sich aufhebt. So ist der Unterschied Gottes mit dem Menschen sogar ihr Bezug (S. 453). Die Existenz Gottes oder des Seins ist die Insistenz des Menschen (seine formaldialektische Aufhebung) im Gott oder im Sein (S. 456 f.). 182 R. Bultmann, Die Bedeutung der dialektischen Theologie, a.a.O., S. 118. 183 R. Bultmann, Das Problem der natürlichen Theologie, a.a.O., S. 311. 184 Im Werk E. Jüngels "Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 1992" wird Gott in diesem Sinne als zu sich am Ende kommender Anfang verstanden. Gott ist das positive Geheimnis der Welt, zu dem diese gehört. Gott hat auch das Nichts und den Tod als seine Momente bestimmt und schon aufgehoben. Es bleibt aber doch die Frage, ob letztendlich eine erzählende Theologie, die sich nicht als negative Voraussetzung des Glaubens als nur escha-tologischen Ereignisses versteht, eine Theodizee Gottes ist und wirklich im Gott aufgehoben werden wird. Viel-leicht ist eine solche dialektische und diskursive Erzählung (a.a.O. S. 425 ff.) unaufhebbar. In diesem Sinne ist sie keine Rechtfertigung und Theodizee, sondern eine Doxo-logie, in der Gott sich nicht verwirklicht, sondern
217
Gottes als dessen Verwirklichung und Prädikation. Gott ist nicht die Darstellung seiner Wahrheit, das
Heilige und die Liebe, aus welcher er sein Sein hätte. Dieser vermittelt-unmittelbare Gott sagt nur: Ich
bin. Er kann nicht sagen: Ich bin der Seiende, bin Ich, sofern ich der Seiende bin, sofern ich das Heili-
ge und die Liebe bin.
Diesen Charakter der Positivät der Theologie des gläubigen Glaubens stellt der Aufsatz „Phä-
nomenologie und Theologie“ dar, der in die Periode von „Sein und Zeit“ gehört. Es geht in diesem
Aufsatz um eine radikale und theologisch tief greifende hermeneutische Kritik der Positivität des
Glaubens, obwohl A. Gethmann-Siefert in diesem Aufsatz den Ansatzpunkt eines konstruktiven Be-
zugs von Theologie und Philosophie bei Heidegger sieht. Dieser kann nur dann gemeint sein, wenn
sich die Theologie des gläubigen und nicht einfachen Glaubens - von dieser Kritik ausgehend - an die
Kritiklinien Heideggers besinnt. Man könnte sagen, daß die inhaltlichen Konsequenzen dieses Aufsat-
zes mehr in theologische Richtung weisen, statt weiterhin in Heideggers Werk nachzuwirken, ganz im
Gegensatz zu früher entwickelten Ansätzen, die in den Kapiteln 1 und 2 des Exkurses erörtert worden
sind. Allerdings ist dieser Aufsatz mit seiner Eindringlichkeit und Präzision in der Thematisierung und
Behandlung das Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung mit R. Bulltmann. Die Hauptpunkte
des Aufsatzes werden aber leider weder systematisch entwickelt noch wird auf sie im weiteren Werk
Heideggers eingegangen.
3. 5. Das Heilige und Plötzliche
3. 5. 1. Die Wahrheit aus der Einzigkeit. Lichtung und Verbergung als Eines und keine Dialek-tik. Das Heilige und Plötzliche
Die Wahrheit ist keine Erfüllung eines Kriteriums und auch keine Bestätigung durch ein er-
scheinendes Auftreten eines an sich Verborgenen, sondern sie ist das plötzliche und unerwartete Ent-
springen der Wahrheit aus dem Da-sein, in dem sie fehlt und in dem sie erlitten wird. Die Wahrheit
des Entzogenen und im Da seiner Verwicklung Entspringenden ist das Heilige als Verschenkung eines
Unerwarteten aus seiner Verwicklung und Verbergung im angesprochenen und erleidenden Da und
nicht aus einem höheren Gang. „Im Tod versammelt sich die höchste Verborgenheit des Seins. Der
Tod hat jedes Sterben überholt“ (Unterwegs zur Sprache, Bd. 12, Die Sprache, 1950, S. 20). Der
Himmel entspringt aus seiner Einheit mit der Erde, dem Tod. „Verhaltenes Wachstum der Erde und
die Spende des Himmels gehören zueinander. Das Gedicht nennt den Baum der Gnaden. Sein gedie-
genes Blühen birgt die unverdient zufallende Frucht: das rettend Heilige, das den Sterblichen hold ist“
(a.a.O., S. 21). Das Heilige entspringt als ein unverdient aus der Verwicklung und dem Fehl in diesem
der Angeredete und Angerufene bleibt, welcher aus dieser Doxologie dargestellt wird und zum Menschen wie-derkommt.
218
Da Ankommendes. Dieses Heilige, welches nicht erscheinende Wahrheit oder Verwirklichung des
Anfangs ist, sondern das Wahre und Währende heißt, die Erfüllung des Fehls ist, ist das Plötzliche.
„Freilich erschwert die eingängige Vorstellung von der Geschichte als zeitlicher Verwirklichung des
Überzeitlichen jedes Bemühen, das Einzigartige zu erblicken, das sich in der rätselhaften Stetigkeit
verbirgt, die sich jeweils in das Jähe des eigentlich Geschicklichen bricht und versammelt. Das Jähe ist
das Plötzliche, das nur dem Anschein nach dem Steten, d.h. Ausdauernden widerspricht. Ausgedauert
wird das je schon Währende. Im Plötzlichen aber wird das schon Währende, bislang jedoch Verborge-
ne erst gewahr und sichtbar“ (Der Satz vom Grund, WS 55/56, S. 142). Das Plötzliche ist nicht das
von außen Erscheinende und Unverborgene, sondern das aus der Verwicklung und Verbergung in
einem entgegengeworfenen, ab-gründigen Da Aufbrechende und dieses Ge-Währende, die Darstellung
und Erfüllung der fehlenden Wahrheit und nicht die Bewährung einer schon wahren Idee. Ebenso
plötzlich trifft den Dichter die Fülle des Göttlichen als das Heilige aus einer verborgenen Mitte und
nicht als Verwirklichung einer Idee oder eines unmittelbaren Anfangs. „Durch die Mittelschaft dieser
Liebe (sc. zwischen Göttern und Menschen) gehören sie aber gerade nicht sich selbst, sondern dem
Heiligen, das für die «strenge Mittelbarkeit», «das Gesetz» ist. Nun trifft jedoch der heilige Strahl den
Dichter plötzlich. In einem Nu beglückt ihn göttliche Fülle“ (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung,
Wie wenn am Feiertage, 1939, S. 69. Auch in: Parmenides, WS 41/42, S. 223 über das bodenlose,
unbegründete und plötzliche Anwesen des Seins). Die Wahrheit des Heiligen stammt aus dem Fehl
dieses beanspruchten ab-gründigen Da, aus dem Gesetz dieser Verwicklung im Da-sein: sie ist niemals
die Verwirklichung einer rettenden Idee.
Das Heilige ist besonders in Bd. 4 der GA: „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“ themati-
siert. Das Heilige ist nicht eine höhere Bewährung und Erscheinung, sondern ein Entspringen und
Darstellen aus dem Da der Verwicklung, des Entzugs und der Verbergung des Seyns, das in seine
gefragte Wahrheit übergeht und im entgegengeworfenen Da einwest. Das Heilige ist die Einwesung
und das Entspringen der Wahrheit in einem entgegengeworfenen Da und nicht das Erscheinen eines
aufgehenden, unverborgenen oder dialektisch in einer höheren Ebene wiederkommenden Anfangs. Die
Wahrheit ist nicht die Bewährung eines noch nicht Entdeckten und somit noch Verborgenen, sondern
das Entspringen aus dem Entzug und der Einwesung in der Verbergung und aus dem Erleiden des
Fehls an Wahrheit. Aus diesem Einwesen und Entspringen wird das Sein des Wesenden konstituiert,
dargestellt und gewährt. „Die Natur ist über die >Götter<. Sie, >die mächtige<, vermag noch ein An-
deres als die Götter: in ihr als der Lichtung kann alles gegenwärtig sein. Die Natur nennt Hölderlin das
Heilige, weil sie >älter denn die Zeiten und über die Götter< ist. Also ist >Heiligkeit< keineswegs die
einem feststehenden Gott entliehene Eigenschaft. Das Heilige ist nicht heilig, weil es göttlich, sondern
das Gottliche ist göttlich, weil es in seiner Weise >heilig< ist: denn >heilig< nennt Hölderlin in dieser
Strophe auch >das Chaos< Das Heilige ist das Wesen der Natur. Diese enthüllt als das Tragende ihr
Wesen im Erwachsen“ (Erläuterungen: a.a.O., Wie wenn am Feiertage, 1939, S. 59). Wie später noch
zu sehen ist, haben wir hier ein klares Verständnis von der Genese des Seins aller. Das Heilige als das
219
Entspringende ist ein Geschehen der Natur und des Chaos, aus denen die Welt und das Sein hervor-
kommt. Wir haben es mit einer Kosmogonie, Theogonie und Anthropogonie zu tun. Wie in „Brief
über den Humanismus“ ist nicht Gott das Heilige, sondern das Heilige ist Gott. Gott ist in und aus
seiner vorontologisch gefragten und fehlenden Wahrheit und nicht die Verwirklichung einer göttlichen
Substanz. Wie schon gesagt worden ist, kehrt sich die Richtung des Satzes um. Das Sein ist kein Ge-
spenst, undarstellbare Urmutter, absolute Position, summum ens, sich nicht setzendes Ich, sondern es
ist das Ansprechende und Gefragte in einer solcherweise vorontologisch angesprochenen und gefrag-
ten Tat und Handlung, aus welcher das Sein dargestellt seiend ist.
Das Sein der Wesenden ist keine Realität, absolute Position und Wirklichkeit, sondern es ent-
springt aus einem Fehl. „Die Wahrheit des Seyns ist das Seyn der Wahrheit (...)“ (Beiträge, S. 95 und
415). Die Wahrheit des Seyns west als die Darstellung des Seyns selbst, sofern es nicht als wieder-
kommendes „An sich“ aus seiner Zögerung kommt, sondern aus seiner Verwicklung in der lichtenden
Verbergung entspringt. So wird der Gang der Wahrheit nicht auf eine höhere Position abgestoßen,
sondern er west in und aus diesem Da, in und aus der Einheit von Lichtung und Verbergung (Beiträge,
S. 61, 349). Deswegen ist es nicht ein dialektisch höheres Sein, sondern das im Da verwickelte und
verborgene Seyn ist das „Einzige“, aus welchem die Wahrheit entspringt (Beiträge, S. 73, 188, 508).
So kommt die Wahrheit aus der Verbergung als verborgene Geschichte des Seyns (Beiträge, S. 239)
oder als im Seienden geborgene Wahrheit des Seyns (a.a.O., S. 244). Sie ist die verborgene Wesung
des Seyns, als welche die Wahrheit „(...) «ist» nie, sondern west“ (a.a.O., 342). Die Wahrheit ist das
Wahre (a.a.O., S. 344, 392), im Sinne, daß sie keine Entdecktheit und entwerfende Übereinstimmung
ist, sondern das Währende, Entspringende und Dargestellte aus der Verbergung im Da. Die Wahrheit
ist nicht die Teleologie und Energie einer Substanz und Wirklichkeit, sondern sie entspringt aus der
Mitte der Verwicklung. Das Letzte des letzten Gottes ist nicht das Ende des Anfangs (Beiträge, S. 410;
416). Das Letzte ist das Einzige in seiner Einzigkeit (a.a.O., S. 508), welches aus dem Da der Verber-
gung west, entspringt und dargestellt wird und nicht aus einem souveränen Anfang oder aus einem
dialektisch höheren und alles aufhebenden Gang als circulus vitiosus deus wieder anfängt. Das Heilige
und Letzte sind nicht die Teleologie und Energie des Anfangs, sondern sie entspringen aus der Ver-
wicklung der Wahrheit des Seyns in einem Da, so daß die Wahrheit nur im Letzten und in ihrer An-
kunft als das Plötzliche ist und west; zuvor ist sie niemals für sich als Erscheinung, Entdecktheit und
Übereinstimmung mit einem schon Bestehenden und einigermaßen Verstellten.
Das Letzte hat keinen Anfang, sondern ist die Erfüllung und Darstellung einer dem Sein vor-
gängigen Frage nach seiner Wahrheit und eines Fehls. „Aber schon die Redeweise Bergung der Wahr-
heit in das Seiende ist irreführend, als könnte die Wahrheit je zuvor schon für sich «Wahrheit» sein“
(Beiträge, S. 390). Das Wahre, das Heilige und Plötzliche sind nicht das Ende und die Energie eines
Anfangs oder einer Substanz und auch nicht die Aufhebung in einer sich bewährenden Idee, sondern
das Entspringen der fehlenden Wahrheit und die Wesung der Wahrheit und des Seyns in einem Da.
„Warum ist die Wahrheit des Seyns keine Zu-gabe und Rahmen zum Seyn und auch keine Vorausset-
220
zung, sondern das innerste Wesen des Seyns selbst? Weil das Wesen des Seyns in der Er-eignung der
Ent-scheidung west“ (Beiträge, S. 95). Diese Art von Wahrheit ist wie das unvorstellbare Imaginäre,
welches weder Idee noch Sein ist, und trotzdem als Fehl erlitten wird. „So west die Wahrheit als das je
geborgene Wahre. Doch dieses Wahre ist nur, was es ist, als das Un-wahre, unseiend und ungründig
zugleich“ (Beiträge, S. 392). Die Wahrheit als das Heilige entspringt aus der Not und dem Fehl der
Verwicklung in diesem Da. Sein Ort ist nicht ein bestimmter und abgesonderter Bezirk, aus welchem
die Wahrheit als Verwirklichung erscheinen könnte, es entspringt aus keinem bestimmten Ort, sondern
gerade aus einem Fehl und der Not eines solchen. „Wo die Gefahr als die Gefahr ist, ist schon das
Rettende. Dieses stellt sich nicht nebenher ein. Das Rettende steht nicht neben der Gefahr. Die Gefahr
selber ist, wenn sie als die Gefahr ist, das Rettende. Die Gefahr ist das Rettende, insofern sie aus ihrem
Wesen das Rettende bringt. (...) Lessing gebraucht noch das Wort Rettung betonterweise in dem Sinne
von Rechtfertigung: in das Rechte, Wesenhafte zurückstellen und darin wahren. Das eigentlich Ret-
tende ist das Wahrende, die Wahrnis. Wo aber ist die Gefahr? Welches ist der Ort für sie? Insofern die
Gefahr das Seyn selber ist, ist sie nirgendwo und überall. Sie hat keinen Ort. Sie ist die ortlose Ort-
schaft alles Anwesens“ (Bremer und Freiburger Vorträge, Einblick in das, was ist. Die Kehre, 1949, S.
72). Diese Rechtfertigung ist nicht zurückkehrende Vermittlung zum ersten Anfang und so seine Be-
währung, sondern sie ist höheren Wesens und läßt eine fehlende und verborgene Wahrheit aufbrechen.
„Doch menschliche Besinnung kann bedenken, daß alles Rettende höheren, aber zugleich verwandten
Wesens sein muß wie das Gefährderte. Vermöchte es dann vielleicht ein anfänglicher gewährtes Ent-
bergen, das Rettende zum ersten Scheinen zu bringen inmitten der Gefahr, (...)“ (Die Frage nach der
Technik, Vorträge und Aufsätze, 1953, S. 38).
3. 5. 2. Das Wahre ist nicht dialektische Vermittlung des Anfangs
Die Wahrheit des Seyns aus seiner Verbergung im Da sieht als eine dialektische Vermittlung
des Anfangs aus. Sie ist es aber nicht, weil, wie schon gesagt wurde, diese Wahrheit nicht Bewährung
des Anfangs in seinem Ende ist, sondern Entspringen aus dem Unterwegs des Feldwegs, so daß die
Wahrheit nur das Letzte und nicht die Vollendung und Verwirklichung eines Anfangs sein kann. Die
Wahrheit ist weder Unmittelbares noch Vermitteltes eines Unmittelbaren, sondern das Erschweigen
des im Da Verwickelten und Entspringen aus dieser erschweigenden Verbergung. „Wir können das
Seyn (Ereignis) nie unmittelbar sagen, deshalb auch nicht mittelbar im Sinne der gesteigerten «Logik»
der Dialektik. Jede Sage spricht schon aus der Wahrheit des Seyns und kann sich nie unmittelbar bis
zum Seyn selbst überspringen. Die Erschweigung hat höhere Gesetze als jede Logik“ (Beiträge, S. 79).
Es geht nicht mehr um Unmittelbarkeit und Entdecktheit des Seins, sondern um erschweigende Ver-
wicklung und Verbergung der Wahrheit des Seyns im Da, welche aber keine Vermittlung des An-
fangs, sondern sowohl Verlassen des unmittelbaren Anfangs als auch des vermittelten Endes als des
221
eigentlichen Anfangs ist. „Das ist weder Flucht noch Ankunft, auch nicht sowohl Flucht als auch An-
kunft, sondern ein Ursprünlgiches, die Fülle der Gewährung des Seyns in der Verweigerung“ (Beiträ-
ge, S. 405). Das Seyn und die Wahrheit sind weder Unmittelbarkeit noch Vermittlung, sondern etwas
gegen diese beiden Aufbrechendes. „Das Ereignis «ist» so die höchste Herrschaft als Widerkehre über
Zukehr und Flucht der gewesenen Götter. Der äußerste Gott bedarf des Seyns“ (Beiträge, S. 408). Gott
kommt oder flieht nicht durch eine Logik oder Dialektik des ersten Anfangs, sondern er entspringt aus
dem Seyn unter einer höheren Herrschaft oder Fügung in einem versammelnden, allerdings nicht hö-
heren Dazwischen. Das Seyn als Verwicklung im Da ist nicht Vermittlung, welche wieder negativ in
den höheren und eigentlichen Gang übergeht, sondern selbst „(...) die Stätte des ersten Vorbeigangs
des Gottes als des sich-verweigernden“ (Beiträge, S. 412) und das „kehrige Übermaß“ (a.a.O., S. 413),
welches nicht auf ein Höheres bloß vermittelt, sondern selbst das Übermaß, das Übertreffen am Ort
des Fehls ist, aus dem die Wahrheit entspringt, und zwar ohne jede Unmittelbarkeit oder Vermittlung
des ersten wieder-kehrenden Anfangs, sondern vielmehr aus seiner Verbergung, welche nicht in der
Lichtung aufgehoben wird (a.a.O., S. 350, 352). Die Wahrheit des Seyns ist keine Voraussetzung, kein
Rahmen und keine Zugabe, sondern das innere Wesen des Seyns (a.a.O., S. 95).
Dieses Entspringen aus der Verwicklung und Verbergung des Seyns in einem Da ist keine dia-
lektische Aufhebung und Beseitigung der Verbergung, sondern Entspringen der Wahrheit aus dem
Fehl und der Verbergung. So ist das “Nicht” nicht ein Moment im dialektischen Gang wie bei Hegel
(Beiträge, S. 264), und das Gegenteilige wird nicht im höheren und eigentlichen Gang aufgehoben
(ebenda), „(...), daß auch das Gegen-teil «ist» und beides zusammengehört, sondern wenn schon das
Gegen als Gegenschwung, dann als Ereignis. Vorher ist immer nur Aufhebung und Sammlung k¡cor,
jetzt aber Befreiung und Abgrund und die volle Wesung im Zeit-Raum der ursprünglichen Wahrheit.
Jetzt nicht das moe∂m, sondern die bergende Inständigkeit. Der Streit als Wesung des «Zwischen», nicht
als das Auchgeltenlassen des Widrigen“ (Beiträge, S. 264 f.). Die Wahrheit und das Heilige sind nicht
Verwirklichung oder Dialektik eines Anfangs und eines Ganzen als zu sich selbst zurückgekehrten
Anfangs, sondern sie entspringen plötzlich und unverdient aus dem Zwischen, aus dem Fehl und der
Not des direkt vom Sein beanspruchten Da, das unterwegs zu der Wahrheit des Seins steht. Das Sagen
des Daseins ist in diesem Zusammenhang Antwort und nicht Beziehung, es ist der Ort des Ent-
sprechens, der Wahrheit des Seyns, welches im Da verwickelt ist und nicht zu seinem Ende kommt.
Das sagende Dasein wird vom Sein gebraucht und gehört zu diesem (Unterwegs zur Sprache, Der
Weg zur Sprache, 1959, S. 256). Die verbergende und verschweigende Sage ist dabei der Ort des Ent-
springens. Dieser Unter-schied, in welchem das Sein in seinem verwickelten Da zu seiner Wahrheit
kommt, ist keine Übereinstimmung, Relation oder Dinstiktion, weil er nicht nachträglich gebildet
wird, sondern alles aus diesem Zwischen entspringen läßt. „Der Unter-Schied vermittelt nicht nach-
träglich, indem er Welt und Dinge durch eine herzugebrachte Mitte verknüpft. Der Unter-Schied er-
mittelt als die Mitte erst Welt und Dinge in ihrem Wesen, d.h. in ihr Zueinander, dessen Einheit er
222
austrägt“ (Unterwegs zur Sprache, Die Sprache, 1950, S. 22). Erst aus diesem Unterschied bricht jedes
zu seinem Sein auf. Der Unterschied als Schmerz ist Versammlung und Innigkeit und nicht höhere
Aufhebung. „Der Schmerz ist die Fuge des Risses“ (a.a.O., S. 24). Jedes ist nicht Verwirklichung sei-
nes Anfangs oder Aufhebung in einer alles vermittelnden Dialektik, sondern es entspringt aus einem
schmerzenden Unterschied, welcher an ihm selber, in diesem Da und nicht höher versammelt ist und
die fehlende Wahrheit erleidend als eingefügten Riß veerbirgt. Der verbergend-entbergende Schmerz
läßt sein Mitanwesendes wahr-haft sein (Unterwegs zur Sprache, Die Sprache im Gedicht, 1952, S.
58).
Der Riß ist die Ruhe und Wi(e)derkehr des Anspruchs des Seyns in den Logos und seine innere
Grenze, welche den gefragten Ursprung der Wahrheit als Fehl erleidet, und als Mitte nicht Vermitt-
lung eines Anfangs, sondern der Ort des Entspringens dieser ist. „Das Offene vermittelt die Bezüge
zwischen allem Wirklichen. Dieses besteht nur aus solcher Vermittlung und ist daher ein Vermitteltes.
Das Mittelbare ist also nur kraft der Mittelbarkeit. Daher muß die Mittelbarkeit in allem gegenwärtig
sein. Das Offene selbst jedoch, das allem Zu- und Miteinander erst den Bereich gibt, darin sie sich
gehören, entstammt keiner Vermittlung. Das Offene selbst ist das Unmittelbare. Kein Mittelbares, es
sei ein Gott oder ein Mensch, vermag deshalb je das Unmittelbare unmittelbar zu erreichen“ (Erläute-
rungen: a.a.O., Wie wenn am Feiertage, 1939, S. 61). Die Vermittlung als das Zwischen ist keine
Vermittlung eines Anfangs, welcher linear zu seinem Ende kommt, sondern fungiert als Mitte letzt-
endlich doch als Ursprung, als Ort des Anspruchs und des Fehls, aus dem das Sein aller als Letztes
ohne Anfang entspringt. So ist die Sprache als Riß Zusammentreffen von Verbergen und Entbergen,
lichtend-verbergendes Freigeben und Erscheinen-lassen (Unterwegs zur Sprache, Das Wesen der
Sprache, 57/58, S. 188). Die Wahrheit ist weder Unmittelbarkeit noch Vermittlung des Anfangs als
Idee, Substanz oder Wirklichkeit, sondern Zerbrechen des Wortes und so Entspringen eines Geborge-
nen, welches nicht wirklicher Anfang, sondern ein eingefügter und verborgener Fehl als erleideter Riß
in diesem Da sein soll. „Zerbrechen heißt hier: Das verlautende Wort kehrt ins Lautlose zurück, dort-
hin, von woher es gewährt wird: In das Geläut der Stille, das als die Sage die Gegenden des Weltge-
vierts in ihre Nähe be-wägt“ (Unterwegs zur Sprache, Das Wesen der Sprache, 57/58, S. 204). Das
Wort ist nicht Bekundung eines Wirklichen und Erscheinung eines Vorhandenen, sondern es läßt ein
Geborgenes entspringen, welches nur in dem Wort versammelt ist und aus dem inneren schweigenden
Riß des Logos ins Anwesen eintritt.
Heidegger zielt weder auf die Wahrheit als unmittelbare Entdecktheit eines erst erscheinenden
und noch nicht entdeckten Verborgenen noch auf diese als Vermittlung und Verwirklichung eines
Anfangs in seinem alles aufhebenden Ende, sondern auf das Wesen dieser in der Verwicklung im ent-
gegengeworfenen und den Fehl an Wahrheit erleidenden Da. Die Wahrheit west aus dem Dunklen und
dem Fehl der so verborgenen, intendierten und erlittenen Wahrheit, welche als unverdientes und un-
vorstellbares Heiliges aus der Geschichte der Wahrheit, der Metaphysik und des Gedachten aufbricht.
Das Gedachte wird weder kritisch rekonstruiert, noch dialektisch aufgehoben. „Das Dunkel ist zwar
223
lichtlos, aber gelichtet. Für uns kommt es darauf an, die Unverborgenheit als Lichtung zu erfahren.
Das ist das Ungedachte im Gedachten der ganzen Denkgeschichte. Bei Hegel bestand das Bedürfnis
der Befriedigung des Gedachten. Für uns waltet dagegen die Bedrängnis des Ungedachten im Gedach-
ten“ (Seminare, Bd. 15, M. Heidegger - Eugen Fink: Heraklit, WS 66/67, S. 262). Darauf zielten die
geschichtlichen Vorlesungen Heideggers ab (Beiträge, S. 176). So ist die Wahrheit als das Heilige,
welches aus der Verwicklung im Da, aus dem Dunklen, dem Tod und der Erde entspringt, niemals die
Verwirklichung oder Vermittlung des Anfangs. Sie ist nicht Versöhnung des Unmittelbaren mit dem
Vermittelten (Seminare, a.a.O., S. 260 ff.), sondern sie kommt aus dem Fehl, aus der Lichtung inmit-
ten des Dunklen und des Todes an und ist nicht die Verwirklichung einer schon lichtenden Idee. Die
Wahrheit des Seins ist stets Ankunft ohne Anfang. Das Letzte bzw. der letzte Gott185 ist nicht das En-
185 G. Figal versteht systematisch in seinen Beiträgen und aus dem Blick einer hermeneutischen Philosophie, welche auf Nietzsche, Adorno, Heidegger und Gadamer beruht, das Sein oder Gott, das Leben und den Text als ein Urphantom, welches sich einer unmittelbaren Präsentation ob der Grenzen der Vernunft entzieht und den-noch selbst als Fremdes in der Zeit zur sich im Anderen zeigenden Darstellung kommt. Die Zeit ist das Ermögli-chende, welches das sich entziehende und fremde Sein als Schein im Anderen sich darstellen läßt. Das Sein läßt sich nicht begreifen, sondern sich nur hemeneutisch zeigen und darstellen. So ist in einer hermeneutischen Theo-logie der letzte Gott Heideggers der Maskengott Nietzsches, der immer wieder anfängt (Letzte Götter, in: ders., Für eine Philosophie von Freiheit und Streit. Politik, Ästhetik, Metaphysik, Stuttgart 1994, S. 148 ff.). Schon in seiner Habilitationschrift (M. Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, a.a.O.) ist die Zeit das Ermöglichende, der Zeit-Raum, welcher den Freiheitsraum für ein hermeneutisches Verstehen des Seins anbietet. Diese herme-neutische und zeigende Darstellung des entzogenen Seins als Fremden einer begrenzten Vernunft, welche die Zeit als Präsenz und Zeit-Raum ermöglicht, untersucht auch G. Figal in seiner Veröffentlichung "Der Sinn des Verstehens, Stuttgart 1996". Ein Jahr später meint er, daß die Philosophie der Darstellung bei Heidegger fehlt, obwohl bei ihm das Zwischenspiel von Verborgenheit und Unverborgenheit ein tragendes Motiv ist (Verwin-dung der Metaphysik. Heidegger und das metaphysiche Denken, in: Ch. Jammer (Hg.), Grundlinien der Ver-nunftkritik, Frankfurt a.M. 1997, S. 468). Die vorliegende Arbeit will aber eine Grenzlinie zwischen Heideggers letztem Gott und Nietzsches hermeneutischer Theologie und Hermeneutik überhaupt ziehen. Die Zeit als Zeit-Raum der Unentschiedenheit ist nicht letzter intentionaler Horizont und Realität für das weltliche Verstehen eines Daseins, sondern sie ist selbst endlich, sie ist die Zeit als Auftrag und vorgängiges Gefragtes am Dasein, welches aus seinem Tod in seine Zukunft und Existenz kommt. Es gibt kein zirkuläres Entwerfen und Darstellen im Anderen, sondern eine Widerkehr in den Abgrund des Seins und der Zeit, welche sich aus dem Nichts und dem fehlenden Abgrund darstellt, zeitigt und räumt. Der Logos der Phänomenologie und die Als-Aussage weist dieses abgründiges Nichts auf, welches der Ursprung der Darstellung des Seins ist und nicht seiner Erscheinung im Anderen. Die Zeit hat eine Zukunft, die nicht Darstellung einer Präsenz ist, sondern Darstellung und Erfül-lung eines gewesenen Auftrags und eines Fehls. Aus dieser Zukunft als Darstellung und Erfüllung der Gewesen-heit entsteht die Gegenwart. Die Präsenz als vierte Dimension ist keine Zeit als letzter realer Horizont, sondern die Endlichkeit und Unentschiedenheit, der Entzug, das Zwischen des Da, das Nichts und der Fehl, aus dem die Zeit und das Sein sich darstellen und nicht in einem ewigen Kosmos zirkulär prädiziert werden. Gott wartet (Beiträge, S. 417) schon aus seiner beauftragten Zukunft "in der Mitte des Seins" (a.a.O., S. 416), welche Zu-kunft als Erfüllung und Darstellung der Gewesenheit Gegenwart als Letztes und nicht als "unaufhörliches Und-so-weiter" (ebenda) entstehen läßt. Das Sein ist nicht absolute Position, letzter realer Horizont, summum ens, welches das Denken ermöglicht, selbst aber unbegriffen bleibt und nur zur Prädikation kommt, sondern es ist reales Prädikat, Darstellung seiner Wahrheit, als welche und aus welcher (es) ist, es ist das Heilige und nur so Gott. Das Dasein ist schon in dieser Wahrheit. Das Sein ist reales Prädikat, Erfüllung, Welterschließung und Darstellung aus einer vorontologischen und quasi ethischen Tat, welche im Nichts den Fehl erleidet, und nicht unmittelbare oder dialektische Bewährung einer sich entziehenden oder erscheinenden Idee und kosmischer Wirklichkeit. Es geht um die Umkehrung des Satzes. Das "ist" verbindet und entwirft nicht ein Subjekt als abso-lute Position mit einem Prädikat, sondern das Sein ist nur seine Wahrheit, es wird selbst dargestellt, es ist reales Prädikat aus einer vorontologischen Tat. Die Wahrheit des Seins als welterschließendes, reales Prädikat be-wahrt (bewahrheitet) auch das Subjekt in einer umkehrenden Bewegung des Satzes. Auch A.G. Düttmann sieht in Th. Adorno und M. Heidegger zwei Denker des unvordenklichen und unvergeßli-chen Nichtidentischen, dessen als eines unbegriffenen und unnennbaren "Namens am Anfang" das Gedächtnis des Denkens gedenkt (Das Gedächtnis des Denkens, Frankfurt a.M. 1991).
224
de eines Anfangs (Beiträge, S. 410, 411, 416), d.h. seine Entelechie und Verwirklichung, sondern die
Erfüllung und Darstellung einer dem Sein vorgängigen und gefragten Wahrheit, welche eine „seiende“
Wahrheit ist und nicht Übereinstimmung, Prädikation und Ausweisung einer schon wahren Substanz,
Idee, absoluten Position und eines summi entis. Es geht um die Umkehrung des Satzes und des Urteils.
In dieser ist das „ist“ nicht eine Kopula, sondern das sich darstellende Sein selbst als Verb und
zugleich reales Prädikat, das seiende, ge-währende, wahre Sein und nicht das Sein als Realität und
Verwirklichung eines realen Seienden. Das Heilige ist Gott und nicht Gott das Heilige.
3. 5. 3. Die innere und unscheinbare Fügung und die Phänomenologie des Unscheinbaren
Auf das Apollinische und Dionysische bei Nietzsche und Adorno sind wir bereits eingegangen.
Könnten wir von diesen widerstreitenden Prinzipien auch bei Heidegger sprechen? Was ist die Ver-
wicklung des Seyns im Da-sein? Eine zeitliche Konstellation? Verschmelzung von Horizonten? Eine
Fügung, welche wieder aufgelöst wird, oder eine Fuge, welche in einer inneren und dauernden Zu-
sammengehörigkeit aufgesammelt wird? Eine Fuge also, die nicht wieder aufgelöst, sondern gerechte-
fertigtes inneres und verborgenes Gesetz als Fügung wird. In der Tat spricht Heidegger nicht mehr von
Situation der Zeit, sondern von Konstellation des Seyns. „Darum beschreiben wir, indem wir versu-
chen, den Einblick in das, was ist, zu sagen, nicht die Situation der Zeit. Die Konstellation des Seyns
spreche uns an. (...) Die Konstellation des Seyns ist die Verweigerung von Welt als die Verwahrlosung
des Dinges. Verweigerung ist nicht nichts, sie ist das höchste Geheimnis des Seyns innerhalb der
Herrschaft des Ge-Stells“ (Bremer und Freiburger Vorträge, Die Kehre, 1949, S. 76 f.). In diesem
Sinne ist die Geschichte kein Nacheinander des Geschehens, sondern Gegen-wart (a.a.O., Freiburger
Vorträge, I. Vortrag, 1957, S. 83). Es gibt ein inneres und verborgenes Gesetz, welches als die Natur
älter als die Zeit ist (Erläuterungen a.a.O., Wie wenn am Feiertage, 1939, S. 59 ff.), dessen verborgene
Intention und das Erleiden eines Fehls an Wahrheit plötzlich gerechtfertigt, ge-wahrheitet und erfüllt
wird. So ist die Geschichte und das Denken nicht eine heutige Angelegenheit, sondern älter, früher
und zukünftiger als jedes Aktuelle (Bremer und Freiburger Vorträge, a.a.O., 1957, S. 95 f., 102), so-
fern sie das Ungedachte des Gedachten aufbrechen läßt. Hinter dem situativen Zusammentreffen und
der äußeren Fügung, welche eine nachträgliche und dialektische ist, entsteht eine ursprüngliche und
innere Fügung, in welcher das ansprechende Seyn in seiner sich selber vorgängigen Frage sich ver-
birgt und entspringt, untergeht und aus diesem Entzug und Fehl entsteht. „(...) , weil sie die äußersten
Gegensätze, das entschiedene Verzichten und das unbedingte Erharren, nicht von außen zusammen-
stellt, sondern aus einem ureigenen Wesen der Zeitlichkeit einheitlich entspringen läßt. (...) diese Kraft
bewährt sich im Bestehen der äußersten Widerstreite des Seyns von Grund aus. Kurz: das gestimmte,
wissende Innestehen und Austragen der wesentlichen Widerstreite dessen, was in der Entgegensetzung
eine ursprüngliche Einheit hat, das «Harmonischentgegengesetzte», (...)“ (Hölderlins Hymnen, WS
225
34/35, S. 117). Diese Fügung, in der das Seyn verwickelt und verborgen bleibt, ist keine nachträgliche,
sondern eine hinter dieser Nachträglichkeit verborgene Fügung, aus welcher die Wahrheit entspringen
kann. „˙Aqlom¥g Ävamûr: Der Einklang, der sich dem gewöhnlichen Blick nicht zeigt, d.h. diesem
nur auseinanderfallender Gegensatz bleibt, dieser verborgene Einklang ist mächtiger als der offen-
sichtliche, mächtiger, weil die eigentliche Macht des Seyns als solchen. (...) Diese Åqlom¥g - Einklang
- ist keine gleichgültige, d.h. keine spannungs-lose Einstimmigkeit, gar eine Übereinkunft, die zustan-
dekommt aufgrund eines ausgleichenden Zurückstellens der Gegensätze, sondern umgekehrt: Das
Eröffnen der eigentlichen Widerstreite eröffnet den Einklang, und das sagt: stellt die widerstreitenden
Mächte je in ihre Grenzen. Diese Be-grenzung ist keine Einschränkung, sondern Ent-schränkung, Her-
ausstellen und Erfüllung des Wesens. (...) «Der Kampf ist der der Vater aller Dinge»“ (a.a.O., S. 125
f.). Aus dieser inneren Fügung entsteht und entspringt die Wahrheit und das Seyn aller und nicht aus
einer dialektischen Bewegung, welche den Widerstreit höher übermittelt.186 Das dialektische Denken
denkt das „Sowohl-als auch“ und nicht die verborgene Zwiefalt und ihre Entfaltung (Moira, Vorträge
und Aufsätze, 1954, S. 247). Die Wahrheit und das Seyn entspringen aus der Verbergung in einem
entgegengeworfenen und direkt vom Sein beanspruchten Da, welches als Logos die Wahrheit aus ei-
nem inneren und den Fehl erleidenden Riß aufbrechen läßt, und entspricht nicht der Unmittelbarkeit,
welche entweder unmittelbar entdeckt wird, oder vermittelt wird und zu ihrem Ende und Ganzen
kommt. Daher entspringt im Abgrund des Da-seins eine verborgene und als Fehl erlittene, „ursprüng-
lichere Wahrheit“ des Seyns (Beiträge, S. 183)! „Erst so kommt das Seyn als Ereignis voll ins Spiel
und ist dabei doch nicht wie in der Metaphysik das «Höchste», worauf nur unmittelbar zurückgegan-
gen wird“ (Beiträge, S. 299).
Das Da-sein ist der Entscheidungsbereich des Seyns (Beiträge, S. 385). Es ist das „Zwischen“
Noch-nicht und Nicht-mehr, Ausbleiben der Flucht und Ankunft der gewesenen Götter und ihrer dia-
lektischen Zusammengehörigkeit (a.a.O. S. 405). In diesem Zwischen wird dem letzten Gott „zuge-
wunken“, bei seiner „Widerkehre“ gegen die Flucht und Ankunft der gewesenen Götter (a.a.O., S.
186 So wird Gott im Verständnis von P. L. Coriando (a.a.O.) zwar nicht dialektisch vermittelt, aber er ist ein Gott des Anfangs, welcher nach seinem Entzug aus der Geschichte des Denkens (nicht Selbstentzug in seinem ermög-lichenden Verwickeln im Da) am Ende und als schon bereitliegender Zuruf wieder kommt oder schon gekom-men ist. Das Zwischen dieses Gegenschwungs ist die kehrige Mitte der Enteignis und des Verlassenwerdens des Seienden vom Sein. So ist dieses nicht der Ort des Verwickelns und des Entspringens aus diesem Da, sondern der Ort des Winks zum entzogenen Gott und der phänomenologischen Vorbereitung seiner Zukunft, welche allerdings nicht aus diesem Da ekstatisch zeitigt, sondern als nur eigene Zukunft des Seins dem Ort des Da als Zeitraum schon vorausliegt. So kommt diese außerhalb dieser Mitte vorliegende und schon vorbereitete Zukunft als Berückung zu diesem Zwischen als zu der Mitte des Zeitraumes (S. 183). Daher wird Gott phänomenologisch vorbereitet und von der Mitte des Zeitraumes gewunken und nicht metaphysisch erstritten (S. 176). Gott ist we-der summum ens noch die realitas des Begriffs, sondern kommt als äußerster Bezug aus der schon gewesenen Zukunft Gottes zu dieser kehrigen Mitte des Entzugs (S. 188 ff.) und nicht positiv dialektisch (oder entspringend nach dem Verständnis dieser Arbeit) aus dieser. Dieser Gott und seine Geschichte kreisen um die von ihm abge-lassene und verlassene Geschichte des Daseins und können immer wieder quasi deistisch gerufen werden, sofern Gott nicht in der Geschichte des Da vermittelt und christlich gesehen wird: nicht verkörpert werden, sterben und auferstehen kann. Eine solche Eschatologie west nicht aus der Mitte der Geschichte, sondern sie wird als bereit-liegende Zukunft aus einer anderen Welt gerufen.
226
408), von denen in diesem Wink Abschied genommen wird. Der Wink winkt aus der Not der Seins-
verlassenheit, aus dem Zwischen, welches den Fehl an Wahrheit erleidet und nicht wegen eines Zurufs
oder einer Zugehörigkeit (a.a.O., S. 385). Das Zwischen ist keine Dialektik, in welcher die Widrigen
zusammengehören (a.a.O., S. 265), sondern der Ort des Streites, aus dem die fehlende Wahrheit aus
dem Fehl und dem Nichts entspringen kann. „Hierin west das Letzte, das wesentliche, aus dem Anfang
geforderte, nicht ihm zugetragene Ende. Hier enthüllt sich die innerste Endlichkeit des Seyns: im
Wink des letzten Gottes“ (a.a.O., S. 410). Das Sein ist nicht seine Verwirklichung und Vollendung,
sondern sein Entspringen aus seiner Endlichkeit, aus seinem Anspruch auf eine fehlende Wahrheit und
ihrem Erleiden. „(...) dieser Augenblick ist die Ereignung jener Kehre, in der die Wahrheit des Seyns
zum Seyn der Wahrheit kommt, da der Gott das Seyn braucht und der Mensch als Da-sein die Zugehö-
rigkeit zum Seyn gegründet haben muß. Dann ist für diesen Augenblick das Seyn als das innigste Zwi-
schen gleich dem Nichts, der Gott übermächtigt den Menschen, und der Mensch übertrifft den Gott,
unmittelbar gleichsam und doch beides nur im Ereignis, als welches die Wahrheit des Seyns selbst ist“
(a.a.O., S. 415). So hat die Wahrheit des Seyns ihren Grund nicht mehr in einem vorhandenen Anfang,
der sich verwirklicht, sondern in einem Ab-grund, aus welchem sie entspringt. Das Sein ist keine abso-
lute Position, die prädiziert werden kann, sondern die Erfüllung und Darstellung des Seins aus seinem
Fehl und dem Nichts, seine Wahrheit, aus der sein Sein konstituiert wird, die Umkehrung des Satzes
und des Urteils. So ist der letzte Gott nicht Ende, sondern der andere Anfang (a.a.O., S. 411) und das
„Insicheinschwingen des Anfangs“ (a.a.O., S. 416), die Verweigerung und der neue Entsprung aus
dem Fehl und der Endlichkeit des Daseins.
In „Der Satz vom Grund“ (WS 56/57) versteht Heidegger das Sein als abgründigen Grund, wel-
cher als das Höchste zugleich das Geheimnis des Spieles ist. In diesem Spiel als dem Tod sind auch
die Sterblichen eingefügt, und aus diesem weltet die Welt und entspringt alles (a.a.O., S. 167-169).
Hegels Dialektik läßt den Gang der Wahrheit aus der These und Antithese wie von einem „Sprung-
brett“ aus auf einen höheren Gang übertragen (Seminare, Seminar in Le Thor, 1966, S. 278); demge-
genüber ist die innere Fügung, „die verborgene Mitte“ (a.a.O., S. 277) nicht dialektisch bestimmt (e-
benda), sondern der Ort der direkten, inneren und nicht höheren Fügung, in dem jedes aufgrund einer
inneren und unscheinbaren Ent-Scheidung des Logos entspringt. „Bei Heraklit geschieht jedoch das
Umgekehrte (sc. als bei Hegel). Anstatt die Gegensätze methodisch zu verbinden, indem die beiden
Begriffe einer Beziehung gegeneinander ausgespielt werden, nennt er das diaveq¡lemom als
sulveq¡lemom: «Der Gott?- Tag-Nacht!»: Das ist der Sinn der v…sir. Mit anderen Worten, Heraklit
nennt die Zugehörigkeit zu einer einzigen Anwesenheit von allem, was sich von einem anderen löst,
um nur desto inniger sich ihm zuzuwenden (...)“ (a.a.O., S. 278 f.). Diese Entfaltung der Widerwendi-
gen gründet sich im „Unscheinbaren“ des Logos (a.a.O., S. 278). So ist der Logos in sich die Ent-
scheidung und nicht die äußere nachträgliche Versammlung und Auflösung der Gegensätze. Er ist in
sich innere Fügung und Ursprung der Wahrheit aus einem inneren Riß und nicht ihr dialektisches Ü-
227
bertragen aus einer höheren absoluten Position her auf eine adäquate Prädikation, weil er Erleiden
eines Fehls am Ort des Anspruchs des Seins ist und nicht Verwirklichung einer Idee, des Anfangs und
eines alles aufhebenden Ganzen. Daher ist das Seyn Anwesenlassen in der Verbergung, das Unschein-
bare. Ziel der Philosophie ist nicht das Erreichen einer phänomenologischen Unmittelbarkeit mit der
Methode einer Destruktion (Vier Seminare, Seminar in Zähringen, 1973, S. 395), sondern das Anwe-
sen-Lassen des Seins in seiner Geschichte.
Es wurde bereits angeführt, daß bereits in oder sogar vor „Sein und Zeit“ die Wahrheit des Seins
nicht phänomenologisch und destruktiv aus einem Anfang untersucht wird, sondern, wie in dieser
Arbeit schon wiederholt erörtert worden ist, aus der Verwicklung und dem direkten Anspruch in ei-
nem Da-sein und seiner Endlichkeit anwest und dargestellt wird.
Das Sein ist somit dessen verborgenes Wesen in seiner Geschichte, aus welcher es plötzlich entspringt
und niemals als Ende, Vermittlung und Entelechie oder Unmittelbarkeit eines Anfangs erscheint. „Wir
sind hier im Bereich des Unscheinbaren: anwest Anwesen selbst. Der Name für das, was in diesem
Sachverhalt angesprochen ist, lautet: to ñ¡m, das weder das Seiende noch lediglich das Sein ist, son-
dern to ñ¡m: Anwesend: Anwesen selbst. In diesem Bereich des Unscheinbaren indessen (sagen die
Verse 2 und 3 des Fragments 8) (...)“ (a.a.O., S. 397). Die Wahrheit ist kein Sich-zeigen, keine Prädi-
kation einer absoluten Position, sondern die „seiende“ Darstellung des Seins, dessen Wahrheit als Prä-
dikat selbst das Sein ist, das „Seyn der Wahrheit“. Deswegen ist nicht Gott die Liebe und das Heilige,
weil er Gott ist, sondern weil er das Heilige und die Liebe ist, ist er auch Gott. Es geht um die Darstel-
lung und Erfüllung der Wahrheit, um die Umkehrung des Satzes und des Urteils. „Die Äk†heia ist
keine leere Offenheit, kein unbewegliches Klaffen. Sie ist zu denken als die Entbergung, die das ñ¡m
schicklich umkreist, das heißt das Anwesend: Anwesen selbst“ (a.a.O., S. 398). In der Geschichte des
Seins west dessen verborgener Fehl, sein Wesen, welches im beauftragten und die Wahrheit erleiden-
den Da entspringt. „(...), Da-sein sei die innerste Ordnung, aus der erst die Bestreitung ihr Gesetz
nimmt. Sie überstrahlt alles Begegnende und läßt uns erst das Einfache des Wesentlichen erfahren. Die
Ordnung ist das Einfachste Sichzeigende und wird gern fälschlich als etwas «neben» und «über» den
Escheinungen angesehen, d.h. nicht gesehen“ (Beiträge, S. 400 f.). Dieses Einfache Sichzeigende ist
aber nicht mehr unter den Voraussetzungen einer Dialektik oder Phänomenologie anzusehen, weil es
228
nicht das Sich-zeigende187, sondern - da es aus der Verwicklung und der Verbergung entspringt - das
Imaginäre aus einem Fehl und nicht das Vorstellbare und Angesehene einer Erscheinung188 ist.
Dergestalt sollten wir die „Phänomenologie des Unscheinbaren“ verstehen, welche das Letzte
nicht methodisch aus einem Anfang in sein Ende führt, sondern aus der Mitte des Weges und „unter-
wegs“ dieses plötzlich entspringen läßt. „Um das zu verstehen, müssen wir zwischen Weg und Metho-
de unterscheiden lernen. In der Philosophie gibt es nur Wege; dagegen in den Wissenschaften einzig
Methoden, das heißt Verfahrensweisen. So verstanden ist die Phänomenologie ein Weg, der hinführt
vor... und sich das zeigen läßt, wovor er geführt wird. Diese Phänomenologie ist eine Phänomenologie
des Unscheinbaren“ (Vier Seminare, a.a.O., Seminar in Zähringen, 1973, S. 399). Vom Unscheinbaren
spricht Heidegger auch in seinem Vortrag „Wissenschaft und Besinnung, Vorträge und Aufsätze,
1953, S. 62 ff.“, in welchem das Unscheinbare das unbeachtete Wesen der Wissenschaft und ein „un-
zugänglich Unumgängliches“ ist, das, obwohl es von sich her verborgen bleibt, doch das innere Wesen
ist und eines Tages aufbrechen wird. So kommt das Letzte als das Heilige und Plötzliche aus der Mitte
des Weges. „Sie ist nicht das nur immer vorfindige Heute und Heutige, das Nächste, sondern die Mitte
der Zeit ist das Letzte, das nur ist, indem es in Stiftung und Gründung wird“ (Hölderlins Hymnen, WS
34/35, S. 289). Das Unscheinbare ist nicht die Vermittlung eines Anfangs, welcher zu seinem Ende
kommt, ist kein Schein eines dialektisch höher gehenden Anfänglichen, sondern die Stätte und der
Gang der Wahrheit in ihrem angesprochenen und sie als Fehl erleidenden Ort. Es ist aber ebensowenig
das Sichzeigende und Unmittelbare, sondern das direkt im Da-sein Verwickelte und Verborgene, aus
dem die Wahrheit als das Letzte, Heilige und Plötzliche entspringt.
3. 5. 4. Der Traum und das Erwachen
Wenn man bei Heidegger vom Imaginären189, welches aus der Verbergung und dem Fehl im
angesprochenen Dasein entspringt, spricht, liegt man nicht falsch. Die Wahrheit ist weder unmittelba-
res Entdecken noch Vermittlung und Aufhebung in einem Anfang, welcher am Ende sich bewährt,
187 Dagegen ist nach H. Helting (Heidegger und Meister Eckehart, a.a.O.) die Wahrheit ein Sich-zeigen (S. 37). In diesem zeigenden Geben entzieht sich die Gottheit (S. 42, 44, 46). So kommt das Heilige und Gott als Er-scheinung dieses Entzugs wieder (S. 54 ff.). Gott ist quasi nicht das erste Sich-zeigen der Wahrheit, sondern ein zweites und verschiedenes, welches als Ansichhaltendes (S. 45) sich später zeigt. Nach J. B. Lotz ist das Heilige als sacrum und sanctum etwas Abgesondertes, das absolute Sein, die Fülle des Seins. Das Heilige ist die Absonderung und Fülle des Seins dieses Differenten (Vom Sein zum Heiligen: Meta-physisches Denken nach Heidegger, Frankfurt a.M. 1990, S. 121-134), welches alle Teilnehmer an seinem Sein heiligt. 188 J. Brechtken sieht das Kommen Gottes als Advent, Geschick und Postulat einer Geschichte, die unabhängig vom Menschen in Gang ist, und welche der Mensch nur empfangen kann (Geschichtliche Trans-zendenz bei Heidegger, Meisenheim am Glan 1972, S. 61, 86, 105, 128, 132). 189 R. Bernet untersucht Husserls Begriff der Phantasie im Zusammenhang mit Freuds Begriff des Unbewußten, und zwar im Hinblick auf ein un-reflexives inneres Bewußtsein, wie es zuerst F. Brentano aufgeführt hat (Hus-serls Begriff des Phantasiebewußtseins als Fundierung von Freuds Begriff des Unbewußten, in: Ch. Jamme
229
sondern sie erwacht aus dem Fehl und dem Traum, wie das Licht aus dem Dunklen kommt. So ist die
Natur nicht ein Sich-verwirklichen innerhalb der vorhandenen Welt, sondern ein Sich-sammeln und
Sich-ruhen als Ursprung der Bewegung (Hölderlins Dichtung, Wie wenn am Feiertage, 1939, S. 55).
Das Schlafen, Ruhen und Sich-sammeln der Natur ist die Ahnung des Tages, welcher aus dem Dunk-
len kommt. „Das Dunkel ist die Nacht. Die Nacht ist die ruhende Ahnung des Tages“ (a.a.O., S. 57).
Dieses Entspringen ist keine Verwirklichung, sondern das Kommen des Wesens aus dem Unwesen,
aus dem Fehl. Daher sind die Dichter nicht in der Wirklichkeit reaktiv, sondern übersehen die Wirk-
lichkeit und stiften aus dem Traum ein Fehlendes. „Die Art der Dichter ist es, das Wirkliche zu über-
sehen. Statt zu wirken, träumen sie“ („... dichterisch wohnet der Mensch ...“, in: Vorträge und Aufsät-
ze, 1951, S. 182). Aus diesem ruhenden und stillen Traum erwacht das Mögliche. Es ist ein stilles
Geschehen, welches innerhalb seiner Ruhe und aus einer inneren Fügung das Unterschiedene und
Fehlende ermöglicht, den Fehl erfüllen läßt und sich nicht einfach verwirklicht und auf die Realität
entwirft. „Das Erwachen des lichtenden Lichtes ist jedoch das stillste aller Ereignisse. Weil es aber
genannt wird, ja sogar die Nennung fordert, kommt das Erwachen «der Natur» in den Klang des dich-
tenden Wortes. Im Wort enthüllt sich das Wesen des Genannten. Denn das Wort scheidet, indem es
das Wesenhafte nennt, das Wesen vom Unwesen. Und indem das Wort sie scheidet, entscheidet es
ihren Streit“ (Hölderlins Dichtung, Wie wenn am Feiertage, 1939, S. 58). Dieses Erwachen und Ent-
springen aus dem Dunklen und dem Fehl ist das Entspringen des Heiligen und Plötzlichen. „(...) die
Natur. Indem sie erwacht, enthüllt sie ihr eigenes Wesen als das Heilige“ (a.a.O., S. 59). „Das Heilige
ist das Wesen der Natur. Diese ent-hüllt als das Tagende ihr Wesen im Erwachen“ (ebenda). Das Hei-
lige entspringt und erwacht aus dem Dunklen und aus dem Fehl und ist keine vorhandene Eigenschaft
eines Gottes. Das Göttliche ist göttlich, weil es heilig ist und das Heilige ist nicht heilig, weil es gött-
lich ist (ebenda). Das Heilige und Göttliche sind nicht die Verwirklichung einer göttlichen Idee und
Wirklichkeit, sondern das Geboren-werden und Erwachen aus dem Fehl und dem nicht vorstellenden
Traum. „So kann dann das Unwirkliche vor dem Wirklichen sogar einen Vorrang haben. Dann müssen
wir wenigstens bedenken, ob nicht die Träume als das Unwirkliche ein Maß für das Wirkliche sein
können“ (a.a.O., S. 112). Im Traum entspringt das Heilige. „Das Realwerden des Möglichen als Ide-
alwerden des Wirklichen zeigt im Bereich des freien Bildens der Dichtung die Wesensart eines Trau-
mes. Dieser Traum ist furchtbar, weil er die, denen er sich zeigt, aus dem sorglosen Aufenthalt beim
vertrauten Wirklichen heraus- und hineinwirft in den Schrecken des Unwirklichen. Aber dieser furcht-
bare Traum ist ein göttlicher, weil das in die Wirklichkeit ankommende Mögliche bei seiner Ankunft
durch das Kommen des Heiligen geheiligt ist“ (a.a.O., S. 113). Der Traum des Dichters ist nicht ein
vorstellendes Entwerfen, sondern ein ruhendes Erleiden eines Fehls an Wahrheit, weil es direkt ange-
sprochen ist. „Das Dichterische ist das Bündige, das Unangebundenes bindet. (...) Überallhin geht das
Dichterische auf das Nicht-Verlassen der Grenze, der Ruhe, des Bandes, des Maßes“ (a.a.O., S. 127).
(Hg.), Grundlinien der Vernunftkritik, Frankfurt a.M. 1997). So ist die Phantasie als reproduktives Bewußtsein
230
Das Geträumte ist das Erleidende und Fehlende und kommt als das unvorstellbare Heilige an. „Dies
kommt nicht, weil es der Dichter will, sondern der Dichter muß das Kommende dichtend wünschen,
weil es das unvordichtbare Gedicht, der Traum des Heiligen, ist“ (a.a.O., S. 126). Das Heilige ist nie-
mals das Unmittelbare (a.a.O., S. 63), es ist weder Unmittelbares noch Vermitteltes (a.a.O, S. 62),
sondern entspringt und erwacht aus der verborgenen und ruhenden Intention im Gewesenen und erfüllt
und ge-währt den Fehl und Anspruch auf Wahrheit. Das Heilige ist die Ge-währung und das Entsprin-
gen der Wahrheit aus der Unwahrheit, aus der verborgenen Intention und dem Fehl an Wahrheit, aus
dem Unwesen.
Der Traum ist nicht eine erkenntnismäßige Tätigkeit, welche eine Welt nach Maß einer Wirk-
lichkeit vorstellt. Der Traum ist das erfüllende Entspringen einer fehlenden und unvorstellbaren Welt
aus einem über die Wahrheit angesprochenen und erleidenden Da. Der Traum ist Erfüllung aus einem
Anspruch und aus dem Erleiden eines Fehls im Fremden und nicht vorstellende Verwirklichung eines
vorhandenen Willens, welcher den Mangel nur als ein Moment innehat. Der Fehl als Fehl ist der Ur-
sprung der Darstellung der Wahrheit. So ist die Heimat nicht eine Unmittelbarkeit, sondern die
„Stimmung“ und das Erleiden des Fehls an Ursprung (a.a.O., S. 131), welcher so nicht unmittelbar
vorliegt, sondern gerade aus einem gestimmten Fehl an Wahrheit des angesprochenen Da entspringen
kann. So wird das Eigene im Fremden (a.a.O., S. 115, 117) aus einer Stimmung zum äußerst Anderen
erfüllt (a.a.O., S. 119). Der Ursprung und die Nähe zum Ursprung ist ebenso die Ferne und das Ent-
springen aus dieser Ferne (a.a.O., S. 147). Der Ursprung ist nicht eine vorhandene Unmittelbarkeit,
sondern als „Reichtum“ kann er überall im Fremden entspringen, so daß der Strom die Quelle ist
(a.a.O., S. 133). Die Wahrheit des Traumes ist die entspringende Erfüllung des gestimmten und erlei-
denden Fehls der Wahrheit aus einem angesprochenen Da und niemals die Verwirklichung einer Idee
als unmittelbaren Anfangs und Ursprungs und ebensowenig seine Vermittlung ans Ende.
In diesem Sinne entspringt der Strom der Wahrheit aus einem Da, einem Ort der Unentschie-
denheit, welcher weder Unmittelbarkeit noch Vermittlung, „weder Flucht noch Ankunft“ der gewese-
nen Götter ist, sondern die Ankunft des letzten Gottes als Erfüllung eines Fehls und einer Not, welcher
als das Heilige und Plötzliche erwacht und entspringt. So ist die Nacht als Zeit-Raum des Traumes die
„Mutter des Tages“ und der „unentschiedene Überfluß des Tages“ (a.a.O., S. 109). Das Entspringen
des Heiligen aus dem Traum ist weder Unmittelbarkeit noch die Dialektik und höhere Vermittlung des
Sowohl-Als auch, sondern erwacht aus einem Zwischen, einer inneren Fügung des Entweder-Oder,
dem Fehl an Wahrheit. „Das Unwirkliche enthält dieses Entweder-Oder und verbirgt überdies meist
die Unentschiedenheit desselben. Gesetzt aber, das Unwirkliche sei das Noch-nicht-Wirkliche, dann
west es zwischen der Unwirklichkeit und der Wirklichkeit“ (a.a.O., S. 113). Aus diesem Zwischen
entspringt das Wesen der Menschen und der Götter als Erwachen des Heiligen am Ort des Festes
(a.a.O., S. 147 f.). In diesem Ort des Festes wird die Wahrheit nicht adäquat entworfen, sondern aus
und Modifikation einer Wahrnehmung reproduktiv und zugleich impressional.
231
einem entgegengeworfenen und angesprochenen, ruhenden Da entspringt das Heilige. Solches ist das
„Andenken“, welches als festliches „Bleiben“ die Quelle aus dem Strom entspringen (a.a.O., S. 150 f.)
und nicht bloß in diesem Strom fortlaufen läßt. So erwachen die Götter aus einer „heiligen Nacht“,
welche aus der „Gott-losigkeit“ den Gott verbirgt und vor-bereitet (a.a.O., S. 110), als Fehl erleidet
und nicht dialektisch und anfänglich als circulus vitiosus deus anfangen läßt und entwirft. Das Offene
und Heilige ist weder „Unmittelbarkeit“ noch „Vermittlung“, sondern als „Mittelbares“ aus einer
„Mittelbarkeit“ (a.a.O., S. 61) entspringt es plötzlich als Ursprung und Darstellung der Wahrheit des
Seyns aus dem ruhenden Da, aus der Mitte und dem Zwischen einer inneren Fügung, am Ort ihrer Not
(a.a.O., S. 58, 118), ihres Fehls und ihres Erleidens. Es ist nicht unmittelbare oder vermittelte Bewäh-
rung einer Idee und ihrer endgültigen, ganzheitlichen Dialektik und Fügung.
So entpsringt die Wahrheit aus jedem entgegengeworfenen Da, aus einem gestimmten, ange-
sprochenen und ruhenden Fehl und einem Erleiden und ist nicht unmittelbares oder dialektisches Ent-
werfen oder Aufheben im adäquaten und eigentlichen, anfänglichen Gang der Sache selbst. Das Heili-
ge und Plötzliche ist das Letzte, welches als Quelle aus dem widrigen Strom und dem Meer entspringt
und aus dem Traum erwacht. „Ausgebreitet ist der Reichtum, der die Quelle selbst ist, dort, wo der ihr
entsprungene und von ihr überall noch gedrängte Strom sich ausgebreitet hat, um dann meerbreit und
für das Meer bereit in dieses auszugehen. Der Strom «ist» die Quelle, so daß sich zufolge seines Aus-
gangs ins Meer die Quelle selbst im Meer verbirgt“ (a.a.O., S. 133. Siehe auch S. 132, 136, 137, 150).
Wir könnten sagen, daß Heideggers Hölderlin-Vorlesungen seine immanenten Voraussetzungen
und seinen Gang im Verstehen der Wahrheit in sich versammeln und deutlich darstellen. Die Wahrheit
ist kein adäquates Entwerfen und Prädizieren des Seins als absoluter Position, sondern ein direkter
Anspruch und ein ruhendes Versammeln im Da-Sein, in einem Fest, in einem Ort des Erleidens und
des Fehls der Wahrheit, aus welchem die Wahrheit als Letztes, Heiliges und Plötzliches am Ort ihres
Fehls als ihres eigentlichen Ursprungs - und nicht als Unmittelbarkeit oder Vermittlung eines Anfangs
- plötzlich entspringt, erwacht und dargestellt wird. Das Seyn ist seine Wahrheit als Prädikat, seine aus
dem Nichts am entgegengeworfenen Dasein als Logos erfolgende Darstellung.190
3. 5. 5. Kosmogonie, Theogonie und Anthropogonie
190 In der Wahrheit des Seins werden das Sein und die Welt dargestellt, ohne dass es sich um eine sich bewäh-rende Idee und Welt handeln würde, welche als logische Form der Welt und Sprache nicht in einer Metasprache dargestellt werden könnte, wie z.B. L. Wittgenstein in seinem Werk behauptet. Über die Behauptung Wittgen-steins und seinen Vorwurf gegen die Metaphysik siehe: “K. O. Apel, Wittgenstein und Heidegger. Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Sinnlosigkeitsverdacht gegen alle Metaphysik, in: O. Pöggeler (Hg.), Heideg-ger. Perspektiven a.a.O.".
232
Wenn der Kampf die innere Fügung und das Da ist, aus dem alles entsteht und entspringt191,
sein Seyn bekommt, und seine Wahrheit des Seyns das Seyn der Wahrheit ist, haben wir eine Kosmo-
gonie, in der alles geboren wird. Die Natur als das Heilige läßt alles entspringen. „Das Heilige >älter
denn die Zeiten< und >über die Götter< gründet in seinem Kommen einen anderen Anfang einer ande-
ren Geschichte. Das Heilige entscheidet anfänglich zuvor über die Menschen und über die Götter, ob
sie sind und wer sie sind und wie sie sind und warum sie sind“ (Erläuterungen, 1939, S. 76). Mit dem
Heiligen entspringt auch Zeit und Raum, aus dem Zeit-Raum, aus dem diese entstehen. „Das >Jetzt<
nennt das Kommen des Heiligen. Dieses Kommen allein gibt die >Zeit< an, in der es >Zeit< ist, daß
die Geschichte sich wesentliche Entscheidungen stellt. Solche >Zeit< läßt sich nie angeben (>datie-
ren<) und ist nicht ausmeßbar durch Jahreszahlen und Abschnitte von Jahrhunderten“ (ebenda, S. 76).
„Die Natur ist über die >Götter<. Sie, die >mächtige<, vermag noch ein Anderes als die Götter: in ihr
als der Lichtung kann alles gegenwärtig sein. Die Natur nennt Hölderlin das Heilige, weil sie >älter
denn die Zeiten und über die Götter< ist. (...) Das Heilige ist nicht heilig, weil es göttlich, sondern das
Göttliche ist göttlich, weil es in seiner Weise >heilig< ist: denn >heilig< nennt Hölderlin in dieser
Strophe auch >das Chaos<. Das Heilige ist das Wesen der Natur“ (Erläuterungen, 1939, S. 59). „Die-
ser Kampf spielt um ihre Ankunft und Flucht, in welchem Kampf die Götter erst göttern und ihren
Gott zur Entscheidung stellen“ (Beiträge, S. 244). Die Götterung der Götter und der göttliche Gott sind
nicht gegen einen herabgesetzten metaphysischen Gott in seiner Göttlichkeit und Erhabenheit vorge-
stellt und in einer theologischen Differenz negativ entgegengesetzt, sondern der göttliche Gott ent-
springt aus der inneren Fügung des Fehls der Wahrheit auch in der Unwahrheit und er west als der
letzte Gott und nicht als Gott, welcher einem starren Wesen entspricht. Gott ist kein summum ens und
absolute Position, sondern Darstellung, reales Prädikat - ohne ein Subjekt zu prädizieren -, das Heilige,
aus dem Gott ist. Es handelt sich allerdings nicht um ein herumschwebendes Gesetz, welches alles
durchläuft und als Rahmen eine eiserne Notwendigkeit vorschreibt und alles in seinen Grenzen hält.
Schließlich geht es nicht um Eingrenzung, sondern um Ent-grenzung, nicht um Behalten des Gesetzes,
sondern um Entspringen des Maßlosen in einer Kosmogonie. Sie ist nicht unbedingt gegen einen
christlichen Gott gerichtet. Der geborene, gekreuzigte, verborgene und auferstandene Christus ist nicht
der Schöpfer, der Gott des Anfangs, welcher an sein Ende und zu sich selber kommt - dieser ist der
doketische Gott als circulus vitiosus -, sondern er ist der letzte Gott, welcher aus seinem Tod als das
191 In dieser Hinsicht kann man quasi von einer Metakritik Heideggers an die Kritik der Ich-Du-Philosophie sprechen (zu einer solchen Kritik siehe: P-Ch. Smith, Das Sein des Du, a.a.O.). So ist das Du keine Vermittlung des Ich. Wie gesagt, wird das Ganze vom Wahren ermöglicht, und daher ermöglicht das "Ich" das Du innerhalb seiner, ohne dieses zu vermitteln und aufzuheben. Es gibt keine Vermittlung und Aufhebung, sondern das Ich ermöglicht das Du, entzieht sich und entspringt als Fehl aus dieser Verwicklung im Du. Sein vorontologisches Übermaß quasi als ethische Tat, als Ermöglichung des Fremden und als Fehl entspringt aus einer inneren Fügung des Fremden im Eigenen und ist nicht Verwirklichung und Vermittlung des eigenen Anfangs im Anderen. Beide entspringen aus diesem Bezug und aus dieser Mitte, ohne sich einander zu ihrem Anfang und zu sich zu vermit-teln.
233
Letzte192 entspringt und sich als der Seiende darstellt. Natürlich soll man auf die Unterschiede und die
verschiedenen Horizonte und Voraussetzungen achten, aber auch wenn Heideggers Gott der „Beiträ-
ge“ gegen den christlichen Gott gedacht ist, ist der Gott des Neuen Testaments nicht gegen den Gott
des Alten gedacht? Daher ist auch der Wi(e)derkehrende Gott der Eschatologie doch nicht der vor-
und der christliche Gott des Anfangs, sondern der gekreuzigte, auferstandene und letzte Gott.
Der letzte Gott ist nicht der neue Gott Nietzsches, welcher aus der Auflösung des Scheins wie-
der als circulus vitiosus ansetzt, beginnt und als sich entziehendes summum ens und absolute Position
anders prädiziert und anders ausgelegt wird, sondern er ist der Gott der lichtenden Verbergung, der
unscheinbare Gott, welcher als Fehl erlitten wird und aus diesem unvorstellbaren Fehl und aus der
Verbergung entspringt und sich als seiender Gott darstellt.
3. 5. 6. Jedes Da ist Ort des Entspringens. Die Rettung des Gewesenen
Wahrheit ist die Intendierung der Wahrheit aus der Unwahrheit und aus dem Zusammengehören
von Wahrheit und Unwahrheit. Die Wahrheit wächst nicht von außen durch das Verfügen über richtige
Kriterien, sondern sie wird im angesprochenen Da-sein und in der Unwahrheit „gefehlt“ und erlitten.
Voraussetzung für die Wahrheit ist das Spüren ihres Fehls und der Not. Die Wahrheit ist nicht die
Korrektur eines Fehlers von einer dritten Position aus, sondern die Umkehrung der Unwahrheit (bzw.
aus dieser) in die Wahrheit als desjenigen Ortes der Konstitution des Ursprungs der Wahrheit. Nichts
wird verlassen, sondern alles wird gerettet, weil es Wahrheit intendiert. Die Verwindung hat nicht den
ethischen oder erkenntismäßigen Charakter des Fortschritts eines Ideals, sondern der Rettung von al-
lem Gewesenen, von Rettung der Geschichte.193 Nicht Korrektur und Kritik, sondern Umkerhung und
Wahrheit aus der Not, dem Fehl und der Unwahrheit ist das Wesen der Wahrheit. Der Ursprung der
Wahrheit ist nicht ein richtiges Kriterium oder eine kritische Korrektur194, sondern die Not und der
192 Bei Heidegger ist das Ende als Letztes nicht die letzte Stufe einer noologischen Reflexion als Erinnerung an die Seinszugehörigkeit des Bewußtseins und des Daseins aufzufassen, die als "Kehre" Heideggers eintritt und seither von einer reflexiv-dialektischen Selbstaufstufung und Allgemeingültigkeit der existenziellen verstehen-den Reflexion des Daseins abgeschieden bleibt, wie K. O. Apel Heidegger vorwirft (Wittgenstein und Heideg-ger, a.a.O., S. 390 f.). Die Wahrheit des Seins als das Letzte ist bei Heidegger vielmehr die aus der Mitte des Da erfüllende und inhaltliche Darstellung und Konstituierung des Seins und der Welt. 193 Bei W. Benjamin ist die Rettung der Geschichte ein Grundmotiv. In seiner "Einbahnstraße" (GS, Bd. IV, Frankfurt a.M. 1982) kommen Möglichkeiten, die nivelliert wurden, zurück. Es ist eine negative Erinnerung gegen die Sieger der Geschichte. Was gewesen ist, kommt plötzlich zurück und lebt in einer apokalyptischen Allegorie wieder. Diese ist die Kraft des Traumes und der Utopie, eine ruhende Dialektik. 194 Das Gute kann nicht ein materiales Geltungsparadigma sein, wie M. Seel in seinem Aufsatz (Heidegger und die Ethik des Spiels, a.a.O., besonders S. 228 f.) darstellt. Es ist aber auch mehr als ein formales Metakriterium zwischen den Geltungsparadigmen. Wie M. Seel sagt: "Dieses Metakriterium aber kann wiederum nicht jenseits rationaler Selbstbestimmung Anwendung finden, es ist wirksam allein im korrektiven Gebrauch der Formen rationaler Orientierung" (a.a.O., S. 296). Es geht etwa um Korrektur von Geltungsparadigmen. Die Idee des Guten soll aber vielmehr der Fehl, die Not und die Motivation der Wahrheit aus der Unwahrheit als des Retten-den und Be-wahrenden und nicht bloß ein Korrektives sein. Selbst der Überschlag dieses Metakriteriums in eine ästhetische Theorie des bewußten Scheins als eines immanenten und gegen sich selber selbst-bewegenden Krite-
234
Fehl der Wahrheit wie eventuell auch das Imaginäre der Kunst.195 Die Wahrheit ist die Ge-währung
des Gewesenen, sie wird aus einer ethischen Qualität verlangt und erlitten, sie ist nicht die Leistung
eines dritten, idealen Blickpunktes als Richtigkeit, Kritik oder Korrektur, welcher seine eigene Wahr-
heit als Wahrheit der Anderen durchsetzt, sondern die Darstellung der Wahrheit des Seyns. Die Wahr-
heit war immer Prädikation eines Subjekts durch das vorstellende Ich. Das Dasein ist aber der Gang
der Wesung der Wahrheit und ihres Entspringens. Es gibt keinen dritten Gang außer diesem Da. Die
Wahrheit ist nicht Aufhebung der Wirklichkeit in einer Idee als Entelechie, Sich-zeigen und Sich-
verwirklichen, sondern das Entsprigen der Wahrheit aus jedem den Fehl der Wahrheit erleidenden Da
der Welt. Das Sein mitsamt seiner Wahrheit ist keine sich bewährende Idee, Wirklichkeit und Realität,
sondern das Entspringen der fehlenden und abwesenden Wahrheit, die Darstellung der Wahrheit am
angesprochenen und den Fehl erleidenden Da-sein! Es geht weder um Phänomenologie noch um Dia-
lektik einer Substanzontologie, deren Wahrheit sich auch als Wahrheit des Subjekts erweist und be-
währt, ihres Anfangs und ihrer Energie (actus purus), sondern um das Entspringen des Letzten als des
Heiligen und Plötzlichen.
VI. Nachwort
Mit einer knappen Zusammenfassung soll noch einmal der Gang der vorgelegten Behandlung
veranschaulicht werden.
Im ersten Teil haben wir gesehen, daß die Wahrheit einer Sache nicht ihr innerweltliches Sich-
zeigen ist, sondern der direkte Anspruch des Weltenden auf das Dasein. Das Dasein soll diesen An-
spruch auf Wahrheit in seinem „Eigenen“ er-leben. Es ist in sich transzendent. Seine Transzendenz
liegt vor und übertrifft jede Intentionalität auf eine Realität. Ziel der Phänomenologie sind nicht die
Sachen selbst in ihrer Reinheit, sondern das geschehend Weltende. Der Anspruch des Seins versam-
melt sich im transzendenten Dasein. Der Logos der Phänomenologie liegt im direkten Anspruch des
Seins, in seinem Übergang zu seiner gefragten und dem Sein selber vorgängigen Wahrheit. Sowohl
das Sein als auch das Dasein sind schon und nur in der gefragten Wahrheit des Seins. Deswegen bleibt
die angekündigte und fundamentalontologisch vorbereitete Wiederholung des Verstehens von Sein
riums einer Kritik der Kritik hat nicht den Charakter des Verlangens und des Intendierens nach Wahrheit als des Rettenden wie der Fehl und die Not Heideggers. 195 Nicht nur das Kunstwerk, sondern auch jedes Ding bildet einen Lebens- und Weltzusammenhang, zu dem der Mensch gehört. Darüber siehe: H. G. Gadamer, Sein, Geist, Gott. In: a.a.O., Freiburger Universitätsvorträge, S. 57 f.. Die Eucharistie und die Liturgie der Kirche ist auch ein solches Geschehen. Es geht nicht um Verwirklichung und Bewährung Gottes als einer Idee, sondern um Götterung Gottes an und aus dem Brot und dem Wein. Auch die Auferstehung aus dem Tode und die Geburt Gottes durch die Theo-tokos können als trinititarische Ereignisse angesehen und behandelt werden. Sie geben sogar einen Leitfaden für das Verstehen der anderen trinitarischen Prozesse wie die zwischen Vater, Sohn und H. Geist. Gott ist nicht die Verwirklichung einer göttlichen Idee und bevorstehenden Wirklichkeit, sondern die Götterung Gottes aus einer vorontologischen Tat und Handlung als Geburt des Sohnes und Zeugung des Geistes, in welchen sich die göttlichen Personen qualifizieren.
235
aus. Die gefragte Wahrheit kommt zur welterschließenden Darstellung aus einer vorontologischen und
dem Sein vorgängigen Frage. Der Tod des Daseins als Ge-birg der Wahrheit ist nicht Verenden, son-
dern neuer Entsprung. Die Sorge des Daseins ist Ausdruck der Versammlung und der Direktheit des
Anspruchs des Seins auf Wahrheit am Dasein. Die Wahrheit des Daseins ist kein Sich-zeigen in der
Welt. Die Wahrheit bzw. Unwahrheit des Daseins ist keine Verwirklichung und existentia einer sich
bewährenden Idee. Die Wahrheit ist Gefragtes am befragten Dasein. Sie kann als Fehlendes aus der
Motivation des sterblichen und endlichen Daseins heraus gefragt werden und nicht in die Realität adä-
quat entworfen werden. Somit kommt der Philosoph in die Höhle zurück. Die Wahrheit ist keine Be-
währung einer überhistorischen Idee, sondern ihr sich fragendes Versammeln in einem entgegenge-
worfenen und da-seienden Ort als Ort ihres direkten Anspruchs, in welchem sie selbst als Fehl erlitten
und aus diesem dem Sein vorgängigen, vorontologischen und am Nichts sich fragenden Fehl und Ur-
sprung dargestellt und erfüllt wird. Heidegger intendiert in seinem frühen Werk eine Darstellung des
Geistes in seinen entspringenden Ursprüngen in der Welt.
Im zweiten Teil der vorliegenden Studie haben wir gesehen, wie das Sein als Möglichkeit aus
der Frage am Seienden ankommt. Schon vor „Sein und Zeit“ ist das Sein kein Ontologem, keine Reali-
tät, keine Grenze, kein Wesen, keine Gegenständlichkeit und Realität als letzter Horizont des Seien-
den, sondern sein kategorialer Übergang als Postulat eines Differentes und an und aus dem Seienden
Gefragten. Letztendlich soll Sein allein verstanden und nicht auf Anderes entworfen werden. Das Sein
ist schon und nur in und aus seiner gefragten Wahrheit. So ist das Sein ein epekeina tes ousias, das
Licht, welches erst vorontologisches und dann ontologisches Verstehen von Sein ermöglicht. Dieses
vorontologische Verstehen im letzten Licht ist nicht der letzte intentionale Horizont universalen und
fundamentalontologischen Seinsverständnisses, sondern das aus dem Fehl des in der Transzendenz
und der Wahrheit des Seins schon befindlichen Daseins als das Zu-Sehende ins Anwesen entspringen-
de abwesende Sich- Er-möglichende bzw. Gefragte. Das Sein und die Zeit ist das Sich in seinem An-
spruch am Dasein Er-möglichende und Gefragte und nicht intentionale Realität. Als das solcherweise
Sich-er-möglichende ermöglicht es auch Verstehen vom möglichen Seienden. Das Seiende ist nicht
Wirkliches als Verwirklichung einer Realität, sondern Er-möglichung des Seins, in welcher dieses
immerhin das Gefragte, Fehlende und Mögliche bleibt. Das Sein als Sich-Unter-scheiden kommt nicht
ins Seiende als in seine existentia und actus purus, sondern als das Er-möglichende bleibt es das Mög-
liche, das Gefragte und Fehlende am Seienden, welches im Licht der „Schöpfung“ aus dem Dunklen
als epekeina tes ousias entspringt. So ist das Sein als Gefragtes doch welterschließende Existenz aus
dem Nichts und erfüllendes, weltdarstellendes, reales Prädikat, seiendes Sein und nicht die Realität
eines Realen.
Im nächsten Teil hat sich die Geschichte der Metaphysik und des Nihilismus als eine Genealo-
gie ausgewiesen, in welcher der Nihilismus sich als dialektische Aufhebung der Bedingungen im als
unbedingten erwiesenen Ich vollzieht. So ist das Nicht des Nihilismus die negative Voraussetzung und
das Moment der Verneinung in einer programmatischen Dialektik und nicht das Nichts, welches inner-
236
lich im Sein und im Dasein waltet. Daher ist der tote Gott die tote und aufgehobene Bedingung des
unbedingten Subjekts. Dagegen ist das Dasein selbst seine Wahrheit oder Unwahrheit, in welcher Gott
im Dasein selber gestorben ist und die Gottlosigkeit und der Fehl Gottes erlitten wird. Während im
Nihilismus das unbedingte Subjekt ein bewußt bedingendes Ich seiner Bedingungen bleibt, kann ein
neuer Gott wieder anfangen. So ist die Wahrheit ein circulus vitiosus deus, im Gegensatz zum letzten
Gott Heideggers, welcher aus der Unwahrheit, dem Fehl, der Verborgenheit, dem Tod als fehlender
Gott und Ge-währung des Gewesenen erwachen und entspringen kann.
In den ersten drei Teilen haben wir also gesehen, daß die Wahrheit kein phänomenologisches
Sich-zeigen einer Idee ist, sondern aus dem direkten Anspruch am sterblichen und in sich transzenden-
ten Dasein auf etwas Fehlendes erfragt und aus seiner Motivation auf eine fehlende Wahrheit möglich
wird. Solches Sein ist nicht intentionale Realität und letzter Horizont für das reale Seiende, sondern
das Sich am Dasein aus der Frage des Seienden Er-möglichende und aus dem Fehl und dem Dunklen,
im Licht der „Schöpfung“ erst Aufbrechende. Es er-möglicht sich in seinem Anspruch am Dasein und
ist nicht Verwirklichung seiner Realität. Solcherweise ist das Dasein schon in der Wahrheit oder Un-
wahrheit des Seins. Seine Unwahrheit ist nicht ein toter Gott, ein Schein, dessen Unwahrheit im ei-
gentlich wahren und bewußt bedingenden Subjekt aufgehoben werden soll, damit ein neuer Gott als
circulus vitiosus anfangen kann, sondern der Ort des Erleidens des Fehls an Wahrheit, aus welchem
der letzte Gott aus dem Tod und der Verborgenheit erwacht. So ist die Wahrheit weder Unmittelbar-
keit noch Vermittlung einer sich bewährenden Idee, sondern das Letzte als Ge-währung einer Frage
und eines Fehls und so das Plötzliche und Heilige.
Schon in „Sein und Zeit“ ist die Wahrheit als Entdeckend-sein nicht originäre und adäquate
Wiedergabe der Sache, sondern der wesende Übergang der Wahrheit im Dasein als direktem und ge-
worfenem Entwurf des Seins der Sache. So ist Wahrheit als Un-verborgenheit auf Grund der Erschlos-
senheit und der Weltlichkeit des Seins des Daseins möglich, welches schon in der Wahrheit oder Un-
wahrheit des Seins ist und nicht zwischen dem Sein und seinem realen Entwurf vermittelt. Die Wahr-
heit ist deswegen nicht unmittelbare Erschließung und Bewährung des Seins. Das Sein in seiner
Wahrheit ist vielmehr ausgewiesene Darstellung und Erfüllung der gefragten und dem Sein selber
vorgängigen und fehlenden Wahrheit. Die Wahrheit des Seins hat im Dasein ihren Ab-grund. Dieser
Ort ist Ort der Zögerung und der Unentschiedenheit, in welchem die Wahrheit unerfüllt bleibt. Aus
dieser Zögerung und dem Entzug kommt das Sein wieder in seine Wahrheit, aber nicht mehr aus sei-
nem ersten Anfang, sondern aus seiner erwiesenen Unerfülltheit, seiner Leere und seinem Fehl. So
entspringt es erst aus dem entgegengeworfenen Ort seiner Zögerung und Unerfülltheit und ist nicht
Verwirklichung und Vermittlung seines ersten Anfangs. In diesem Sinne ist die Wahrheit - auch in
“Sein und Zeit” (und zwar explizit etwa in § 44) - Erfüllung, Gewährung und Darstellung einer dem
Sein vorgängigen Frage nach der Wahreit und nicht Übereinstimmung. Der Strom entspringt so aus
jedem Ort eines angesprochenen Da, er ist Ortschaft und Wanderschaft. Die Wahrheit bleibt auch in
der Unwahrheit verborgen und motiviert. Sie ist kein Wahres an sich, sondern sie west im Un-wahren
237
und ist nicht einfach ein Verborgenes als noch nicht Entdecktes. Die Wahrheit ist das erfüllende Auf-
brechen aus der Unwahrheit. Aus dem Fehl und der Verbergung entspringt das Heilige und Plötzliche,
welches keine Entelechie und Energie eines Anfangs ist, sondern das Letzte aus der Mitte ohne An-
fang. Sie ist eine gefragte, immanente und fehlende Wahrheit des Seins, welche aus dem Fehl ent-
springt und nicht Verwirklichung einer sich bewährenden Idee ist. Das Heilige ist keine Realität eines
realen Gottes, sondern der entspringende und auf-erstehende letzte Gott aus dem Fehl des direkt ent-
gegengeworfenen Daseins, seiner Unwahrheit und seines Todes im Dasein, welcher auch Tod des
Daseins ist. Gang der Wahrheit ist der Ort des die Wahrheit erleidenden endlichen Da-seins und nicht
die Aufhebung in einen höheren Gang eines eigentlichen und immer wieder sich bewährenden An-
fangs. Die Wahrheit kommt aus einer unscheinbaren Fügung des angesprochenen Daseins mit der
fehlenden Wahrheit, wie auch die Quelle am Meer entspringt. Es geht um eine Kosmogonie, Theogo-
nie und Anthropogonie, in welcher das Heilige und Plötzliche aus der Verbergung, aus der Nacht und
aus dem Traum erwacht. Das Sein ist in seiner Wahrheit Darstellung, Erfüllung und Qualifikation
einer vorontologischen Frage und vorontologischen affektiv-reflexiven Tat und nicht Verwirklichung
einer schon wahren Idee. Die Wahrheit ist die Be-wahrung und eschatologische Erfüllung aller den
Fehl der gefragten Wahrheit Erleidenden in der Welt und nicht die innerweltliche Bewährung einer
sich bewährenden Wahrheit.
In der Geschichte der Philosophie haben mehr oder minder alle nach demselben Strickmuster
nach der Wahrheit gefragt, als ob sie Bewährung, Verwirklichung und Energie einer Substanz als Sub-
jekt - bzw. als Subjekts eines Satzes - ist. Heidegger fragt aber nach einer fehlenden und dem Sein
vorgängigen und vorontologischen Wahrheit, aus welcher bzw. als welche es ist und sich darstellt. Die
Frage des Seins - auch als Sinn vom Sein - stellt, zum Sein wi(e)derkehrend und aus dem ausgewiese-
nen Fehl und Nichts des Seins, das Sein in Frage und fragt nicht einfach vom Sein her. Die Frage des
Seins fragt aus einer dem Sein selber vorgängigen Frage und nicht aus einer adäquaten, vorverstehen-
den und zirkulären Frageposition heraus. So steht das Sein unter einer vorontologischen Frage. Das
Sein ist schon und nur in und aus seiner gefragten und fehlenden Wahrheit. Aus dieser Frage und
Wahrheit wird nicht einfach das Sein entworfen, ausgelegt, verstanden und prädiziert, sondern aus
dem Nichts und dem Fehl welterschließend dargestellt. Heidegger kehrt die Richtung des Satzes und
der Wahrheit um. Nicht Gott ist das Heilige als Verwirklichung und Übereinstimmung, sondern das
Heilige ist Gott, der letzte Gott. Die welterschließend dargestellte Wahrheit ist Erfüllung einer im Fehl
und im Erleiden der Wahrheit liegenden vorontologischen Frage und Tat. Diese dem Sein vorgängige
und vorontologische Frage soll gestellt werden.
Dieser Sinn von Wahrheit als immanente Voraussetzung im Werk Heideggers liegt jenseits von
Phänomenologie und Dialektik. Die Wahrheit ist weder Unmittelbarkeit noch Vermittlung und Dialek-
tik einer sich bewährenden Idee und Wirklichkeit, sondern das Erwachen und Entspringen des Gefrag-
ten, des Fehlenden, des Abwesenden und des Möglichen als des Heiligen und Plötzlichen.
238
VII. Bibliographie
Primärliteratur
Gesamtausgabe
Frühe Schriften: Bd. 1: Frühe Schriften (1912-16), F.-W. v. Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M. 1978.
Kant und die Metaphysik.: Bd. 3: Kant und das Problem der Metaphysik (1929), F.-W. v. Herrmann
(Hg.), Frankfurt a.M. 1991.
Erläuterungen zu Hölderlin: Bd. 4: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1936-68), F.-W. v. Herr-
mann (Hg.), Frankfurt a.M. 1981.
Holzwege: Bd. 5: Holzwege (1935-46), F.-W. v. Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M., 1977.
Wegmarken: Bd. 9: Wegmarken (1919-61), F.-W v. Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M. 1976.
Der Satz: Bd. 10: Der Satz vom Grund (1955-57), P. Jaeger (Hg.), Frankfurt a.M. 1997.
Unterwegs zur Sprache: Bd. 12: Unterwegs zur Sprache (1950-59), F.-W v. Herrmann (Hg.), Frank-
furt a.M. 1985.
Aus der Erfahrung des Denkens: Bd. 13: Aus der Erfahrung des Denkens (1919-70), H. Heidegger
(Hg.), Frankfurt a.M. 1983.
Seminare: Bd. 15: Seminare (1951-73), C. Ochwadt (Hg.), Frankfurt a.M. 1986.
Einf. in die phän. For.: Bd. 17: Einführung in die phänomenologische Forschung (WS 23/24), F.-W.
v. Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M. 1994.
Sophistes: Bd. 19: Platon: Sophistes (WS 1924/25), Frankfurt a.M. 1995.
Logik: Bd. 21: Logik. Die Frage nach der Wahrheit (WS 1925/26), W. Biemel (Hg.), Frankfurt a.M.
1976.
Die Grundbegriffe: Bd. 22: Die Grundbegriffe der antiken Philosophie (SS 1926), F.-K. Blust (Hg.),
Frankfurt a.M. 1996
Grundprobleme der Phän.: Bd. 24: Die Grundprobleme der Phänomenologie (SS 1927), F.-W. v.
Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M. 1975.
Kants Kritik: Bd. 25: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft (WS
1927/28), I. Görland (Hg.), Frankfurt a.M. 1977.
Grundbegriffe der Met.: Bd. 1929/30: Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-Endlichkeit-
Einsamkeit (WS 1929/30), F.-W. v. Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M. 1983.
Wesen der Freiheit: Bd. 31: Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie (SS
1930), H. Tietjen (Hg.), Frankfurt a.M. 1982.
Hegels Phän.: Bd. 32: Hegels Phänomenologie des Geistes (WS 1930/31), I. Görland (Hg.), Frankfurt
a.M. 1980.
Met. Th 1-3: Bd. 33: Aristoteles. Metaphysik Th 1-3 (SS 1931), H. Hüni (Hg.), Frankfurt a.M. 1981.
239
Wesen der Wahrheit: Bd. 34: Vom Wesen der Wahrheit (WS 1931/32), H. Mörchen (Hg.), Frankfurt
a.M. 1988.
Hölderlins Hymnen: Bd. 39: Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ (WS 1934/35), S.
Ziegler (Hg.), Frankfurt a.M. 1980.
Einf. in die Met.: Bd. 40: Einführung in die Metaphysik (SS 1935), P. Jaeger (Hg.), Frankfurt a.M.
1983.
Schelling: Bd. 42: Schelling: Vom Wesen der menschlichen Freiheit (SS 1936), Frankfurt a.M. 1988.
Grundfragen der Phil: Bd. 45: Grundfragen der Philosophie. Ausgewählte „Probleme“ der „Logik“
(WS 1937/38), F.-W. v. Herrmann (Hg.), Frankfurt a.M. 1984.
Nietzsches Lehre: Bd. 47: Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis (SS 1939), E. Han-
ser (Hg.), Frankfurt a.M. 1989.
Der europäische Nihilismus: Bd. 48: Nietzsche: Der europäische Nihilismus (SS 1940), P. Jaeger
(Hg.), Frankfurt a.M. 1986.
Die Met. d. dt. Ideal.: Bd. 49: Die Metaphysik des deutschen Idealismus (SS 1941), G. Seubold (Hg.),
Frankfurt a.M. 1991.
Grundbegriffe 41: Bd. 51: Grundbegriffe (SS 1941), P. Jaeger (Hg.), Frankfurt a.M. 1981.
Hölderlins Andenken: Bd. 52: Hölderlins Hymne „Andenken“ (WS 1941/42), C. Ochwadt (Hg.),
Frankfurt a.M. 1982.
Hölderlins Ister: Bd. 53: Hölderlins Hymne „Der Ister“ (SS 1942), W. Biemel (Hg.), Frankfurt a.M.
1984.
Parmenides: Bd. 54: Parmenides (WS 1942/43), M. S. Frings (Hg.), Frankfurt a.M. 1982.
Heraklit: Bd. 55: Heraklit. 1. Der Anfang des abendländischen Denkens. 2. Logik. Heraklits Lehre
vom Logos (SS 1943 und SS 1944), M. S. Frings (Hg.), Frankfurt a.M. 1979.
Zur Bestimmung der Phil.: Bd. 56/57: Zur Bestimmung der Philosophie (SS 1919), B. Heimbüchel
(Hg.), Frankfurt a.M. 1987.
Phän. 19/20: Bd. 58: Grundprobleme der Phänomenologie (WS 1919/20), H. H. Gander (Hg.), Frank-
furt a.M. 1993.
Phän der Ansch.: Bd. 59: Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks (SS 1920), C. Strube
(Hg.), Frankfurt a.M. 1993.
Phän Rel.: Bd. 60: Phänomenologie des religiösen Lebens (1918-21), M. Jung, Th. Regehly, C. Stru-
be (Hg.), Frankfurt a.M. 1995.
Phän. Interpr. zu Arist.: Bd. 61: Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Einführung in die
phänomenologische Forschung (WS 1921/22), W. Bröcker, K. Bröcker-Oltmanns (Hg.), Frankfurt
a.M. 1985.
Herm. der Faktiz.: Bd. 63: Ontologie . Hermeneutik der Faktizität (SS 1923), K. Bröcker-Oltmanns
(Hg.), Frankfurt a.M. 1988.
240
Beiträge: Bd. 65: Beiträge zur Philosophie. Vom Ereignis (1936-38), F.-W. v. Herrmann (Hg.),
Frankfurt a.M. 1989.
Bremer und Freiburger Vorträge: Bd. 79: Bremer und Freiburger Vorträge (1949 und 1959), P. Jaeger
(Hg.), Frankfurt a.M. 1994.
Einzelausgaben S. u. Z.: M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), (16. Aufl.) Tübingen 1986.
Ders., Die Selbstbehauptung der deutschen Universität (1933), Frankfurt a.M. 1983.
Ders., Die Frage nach dem Ding (WS 1935/36), Tübingen 1962 (Auch GA Bd. 41).
Ders., Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 1947, dritte Auflage 1975.
Ders., Vorträge und Aufsätze (1954), (8. Aufl.) Stuttgart 1997.
Ders., Identität und Differenz, Pfullingen 1957.
Ders., Nietzsche I (1961), (5. Aufl.) Pfullingen 1989.
Ders., Nietzsche II (1961), (5. Aufl.) Pfullingen 1989.
Ders., Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1969.
Ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1988.
Weitere Primärliteratur
Adorno Th., Gesammelte Schriften, Bd. 7, Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1997.
Benjamin W., Gesammelte Werke, Bd. IV, Einbahnstraße, Frankfurt a.M. 1991.
Bultmann R., Glauben und Verstehen, Bd. I, (3. Aufl.), Tübingen 1958.
Gadamer H.-G., Wahrheit und Methode, Gesammelte Werke, Bd. 1, (6. Aufl.) Tübingen 1990.
Ders., Hegel, Husserl, Heidegger, Gesammelte Werke, Bd. 3, Tübingen 1987.
Hegel G. W. F., Gesammelte Werke, Phänomenologie des Geistes, Bd. 9, F. Meiner Verlag, Hamburg
1988.
Ders., Gesammelte Werke,Wissenschaft der Logik, Bd. 21, F. Meiner Verlag, Hamburg 1990.
Ders., Werke, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Bd. 12, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
1989.
Kant I., Kritik der Urteilskraft, Reclam, Stuttgart1991.
Nietzsche Fr., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 7, Die Geburt der Tragödie, G. Col-
li/M. Montinari (Hg.), München 1988.
Stirner M., Der Einzige und sein Eigentum, Reclam, Stuttgart 1991.
Sekundärliteratur
241
Axelos K., Einführung in ein künftiges Denken, Tübingen 1966.
Apel K.-O., „Sinnkonstitution und Geltungsrechtfertigung“. In: M. Heidegger: Innen- und Außenan-
sichten, hsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Ders., „Wittgenstein und Heidegger. Die Frage nach dem Sinn von Sein und der Sinnlosigkeitsver-
dacht gegen alle Metaphysik“. In: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines
Werkes, Weinheim 1994.
Ders., „Szientismus oder transzendentale Hermeneutik“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.),
Hermeneutik und Dialektik Bd. I, Tübingen 1970.
Barth K., „Gott und das Nichtige“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, München 1967.
Becker O., „Para-Existenz. Menschliches Dasein und Dawesen“. In: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger.
Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Weinheim 1994.
Beelmann A., Heideggers hermeneutischer Lebensbegriff, Würzburg 1994.
Bernet R., „Husserls Begriff des Phantasiebewußtseins als Fundierung von Freuds Begriff des Unbe-
wußten“. In: Ch Jamme (Hg.), Grundlinien der Vernunftkritik, Frankfurt a.M. 1997.
Brander R., Heideggers Begriff der Geschichte und das neuzeitliche Geschichtsdenken, Wien 1994.
Braun H., „Zum Verhältnis von Hermeneutik und Ontologie“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl
(Hg.), Hermeneutik und Dialektik Bd. II, Tübingen 1970.
Brechtken J., Geschichtliche Transzendenz bei Heidegger, Meisenheim am Glan 1972.
Bretschneider W., Sein und Wahrheit, Meisenheim am Glan 1965.
Brkic P., Heidegger und die Theologie, Mainz 1994.
Brunkhorst H., „Adorno, Heidegger und die Postmoderne“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenan-
sichten, hsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Bubner R., Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989.
Bultmann R., „Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und
die Theologie, München 1967.
Claesges U., „Heidegger und das Problem der Kopernikanischen Wende“. In: Neue Hefte für Philoso-
phie, Heft 23, Göttingen 1984.
Coriando P.-L., Der letzte Gott als Anfang, München 1998.
Danner H., Das Göttliche und der Gott bei Heidegger, Meisenheim am Glan 1971.
Düttmann A.-G., Das Gedächtnis des Denkens, Frankfurt a.M. 1991.
Ebeling H., „Das Ereignis des Führers“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenansichten, hsg. vom Fo-
rum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Faden G., Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhetik, Würzburg 1986.
Figal G., Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Frankfurt a.M. 1988.
Ders., Heidegger zur Einleitung, Hamburg 1992.
Ders., Für eine Philosophie von Freiheit und Streit. Politik, Ästhetik, Metaphysik, Stuttgart 1994.
Ders., Der Sinn des Verstehens, Stuttgart 1996.
242
Ders., „Verwindung der Metaphysik. Heidegger und das metaphysische Denken“. In: Ch Jamme
(Hg.), Grundlinien der Vernunftkritik, Frankfurt a.M. 1997.
Frank M., Gott im Exil, Frankfurt a.M. 1988.
Franz H., „Das Denken Heideggers und die Theologie“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theo-
logie, München 1967.
Fuchs E., „Theologie und Metaphysik“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, München
1967.
Fulda H. F., „Theoretische Erkenntnis und pragmatische Gewißheit“. In: R. Bubner, K. Cramer, R.
Wiehl (Hg.), Hermeneutik und Dialektik Bd. I, Tübingen 1970.
Gadamer H.-G., „Sein, Geist, Gott“. In: W. Marx (Hg.), M. Heidegger, Freiburger Universitätsvorträ-
ge zu seinem Gedenken, Freiburg-München 1998.
Ders., „M. Heidegger und die Marburger Theologie“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theolo-
gie, München 1967.
Ders., „Oberflächlichkeit und Unkenntnis. Zur Veröffentlichung von Victor Farias“. In: G. Neske und
E. Kettering (Hg.), Antwort. M. Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988.
Gethmann C. F., „Heideggers Wahrheitskonzeption in seinen Marburger Vorlesungen“. In: M. Hei-
degger. Innen- und Außenansichten, hsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M.
1989.
Ders., Erkennen und Handeln. Heidegger im phänomenologischen Kontext, Berlin-New York 1993.
Ders., Verstehen und Auslegung, Bonn 1974.
Gethmann-Siefert A., Das Verhältnis von Theologie und Philosophie im Denken M. Heideggers, Frei-
burg-München 1974.
Giannaras Ch., Chaidegger kai Areopagites (griechisch), Athina 1982.
Grondin J., Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991.
Guzonni U., „Das Denken der Gelassenheit und der Bezug des Seins zum Menschenwesen“. In: U.
Guzonni (Hg.), Wege im Denken. Versuche mit und ohne Heidegger, Freiburg-München 1990.
Ders., „Anspruch und Entsprechung und die Frage der Intersubjektivität“. In: U. Guzonni (Hg.),
Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980.
Habermas J., „Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl
(Hg.), Hermeneutik und Dialektik Bd I, Tübingen 1970.
Haefner G., „Christsein im Denken. Zu Heideggers Kritik der christlichen Philosophie“. In: Theologie
und Philosophie, 68. Jahrgang Heft 1, 1993.
Heim K., „Ontologie und Theologie“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, München
1967.
Helting H., Heidegger und M. Eckehart, Berlin 1997.
v. Herrmann F. W., Wege im Ereignis, Frankfurt 1994.
Jäger A., Gott. Nochmals Martin Heidegger, Tübingen 1978.
243
Jüngel E., Gott als Geheimnis der Welt, (6. Aufl.) Tübingen 1992.
Ders. und Trowitzsch M., „Provozierendes Denken“. In: Neue Hefte für Philosophie, Heft 23, Göttin-
gen 1984.
Ders., „Brief an G. Neske vom 18. August 1988“. In: G. Neske und E. Kettering (Hg.), Antwort. M.
Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988.
Kettering E., Nähe. Das Denken M. Heideggers, Pfullingen 1987.
Ders., „Fundamentalontologie und Fundamentalaletheologie“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenan-
sichten, hsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Kuhlmann G., „Zum theologischen Problem der Existenz“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die
Theologie, München 1967.
Küng H., Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena
zu einer künftigen Christologie, München 1989.
Lehmann K., „Metaphysik, Transzendenz und Phänomenologie in den ersten Schriften M. Heideggers
(1912-1916)“. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 1963-64.
Ders., „Christliche Geschichtserfahrung und ontologische Frage beim jungen Heidegger“. In: O. Pög-
geler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Weinheim 1994.
Link W., „Anknüpfung, «Vorverständnis» und die Frage der «Theologischen Anthropologie»“. In: G.
Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, München 1967.
v. Loewenich W., Luthers theologia crucis, Schwelin 1967.
Löwith K., Heidegger. Denker in dürftiger Zeit, Göttingen 1953.
Ders., „Weltgeschichte und Heilsgeschehen“. In: Anteile. M. Heidegger zum 60. Geburtstag, Frankfurt
a.M. 1950.
Ders., „Phänomenologische Ontologie und Protestantische Theologie“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger
und die Theologie, München 1967.
Lorenzen P., „Szientismus versus Dialektik“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.), Hermeneutik
und Dialektik Bd. I, Tübingen 1970.
Lotz J.-B., Vom Sein zum Heiligen. Metaphysisches Denken nach Heidegger, Frankfurt a.M. 1990.
Ders., Martin Heidegger und Thomas von Aquin, Pfullingen 1975.
Luck U., „Heideggers Ausarbeitung der Frage nach dem Sein und die exitenzialanalytische Begriff-
lichkeit in der evangelischen Theologie“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, München
1967.
Marx W., „Die ontologische Differenz in der Perspektive der regionalen Ontologie des Daseins“. In:
U. Guzonni (Hg.), Nachdenken über Heidegger, Hildesheim 1980.
Melcic D., Heideggers Kritik der Metaphysik und das Problem der Ontologie, Würzburg 1986.
Merker B., „Konversion statt Reflexion“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenansichten, hsg. vom
Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Mikulic B., Sein, Physis, Aletheia, Würzburg 1987.
244
Misch G., Lebensphilosophie und Phänomenologie, (2. Aufl.) Bonn 1931.
Moltmann J., Der gekreuzigte Gott, München 1976.
Mörchen H., Adorno und Heidegger. Untersuchung einer philosophischen Kommunikationsverweige-
rung, Stuttgart 1981.
Ders., „Heideggers Satz «Sein heißt Anwesen»“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenansichten, hrsg.
vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Müller M., Existenzphilosophie im geistigen Leben der Gegenwart, Heidelberg 1964.
Müller-Lauter W., Möglichkeit und Wirklichkeit, Berlin 1959.
Ders., „Das Willenswesen und der Übermensch“. In: E. Behler, M. Montinari, W. Lauter-Müller
(Hg.), Nietzsche-Studien Bd. 10/11, Berlin 1981.
Noller G., „Ontologische und theologische Versuche zur Überwindung des anthropologischen Den-
kens“. In: G. Noller (Hg.), Heidegger und die Theologie, München 1967.
Ohashi R., Ekstase und Gelassenheit: Zu Schelling und Heidegger, München 1975.
Otsuru T., Gerechtigkeit und D¥jg (gr.), Würzburg 1992.
Perpeet W., „Heideggers Kunstlehre“. In: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung
seines Werkes, Weinheim 1994.
Pocai R., Heideggers Theorie der Befindlichkeit, Freiburg-München 1996.
Polti A., „Ontologie als «Inbegriff von Negativität»“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenansichten,
hsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Pöggeler O., „Dialektik und Topik“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.), Hermeneutik und Dia-
lektik Bd. II, Tübingen 1970.
Ders., Philosophie und Politik bei M. Heidegger, Freiburg-München 1972.
Ders., Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, München 1993.
Ders., „Heideggers logische Untersuchungen“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenansichten, hrsg.
vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Ders., „Wächst das Rettende auch? Heideggers letzte Wege“. In: W. Biemel und F.-W. v. Herrmann
(Hg.), Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von M. Heidegger, Frankfurt a.M.
1989.
Ders., Der Denkweg M. Heideggers, (3. Aufl.) Pfullingen 1990.
Ders., Neue Wege mit Heidegger, Freiburg-München 1992.
Pugliese O., Vermittlung und Kehre, Freiburg-München 1965.
Robinson J. M. (Hg.), Der spätere Heidegger und die Theologie, Zürich 1964.
Rorty R., „Heidegger wider die Pragmatisten“. In: Neue Hefte für Philosophie, Heft 23, Göttingen
1984.
Seel M., „Heidegger und die Ethik des Spiels“. In: M. Heidegger. Innen- und Außenansichten, hsg.
vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a.M. 1989.
Siewert G., Das Schicksal der Metaphysik von Thomas bis Heidegger, Düsseldorf 1987.
245
Smith P. Ch., Das Sein des Du. Bubers Philosophie im Lichte des Heideggerschen Denkens an das
Sein, Heidelberg 1966.
Schulz W., „Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.),
Hermeneutik und Dialektik Bd. I, Tübingen 1970.
Ders., „Über den philosophiegeschichtlichen Ort M. Heideggers“. In: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger.
Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Weinheim 1994.
Strube C., Das Mysterium der Moderne, München 1994.
Thanassas P., O protos deuteros plous (griechisch), Herakleion 1998.
Thomä D., Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Frankfurt a.M. 1990.
Trowitzsch M. und Jüngel E., „Provozierendes Denken“. In: Neue Hefte für Philosophie, Heft 23,
Göttingen 1984.
Tsujimura K., „Zur Bedeutung von Heideggers «übergänglichen Denken» für die gegenwärtige Welt“,
in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 23, Göttingen 1984.
Tugendhat E., Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, (2. Aufl.) Berlin 1970.
Ders., „Phänomenologie und Sprachanalyse“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.), Hermeneutik
und Dialektik Bd. II, Tübingen 1970.
Ders., „Heideggers Idee von Wahrheit“. In: O. Pöggeler (Hg.), Heidegger. Perspektiven zur Deutung
seines Werkes, Weinheim 1994.
Wecklawski T., Zwischen Sprache und Schweigen, Rom 1978.
Wiehl R., „Begriffsbildung und Begriffsgeschichte“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.), Her-
meneutik und Dialektik Bd. I, Tübingen 1970.
Ders., „Heideggers ontologische Frage und die Möglichkeit einer Ontologie“. In: Neue Hefte für Phi-
losophie, Heft 23, Göttingen 1984.
Wieland G., „Rationalisierung und Verinnerlichung. Aspekte der geistigen Physiognomie des 12.
Jahrhunderts“. In: Philosophie im Mittelalter, Festschrift, W. Klugxen, zum 65. Geburtstag, J.P.
Beckmann, L. Honnefelder, G. Schrimpf (Hg.), Hamburg 1987.
Wieland W., „Möglichkeiten der Wissenschaftstheorie“. In: R. Bubner, K. Cramer, R. Wiehl (Hg.),
Hermeneutik und Dialektik Bd. I, Tübingen 1970.
Wisser R., „Martin Heidegger im Gespräch“ In: G. Neske und E. Kettering (Hg.), Antwort. M. Hei-
degger im Gespräch, Pfullingen 1988.
Ziegler S., Heidegger, Hölderlin und die Aletheia, Berlin 1990.