ZWISCHEN NUTZEN UND RÄUMEN

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EDITORIAL

SPEKULATIV

Spekulieren ist kalkulieren und riskieren, forschen und wagen. Während die Definition als gewinnorientierte Geschäftstätigkeit im alltäglichen Gebrauch Eingang gefunden hat, ist Zweitere einiges schwieriger zu fassen und meint die unpräzise, auf Mutmassungen beruhende Erwartung, die ihrerseits mit Risiko und Mut ebenso ver-knüpft ist wie mit Träumerei und Idealismus.1 Zieht man die dritte Bedeutungsebene – das Vernunftstreben nach Erkenntnis jenseits der Sinnenwelt – hinzu, sieht man sich einem Gedankenkonstrukt gegenüber, das weder abschliessend benannt noch widerspruchs-frei gelesen werden kann. Mit der Vielschichtigkeit des Wortes ein inhaltliches Spannungsfeld aufzubauen, um eine kritische Gegen-überstellung zu wagen, mag im konzeptionellen Rahmen der abs-trakt-unbestimmten Denkwelt ausgezeichnet funktionieren. Auf der Suche nach Begriffen, welche die jeweiligen Facetten präzise zu beschreiben wissen, verfällt man jedoch leicht in gängige Vorur-teile. Versucht man alle Positionen in strikte Kategorien abzulegen, scheitert man daran, dass sich viele nicht klar einordnen lassen. Sie bewegen sich zwischen gut und böse, visionär und rückwärtsge-wandt, pragmatisch und idealistisch. Während einige Beiträge ver-suchen, dokumentarisch ein Bild unserer Welt zu zeichnen, wagen andere den subtilen Blick auf die Schönheiten des Brutalen; wäh-rend einige wissenschaftlich präzise prognostizieren, nutzen andere die Umstände des Realen, um die Wahrheit des Fantasti-schen zu beschreiben. Das Spannungsfeld wird zu einer Gedan-kencollage vielversprechender Spuren und Fragmente.

Der Versuch der Verknüpfung von Finanz- und Architekturwelt ist vielfältig und unauflösbar – den Unterschied macht der Blickwinkel auf die Gegebenheiten. Die Teilung dieser Ausgabe in drei Abschnitte kann folglich nicht als klare Abgrenzung dienen, son-dern stellt die Beiträge vielmehr in einen komplexen Zusammen-hang, wobei sie sich der Elemente eines simplen Spiels bedient und dessen Regeln und Konnotationen zum Narrativ werden lässt. Jede Option, ob Schere, Stein oder Papier, bleibt im Verlauf des Spiels stets gleichwertig, erst das Nebeneinander deckt die jeweili-gen Schwächen, Grenzen und Differenzen eines Zuges auf.

Steht die Schere sinnbildlich für das Instrument und vertritt eine aktive Haltung gegenüber dem Fortschritt, umschreibt das Papier mögliche Ansätze und zeichnet schillernde Bilder der Zukunft. Der Stein trägt die Attribute der Archaik und Bodenständigkeit und stellt der Schere in ihrem strategischen Denken und ihrer Prozessorien-tiertheit seine Ursprünglichkeit gegenüber. Während das Papier in Gedankenwelt und atmosphärischer Fiktion mit differenziertem Blick Erkenntnisse in unterschiedlichster Lesart zu gewinnen ver-sucht, rechtfertigt der Stein Ideologielosigkeit ebenso wie die Unverrückbarkeit einer Politik und die Absolutheit des Konkreten.

Die drei assoziativen Felder legen damit nicht drei universelle Wahr-heiten fest, sondern dienen dazu, die Artikel mit einer weiteren Bedeutungsebene zu versehen und ihnen durch ihr Verhältnis zum Gesamten eine Aussage zu entlocken. Sie sind ein Versuch, die Komplexität unserer Diskussion abzubilden.

Wenn wir uns auch von Beginn weg vorgenommen hatten, mutig nach vorne zu blicken und eine Vision zu zeichnen, so kann dies ‹trans 25› nicht leisten. Und hatten wir anfangs eifrig die These auf-gestellt, dass die Ökonomisierung der Architektur die Utopie obso-let gemacht habe und die Gier nach Geld unseren Takt bestimmt, so können wir dies definitiv bestätigen – oder genau nicht, denn was uns allen gemein ist, ist die nagende Unwissenheit: Die Unwis-senheit, die uns auf all diese Irrwege des Denkens, Fragens und Diskutierens bringt und uns ein ums andere Mal ein Schnippchen schlägt, wenn wir glauben, einer Wahrheit ein kleines Stück näher gerückt zu sein. Es ist ebendiese Unwissenheit, die unseren Opti-mismus nährt, die Skepsis gegenüber dem Neuen ebenso wie gegenüber dem Alten stärkt und die grundlegende Lust am Denken weckt.

Der Gewinn dieser Ausgabe des ‹trans› ist kein Resultat mit absolu-ter Gültigkeit, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass uns Interesse, Optimismus und Hartnäckigkeit weiterbringen kann und dass es die Architektur durchaus nötig hat, ihr eigenes Tun kritisch zu reflektieren – denn auch die Wichtigkeit, die wir unserer Arbeit geben, ist letztlich selbstgemacht.

Die transRedaktionSamuel Aebersold, Janina Flückiger, Lex Schaul, Matthew Tovstiga

1 Spekulation, die: -, -en (auf Mutmassungen beruhende Erwartung; auf Gewinne aus Preisveränderungen abzielende Geschäftstätigkeit; Philos. Vernunftstreben nach Erkenntnis jenseits der Sinnenwelt), aus: ‹Duden – Die deutsche Recht-schreibung›, 22. Auflage, Band 1, Mannheim: Dudenverlag 2000.

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SPECULATIVE

To speculate is to calculate and to wager, to explore and to dare. While the definition as a profit-oriented business activity has become commonplace, the other is more difficult to grasp and means the imprecise expectations founded on assumptions, which is a matter of risk and courage as much as fantasy and idealism.1 Taking the third level of meaning – the striving of reason for insight outside the world of the senses2 – one is faced with a mental cons-truct that can neither be clearly delineated nor read without contra-dictions. Creating a field of tension from the multiple layers within the word, to induce a critical confrontation, might work well in the conceptual framework of an abstract and undetermined world of thought; however, in the search for terms that precisely describe the respective facets, one easily slides into common prejudices. If one attempts to strictly categorise every position, one fails, as most cannot be clearly assigned. Each moves between good and evil, the visionary and backward-oriented, the pragmatic and idealistic. While some contributions attempt a documentary view of our world, others dare a subtle glance on the beauty of brutality; while some predict with scientific precision, others use the circumstances of reality to describe the truth of the fantastic. The field of tension becomes a thought-collage of promising traces and fragments.

The attempts of interlinking the financial and architectural world are numerous and cannot be dissolved – their difference lies in their point of view on the circumstances. Hence, the partition of this issue into three sections cannot serve as a clear demarcation; rather, each contribution is put into a complex web of meaning, and the sections use the elements of a simple game, with its rules and connotations as a guiding narrative. Each option, rock, paper or scissors, remains equally valid throughout the game, and only their juxtaposition reveals the weaknesses, limits and differences of each move.

In this framework, the scissors are emblematical of the instrument and represent an active stance towards progress, whereas the paper describes possible points of departure and draws dazzling pictures of the future. The rock has the attributes of the archaic and groundedness and opposes the strategic thinking and sophis-ticated processes of the scissors with its direct reference to the original state of things. And while the paper, in the realm of thought and atmospheric fiction, attempts to gain differentiated insight with diverse ways of reading, the rock justifies the lack of ideology as well as the firmness of a policy and the absoluteness of the concre-te. These three associative fields therefore do not attempt to define universal truths, but rather endow each contribution with additional levels of meaning to elicit a statement in relation to the whole. They are an attempt to depict the complexity of our discussion.

Though we had decided at the beginning of our endeavor to con-fidently look forward and draw a vision, ‹trans 25› cannot promise this. And had we eagerly theorised that the economisation of ar-chitecture has made utopia obsolete and that monetary greed sets the contemporary pace, we can definitely confirm this – or exactly not, because what is common to us all is ignorance: ignorance, which brings each of us onto these aberrations of thinking, questi-oning and discussing, and fools us at the moment when we believe to have arrived a little closer to truth. It is exactly this ignorance that feeds our optimism, strengthens our scepticism towards the new as well as the old and awakens our desire for reflection.

The proceeds of this edition of ‹trans› is not a result of absolute validity, but rather the insight that genuine interest, optimism and perserverance can bring us further, and that architecture definitely requires critical reflection – because even the importance, that we attach to our work, is ultimately self-made.

The transRedaktionSamuel Aebersold, Janina Flückiger, Lex Schaul, Matthew Tovstiga

1 Speculation: the forming of a theory or conjecture without firm evidence; investment in stocks, property, etcetera in the hope of gain but with the risk of loss, www.oxforddictionaries.com, retrieved: 22.07.2014.

2 As given in the German ‹Duden› dictionary.

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trans ist das halbjährlich erscheinende Fachmagazin des Departements Architektur der ETH Zürich und wird seit 1997 von einer unabhängigen, studentischen Redaktion geführt. Das Heft diskutiert aktuelle Themen der Architektur und des Städtebaus im Spannungsfeld von Gesellschaft, Politik, Philosophie und Kunst.

HERAUSGEBERtransRedaktionETH Zürich, Hönggerberg HIL D 32Stefano-Franscini-Platz 58093 Zürichtel. +41 44 633 27 [email protected]

REDAKTIONSamuel Aebersold, Janina Flückiger,Lex Schaul, Matthew Tovstiga

BEITRÄGEEkaterina Ageeva, Ljubica Arsic, Ting Chen, Isabel Concheiro, Margaret Crawford, Hermann Czech, Manuel Däster, Lorenza Donati, Janina Flückiger, Daniel Fuchs, Paolo Giannachi, Gian Francesco Giudice, Daniel Häni, Martin Hartung, Lindsay Blair Howe, Balz Halter, Michael Hirschbichler, Matilde Igual, Bijoy Jain, Florian Kaiser, Natalie Keppler, Mascha Kremer, Hansjürg Leibundgut, Joshua Mardell, Lucian Sandu-Milea, Christl Mudrak, Garrett Ricciardi, Julian Rose, Christian Salewski, Alina Schmuch, Laurent Stalder, Hans Widmer, Mejrema Zatric, Tobias Wootton & Seminar Architektur und Fotografie ETH Zürich

LEKTORATtransRedaktion, gta Verlag, Christopher Metz, Heidi Tovstiga, Karen Widmer

ÜBERSETZUNG EDITORIALtransRedaktion

GESTALTUNG UND SATZtransRedaktion mit Samuel Bänziger, Bänziger Hug Ltd., www.bänziger-hug.com

DRUCKEREIrva Druck und Medien AG, Altstätten SG

AUFLAGE1000 Exemplare

PAPIEREGraukarton, Offsetqualität, 300 gm2 Daunendruck Natural 1.5, rau, 80 gm2

Magno Satin, gestrichen, 135 gm2

SCHRIFTENAkzidenz Grotesk, Arnhem

IMPRESSUM

DANKProf. Dr. Laurent Stalder, gta Verlag, Ulla Bein, Veronika Darius, Samuel Bänziger, architektura, Departement Architektur der ETH Zürich

RECHTEFür den Inhalt und die Bildrechte der jeweiligen Bei-träge sind die AutorInnen verantwortlich. Vervielfälti-gung und Wiedergaben jeglicher Art (grafisch, elektro-nisch, fotomechanisch usw.), auch in Auszügen, sind nur mit schriftlicher Genehmigung der transRedaktion zulässig. Die Inhalte der Beiträge stellen die Ansicht der Verfasserin oder des Verfassers dar und nicht die der transRedaktion. AutorInnen, HerausgeberInnen und Verlag haben sich bemüht, alle InhaberInnen von Urhe-berrechten ausfindig zu machen. Sollten dabei Fehler oder Auslassungen unterlaufen sein, werden diese bei entsprechender Benachrichtigung in der folgenden Auflage korrigiert.

Alle Rechte vorbehalten© 2014, transRedaktion© Texte: bei den AutorInnen© Abbildungen: bei den BildautorInnen oder deren Rechtsnachfolgern

VERTRIEBgta VerlagETH Zürich, Hönggerberg HIL E 64.4Stefano-Franscini-Platz 58093 Zürichtel. +41 44 633 24 [email protected]

ISBN 978-3-85676-342-8

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.dnb.de abrufbar.

COVEREmpty flipchart isolated on white.Fotografie: Africa Studio/Shutterstock.com.

ERRATUMtrans 24, S. 144: Der Titel von Elena Chestnovas Beitrag lautet ‹Bridging Art and Science – Semper’s Teaching in London› statt ‹Bridging Art and Science – Semper’s Teaching›.

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INHALT

PAPIER / PAPER

Parallels in the ZeptospaceGian Francesco Giudice

Year 2050Matilde Igual

Venice 2014Martin Hartung & Mejrema Zatric

SubtilMascha Kremer

Spekulieren auf Fna, Cro und PniHans Widmer

Helvetia, quo vadis?Ljubica Arsic & Daniel Fuchs

Mittel oder ZweckDaniel Häni

Jenseits der Küste UtopiasMichael Hirschbichler

Snozzis HoffnungJanina Flückiger & Paolo Giannachi

SCHERE / SCISSORS

Pamphlete zur SpekulationHansjürg Leibundgut

ZukunftsbilderChristian Salewski

Auf VorratSeminar Architektur und FotografieETH Zürich, Tobias Wootton

Carol 53Lucian Sandu-Milea

Zwischen Nutzen und RäumenNatalie Keppler mit Florian Kaiser

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Herzlichen Glückwunsch, liebe Klara!Christl Mudrak

Hybridity as an urban SpeculationEkaterina Ageeva

Einige Spekulationen aus der Geschichte heraus zur Architektur der GegenwartLaurent Stalder

STEIN / ROCK

Formless as FoundGarrett Ricciardi & Julian Rose

The Hidden BubbleIsabel Concheiro

Siedlung in rot-beige (begrünt)Alina Schmuch

Forming the Socialist FrontierTing Chen

Common or GardenJoshua Mardell

Experimental UtopiasMargaret Crawford & Lindsay Blair Howe

Zukunft gestaltenBalz Halter

ArcadiaManuel Däster

Ist die Zukunft tatsächlich ein Problem?Hermann Czech

MedianerasLorenza Donati

Agreeing to DisagreeBijoy Jain

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Zürich, Zweierstrasse, Zustand 8. Mai 2014.Fotografie: Tobias Siebrecht.

«It is an empty desolate place, and I’m sure it is this desolation that makes dungeness so utterly attractive: that in its emptiness it can become so full.»1

Das Foto (fig. a) zeigt die Ruine des Gebäudeensembles an der Zweierstrasse, in dem der ehemalige Kunstraum ‹Karussell› das Erdgeschoss zur Zwischennutzung gebrauchen durfte. Repräsentativ steht sie für die Kunstruinen, die es zwischen den Neubebauungen im Stadtraum Zürich in den nächsten Jahren vermehrt geben wird.

Dieser Artikel zielt aber nicht auf den Aspekt der Zerstörung, sondern konzen­triert sich, wie das Zitat bereits andeutet, vielmehr auf jenes, mit dem Räume der Zwi­schennutzung gefüllt sind, waren oder werden. Unsere Überlegungen kreisen um das Paradoxon, dass in den letzten Jahren leerstehende, dem Abriss geweihten Gebäude in Zürich Kunstschaffenden erst die Möglichkeit geben, produktiv zu werden. In der Stadtentwicklung Zürichs, die stark von wirtschaftlichen Erwägungen dominiert ist, zeigen Zwischennutzungen alternative Wege auf. Die Gebäudespekulation um die Europaallee oder die Aufwertung des Quar­tiers Wiedikon bildet unbewusst neue Frei­räume für nicht profitorientierte Kunst­ und Ausstellungsprojekte. Anhand historischer Entwicklungen der beiden Quartiere Aussersihl und Wiedikon und im Beson­deren anhand von zwei temporär genutzten Räumen, die sich in der künstlerischen Praxis des Stadtraums Zürich verorten lassen, soll der interdisziplinäre Diskurs um die Freiräume der Kunst angeregt werden.

ANDERE RÄUME

Die zu beschreibenden Räume befinden sich in einem Zwischenzustand: Einer davon ist das ‹Perla-Mode› an der Langstrasse in unmittelbarer Nähe zur entstehenden Euro­paallee. Dieser Neubebauung musste erst kürzlich der Kulturraum ‹Remise› weichen. Das ‹Perla-Mode› ist ein seit acht Jahren existierender Off­Space mitten in der Stadt und ist ein Beispiel dafür, dass Raum und Zeit für Zwischennutzungen begrenzt sind. Da oft nicht klar ist, wie lange die Räume der Zwischennutzung zur Verfügung stehen, ist es auch eine Spekulation mit der Zeit.2 Der zweite ist das ‹Winterhalder-Areal› in Wiedikon, welcher durch ein Ausstellungs­projekt mit dem Gebäude des ‹Perla-Mode› in Beziehung gesetzt werden sollte.

Bezeichnenderweise liegt die eingangs erwähnte Zweierstrasse (fig. a) auf dem Weg zwischen den beiden Kulturräumen. Die eingeschriebene Liminalität zwischen Abriss und Nutzung, zwischen Langstrasse und Werdstrasse, zwischen Utopie und Dys­topie, Ökonomie und Erhaltung wurde durch die Ausstellung ‹Here and Now. Und die Ferne wird zur Nähe› thematisiert, die

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fig. bSchuh-Haus ‹Chline Lädeli›, 1946.

Fotografie: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich.

fig. dGuggenheim Pferdehandlung, Innenraum, um 1913/14.Fotografie: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich.

fig. c‹Perla-Mode›, 2014.

Fotografie: Tobias Siebrecht.

fig. eWinterhalder Taxi, 1945.

Fotografie: Baugeschichtliches Archiv der Stadt Zürich.

vom 10. bis zum 31. Mai 2014 in Zürich im ‹Perla-Mode› und gleichzeitig im ‹Winterhal-der-Areal› stattfand. 21 KünstlerInnen wurden eingeladen, sich mit der Geschichte, Umgebung und den Räumlichkeiten der Häuser auseinanderzusetzen. Die Mikroge­schichten und Wirklichkeiten der Orte wurden dabei beobachtet, erforscht und archiviert. Die Geschichten und Funktionen der beiden alten Häuser und ihrer Umge­bung wurden bei der Konzeption mitge­dacht, da sie ein ganzes Quartier, dessen Tradition und Bild mitprägten.

Die beiden Architekturen als «Resträume oder Zwischen-Orte»3 bilden eine Art neue Utopie für Kunstschaffende. Dadurch, dass diese Räume aus ihrer ursprünglichen Funktion herausgelöst und Typologie und Funktion nicht mehr zuzuordnen sind, werden sie zu Orten von verwirklichten Uto­pien, die Michel Foucault ‹andere Räume› oder Heterotopien nennt:

«Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte,

wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsäch-lich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig reprä-sentiert, bestritten und gewendet sind, gewis-sermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.»4

ORTSENTWICKLUNG

Die Quartiere Wiedikon und Aussersihl, in denen sich die beiden Kulturräume befin­den, zählten im 19. Jahrhundert zur selbst­ständigen Gemeinde Aussersihl. Der heu­tige Kreis 3 umfasst nur noch Wiedikon und als Aussersihl wird der heutige Kreis 4 bezeichnet. Aussersihl entwickelte sich his­torisch bedingt zum verrufenen Arbeiter­quartier. Im 17. Jahrhundert befanden sich dort «negative Landmarken»5 wie das Sie­chenhaus, der Galgen und Gruben, in denen Tierkadaver verscharrt wurden. Weichen­stellend für ein Unterschichtenquartier waren die Häuser, in denen Tagelöhner, Fuhrknechte und Bauarbeiter eine billige

Unterkunft nahe des Bahnhofs fanden. Später kamen das Gaswerk (1864) und das Bezirksgefängnis (1916) dazu. Das Unbeha­gen und die Abneigung galt nicht nur der gebauten und geografischen Umwelt, son­dern vor allem auch der dort ansässigen Arbeiterschaft des industriellen Zeitalters. Aussersihl war als Gebiet niedriger sozialer Ordnung von der bürgerlichen Bevölkerung zu meiden. Aus stadtsoziologischer Sicht wird Aussersihl heute als «zone in transition» gesehen.6

PERLA­MODE

Das Gebäude an der Langstrasse Ecke Brauerstrasse, wurde zur Zeit der Auf­nahme (fig. b) 1946 als Schuh­Haus und Strumpf­Reparaturwerkstatt genutzt und wurde später als Textilwarengeschäft ‹Per-la-Mode›, bekannt (fig. c).

Die Räume befinden sich nicht im wirkli­chen Kunstzentrum Zürichs. Die Langstra­sse als Mittelpunkt des Nachlebens inmit­ten des Rotlichtviertels ist einerseits ein

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fig. f‹Perla-Mode›, Innenraum, 2014.

Fotografie: ‹FRICTION›.

zentraler Standort, andererseits oft von Zwischenfällen gestört. Die Frage, wie an diesem Ort Kunst platziert und ausgestellt werden kann, ist ständiges Thema. Der Hauptraum des ‹Perla-Mode› ist ein Ver­kaufsraum mit asymmetrisch grossen Fenstern zur Langstrasse hin, die auf die Präsentation nach und die Wahrnehmung von aussen ausgerichtet sind. Im Unterge­schoss befindet sich das ehemalige Lager des Modegeschäfts: ein düsterer, niedriger Raum, der ebenfalls als Ausstellungsraum genutzt wird.

Aus dem Museum heraus andere Räume wie Ladengeschäfte zum Ausstellen zu finden, ist seit den 1960er­Jahren nichts Ungewöhnliches mehr. Der amerikanische Künstler Claes Oldenburg wurde dadurch bekannt, dass er 1961 in Manhattan einen Monat lang einen Laden, ‹The Store›, mie­tete, um dort alltägliche, aus Pappmaschee und Gips nachgebaute Gegenstände aus­zustellen. «Spätestens seit den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts thematisiert der kritische Diskurs über die bildende Kunst ausführlich deren ökonomische Verwicklung, zugleich wird eine ästhetische Reflexion der Kunstwerke selbst auf ihr Verhältnis zur Konsumkultur auf-fällig.»7

An Konsum orientierte Kunstgalerien den­kend lässt sich vermuten, dass die Ladenty­pologie des ‹Perla-Mode› für Kunstausstel­lungen förderlich wäre. Was sich aber immer wieder als Herausforderung heraus­stellte waren die Schaufenster – der dunkle Keller hingegen eignete sich gut als Black Box, um Videokunst auszustellen. Die Schwierigkeit und gleichzeitig der Reiz dieser Räume ist, mit der Architektur, den Spuren und Ge­Schichten der Wände zu arbeiten. Durch die mittlerweile acht Jahre andauernde Zwischennutzung durch Aus­stellungen, Theater und Feste tragen die Räume des ‹Perla-Mode› ein neues imaginä­res Archiv an Bildern in sich, das durch

viele Künstler, in dieser Zeit geschaffen wurde (fig. f).

WINTERHALDER­AREAL

Von den Gebrüdern Guggenheim 1906 als Wohnhaus und Stallungen erbaut, diente das heutige ‹Winterhalder-Areal› im damals noch eigenständigen Wiedikon als Pferde­handlung und Kutschunternehmen. Diese Typologie schafft eine, dem White Cube im heutigen Sinne nicht unähnliche, Raumäs­thetik, die im Foto (fig. d) aus den Jahren 1913/1914 ersichtlich ist und Präsenta­tionsqualitäten bereits erahnen lässt.

Mit der grossen Bauperiode in den 1920er­Jahren drängte die Stadtentwick­lung die Peripherie Zürichs weiter nach aussen. Neue Arten von Mobilität und zusätzliche Transportwege veränderten das Stadtbild massgeblich. Mit der weiteren Erschliessung des Stadtraumes und der Verbindung von Wiedikon mit der Stadt Zürich wurden die Kutschen und Pferde der Gebrüder Guggenheim durch Automobile ersetzt: Ab 1924 wurde das Gebäude zur Autogarage und zum Sitz des Taxi­ und Reiseunternehmen ‹Winterhalder› (fig. e).

An der Werdstrasse Ecke Weststrasse gele­gen gewann das Reiseunternehmen strate­gisch in den 1970er­Jahren nochmals an Bedeutung, als die Weststrasse Teil der sogenannten Westtangente wurde und als halbe Autobahn funktionierte. Die entspre­chenden Folgen waren Autokolonnen, Last­wagenverkehr und Abgase. Schmutzige Fassaden prägten das Bild der Weststrasse, wie eine Studie, vereinzelte Häuserfassa­den und die Erinnerungen der Bewohner belegen.8 Mit dem Entscheid die Zürcher Westumfahrung zu realisieren, konnte die Weststrasse zu einer Quartierstrasse umgebaut werden. Die Konsequenz war und ist ein reger Immobilienhandel entlang der Weststrasse. Umnutzungen, Sanier­

ungen und vereinzelte Neubauten verän­dern momentan das Antlitz der Weststrasse massgeblich. Diese Eingriffe führen zu zeit­lich begrenztem Leerstand vereinzelter Objekte.

Wiedikon und Aussersihl wiesen bereits durch Gewerbe und Bewohnergruppen Ähnlichkeiten auf: In beiden Quartieren waren hauptsächlich Arbeiterfamilien ansässig und an beiden Orten gehörte bis in die 1950er Jahre die Konfektionsschnei­derei zu den quartierstypischen Branchen.9 Wo sich in Aussersihl, entlang der Langstra­sse, kleingewerbliche Dienstleistungsge­schäfte für «Kleidung und Putz»10 etablierten, entwickelten sich in Wiedikon Gebäude­strukturen mit industriellen Nutzungen in Gewerbehallen und ­innenhöfen.

Die Umnutzung von alten Industriehallen zu neuen Kunsträumen hat sich längst bewie­sen. Scheinbar nutzlose Gebäude wurden von der Kunstszene aufgenommen und umgewertet.11 Fensterlose, geräumige Hallen mit Oblicht — oft durch ein Shed­dach belichtet — lassen sich gut umfunktio­nieren, um den neuen Anforderungen von zeitgenössischer Kunst in Dimensionen, Materialien und Performativität gerecht zu werden. Wie in einem White Cube kann sich durch fehlende Fenster an den Seitenwän­den die Kontemplation auf das Innere des Raumes richten. Zu diesen Qualitäten brin­gen sie im Gegensatz zum neutralen White Cube eine Rauheit und Patina mit, welche bei Kunstschaffenden keine Berührungs­ängste auslösen.

Zwischen den beiden Häusern, in ihren Funktionen und Architekturen grundsätzlich verschieden, sollte eine Spannung aufge­baut werden, indem die dunklen, verwinkel­ten, ehemaligen Wohn­ und Verkaufsräume mit Schaufenster (fig. f) mit der grossen, hellen Backsteinhalle mit Oblicht (fig. g) in Beziehung gesetzt werden.

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fig. gInstallationsansicht der Ausstellung,

‹Here and Now. Und die Ferne wird zur Nähe›, Winterhalder-Areal, 2014. Fotografie: Tamara Janes.

DAZWISCHEN NUTZEN

Diese Räume wurden aufgegriffen und als künstlerisches Material benutzt. In der Aus­einandersetzung mit immer neuen Räumen, die nicht nur als leere Behälter dienen, nahmen die KünstlerInnen die Geschichten oder Architekturen auf, verarbeiteten sie und erschufen so ein neues Werk, das ephemer ist oder Spuren hinterlässt.12 Der Vorteil an temporären Nutzungen ist, dass gerade mit und im Raum gearbeitet werden kann: Ein grosser Eisblock konnte auf dem Boden schmelzen (Carlo della Chiesa), Bambusstäbe wurden in die marode Decke des ‹Winterhalder-Areals› gestossen (Nino Baumgartner, ersichtlich in fig. g) oder Löcher in das Schaufensterglas des ‹Perla- Mode› gebohrt. Geschichte und Kontext des Reiseunternehmens wurde vom Künstler Raoul Müller aufgegriffen, indem er seine eigene Sammlung an Reisefotografien vom Beginn des 20. Jahrhunderts neu zusam­menstellte und im Originalzustand belas­senen Busfahrerhäuschen des ‹Winterhal-der-Areals› so integrierte, dass man die Intervention fast suchen musste (fig. h).

Die Künstlerin Angela Wüst verwies auf andere Orte und auf die Situation an der Weststrasse. In ihrer Diaprojektion zeigte sie verlassene Tankstellen, die durch die Stilllegung einer Interstate Strasse in den USA entstanden (am rechten oberen Bild­rand von fig. h zu erkennen).13

Durch solche künstlerische und kuratori­sche «transitorische Besetzungen»14 von Zwi­schenräumen wird auf das Potenzial von bisher wenig beachteten Räumen und auf die Integration der nicht genutzten Räume im urbanen Raum aufmerksam gemacht.

«Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht.»15

Die Stadt, ihre Architekturen und Quartiers­strukturen sind Gestalter eines gesell­schaftlichen Kollektivs. Die Ausstellungs­praxis ist ein wichtiger Katalysator für diese Prozesse. Die Aktualität des Themas zeigt die Konferenz ‹performaCity› in Basel mit der Frage: «How does the urban society of today build the culture of tomorrow?»16 Eine perfor­mative Auseinandersetzung mit Architektur und den Zwischenräumen im Stadtraum beschäftigten den Künstler Nino Baumgart­ner, der Bewegungsräume von Menschen und Transportwegen beobachtet. Er analy­siert Stadt­ oder Landkarten, um die Stellen zu finden, an denen sich Lücken befinden. Indem er selbst unzugängliche Orte erforscht, sucht er die Irritationen oder Hin­dernisse, die zur Vernachlässigung dieser Räume führen könnten. Dadurch dass er die vorher bereits erwähnten Bambusstäbe vom ‹Winterhalder-Areal› ins ‹Perla-Mode› transferiert wird die Raumaufteilung und die Spannung zwischen Objekt und Architektur

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fig. hInstallationsansicht, Winterhalder-Areal, 2014.

Fotografie: Tamara Janes.

fig. iPatrícia Flores und André Masseno, Performative Installation

‹Cheib›, 2014, Perla-Mode.Fotografie: Tobias Siebrecht.

fig. jSebastian Utzni, ‹Kleine Heilung 1›, Perla-Mode, 2014.

Fotografie: Sebastian Utzni.

durch seine Interventionen und seinen kör­perlichen Einsatz verändert und neu erfah­ren (fig. g).

Durch die Zwischennutzung wurde auch auf die Geschichte und die alten Strukturen und Architekturen der Quartiere aufmerksam gemacht, die ‹verdrängt› werden sollen. Mit der Geschichte des Aussersihlquartiers beschäftigte sich auch das Performanceduo Patrícia Flores und André Masseno (fig. i). Sie interessierten sich nicht nur für die Räume der ehemaligen Peripherie, sondern vor allem für die Menschen am Rande der Gesellschaft. Sie wollten durch Bewegun­gen die Geschichten, die den Räumen ein­geschrieben sind, sichtbar machen. Ausser­sihl wurde im Mittelalter als Ort für Hinrichtungen benutzt und wird heute noch abwertend als Kreis ‹Cheib› bezeichnet, was soviel wie ‹Tierleiche› bedeutet. Diese ‹ande-ren Orte›, wie Friedhöfe oder Bordelle, wie sie im Aussersihl anzutreffen waren oder sind, werden von Michel Foucault als ‹Abweichungsheterotopien› bezeichnet, da sie «abweichend […] im Verhältnis zur Norm»17

sind. In der performativen Erkundung von tierischen Bewegungen versuchten Flores und Masseno einen Bezug zur Marginalisie­rung gegenwärtiger Gruppierungen zu finden.

Bei allen PerformerInnen der Ausstellung spielte das Transitorische eine grosse Rolle und war oft sogar Ausgangspunkt der Aktion und Teil der Arbeit selbst. Fragen nach der Vergänglichkeit der Räume und der Aktionen spielten für die Künstler eben­falls eine grosse Rolle. Sollen die temporä­ren Gesten, Objekte oder Interventionen, die eigens für diese Orte geschaffen wurden, festgehalten werden?

Indem der Künstler Sebastian Utzni Abdrü­cke von Bereichen der Räume des ‹Perla- Mode› nahm und damit unscheinbare Stel­len an der Wand, am Briefkasten oder am Fensterrahmen sichtbar machte, versuchte er diesem Ort «kurz vor seinem ‹Ableben› ein kleines Monument zu bauen»18. Die Stellen im ‹Perla-Mode›, die als Vorlage für die kleinen Monumente dienten, wurden gleichzeitig

vom Künstler für die Ausstellung renoviert (fig. j) — ein umgekehrter Versuch zum Abbruch, den Original­Zustand noch einmal herzustellen. «Die Archäologie des Abdrucks stellt immer eine Verbindung und Präsenz des Abwesenden durch die Zeitschichten her und formt eine Haltbarkeit und Zeitlosigkeit heraus», wie es Georges Didi­Hubermann formu­liert.19 Diese Abdrücke, in Keramik umge­setzt, nehmen einen Teil des ‹Perla-Mode› auf und lassen es auf diese Weise in einem Kunstobjekt weiterleben.

Das bestehende Gebäude selbst als künst­lerisches Material zu verwenden, ist eine in der jüngeren Kunstbewegung aufkom­mende Strategie des sogenannten «Spekula-tiven Realismus»20. So beschreibt es auch die Kuratorin Susanne Pfeffer der Ausstellung ‹Speculations on Anonymous Material› (29. September 2013 – 26. Januar 2014) im Fri­dericianum in Kassel wie folgt: «Während die originäre Bildgenese als primäre Aufgabe der Kunst entfällt, wird das Arbeiten mit bereits existierenden Bildern, Objekten und Räumen zum entsubjektivierten Ort der Reflektion.»21

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Die Ausstellung in Zürich lenkte deshalb auch die Aufmerksamkeit auf den Raum als Gegenstand selbst und auf das, was bereits darin vorhanden war oder passierte.

«[Die] Installation ist nichts anderes als Redu-zierung aller Kunstmedien auf die allgemeinsten Bedingungen der Raum/Zeit. […] Das einzige Medium ist hier der Raum selbst. […] Wenn ich die mediale Bedingung des Schauspiels oder der Installation oder der Ausstellung nur denke als Zeit/Raum und sonst nichts, ist alles, was darin ist, Readymade. Alles ist von außen in diesen Raum hineingetragen. In dieser Hin-sicht gibt es keinen Unterschied zwischen einem Videofilm, den ich dort zeige, einem Stuhl und einem Schauspieler. […] Es sind ein-fach Dinge und Gegenstände, die ich auf die Bühne hole oder in die Installation. Erst indem Dinge in eine gewisse zeit-räumliche Ordnung gebracht werden, produzieren sie Bedeu-tung.»22 In diesen Installationen, wie Boris Groys sie beschreibt, ist der Raum nicht mehr nur Kulisse oder neutraler Hinter­grund wie beim White Cube, sondern tritt eigenständig in seiner (alten) Funktion hervor, er wird selbst aufgeführt. Das Set­ting, der Kontext wird zum Gegenstand selbst.

TRANSFORMATION

«To live means to leave traces.»23

Da nach Philip Ursprung Erinnerungen mit Räumen und der architektonischen Realität verwoben sind24 und bleiben, ist es wichtig, diese Räume noch einmal zu bespielen. Die Chance dieser Zwischennutzung besteht darin, diese — fast aufgegebenen — Räume in Kunstobjekte zu transformieren und sie in ihnen weiterlebenzulassen. Nicht nur die Architekturen selbst bieten einen Ort für Kunst, sondern auch die Spuren, die im Raum von seinen BewohnerInnen und BesucherInnen und durch ihre Funktion und Nutzung sichtbar sind, geben neues künst­lerisches und inhaltliches Material. Diese Auseinandersetzung mit dem Ort kann tem­poräre wie überdauernde Symbiosen zwi­schen Kunst und Architektur entstehen lassen. Es ist dieser aus einem Leerstand heraus geborener Opportunismus von nicht profitorientierten Kunst­ und Kulturschaf­fenden, der die kulturelle Entwicklung einer Stadt in Gang hält.

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Natalie Keppler, geb. 1983, hat Kunstge-schichte, Theater- und Kulturwissenschaften studiert. Sie war Forschungsassistentin im vom SNF geförderten Projekt ‹The Interior: Art, Space and Performance› an der Universi-tät Bern. Seit 2012 schreibt sie ihre Disserta-tion über Installationen Christoph Schlingen-siefs unter Aspekten von Raumtheorien und künstlerischen Strategien der Referenzen, des Wiederholens und des Displays in der Kunst der Gegenwart. Für die Ausstellung ‹Here and Now. Und die Ferne wird zur Nähe› in Zürich betreute sie die Publikation.

Florian Kaiser, geb. 1978, hat Architektur in Darmstadt studiert. Er war für fünf Jahre Architekt bei EM2N in Zürich. Seit Mitte 2013 arbeitet er als selbständiger Architekt in einer Arbeitsgemeinschaft.

1 Jane and Louise Wilson, Interview mit William Leith, ‹The Independent›, 29. August 1999.

2 Für die Zwischennutzung der ‹Perla-Mode› verantwortlich ist seit Anfang 2014, ‹FRICTION› ein Verein von ZHdK Dramaturgie und Szenografiestudenten zusammen mit dem Künstler Robert I. Steinberger.

3 Marc Frohn, Charlotte Skene Catling, ‹Der Architekt als Entfes-selungskünstler›, in: ARCH+, Heft Nr. 209, Dezember 2012, S. 98–105, S. 102.

4 Michel Foucault, ‹Andere Räume›, in: Karlheinz Barck (Hrsg.), ‹Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven in einer anderen Ästhetik›, aus dem Französischen Originalvortrag im ‹Cercle d’études architecturales› am 14. März 1967, ‹Des espaces autres› (1967) von Walter Seitter übersetzt, Leipzig 1992, S. 34–46, S. 39.

5 Bruno Fritzsche, ‹Baukultur in Zürich, Aussersihl, Industrie/Zürich West›, Hochbaudepartement der Stadt Zürich, Amt für Städtebau, Verlag Neue Zürcher Zeitung, S. 11–29, S. 15.

6 Ibid, S. 27.7 Michael Lüthy, Bernhard Schieder, ‹Die Kunst und ihr Aussen

– Am Besispiel von Claes Oldenburgs The Store›, in: Friedrich Geiger, Frank Hentschel (Hrsg.), ‹Zwischen «U» und «E». Grenzüberschreitungen in der Musik nach 1950›, Peter Lang Frankfurt am Main 2011, S. 173–194, S. 173.

8 Günther Arber, ‹Vorwärts zur Normalität. Was bedeutet es, wenn bald nur noch wenig Verkehr durch die Westrasse rollt?›, in: ‹Weststrasse im Wandel. Zwei Untersuchungen zum Leben an der Weststrasse – eine Befragung und eine fotografische Erkundung›, Stadt Zürich Stadtentwicklung Zürich 2008, S. 2–3.

9 Daniel Kurze, ‹Siedlungsentwicklung›, in: Hochbaudeparte-ment der Stadt Zürich, Amt für Städtebau, ‹Baukultur in Zürich: schutzwürdige Bauten und gute Architektur der letzten Jahre. Wiedikon, Albisrieden, Altstetten, Band 4, Zürich 2005, S. 11–23.

10 Bruno Fritzsche, ‹Baukultur in Zürich, Aussersihl, Industrie/Zürich West›, Hochbaudepartement der Stadt Zürich, Amt für Städtebau, Zürich 2004, S. 11–29, S. 15.

11 Ein Paradoxon bietet auch der dauerhafte Anbau für zeitge-nössische Kunst des Museums Winterthur. Als Provisorium von den Architekten Gigon/Guyer gebaut, übernimmt dieser Neubau Elemente des Sheddaches einer Industriehalle sowie die klar strukturierten, aus sich wiederholenden Elementen im Material bestehenden Aussenwände.

12 So geschehen bei Livio Casanova, der im Keller des ‹Perla-Mode› Textfragmente in den Putz eingeritzt hat (wie ersichtlich in fig. i).

13 Aufmerksam auf brachliegende Tankstellen machte auch das britische Projekt ‹Assemble›, das 2010 mit Pop-up-Architektu-ren eine gemeinschaftsorientierte Stadtproduktion förderten. ‹The Cineroleum›, in: ‹ARCH+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau›, Heft Nr. 209, Dezember 2012, S. 132.

14 Ibid, S. 102.15 Michel de Certeau, ‹Praktiken im Raum (1980)›, in: Jörg Dünne

und Stephan Günzel (Hrsg.), ‹Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften›, Frankfurt am Main 2006, S. 343–353, S. 345.

16 www.performacity.net, Stand: 10.05.2014.17 Michel Foucault, ‹Andere Räume›, in: Karlheinz Barck (Hrsg.),

‹Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven in einer anderen Ästhetik›, aus dem Französischen Originalvortrag im ‹Cercle d’études architecturales› am 14. März 1967, ‹Des espaces autres› (1967) von Walter Seitter übersetzt, Leipzig 1992, S. 40.

18 Sebastian Utzni im Interview mit Natalie Keppler, in: ‹Here and Now. Und die Ferne wird zur Nähe›, Publikation zur Ausstel-lung, Zürich 2014.

19 Georges Didi-Huberman, ‹Ähnlichkeiten und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks›, Köln 1999.

20 Unter diesem Begriff fasst man eine philosophische Denkweise über Mechanismen in der gegenwärtigen Kunst zusammen, die auf einer Konferenz im Goldsmith-College in London 2007 angedacht wurde. Vgl. zum Beispiel Levi Bryant, Nick Srnicek, Graham Harman (Hrsg.), ‹The Spekulative Turn. Continental Materialism and Realism›, Melbourne 2011.

21 Susanne Pfeffer im Booklet zur Ausstellung ‹Speculations on Anonymous Material› (29. September 2013 – 26. Januar 2014), Fridericianum, Kassel 2013, S. 3. [sic]

22 Boris Groys im Gespräch mit Carl Hegemann, ‹Der Betrachter an sich. Über Theater, Ready-Mades und das Transzendentale Subjekt der Kunst›, in: ‹Lettre International›, Heft 65, 2004, S. 58–62, S. 59.

23 Walter Benjamin, ‹Paris, Capital of the Nineteenth Century›, in: ‹Reflections›, New York 1986, S. 155.

24 Philip Ursprung, ‹Unheimliche Interieurs›, in: Heike Munder (Hrsg.), ‹Sammlung/Collection Migros Museum für Gegen-wartskunst Zürich 1978–2008›, Zürich 2008, S. 93–95.