Zwischen nationaler Identität und Verfassungspatriotismus: Deutungsmuster der politischen...

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Zwischen nationaler Identität und Verfassungspatriotismus: Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland 1972–1989 Mateusz Stachura Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989 Den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden Deutungsmuster der politischen Ge- meinschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zur interpretati- ven politischen Kultur-Forschung, deren Augenmerk nicht subjektiven Einstellungen, sondern intersubjektiv anerkannten, normativen Vorstellungen über die Beschaffenheit der politischen Wirklichkeit gilt. In einer quantitativ-qualitativen Inhaltsanalyse ausgewählter Debatten zur Grenzbestimmung der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik wird der Stellenwert „natio- naler“, „demokratischer“, „menschenrechtlicher“ und „europäischer“ Deutungsmuster unter- sucht. Dabei zeigt sich ein universalistischer Grundwertbezug des westdeutschen Gemeinschafts- diskurses. 1. Fragestellung Ziel der vorliegenden Analyse ist die Erforschung der Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland von 1972–1989. 1 Dabei sollen zentrale Werte („Nation“, „demokratische Nation“, „Kulturnation“, „Staat“, „Verfassung“, „Eu- ropäische Gemeinschaft“) des Gemeinschaftsdiskurses untersucht werden. 2 Begreift sich die politische Gemeinschaft der Bundesrepublik vornehmlich in nationalen Kategorien, oder bestimmen die universalistischen Deutungsmuster der Selbstbestimmung, Freiheit und Menschenrechte den Grundwertbezug ihrer Selbstdefinition? Welche Rolle spielen dabei die europäischen Deutungsmuster? Das Forschungsinteresse gilt nicht nur der Deutungskraft der einzelnen Muster, sondern auch den logischen Beziehungen zwischen ihnen. In welchem Verhältnis stehen die „nationalen“ und die „verfassungspatrioti- schen“ Deutungsfiguren? Gehen die Ideen von Nation und Demokratie in der west- deutschen Vorstellungswelt eine Synthese ein, oder bildet sich eine posttraditionale po- litische Kultur heraus, welche die nationalen Deutungselemente abstreift? Politische Vierteljahresschrift, 46. Jg. (2005), Heft 2, S. 288–312 © VS Verlag 1 Der vorliegende Beitrag basiert auf meiner in Kürze beim Campus Verlag erscheinenden Dis- sertation „Deutung des Politischen. Ein handlungstheoretisches Konzept der politischen Kultur und seine Anwendung am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland“. 2 Im Folgenden werden Begriffe, die als Deutungsfiguren erwähnt und behandelt werden, mit Anführungsstrichen markiert. Näheres zu den Begriffen und zum methodischen Vorgehen un- ter den Gliederungspunkten drei bis fünf.

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Zwischen nationaler Identität und Verfassungspatriotismus:Deutungsmuster der politischen Gemeinschaftin der Bundesrepublik Deutschland 1972–1989

Mateusz Stachura

Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989Den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung bilden Deutungsmuster der politischen Ge-meinschaft der Bundesrepublik Deutschland. Die Arbeit versteht sich als Beitrag zur interpretati-ven politischen Kultur-Forschung, deren Augenmerk nicht subjektiven Einstellungen, sondernintersubjektiv anerkannten, normativen Vorstellungen über die Beschaffenheit der politischenWirklichkeit gilt. In einer quantitativ-qualitativen Inhaltsanalyse ausgewählter Debatten zurGrenzbestimmung der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik wird der Stellenwert „natio-naler“, „demokratischer“, „menschenrechtlicher“ und „europäischer“ Deutungsmuster unter-sucht. Dabei zeigt sich ein universalistischer Grundwertbezug des westdeutschen Gemeinschafts-diskurses.

1. Fragestellung

Ziel der vorliegenden Analyse ist die Erforschung der Deutungsmuster der politischenGemeinschaft der Bundesrepublik Deutschland von 1972–1989.1 Dabei sollen zentraleWerte („Nation“, „demokratische Nation“, „Kulturnation“, „Staat“, „Verfassung“, „Eu-ropäische Gemeinschaft“) des Gemeinschaftsdiskurses untersucht werden.2 Begreift sichdie politische Gemeinschaft der Bundesrepublik vornehmlich in nationalen Kategorien,oder bestimmen die universalistischen Deutungsmuster der Selbstbestimmung, Freiheitund Menschenrechte den Grundwertbezug ihrer Selbstdefinition? Welche Rolle spielendabei die europäischen Deutungsmuster? Das Forschungsinteresse gilt nicht nur derDeutungskraft der einzelnen Muster, sondern auch den logischen Beziehungen zwischenihnen. In welchem Verhältnis stehen die „nationalen“ und die „verfassungspatrioti-schen“ Deutungsfiguren? Gehen die Ideen von Nation und Demokratie in der west-deutschen Vorstellungswelt eine Synthese ein, oder bildet sich eine posttraditionale po-litische Kultur heraus, welche die nationalen Deutungselemente abstreift?

Politische Vierteljahresschrift, 46. Jg. (2005), Heft 2, S. 288–312 © VS Verlag

1 Der vorliegende Beitrag basiert auf meiner in Kürze beim Campus Verlag erscheinenden Dis-sertation „Deutung des Politischen. Ein handlungstheoretisches Konzept der politischen Kulturund seine Anwendung am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland“.

2 Im Folgenden werden Begriffe, die als Deutungsfiguren erwähnt und behandelt werden, mitAnführungsstrichen markiert. Näheres zu den Begriffen und zum methodischen Vorgehen un-ter den Gliederungspunkten drei bis fünf.

Der Untersuchungsgegenstand wird aus der methodologischen Perspektive eines in-terpretativen Ansatzes der politischen Kultur betrachtet. Nicht Einstellungen zur Na-tion oder zur Verfassung sollen untersucht werden, sondern Argumente (Deutungsmus-ter), die von politischen Akteuren in praktisch-politischen Diskursen verwendet wer-den. Das Interesse gilt insbesondere den universalistisch-politischen Werten, deren Stel-lenwert im politischen Gemeinschaftsdiskurs bislang nicht eingehend untersucht wor-den ist.

2. Theoretischer Bezugsrahmen: ein interpretatives Konzept der politischen Kultur

Die theoretische Debatte über die politische Kultur ist durch einen Gegensatz zwischeneinstellungsorientierten und interpretativen Ansätzen gekennzeichnet. Die erste Posi-tion definiert die politische Kultur als Verteilung von individuellen Einstellungen ge-genüber politischen Objekten innerhalb einer bestimmten Gruppe (Almond 1956; Al-mond/Verba 1963). Die interpretative Forschungstradition bezieht den Begriff der poli-tischen Kultur hingegen auf geteilte Vorstellungen von der Beschaffenheit der politi-schen Wirklichkeit (Rohe 1987; Dörner 2000; Pesch 2000). Die Kultur des Politischenbesteht nicht in Handlungsorientierungen, sondern in Wertvorstellungen, in der Artund Weise, wie sich die Bürger Politik vorstellen (Elkins/Simeon 1979: 127). Die theo-retische Leistung des interpretativen Ansatzes besteht dabei nicht im bloßen Austauschder Begriffe (Vorstellungen statt Einstellungen), sondern in der Differenzierung zwi-schen Glaubenssätzen, Überzeugungen und Wertprinzipien, die demnach den eigentli-chen Gegenstand der politischen Kultur ausmachen, und individuellen Interessen,Wünschen und Bedürfnissen des Handelnden, die in den Einstellungen zum Ausdruckkommen.

„Implizit ist damit bereits angedeutet, daß Vorstellungen so etwas wie ,assumptions about the poli-tical world‘ darstellen, die durchweg auf einer grundsätzlicheren Ebene anzusiedeln sind als diemeisten der im Rahmen von Umfrageforschung erhobenen Einstellungen. (...) Wer Politische Kul-turforschung betreibt, will nicht wissen – zumindest nicht vorrangig wissen –, ob und inwieweitein politisches Regime und politische Institutionen bejaht oder abgelehnt werden; er interessiertsich vielmehr für die Prinzipien, die dieser Bejahung oder Ablehnung zugrunde liegen“ (Rohe1987: 40).

Eine Identifikation der objektbezogenen und eher temporären Einstellungen mitgrundlegenden Wertprinzipien ist aus drei Gründen problematisch. Zum einen spie-geln sich in konkreten Einstellungen nicht nur ideelle Wertvorstellungen des Handeln-den, sondern auch seine materiellen Interessen und Bedürfnisse, Erwartungen und Fer-tigkeiten, Handlungsmittel und Bedingungen wider.

„Bei politischer Kultur geht es nicht um Einstellungen gegenüber einem politischen Regime, son-dern um Maßstäbe und Prinzipien, an Hand derer politische Systeme perzipiert und beurteilt wer-den. Erstere können sich grundlegend wandeln, beispielsweise durch katastrophale Verschlechte-rung der vom System erbrachten Leistungen, ohne daß sich an den politischen Beurteilungs-maßstäben auch nur ein Jota geändert hätte“ (Rohe 1990: 334).

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Eine Handlungsanalyse, die zwischen ideellen und instrumentellen Aspekten desHandelns nicht differenziert, lässt keine Aussagen darüber zu, ob eine Haltung einenreinen Interessencharakter hat oder aus ideellen, wertmäßigen Überlegungen resultiert.Die in den Einstellungen erfassten Wertvorstellungen besagen zum Zweiten wenig überlogische Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Deutungsmustern einer politi-schen Kultur. Eine positive Korrelation zwischen dem Nationalstolzempfinden und derBefürwortung der europäischen Integration lässt z.B. den Schluss zu, dass es auf derPersönlichkeitsebene keinen Konflikt zwischen den beiden Einstellungsobjekten gibt.Ob sich die den Einstellungen zugrunde liegenden Kulturmuster jedoch logisch kondi-tionieren, wechselseitig oder einseitig verstärken oder ob sie schließlich in keiner sinn-haften Relation zueinander stehen, lässt sich dagegen hieraus nicht ermitteln. Der sta-tistisch erfasste Einstellungszusammenhang kann entweder einen gemeinsamen sinnhaf-ten Grund oder aber auch mehrere unabhängige Gründe haben. Damit hängt zumDritten das Problem der Kontextualität gesellschaftlicher Werte zusammen. Die inter-pretative Werteforschung fragt nicht nur nach dem Geltungsgrad gesellschaftlicherIdeen, sondern auch nach dem Kontext ihrer Geltung. Aus der Sicht der politischenKultur-Forschung ist z.B. nicht nur die Ausprägung von allgemeinem Nationalstolz in-teressant, sondern vor allem die Frage, ob die nationale Identifikation auch im politi-schen Kontext relevant ist. Weder muss jeder, der Nationalstolz empfindet, die politi-sche Gemeinschaft anhand von nationalen Deutungsmustern definieren (vgl. Rohe1994: 3ff.), noch müssen spezifische Objekte nationalen Stolzes überhaupt einen politi-schen Charakter haben (vgl. Blank/Schmidt 1993: 394).

Der interpretative Ansatz konzeptualisiert die politische Kultur daher als überindivi-duell geltende, intersubjektive, ideelle Deutungsmuster (vgl. Pesch 2000: 37). Die Dif-ferenzierung von Einstellungen und Vorstellungen ist in der hermeneutisch fundiertenHandlungstheorie von Max Weber fest verankert. Webers berühmte Formulierung vonWeltbildern und Ideen, die „als Weichensteller die Bahnen bestimm(en), in denen dieDynamik der Interessen das Handeln fortbewegt(e)“ (Weber 1988: 252), zeigt nichtnur, worin der Unterschied zwischen Interessen und Ideen besteht, sondern auch wiediese zusammenhängen. Nicht Ideen, sondern Interessen bestimmen menschlichesHandeln. Gleichwohl legen die ideellen Deutungsmuster den Sinnrahmen fest, der be-stimmte Handlungsziele erst als erstrebenswert erscheinen lässt. Jeder Handlungsein-stellung wird also eine mit Hilfe des kulturellen Wissens vorgenommene „Bestimmungder Situation“ vorangeschaltet (Berger/Luckmann 2003: 166; vgl. Esser 1996, 2001).Ohne Klarheit über den Sinn eines Handlungsproblems, also darüber, was das „We-sentliche“ der Sachlage ist (z.B. bei „Staatsräson“ oder „Menschenrechten“, „nationalerWiedervereinigung“ oder „Demokratisierung“, „sozialer Gerechtigkeit“ oder „Marktli-beralisierung“), kann der Handelnde keine Einstellungen auf die Situation entwickeln.Um die individuellen Präferenzen der Handlungslage anzupassen, muss der Handelndeden intersubjektiven, kulturellen oder sozialen Sinn der Situation herausfinden. Aus die-sem Grund sind überindividuell geltende Deutungsschemata von den individuellenWünschen und Interessen analytisch zu unterscheiden. Da in jede SituationsdefinitionWerte eingebunden sind, müssen die Deutungsmuster schließlich von rein instrumen-tellem Wissen unterschieden werden. Obwohl die Bestimmung der Situation einewichtige Selektionsfunktion in Bezug auf die Handlungsorientierungen hat, kommt ihr

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dennoch keine handlungsdeterminierende Rolle zu. Der Situationssinn dient lediglichals Grundlage für die Formulierung von Handlungszielen, die wiederum bei der Be-rücksichtigung von Durchführbarkeiten und Kosten alternativer Handlungsentwürfe infertige Handlungspläne transformiert werden.

Mit dieser Konzeptualisierung der Beziehungen zwischen Einstellungen und Vor-stellungen, zwischen Handlung und Kultur (Schluchter 2000: 98; vgl. Lepsius 1990)lassen sich die Defizite eines mentalistischen Ansatzes der politischen Kultur aufheben.Vor dem Hintergrund der eruierten Deutungsmuster ist der ideelle oder instrumentelleCharakter einer konkreten Einstellung präzise feststellbar. Eine politische Unterstüt-zung, die einer dem Unterstützungsobjekt entsprechenden, ideellen Grundlage ent-behrt, bleibt aufgrund ihres rein instrumentellen Charakters labil. Umgekehrt lässtetwa eine schwache Unterstützung nicht automatisch auf ein politisch-kulturelles Defi-zit schließen.3 Eine zweckrational diktierte Haltung besagt wenig über die normativenVorstellungen des Handelnden.

Da sich der interpretative Ansatz auf die Untersuchung von situationstypischenDeutungsmustern konzentriert, genügt er auch dem Postulat der Kontextualität politi-scher Werteforschung. Nicht die allgemeine Akzeptanz von menschenrechtlichen, libe-ralen oder nationalen Wertemustern bestimmt das Forschungsinteresse, sondern ihreRelevanz bei der Deutung von typischen politischen Problemen.

Jeder Deutungsakt hat dabei zwei Aspekte: Er gilt sowohl der kulturellen Selbstdefi-nition und der Orientierung des Handelnden als auch der Erneuerung des intersubjek-tiven Deutungsangebots einer politischen Kultur. Mit jeder Entscheidung für eine be-stimmte Deutungsalternative wird nicht nur eine individuelle Interpretation politischerWirklichkeit bestätigt, sondern auch ein Deutungsvorschlag an andere Akteure ge-macht. Handlungen, deren primäres Ziel in der Erneuerung oder Reinterpretation kul-turellen Wissens besteht, können in sozialen Ordnungen institutionalisiert und organi-siert werden. Die politische Öffentlichkeit als die Reproduktionsstruktur der politi-schen Kultur versorgt die individuellen und kollektiven Akteure mit Deutungen neuauftretender Situationen.4 Der öffentliche Diskurs ist daher der „natürliche“ Gegen-stand der interpretativen politischen Kultur-Forschung. Durch die Untersuchung derkulturellen Reproduktionsprozesse lassen sich die Deutungsfiguren nicht isoliert, son-dern in ihren Zusammenhängen erfassen. Nicht die Zustimmungsraten zu nationalenund demokratischen Ideen lassen sich auf diese Weise feststellen, sondern das logischeVerhältnis zwischen den Ideen im Rahmen einer politischen Deutungskultur.

Das Forschungsinteresse des interpretativen Ansatzes konzentriert sich zusammenge-fasst auf die Analyse von Deutungsmustern, die typische kollektive Situationsdefinitio-

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3 Vgl. dazu David Eastons Unterscheidung von diffuser und spezifischer Unterstützung (1965)sowie Dieter Fuchs’ Unterscheidung zwischen demokratischer und systemischer Performanz(2000, 2002). Die Konzeptualisierung der diffusen Unterstützung bzw. der demokratischenPerformanz anhand von Einstellungen zu bestimmten politischen Objekten führt jedoch er-neut zu Abgrenzungsschwierigkeiten von ideellen und materiellen Unterstützungsaspekten(vgl. Westle 1989).

4 An dieser Stelle wird vom strukturellen Aspekt der Austauschbeziehungen zwischen unter-schiedlichen Öffentlichkeitsarenen und Beziehungen zwischen unterschiedlichen Öffentlich-keitsakteuren abstrahiert.

nen prägen.5 Eine soziologische Kulturforschung ist eine interpretierende Wissenschaft,die keine Objekte, sondern Bedeutungsstrukturen, keine subjektiven Meinungen, son-dern intersubjektiv geltende, teilweise latente, ideelle Deutungsmuster und ihre Vernet-zungen in komplexen Weltbildern untersucht. Sie betrachtet ihren Untersuchungsge-genstand nicht aus der Perspektive eines externen Beobachters, sondern aus der Innen-perspektive des Teilnehmers am kulturellen Diskurs. Die analytische Tauglichkeit die-ser Konzeptualisierung zeigt sich insbesondere in der Anwendung auf die Problematikkollektiver Identifikationsformen. Ethnische, nationale oder universalistische Identitä-ten sind keine Einstellungen zu raum-zeitlichen Objekten, sondern Bedeutungsmuster,die der Selbstbeschreibung des Kollektivs dienen.

Der kontextbezogene Charakter der politisch-kulturellen Deutungsmuster sowie derAspekt ihrer logischen Verhältnisse zueinander sind zentral für die Konzeptualisierungdes Forschungsgegenstandes der vorliegenden Untersuchung. Die staatsnationalen, na-tionaldemokratischen oder verfassungspatriotischen Gemeinschaftskulturen werdenidealtypisch nach den Relationen zwischen den Deutungsfiguren bestimmt. Eine natio-naldemokratische Gemeinschaftskultur basiert auf einer wechselseitigen Konditionie-rung von nationalen und demokratischen Deutungsmustern (für die Bundesrepublikvgl. Gerstenmaier 1965; Buchheim 1967; Klönne 1984; Venohr 1982). Eine verfas-sungspatriotische Bestimmung der politischen Gemeinschaft führt umgekehrt eineTrennung zwischen nationalen und universalistisch-politischen Deutungsmusterndurch, wobei den Letzteren ein normativer Vorrang eingeräumt wird (vgl. Jaspers1960; Hättich 1966; Bracher 1970; Wehler 1988; Sternberger 1990; Habermas 1987).Eine staatsnationale Deutung blendet den demokratischen Aspekt der ansonsten staats-politisch gefärbten Definition des Nationalen aus (vgl. Willms 1982). Eine kulturna-tionale Deutung abstrahiert hingegen von (staats-)politischen Bezügen bei der Definiti-on der Nation (vgl. Ehmke 1979). Der Einfluss der europäischen Deutungsmuster aufdie Bestimmung einer politischen Gemeinschaft kann sich wiederum auf unterschiedli-che Weisen manifestieren: durch eine Allianz mit oder eine Obstruktion von nationa-len, insbesondere nationaldemokratischen oder universalistisch-demokratischen Deu-tungsmustern (vgl. Freudenfeld 1966; Jeismann 1987; Dahrendorf 1973; Honolka1987; Kielmansegg 1996; Kaelbe 1995; Lepsius 1997).

3. Methode: Deutungsmusteranalyse

Methodologisch basiert das interpretative Konzept der politischen Kultur nicht aufstandardisierten Befragungstechniken, sondern auf einer hermeneutisch orientierten In-haltsanalyse. Unter dem Begriff der Deutungsmusteranalyse werden Ansätze qualitativerSozialforschung verstanden, die kulturelle Wissensbestände interpretativ untersuchen(vgl. Meuser/Sackmann 1992; Ullrich 1999; Wengeler 2000; grundlegend Oevermann1993). Die Deutungsmusteranalyse erlaubt nicht nur, zwischen überindividuellen Vor-stellungen und subjektiven Handlungsorientierungen, zwischen normativen Gründen

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5 Dabei werden Linien einer fruchtbaren Arbeitsteilung zwischen der Einstellungs- und Deu-tungsmusteranalyse sichtbar. Während letztere analytisch auf der Kulturebene anzusiedeln ist,bezieht sich die Einstellungsforschung auf die Persönlichkeitsebene.

und volitiven Motiven des Handelns zu differenzieren, sondern lässt sich auch auf ori-ginäres Datenmaterial anwenden und bleibt dadurch dem praktisch-politischen Kon-text verbunden. Die Methode beschränkt sich ferner nicht auf das explizite Wissen,sondern erfasst auch latente Sinnstrukturen. Dabei ist sie auf größere Datenmengenanwendbar (Gerhards et al. 1998).

Die Deutungsmusteranalyse bedeutet Identifizierung und Klassifikation normativer,themenbezogener Aussagen in einem gegebenen Text oder Textsample. Die kulturellenDeutungsmuster im eigentlichen Sinne bilden dabei eine Unterkategorie aller normati-ven Aussagen. In Anlehnung an Jürgen Gerhards und Monika Lindgens wird zwischen„Idee-Aussagen“ (eigentliche Deutungsmuster), „Lösungsmodellen“ und „Akteuren alsObjekten von Aussagen“ unterschieden (Gerhards/Lindgens 1995: 16). Idee-Aussagensind allgemeine, zielsetzende Aussagen, die auf Werten beruhen, welche nicht weiterbegründet werden. Die Lösungsmodelle oder „Policy-Aussagen“ beziehen sich demge-genüber nicht auf ideelle Begebenheiten, sondern auf institutionelle Regelungsmodelle(Gerhards/Lindgens 1995: 20). Von der differenzierten Codierung der Idee- und Poli-cy-Aussagen hängt der Erfolg der qualitativ-quantitativen Deutungsmusteranalyse grö-ßerer und heterogener Textmengen ab. Die Häufigkeit technischer Policy-Aussagen zueinem bestimmten Thema variiert in Abhängigkeit von der Handlungslage. Die ständigzunehmende und abnehmende Aufmerksamkeit der Akteure darf nicht als Wandel po-litisch-kultureller Deutungsmuster verstanden werden. Die Deutungsmusteranalysemuss die kontingenten Problemlagen und ihre (objektive und technische) Thematisie-rung ausblenden, um die kulturellen Deutungsmuster zu erfassen, die sich hinter demtechnischen Getriebe der Politik verbergen. Ebenso wichtig ist die Differenzierung ei-ner dritten Kategorie von normativen Aussagen: Aussagen, die sich an andere Akteure(als Aussageobjekte) richten. Dabei handelt es sich um „sämtliche wertenden Aussageneines Akteurs (Aussageträger) über einen anderen Akteur (Aussageobjekt)“ (Gerhards/Lindgens 1995: 24). Obwohl die Zuschreibungen von Eigenschaften von anderen Ak-teuren auch ein Moment der Wertung enthalten, sollen sie grundsätzlich nicht alsIdee-Aussagen verstanden werden, da sie sich in erster Linie nicht auf ideelle Eigen-schaften von anderen Handelnden, sondern meist auf ihre persönlichen Fertigkeitenund (sozio-) technischen Kompetenzen beziehen. Nur Aussagen, die ideelle Wertungenenthalten, die sich auf politische Rollen beziehen, sollen als Idee-Aussagen behandeltwerden. Die Deutungsmusteranalyse beschränkt sich ferner auf themenbezogene Aussa-gen.

Die Herstellung des Kategoriensystems ist der entscheidende Punkt der Deutungs-musteranalyse. In der Lesung einer Textstichprobe werden alle verwendeten Idee-Aus-sagen zunächst thematisch unsortiert aufgeschrieben. Die semantisch ähnlichen Idee-Aussagen werden dann zu Deutungsfiguren verallgemeinert (vgl. Abbildung 1). Das Sys-tem von Deutungsfiguren soll im Idealfall vollständig und nicht redundant sein (Früh1998: 81ff.). Die einzelnen Deutungsfiguren werden in einem zweiten Schritt in Deu-tungsmustern gruppiert. Entscheidend für die Zuordnung einer Deutungsfigur zu einemDeutungsmuster ist ihre Wertbeziehung. Deutungsfiguren, die von einem Wert oder ei-ner spezifischen Wertkombination generiert werden, lassen sich zu Deutungsmusternverdichten. Ein weiteres Abgrenzungskriterium der Deutungsmuster ist das logischeVerhältnis zwischen ihren Wertkomponenten. Ein drittes Abgrenzungskriterium der

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Deutungsmuster liegt schließlich in ihrem propositionalen Gehalt. Deutungsmusterkönnen ferner – unabhängig von den sekundären Wertbezügen und inhaltlichen Diffe-renzen – nach dem dominierenden Wertbezug auf einer dritten Abstraktionsebene inDeutungsdimensionen gruppiert werden. Bei Deutungsmustern, die mehrere Wertbezügeintegrieren, muss ein Grundwertbezug identifiziert werden.

Zusammengefasst lassen sich die Abgrenzungskriterien auf der jeweiligen Abstrak-tionsebene wie folgt bestimmen: Für die höchste Abstraktionsebene ist der zentraleWert einer Debatte entscheidend. Die Ebene der Deutungsmuster berücksichtigt nichtnur den zentralen Wert, sondern auch seine Kombination mit anderen Wertbezügenund logische Relationen zwischen ihnen. Die Ebene der einzelnen Deutungsfiguren re-flektiert nicht nur den zentralen Wert, sekundäre Wertbezüge und inhaltliche Differen-zen (z.B. Objektbezug der Aussage), sondern auch konkrete Formulierungen, die inden zu untersuchenden Texten vorkommen.

Das Kategoriensystem dient als Codiermaske für die Codierung des Textmaterials.Die in den Texten vorkommenden Idee-Aussagen werden ihrem Sinn nach den verall-gemeinerten Deutungsfiguren zugeordnet und mit Symbolen von entsprechenden Deu-tungsfiguren markiert.6 Die kodierten Aussagen werden ausgezählt. Die Verwendungs-

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Abbildung 1: Abstraktionsebenen der Deutungsmusteranalyse

Quelle: Eigene Darstellung.

Abstraktionsebene:

...Idee-

Aussage1

Idee-Aussage

2

Idee-Aussage

3

Idee-Aussage

4

Deutungs-figur

1

Deutungs-figur

2

Deutungs-figur

3

Deutungsfigur4

Verallgemeinerungkonkreter Idee-Aussagen

Deutungs-muster

1

Deutungs-muster

2

Deutungsmuster3

konkrete Idee-Aussagen

Idee-Aussage

X

Grundwert imVerhältnis zuanderen Werten,Inhalt

GrundwertDeutungsdimension

1Deutungsdimension

2

6 „Qualitative Methoden haben ihre Stärke in einem hohen Grad der Validität der Untersu-chung. Die Interpretationen von Texten weisen einen hohen Grad der Sinnadäquanz mit demMaterial selbst auf“ (Gerhards/Lindgens 1995: 11). Die hohe Validität qualitativer Studien istjedoch oft mit einer geringeren Reliabilität des Messinstrumentes verbunden. Eine zuverlässige,d.h. stabile, reproduzierbare Codierung setzt eine intersubjektiv nachvollziehbare Zuordnungkonkreter Textstellen zu den Kategorien voraus. Das hier entwickelte Kategoriensystem basiertauf dem Prinzip der expliziten und exakten Kategoriendefinition, die dem Codierer genaueAnhaltspunkte für die Identifikation von den zu codierenden Idee-Aussagen gibt (vgl. Früh1998: 165). Die Prüfung der Intracoder-Reliabilität ergab zufrieden stellende Werte der Relia-

häufigkeit des jeweiligen Deutungsmusters in der analysierten Textgruppe lässt sich aufdiese Weise quantitativ feststellen.

4. Operationalisierung und Datensatz

Die Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik Deutschlandwerden anhand von Debatten in den Themenbereichen der Deutschlandpolitik undder Politik der Westintegration in die Europäischen Gemeinschaften untersucht. Dabeihandelt es sich um zwei Grundsatzdebatten zu ideellen Grenzen und zum normativenBestand der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik. Die Auswahl zweier Debat-ten ist von der Überlegung geleitet, dass die Deutungskraft und die Beziehungen zwi-schen den jeweiligen Deutungsmustern nur in einer mehrperspektivischen Betrachtungangemessen erfasst werden können. Das Interesse gilt z.B. nicht nur dem Stellenwertder nationalen Deutungsmuster in den deutschlandpolitischen Debatten, sondern auchin den integrationspolitischen Diskussionen sowie dem logischen Zusammenhang zwi-schen den Ideen von „Integration“ und „Nation“.

Die Analyse beschränkt sich auf die mediale Arena der politischen Öffentlichkeitals einem zentralen Knotenpunkt gesellschaftlicher Diskurse.7 In der medialen Bericht-erstattung treffen politisch-kulturelle Deutungsangebote politischer Entscheidungsträgerund zivilgesellschaftlicher Subjekte aufeinander. Durch die Kommentierung politischenGeschehens leistet die mediale Öffentlichkeit einen eigenen Interpretationsbeitrag zurReproduktion der politischen Kultur.

Der Analysegegenstand wird operationalisiert als normative Aussagen in thematischund formal bestimmten Beiträgen in zwei überregionalen Zeitungen: der FrankfurterAllgemeinen Zeitung (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ).8 Da es bei der Deu-

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bilitäts-Koefffizienz von 0,8 bei den deutschlandpolitischen und 0,85 bei den europapoliti-schen Debatten (Berechnung nach Früh 1998: 167).

7 Die Konzentration der Analyse auf die mediale Debatte vereinfacht freilich das Bild der politi-schen Kultur einer Gesellschaft. Vor allem die Stimme der privaten Öffentlichkeit wird vonden Medien selektiv vernommen. Da die vorliegende Untersuchung vom strukturellen Aspektder Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Öffentlichkeitsarenen abstrahiert und zu-nächst einmal die Grundzüge der bundesrepublikanischen Deutungskultur zu ermitteln sucht,des Weiteren aber die Tauglichkeit des Instruments der Deutungsmusteranalyse für die politi-sche Kultur-Forschung nachzuweisen versucht, konzentriert sie sich auf die forschungsprak-tisch leicht zugänglichen Debatten in der medialen Öffentlichkeitsarena.

8 Zur Begründung der Auswahl der Zeitungen (FAZ und SZ) lassen sich in Anlehnung an Ger-hards, Neidhardt und Rucht folgende Argumente anführen (1998: 190–192):– die Prestigemedien (und dazu zählen beide Zeitungen) haben einen besonderen Status im

Mediensystem; die lokalen Medien richten sich in ihrer Themenauswahl nach den Prestige-medien.

– Die Prestigemedien haben einen größeren Einfluss auf die Entscheidungsträger als andereMedien; „Empirische Untersuchungen belegen, dass die Abgeordneten in erster Linie Quali-tätszeitungen rezipieren“ (Gerhards et al. 1998: 191).

– „Beide Zeitungen haben eine ungefähr gleiche Auflagenstärke (ca. 390.000), unterscheidensich voneinander jedoch durch ihre politisch-ideologische Orientierung. Die FAZ weist einpolitisch-konservatives Profil auf; sie vertritt liberale bis hin zu liberalistischen Wirtschafts-positionen, und sie ist konservativ im Hinblick auf gesellschaftliche Werte. Die Süddeutsche

tungsmusteranalyse vor allem auf die Idee-Aussagen ankommt, beschränkt sie sich aufKommentierung, Berichterstattung und Publizistik in den gegebenen Themenberei-chen.

Der Untersuchungszeitraum wurde unter Berücksichtigung der thematischen undforschungspraktischen Kriterien auf die Jahre 1972 bis 1989 festgelegt. Die Analyse al-ler Beiträge zu einer über ein Jahrzehnt andauernden öffentlichen Debatte ist mit ei-nem enormen Arbeitsaufwand verbunden. Forschungspraktisch ist man also zur Ein-schränkung des zu untersuchenden Textmaterials gezwungen. Bei der Auswahl des Ma-terials soll die natürliche Verlaufsdynamik der Diskussion berücksichtigt werden. Ausdiesem Grund erscheint es sinnvoll, die Untersuchung auf spezifische Konzentrations-punkte von Debatten zu beschränken. Für jeden der beiden Themenbereiche werdendrei solche Konzentrationspunkte ausgewählt (entsprechend: 1972–1973, 1978–1979,1988–1989), die eine diachrone Analyse der Deutungs- und Argumentationsmuster er-möglichen.9 Die erste Erhebungsphase erstreckt sich auf den Zeitraum Oktober 1972bis Oktober 1973; die zweite auf Juni 1978 bis Juni 1979 und die dritte auf Juni 1988bis Juni 1989. In den angegebenen Zeiträumen wurde die Vollerhebung durchgeführt.Die Erhebungsphasen gelten undifferenziert beiden Themenbereichen.

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Zeitung ist eine liberale Tageszeitung; sie ist liberal im Hinblick auf Wertefragen, sozial-staatsorientiert im Hinblick auf Wirtschaftspositionen“ (Gerhards et al. 1998: 191).

– Die Anzahl und die Länge der Publikationen über wichtige außen- und innenpolitischeThemen sind annähernd gleich.

9 Die Zeitspanne 1972–1973 erfasst mit der Debatte über den Grundvertrag mit der DDR diewichtigsten Diskussionen über die neue Deutschlandpolitik der sozialliberalen Regierung. DieZeitspanne 1978–1981 wird in der Publizistik und in der Fachliteratur als „Renaissance natio-naler Fragen“ bezeichnet (Roth 1995: 146). In den Jahren 1988–1989 rückten die Fragen dernationalen Einheit mit den politischen Umwälzungen in Osteuropa und der fortschreitendenErosion des ostdeutschen Regimes verstärkt auf die Tagesordnung. Für den Themenkomplexder europäischen Integrationspolitik lassen sich ähnliche Konzentrationspunkte der zu untersu-chenden Debatten feststellen. Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft 1973 umGroßbritannien, Dänemark und Irland ist ein starker Impuls für die europäische Integrations-politik (Pfetsch 1997: 45). Die Fortschritte der Europäischen Politischen Zusammenarbeit, derin Paris 1972 ausgearbeitete Entwurf zur „Europäischen Union“ und die Erklärung zur „Euro-päischen Identität“ vom Gipfeltreffen in Kopenhagen 1973 geben der Diskussion um die euro-päische Integration eine neue Qualität. Im Zeitraum 1978–1979 wird der europäische Integra-tionsprozess hingegen sowohl wegen der positiven Entwicklungstendenzen als auch wegen derMisserfolge in der Integrationspolitik von der politischen Öffentlichkeit verstärkt wahrgenom-men. Auf der einen Seite gerät der Integrationsprozess in den späten 1970er Jahren ins Sto-cken. Auf der anderen Seite wird im Juni 1979 das Europäische Parlament zum ersten Mal di-rekt gewählt. Die Bemühungen um die Reform der Europäischen Gemeinschaft in den frühen1980er Jahren führen erst in der zweiten Hälfte der Dekade zur Konkretisierung der Pläne übereine Europäische Union und einen einheitlichen Binnenmarkt (Gasteyger 1997: 364). Obwohldie Debatte über den Maastricht-Vertrag bis 1992 andauert, wird die dritte Untersuchungs-phase der integrationspolitischen Debatten aus forschungspraktischen Gründen auf die Zeit-spanne 1988–1989 beschränkt. Damit werden die Erhebungszeiträume in beiden Themenbe-reichen koordiniert.

5. Resultate

5.1 Überwindung „völkischer“ Deutungsmuster

Die wichtigste Veränderung in den nationalen Vorstellungen nach der Zäsur des Zwei-ten Weltkrieges betrifft das Abstreifen „primordialer“ Elemente (vgl. Giesen 1993). Dersemantische Gehalt der Deutungsfiguren des Nationalen weist in den deutschland- undintegrationspolitischen Debatten kaum Spuren von völkischer Codierung auf. Rein pri-mordiale Elemente, z.B. Beschwörung von Rasse, Blutreinheit, Ursprünglichkeit oderNatürlichkeit der Nation fehlen ebenso wie Appelle an Würde, Ehre, Macht oder Stolzder Nation. Deutungsfiguren, die primordial-kulturelle Züge tragen, fallen zahlenmä-ßig nicht ins Gewicht (weniger als 0,1 Prozent aller Idee-Aussagen).10

Die Codierung der Nation beruht generell auf zwei zentralen Elementen: auf demkulturalistischen Begriff des „Bewusstseins der Zusammengehörigkeit“, des „Willens zurNation“, der „kulturellen Identität“ der „Geschichts-, Sprach-, und Gefühlsgemein-schaft“, des „Zusammengehörigkeitsgefühls“ sowie auf dem Deutungskomplex des„Staates“. Das staatsnationale Deutungsmuster betont die „Pflicht“ und den „Willen“zur Wiedervereinigung Deutschlands. Das emotional besetzte Ziel der „staatsnationalenEinheit“ wird durch das „Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes“ rechtlich be-kräftigt. Der Anteil der staatsnationalen Deutungsmuster an den nationalen Deutungs-mustern im Allgemeinen von ca. 35 Prozent zeigt einen starken, wenngleich nicht aus-schlaggebenden Einfluss der staatlich-institutionellen Elemente auf die Definition desNationalen in der bundesrepublikanischen politischen Kultur. Fast ein Drittel allerDeutungsfiguren des Nationalen bewegt sich in kulturalistischen Denkkategorien. Erstmit der immer wahrscheinlicher erscheinenden Wiedervereinigung erlebt die Deutungdes Nationalen in den staatlichen Kategorien ihre Renaissance (1972 bis 1973 – ca. 25Prozent; 1978 bis 1979 – 20 Prozent; 1988 bis 1989 – 55 Prozent der nationalenDeutungsmuster; vgl. Abbildung 2). Die gute Konjunktur der staatsnationalen Deu-tungsmuster bei gleichzeitig abnehmender Anzahl der kulturnationalen Deutungsmus-ter weist auf ein Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden Deutungsarten hin. DasSpannungsverhältnis wird an der gegenseitigen Kritik der kulturnationalen und staats-nationalen Positionen deutlich.11

Man darf also annehmen, dass die institutionalisierte Verknüpfung der Ideen vonNation und Staat wesentlich zur Überwindung der alten „reichsnationalen“ Vorstellun-gen beigetragen hat, dass sich der staatsnationale Code jedoch keinesfalls eine Mono-polstellung erkämpfen konnte, wie der hohe Anteil an kulturnationalen Deutungsmus-tern zeigt.

Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989 297

10 Eine systematische Darstellung der erhobenen Deutungsfiguren ist im Rahmen dieser Abhand-lung nicht möglich. Die folgende Analyse bewegt sich daher auf der Abstraktionsebene derDeutungsmuster und geht nur vereinzelt auf die Inhalte der Deutungsfiguren ein. Diese sindmit Anführungsstrichen markiert.

11 Die Kulturnation kritisiert an der staatsnationalen Ideologie die „Fiktion der Offenhaltung derdeutschen Frage“. Diese wirft der Kulturnation wiederum ein „beschädigtes Nationalbewusst-sein“ vor. Vertreter kulturnationaler Positionen revanchieren sich für die Kritik mit dem Hin-weis auf die „Gefahren“, die mit der (staats-)nationalen Identifikation in Deutschland verbun-den sind.

298 Mateusz Stachura

Abbildung 2: Entwicklung der Deutungsmuster in den deutschlandpolitischen Debatten1972–1989 (Angaben in Prozent)

Quelle: Eigene Erhebung.

Deutungsmuster:

5. Freiheitliche Ordnungder Bundesrepublik

6. Unfreiheitliche Ordnungder DDR

7. Deutsche Frage als Frageder Menschenrechte undSelbstbestimmung

8. Wiedervereinigung alsBedrohung derDemokratisierung

2. Kulturnation

3. Staatsnation

4. WestdeutschesNationalbewusstsein

1. UnspezifischeDeutungsmuster

9. UnspezifischeDeutungsmuster

10. GesamteuropäischeFriedensordnung und dieLösung der deutschen Frage

11. Deutsche Frage alsFriedensfrage – Ablehnungder Wiedervereinigung

12. UnspezifischeDeutungsmuster

14. Nationalstaat in dereuropäischen Gemeinschaft

15. Überwindung desNationalstaates imIntegrationsprozess

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5.2 Die Entkopplung von Nation und Demokratie

Die Leistung der westdeutschen politischen Deutungskultur nach dem Zweiten Welt-krieg besteht in der Überwindung des antidemokratischen Potenzials der nationalenDeutungsmuster. Diese werden zwar demokratiefähig, jedoch mit der Idee der „Demo-kratie“ nicht immanent verbunden. Da das kulturnationale Deutungsmuster nach demPrinzip „zwei Staaten einer Nation“ von der staatspolitischen Problematik abstrahiert,kann es auch keinen Bezug auf die Werte der „Demokratie“, „Selbstbestimmung“ oder„Freiheit“ herstellen. Aber auch das staatsnationale Deutungsmuster bleibt in dieserHinsicht bemerkenswert unbestimmt. Die Betonung des staatlichen Moments des Na-tionalen entbehrt einer demokratischen Komponente. Die Wiedervereinigung erscheinthier vor allem aus zwei Gründen als ein erstrebenswertes Ziel. Zum Ersten wegen derkulturellen Verbundenheit der deutschen Nation, zum Zweiten wegen der in denRechtspositionen der Bundesrepublik institutionalisierten Grundannahme, dass zurVollendung des nationalen Daseins ein Moment der Staatlichkeit gehöre. Lediglich imDeutungsmuster „westdeutsches Nationalbewusstsein“, und darin speziell in der Deu-tungsfigur „demokratische Tradition der westdeutschen Nation“, wird die Relevanz derNation für die demokratische Qualität der politischen Ordnung angedeutet. Interessan-terweise wird jedoch die „demokratische Tradition“ nicht auf die ganze deutsche Na-tion, sondern nur auf die westdeutsche Nation bezogen. Dabei fällt das Deutungsmus-ter „westdeutsches Nationalbewusstsein“ zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Lediglich inder Erhebungsphase von 1978 bis 1979 kann es mit einem Anteil von ca. vier Prozentan der Gesamtzahl der nationalen Deutungsmuster identifiziert werden. In der Phasevon 1988 bis 1989 werden kaum „westdeutsche“ Deutungsfiguren gefunden (vgl. Ab-bildung 2).

Dies bestätigt die Annahme, dass das Festhalten an der „Unteilbarkeit der deut-schen Nation“ bei der nationalen Deutungslehre zu keiner Verknüpfung von Ideen derNation und Demokratie geführt hat. Die Nation ist in der deutschen Vorstellungsweltweder ein notwendiger Träger noch ein Urheber, sondern ein Objekt der Freiheit. DieFreiheit soll auf die ganze Nation ausgedehnt, statt – wie in der klassischen Version dernationaldemokratischen Deutungslehre – von der Nation verwirklicht werden. Die bei-den Werte stehen in keinem wirklichen Abhängigkeitsverhältnis, sondern werden alszwei unterschiedliche Aspekte der deutschen Frage aufgefasst, deren Zusammenhangnicht immanent ist, sondern erst durch die Teilung Deutschlands geschaffen wurde.Man muss eben kein Nationalgefühl hegen, um der „freiheitlichen Sache“ beizupflich-ten.

5.3 Dominanz der freiheitlichen Deutungsmuster

Vor dem Hintergrund der Entkopplung der Ideen von Demokratie und Nation stelltsich die Frage nach dem Stellenwert der freiheitlichen Werte in der westdeutschen poli-tischen Kultur. Die meisten Wert-Aussagen der deutschlandpolitischen Debatten liegenin der Dimension der politischen Rechte und Freiheiten. Die Teilung Deutschlandswird nicht in nationalen, sondern primär in menschenrechtlichen und demokratischenKategorien interpretiert. Nimmt man die Deutungsmuster der Dimension „Frieden

Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989 299

und Entspannungspolitik“ dazu, wird das Übergewicht der universellen über die natio-nalen Wertemuster noch deutlicher. In der wichtigsten Debatte über den „geistigenStandort“ der Bundesrepublik zwischen Ost und West, zwischen der Vorstellungsweltder nationalen Einheit und der Ideenwelt der Selbstbestimmung und des Friedens wei-sen bis zu 75 Prozent der Idee-Aussagen auf die letztgenannten Werte hin. Nur ca. 25Prozent der Idee-Aussagen berufen sich primär auf nationale Werte. Stärker als derVerlust der nationalen Einheit wird in den deutschlandpolitischen Debatten der Ver-lust der politischen Freiheit thematisiert. Die propagandistischen Versuche des ostdeut-schen Regimes, eine „sozialistische Nation“ zu schaffen, werden in den bundesrepubli-kanischen Debatten nicht annähernd so stark kritisiert wie der autoritäre Charakterdieses Regimes. Kontrafaktisch könnte argumentiert werden, dass bei einem prädomi-nanten nationalen Wertbezug eine entsprechende Reaktion der westdeutschen Öffent-lichkeit, etwa in Form eines Deutungsmusters „antinationaler Charakter des DDR-Re-gimes“, zu erwarten gewesen wäre. Dass in Wirklichkeit nicht der „antinationale“, son-dern der „unfreiheitliche“ Charakter des ostdeutschen Staates gebrandmarkt wurde,deutet auf die Vorrangstellung der freiheitlichen Werte hin.

Die DDR spielt in diesen Aussagen die Rolle einer negativen Bezugsgesellschaft, dieindirekt das Selbstverständnis der politischen Gemeinschaft der Bundesrepublik be-stimmt. Das entscheidende Argument für diese These geht aus den Ergebnissen derdritten Untersuchungsphase hervor. Während das Deutungsmuster „unfreiheitlicheOrdnung der DDR“ in den ersten beiden Erhebungsphasen fast die Hälfte (43 und 49Prozent) aller Idee-Aussagen in den deutschlandpolitischen Debatten enthält, geht seineHäufigkeit in der Untersuchungsphase von 1988 bis 1989 deutlich zurück (21 Pro-zent), um dem Deutungsmuster „deutsche Frage als Frage der Menschenrechte undSelbstbestimmung“ Platz zu machen (Zuwachs von sechs Prozent in der Erhebungspha-se von 1978 bis 1979 auf 26 Prozent in der Phase von 1988 bis 1989). Das Bemer-kenswerte an diesem Wandel ist, dass, während sich die Verhältnisse zwischen den ein-zelnen Deutungsmustern innerhalb der Dimension „Freiheit, Menschenrechte, Demo-kratie“ geändert haben, die gesamte Wertedimension gleich stark vertreten gebliebenist. Nicht der Grundwertbezug, sondern nur die Deutungsmuster waren also Wandlun-gen unterworfen. Diese Entwicklung spiegelt eine Veränderung der äußeren politischenBedingungen wider. Die Schrumpfung der sowjetischen Einflusszone und die Erosiondes DDR-Regimes haben auf der einen Seite die moralisch-politische Kritik an derDDR überholt, auf der anderen Seite der Wiedervereinigungsfrage eine neue Aktualitätverliehen. Es geht in der letzten Phase der Deutschlanddebatte zunehmend um dieStandortbestimmung der Bundesrepublik gegenüber der DDR. Das „negative“ Deu-tungsmuster „unfreiheitliche Ordnung der DDR“, das eine Machtlosigkeit gegenübereiner militärisch-bürokratischen Diktatur vermittelt, wird nun durch das „positive“Deutungsmuster „deutsche Frage als Frage der Menschenrechte und Selbstbestimmung“ersetzt, das die Position der Bundesrepublik im demokratischen Sinne präzisiert. Die„Lösung der deutschen Frage“ wird in der „Demokratisierung der DDR“, in der „Ver-wirklichung der Menschenrechte“, in der Ermöglichung der „menschlichen Kontakteund Kommunikation“ gesehen. Eine Wiedervereinigung wird weder dezidiert abgelehntnoch zum obersten Handlungsprinzip erhoben. Die Anerkennung des demokratischenSelbstbestimmungsprinzips führt vielmehr zu der Auffassung, dass die Betroffenen über

300 Mateusz Stachura

ihr politisches Schicksal selbst zu entscheiden haben und dass jede westdeutsche Vor-entscheidung dieser Frage das Recht der Ostdeutschen auf politische Selbstbestimmungschmälern würde. Lediglich das Deutungsmuster „Wiedervereinigung als Bedrohungder Demokratisierung“ zieht aus der Annahme, dass die „Wiedervereinigungsdebattedie Demokratisierung der DDR gefährdet“, den weitergehenden Schluss, dass dieDDR ihre „Selbständigkeit“ zu bewahren habe. Zahlenmäßig spielt es jedoch eine ge-ringere Rolle (ca. zwei Prozent aller Idee-Aussagen).

Als die Frage nach der Wiedervereinigung eine reale Aktualität bekommen hatte,kam es also zu keinerlei Rückbesinnung auf die nationalen Werte, sondern zu einer in-haltlichen Umformung der freiheitlichen Deutungsmuster, wobei auch ein klarer Ob-jektbezug auf die Bundesrepublik hergestellt wurde. Die staatsnationalen Argumentefür die Wiedervereinigung (zehn Prozent aller Idee-Aussagen) bleiben deutlich hinterder Zahl der Idee-Aussagen, die für die Selbstbestimmung der DDR eintreten (28 Pro-zent aller Aussagen), zurück. Die westdeutsche Öffentlichkeit zeigte sich bereit, dieKonsequenzen ihrer freiheitlichen Selbstbestimmung zu tragen und eine endgültigeLoslösung des ostdeutschen Staates zu akzeptieren, falls diese in einem demokratischenAkt erfolgen würde. Dies zeigt, dass die starke Ausprägung des Deutungsmusters „un-freiheitliche Ordnung der DDR“ in den früheren Untersuchungsphasen als Elementindirekter politischer Selbstbestimmung der Bundesrepublik zu verstehen ist.

Diese Einschätzung benötigt jedoch eine Einschränkung. Wenngleich die Domi-nanz des freiheitlichen Wertbezuges in den deutschlandpolitischen Debatten deutlichwird, bleibt die Frage nach einer „verfassungspatriotischen Identität“ offen. Definiertman politische Identität als reflexive Selbstbezeichnung einer politischen Gemeinschaft(Lepsius 1997), dann hat die Bundesrepublik – den Ergebnissen der deutschlandpoliti-schen Debatten zufolge – keine „verfassungspatriotische“ Identität herausgebildet. Diewestdeutsche politische Gemeinschaft denkt in freiheitlichen Kategorien, begründetmit freiheitlichen Argumenten fundamentale Entscheidungen bezüglich ihrer Grenzenund ihres Bestandes, vermeidet aber eine Selbstdarstellung in „freiheitlichen“ Begriffen.Es gibt keine Deutungsmuster, die eine „staatsbürgerliche“ Identität oder eine „demo-kratisch-patriotische“ Identität der Bundesrepublik beschwören würden. Man kommtbei der Analyse der „freiheitlichen Deutungsmuster“ in den deutschlandpolitischen De-batten zu einem ambivalenten Ergebnis. Auf der einen Seite fallen die meisten norma-tiven Aussagen in die „freiheitliche“ Wertedimension. Auf der anderen Seite sucht manunter den universalistischen Deutungsmustern vergeblich nach identitätsstiftenden Aus-sagen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die These von der „Identitätskrise“ der (alten)Bundesrepublik wie folgt reinterpretieren: Werte, die im gemeinschaftlichen Diskurszur Legitimation realer Institutionen der politischen Gemeinschaft herangezogen wer-den, weichen von den Deutungsmustern der kollektiven Selbstbeschreibung dieser Ge-meinschaft ab.

5.4 Autonomie der europäischen Deutungsmuster

Ein Spannungsverhältnis zwischen den „nationalen“ und den „europäischen“ Codeswürde sich in einer starken Ausprägung von nationalen Deutungsmustern in den inte-grationspolitischen Debatten manifestieren, wobei es sich um Deutungsmuster handeln

Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989 301

müsste, die einen Konflikt zwischen nationalen und europäischen Werten wahrgenom-men hätten.

Die geringere Häufigkeit der nationalen Deutungsmuster in den integrationspoliti-schen Debatten wird dahingehend interpretiert, dass in der bundesrepublikanischenpolitischen Kultur kein Gegensatz zwischen den Ideen von Nation und Europa besteht.Die meisten nationalen Deutungsfiguren gruppieren sich dabei im Deutungsmuster„Nation als Grundlage der Europäischen Gemeinschaft“ (ca. vier Prozent), das einenpositiven Zusammenhang zwischen den beiden Ideen konstruiert (vgl. Abbildung 3).

Dieser Befund stimmt mit der Entwicklung der „integrationsbezogenen“ Deutungs-muster in den deutschlandpolitischen Debatten überein. Dabei überwiegen Deutungs-figuren, die entweder keinen Gegensatz zwischen dem Integrationsprozess und der Na-tionalstaatlichkeit konstruieren, wie „Notwendigkeit der europäischen Integration“,„Vertiefung der Integration“, „Offenhaltung der Europäischen Gemeinschaft“, „festeVerankerung der Bundesrepublik im Westen“, oder solche, die einen expliziten positi-ven Zusammenhang zwischen den beiden Größen sehen, wie „Deutsche Frage im euro-päischen Kontext“, „Wiedervereinigung als Element der Integration Europas“, „Europader Nationen“, „Wiedervereinigung nur in der europäischen Gemeinschaft“. Das Deu-tungsmuster „Überwindung des Nationalstaates im Integrationsprozess“, das ein Span-nungsverhältnis zwischen den nationalen und integrationsbezogenen Werten konsta-tiert, spielt, quantitativ gesehen, eine geringere Rolle (ca. zwei Prozent aller Deutun-gen).

Es gilt jedoch zu bemerken, dass ein Konflikt zwischen den Ideen der Nation undder Integration nicht aus den nationalen oder staatsnationalen, sondern ausschließlichaus den europäischen Positionen signalisiert wird. Den Deutungsmustern „Überwin-dung der Nation im Integrationsprozess“ oder „Gefährdung der Integration durch dieWiedervereinigungspolitik“ entsprechen keine nationalen Gegenpositionen, die etwa ei-nen „Ausstieg aus dem Integrationsprozess“ zwecks einer aktiveren Deutschlandpolitikverlangen würden. In den deutschland- und integrationspolitischen Debatten lassensich überhaupt keine Idee-Aussagen finden, die den Integrationsprozess prinzipiell in-frage stellen. Der Wert der Integration gilt als unantastbar, auch und insbesondere ausder nationalen Perspektive, die sich des Verdachts erwehren muss, der Integration ge-genüber nicht enthusiastisch genug zu sein.

Das Verhältnis zwischen den nationalen und europäischen Deutungsmustern wirdin der Fachliteratur auch im Kontext der Frage thematisiert, ob die Integrationsvorstel-lung eine Ergänzung oder eine Alternative für die nationale Identifikation darstellt. DieAnalyse zeigt eine leichte Tendenz zur „Europäisierung“ der nationalen Idee. Der Inte-grationsprozess wird zwar nur in geringfügigem Ausmaß national gedeutet. Umgekehrtwird jedoch die deutsche Frage immer häufiger aus der europäischen Perspektive gese-hen. Zwar bilden die europäischen Deutungsmuster in den deutschlandpolitischen De-batten in absoluten Zahlen die schwächste Gruppe, erleben jedoch in der Untersu-chungsperiode von 1972 bis 1989 eine kontinuierliche Zunahme der Häufigkeit (vondrei Prozent in der ersten Erhebungsphase, auf acht Prozent in der zweiten und zwölfProzent aller normativen Aussagen in der dritten Phase; vgl. Abbildung 2). Wie ist die-ser Vorgang zu erklären?

302 Mateusz Stachura

Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989 303

Abbildung 3: Entwicklung der Deutungsmuster in den integrationspolitischen Debattenvon 1972 bis 1989 (Angaben in Prozent)

Quelle: Eigene Erhebung.

Deutungsmuster:

5. Europäische Gemeinschaftin der gesamteuropäischenFriedensordnung

1. UnspezifischeDeutungsmuster

2. Nation in der EuropäischenGemeinschaft

3. Demokratisches Defizit derEuropäischen Gemeinschaft

4. Freiheitliche Ordnung derEuropäischen Gemeinschaft

6. UnspezifischeDeutungsmuster

7. Politische Werte derIntegration

8. EuropäischeIdentifikationsgemeinschaft

9. Wirtschaftliche Werte derIntegration

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Diese Befunde legen die Annahme nahe, dass nationale und europäische Identifika-tionsfiguren weder in einem Alternativverhältnis (da keine Spannung konstatiert wur-de) noch in einem generellen Ergänzungsverhältnis stehen (da die Ausprägung der eu-ropäischen Deutungsmuster in den deutschlandpolitischen Debatten verhältnismäßiggering bleibt), dass sie aber potenziell kombinierbare Deutungsmuster darstellen. Dieeuropäische Idee übernimmt allmählich die Protektion über die nationalen Deutungs-muster. Die Einbeziehung der europäischen Perspektive in die deutschlandpolitischenDebatten führt jedoch nicht zur Entwicklung „national-europäischer“ Deutungsmuster,die für den integrationspolitischen Diskurs relevant wären.

5.5 Die Idee der europäischen Integration als normative Grundlage der politischenGemeinschaft der Bundesrepublik

Um die Rolle der „europäischen“ Idee bei der kulturellen Konstruktion der politischenGemeinschaft der Bundesrepublik genauer zu bestimmen, müssen die Deutungsmusterder integrationspolitischen Debatten näher untersucht werden. Eine starke Präsenz vonDeutungsmustern, die die Europäische Gemeinschaft/Union als eine „Identifikationsge-meinschaft“ auffassen, die dem Integrationsprozess also nicht nur einen instrumentel-len, sondern einen normativen Wert zuschreiben, würde die These von der Relevanzder europäischen Integration für die politische Identitätsbildung der Bundesrepublikuntermauern.

Die Analyse der Integrationsdebatten zeigt jedoch, dass die europäische Einigungüberwiegend unter einem institutionell-politischen (Deutungsmuster „politische Werteder Integration“) und einem wirtschaftlichen (Deutungsmuster „wirtschaftlicher Wertder Integration“) Wertgesichtspunkt thematisiert wird. Die beiden Deutungsmusterumfassen über die Hälfte aller Idee-Aussagen in den fraglichen Debatten (stärkere Be-tonung des „wirtschaftlichen Wertes der Integration“ mit ca. 23 Prozent). Demgegen-über steht das Deutungsmuster „europäische Identifikationsgemeinschaft“ mit einerHäufigkeit von ca. acht Prozent bei keiner klaren Entwicklungstendenz (in den ent-sprechenden Erhebungsphasen: elf, zwölf und fünf Prozent; vgl. Abbildung 3). Die be-schränkte Zahl der Erhebungen erlaubt hier keine weitergehenden Interpretationen.Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass die Wahrnehmung einer „europäischen Identifi-kationsgemeinschaft“ im Zuge der ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlamentaktiviert wurde. Mit der Debatte um den europäischen Binnenmarkt wurde diese Ent-wicklung durch die Zunahme der wirtschaftspolitischen Deutungsmuster entmutigt.

Die Analyse der Inhalte der Deutungsmuster „europäischer Identifikationsgemein-schaft“ fördert nicht kulturelle, sondern in erster Linie universalistisch-politische Wertezutage. In der „Entwicklung eines neuen europäischen Bewusstseins“ wird die Über-windung oder Bereicherung alter nationalstaatlicher Identifikationsformen gesehen. Daseuropäische Bewusstsein der „Völkergemeinschaft“ stellt danach eine kollektive Identi-fikationsform sui generis dar, die auf geteilten universalistischen und post-traditionalis-tischen politischen Wertvorstellungen beruht. Der post-traditionalistische Umgang mitden nationalen Identifikationen besteht in der „Überwindung nationaler Egoismen“, inder „Verarbeitung nationaler Vergangenheit“, im „Verzicht auf nationale Souveränitäts-rechte“. Die „europäische Solidarität“ beruht auf der Vorstellung einer politischen

304 Mateusz Stachura

„Schicksalsgemeinschaft“, die sich als fähig erwiesen hat, aus den Fehlern der Vergan-genheit zu lernen. Die universalistischen Wertvorstellungen betonen die Relevanz der„Menschenrechte“, die als normativer Kern des europäischen Gemeinschaftsbildes zuverstehen sind. Die „europäische Solidarität“ und die „europäische Identität“ wurdenumso mehr beschworen, je stärker „Bürgernähe, Bürgerbeteiligung und Parlamentari-sierung“ gefordert wurden.

Ein europäisches Bewusstsein ist nach dieser Interpretation weniger auf dem Funda-ment einer europäischen Kulturgemeinschaft als vielmehr auf dem eines europäischenDemos aufgebaut. Es steht in keinem Spannungsverhältnis mit einem reflektierten „na-tionalen Bewusstsein“. Gleichwohl fordert es die „Überwindung nationaler Egoismenund Prestigedenkens“ und den „Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte“. Es hat we-niger einen postnationalen als vielmehr einen posttraditionalen Charakter, der sich ineinem reflexiven Umgang mit der „nationalen Vergangenheit“, in der Idee der „Völker-versöhnung“ und in der politischen Toleranz gegenüber anderen Nationen äußert.

Die inhaltliche Analyse der betreffenden Idee-Aussagen gibt Anlass zu einer solchenInterpretation. Die quantitative Entwicklungstendenz der Deutungsmuster der integra-tionspolitischen Debatten zeigt jedoch, dass eine Eventualität der Ausschaltung der de-mokratisch-politischen und der Steigerung der ökonomischen Wertbezüge des Integra-tionsdiskurses mindestens ebenso wahrscheinlich ist. Die Europäische Gemeinschaft alseine primär wirtschaftlich-technokratisch begründete Zweckgemeinschaft hätte dannihr demokratisches Profil eingebüßt und wäre als politische Identifikationsgemeinschaftkaum attraktiv. Die Daten der letzten Erhebungsphase scheinen in diese Richtung zuweisen. Zu der Annahme, dass die Integrationsidee zu einem zentralen Bestandteil derpolitischen Identität der Bundesrepublik geworden ist, geben sie jedenfalls keinen An-lass. Sollte jedoch eine Weiterentwicklung des europäischen Bewusstseins eintreten,dann eher in Form post-traditionaler politischer Identifikationsmuster.

6. Diskussion der Ergebnisse

Im Folgenden sollen die Befunde der Deutungsmusteranalyse vor dem Hintergrundder Erkenntnisse der Einstellungsforschung interpretiert werden. Bei der Diskussionder Ergebnisse lassen sich freilich keine konkreten Zahlen, sondern nur Tendenzen ver-gleichen, da sich die Ergebnisse der Umfrageforschung – von den methodologischenUnterschieden abgesehen – primär auf die Befragtenebene beziehen, während die Deu-tungsmusteranalyse auf die Nennungsebene abzielt. Die Deutungsmusteranalyse spie-gelt dabei Wertemuster einer medial vermittelten Öffentlichkeit wider, während dieUmfrageforschung mit repräsentativen Daten arbeitet.

6.1 Staat, Nation und Demokratie

Der einstellungsorientierte Ansatz sieht die bundesrepublikanische politische Kulturdurch ein ursprünglich unpolitisches Verständnis des Nationalen (Almond/Verba 1963:102) geprägt, das erst in den 1960er und 1970er Jahren durch ein stärker an politi-schen Institutionen ansetzendes Nationsverständnis abgelöst wird (Conradt 1980: 230;

Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989 305

vgl. Berg-Schlosser 1990; Weidenfeld/Korte 1991; Gabriel 1997; Glaab 1999). Sind inder Pionieruntersuchung von Almond und Verba nur sieben Prozent der Probanden„stolz“ auf die politischen Institutionen und die Regierung der Bundesrepublik, sosteigt deren Prozentsatz 1978 auf 31 Prozent, um 1989 das Niveau von 51 Prozent zuerreichen (Westle 1994: 48).

Die These von der fortschreitenden Politisierung des westdeutschen Nationalbe-wusstseins findet in den Befunden der Deutungsmusteranalyse keine Bestätigung. Da-rin kann eine stabile Ausprägung der staatsnationalen Deutungsmuster in der unter-suchten Zeitspanne beobachtet werden. Die Diskrepanz lässt sich dadurch erklären,dass die Befunde der Umfrageforschung über den wachsenden Nationalstolz auf politi-sche Institutionen weniger eine Veränderung der ideellen Verknüpfung von Nation undStaat als vielmehr einen steigenden „system affect“ reflektieren. Die affektive Bindungan die politischen Institutionen ist in Deutschland nach der Erfahrung des ZweitenWeltkrieges zeitweise geschwächt. Der kognitive und evaluative Gehalt des Verständnis-ses der Nation wird dadurch jedoch kaum berührt. Die staatsnationalen Deutungsmus-ter, die sich bereits im Kaiserreich gegen reichsnationale Ideen behauptet haben (vgl.von Beyme 1996), behalten in der politischen Öffentlichkeit ihre Deutungskraft unbe-schadet der veränderten Empfindungslagen bezüglich des Stolzes auf staatliche Institu-tionen.

Ein weiterer interpretationsbedürftiger Befund der Deutungsmusteranalyse betrifftdas Verhältnis von Nation und Demokratie. Während die Umfrageforschung denwachsenden Nationalstolz auf die demokratischen Institutionen der Bundesrepublik im„nationaldemokratischen“ Sinne interpretiert (Conradt 1980: 229ff.), registriert dieDeutungsmusteranalyse nur eine schwache Verknüpfung zwischen den Werten von Na-tion und Demokratie. Wie ist diese Differenz zu erklären? Eine statistische Korrelationzwischen nationaler Identifikation und demokratischen Überzeugungen bedeutet nochkeine Sinnkorrelation, keine nationaldemokratische politische Kultur. Der Befund, dassdas Grundgesetz als Quelle des Nationalstolzes angesehen wird, besagt noch wenigüber das logische Verhältnis zwischen den Ideen Nation und Demokratie. Die steigen-de Zufriedenheit mit der politischen Ordnung wirkt sich seit den 1960er Jahren aufdas westdeutsche Nationalbewusstsein in dem Sinne aus, dass Spannungen zwischenden Ideen von Nation und Demokratie abgebaut werden. Der nationale Code wird inder westdeutschen politischen Deutungskultur demokratiefähig, mit der Idee der De-mokratie jedoch nicht immanent verbunden.

6.2 Verfassungspatriotismus

Die in der Deutungsmusteranalyse registrierte Entkopplung von Nation und Demokra-tie deutet auf die Entwicklung einer verfassungspatriotischen politischen Kultur hin.Die Meinungsforscher finden bislang jedoch nur spärliche Hinweise auf die Universali-sierung der politischen Vorstellungen in der Bundesrepublik. Empirisch fundierte Kri-tik am Konzept des Verfassungspatriotismus weist darauf hin, dass das Grundgesetz inder Bundesrepublik nie eine Integrationswirkung für die politische Gemeinschaft aus-geübt hat (Rausch 1983: 130). Die Operationalisierung des Konzeptes anhand der Ein-stellung zum Grundgesetz erscheint jedoch wenig sinnvoll, da es sich beim Verfas-

306 Mateusz Stachura

sungspatriotismus nicht um die Identifikation mit dem Gegenstand des Grundgesetzeshandelt, sondern mit den freiheitlichen Werten, die darin enthalten sind. Eine syste-matische Konzeptualisierung nationaler und verfassungspatriotischer Identifikationsfor-men legt Bettina Westle vor (1994, 1999). Ein postnationales Bewusstsein wird dabei„als Kollektivbewusstsein, das entweder der eigenen Nation bzw. dem eigenen Natio-nalstaat (...) keine wesentliche Bedeutung zuspricht und/oder sich an sich an universa-len menschenrechtlichen oder demokratischen Idealen verankert“ von nationalen Be-wusstseinsformen abgegrenzt (1994: 63). Eine 1992 durchgeführte Untersuchung stelltfür Westdeutschland mit 20,8 Prozent der Befragten eine relativ geringe Ausprägungpostnationaler Orientierungen fest. Bei einer klaren Dominanz des traditionalen Natio-nalbewusstseins (48,6 Prozent) schneidet auch das reflektierte Nationalbewusstsein rela-tiv gut ab (29,9 Prozent) (Westle 1994: 64). Die Befunde der Einstellungsforschungscheinen damit die Universalisierungstendenz in der westdeutschen Deutungskulturnicht zu bestätigen.

Dabei soll jedoch auf Unterschiede zwischen den Konzepten von Postnationalismusund Verfassungspatriotismus hingewiesen werden. Während Westle zur Identifizierungbeider Begriffe tendiert, definiert Klaus von Beyme gerade das „reflektierte Nationalbe-wusstsein“ als „verfassungspatriotisch modernisiert und auf Demokratie, Partizipationund Bürgerrechte bezogen“ (1996: 91; vgl. Blank/Schmidt 2003: 293). Eine reflektier-te kulturelle Identifikation mit der Nation ist kein Hindernis für eine primär politische(verfassungspatriotische) Identifikation mit der politischen Gemeinschaft. In diesemSinn lassen sich auch die Befunde der Deutungsmusteranalyse interpretieren. Der uni-versalistische Grundwertbezug des westdeutschen Gemeinschaftsdiskurses impliziertkeinen Postnationalismus. Im Kontext der kulturellen Gemeinschaftsidentifikationbleibt die Kraft der nationalen Orientierungen ungebrochen. Im politischen Kontextentfalten jedoch die menschenrechtlichen und demokratischen Wertemuster ihre Defi-nitionsmacht umso stärker, je schwächer die ideelle Verknüpfung von Nation und De-mokratie wird. Die Dominanz der universalistischen Deutungsmuster ist eine Funktionder Entkopplung von nationalen und freiheitlichen Vorstellungen im westdeutschenGemeinschaftsdiskurs.

6.3 Europäische Deutungsmuster

Während die empirische Forschung gesicherte Erkenntnisse über die Unterstützung deseuropäischen Einigungsprozesses (Honolka 1987; Schweigler 1985) liefert, bereitet dieFrage der europäischen Identifikation der Westdeutschen, insbesondere ihr Verhältniszu nationalen Identitätsformen, theoretische und methodologische Schwierigkeiten.Gerhard Herdegen hat zum Beispiel auf eine positive Korrelation zwischen National-stolz und einer Befürwortung des Integrationsprozesses hingewiesen:

„Wer aber nun nationalbewußt im engeren Sinne ist, erweist sich gleichzeitig als der überzeugteEuropäer. Deutsches und europäisches Nationalbewußtsein schließen sich also nicht gegenseitigaus, stehen erst recht nicht im Gegensatz zueinander, sondern verstärken sich“ (Herdegen 1987:218).

Deutungsmuster der politischen Gemeinschaft in der BRD 1972–1989 307

Tatsächlich gingen nur ca. 25 Prozent der 1987 im Eurobarometer Befragten von ei-nem Spannungsverhältnis zwischen europäischer Einigung und nationaler Identität aus.Über die Hälfte der Befragten beobachtete keinen Gegensatz zwischen Nation und In-tegration (Eurobarometer 29: 329). Auf der anderen Seite zeigt Dieter Fuchs jedoch,dass „die nationale Identifikation für die Einstellungen zur Europäischen Union kaumeine Rolle spielt“ (Fuchs 2000: 229). Lassen sich die divergierenden Befunde auf derEinstellungsebene durch die Struktur der Weltbilder und Ideen erhellen, die diesen zu-grunde liegen?

Fuchs’ These vom geringeren Zusammenhang zwischen der nationalen Identifika-tion und der Bejahung des europäischen Integrationsprozesses entspricht der Befund,dass die nationalen Deutungsmuster bei den integrationspolitischen Debatten in derwestdeutschen Öffentlichkeit keine wichtige Rolle spielen. Die Integrationspolitik akti-viert zwar keine „anti-europäischen nationalen Deutungsmuster“, aber auch keine „pro-europäischen nationalen Muster“. Vor diesem Hintergrund erscheint die These von ei-ner verstärkenden Wirkung des nationalen und des europäischen Bewusstseins übertrie-ben. Das nationale Bewusstsein bildet keinen Gegensatz zur europäischen Identifika-tion, wenngleich es sie auch nicht – wie Herdegen behauptet – befördert.

Die distanziertere Haltung gegenüber der europäischen Integration von Personen,die keinen Nationalstolz empfinden, führt Herdegen zu dem Schluss, dass die postna-tionale Orientierung mit der europäischen Orientierung in einem Spannungsverhältnissteht. Diese Schlussfolgerung beruht jedoch auf unsicheren methodologischen Prämis-sen. Die Einstellung zum europäischen Integrationsprozess wird in dieser Studie als In-dikator für ein europäisches Bewusstsein verwendet. Die distanzierte Haltung gegen-über dem Prozess der europäischen Integration kann Unterschiedliches bedeuten: Ab-lehnung der europäischen Idee selbst oder nur Ablehnung der Art und Weise, wie jeneIdee institutionalisiert wurde (z.B. im Sinne des Demokratiedefizits der EuropäischenGemeinschaft).

Ein weiteres Forschungsdefizit ergibt sich bei der Frage nach den Kriterien und In-halten europäischen Bewusstseins. 28 Prozent der Westdeutschen fühlten sich 1982„oft“, 55 Prozent „manchmal“ und 17 Prozent „nie“ als „Bürger Europas“ (Eurobaro-meter 17: 41). Berechtigt dieser Befund jedoch dazu, vom europäischen Bewusstseinder Deutschen zu sprechen? Welche politische Relevanz hat solch eine sporadischeIdentifikation als „Bürger Europas“? Das diffuse „Gefühl“ der Zusammengehörigkeitüberträgt sich nicht automatisch auf politisch-kulturelle Definitionen der Situationen,die wiederum handlungsrelevant wären. Die entscheidende Frage bleibt daher, ob undin welchem Maß die Integrationspolitik durch den Rekurs auf den Wert einer europä-ischen Identifikationsgemeinschaft begründet wird. Die Ergebnisse der Deutungsmus-teranalyse stimmen in dieser Hinsicht verhalten optimistisch. Das Deutungsmuster eu-ropäische Identifikationsgemeinschaft spielt in den integrationspolitischen Debatteneine marginale Rolle. Seine Häufigkeit schwankt dabei in den verschiedenen Untersu-chungsphasen erheblich. Die Integrationsdebatten werden normativ vor allem mit wirt-schaftspolitischen und institutionell-politischen Deutungsmustern ausgetragen. DiePrädominanz der wirtschaftspolitischen und institutionell-politischen Deutungsmusterrückt die Perspektive eines primär wirtschaftlich bestimmten Zweckverbandes in denVordergrund (vgl. Reese-Schäfer 1997).

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Es gibt schließlich wenige Erkenntnisse über die Komponenten des europäischenBewusstseins (vgl. Grebing 1995).12 In einer Untersuchung vom Jahre 1987 wurdendie befragten Personen gebeten, die Gründe für die Unterstützung des europäischen In-tegrationsprozesses zu benennen (Eurobarometer 27: 260). Die Mehrheit der deutschenProbanden (55 Prozent) hat auf das Item „Rivalitäten der Vergangenheit überwundenzu haben, Leben im Frieden“ hingewiesen. Dem folgten die „Reisefreiheit“ (22 Pro-zent) und „gemeinsame kulturelle Tradition“ (sechs Prozent). Der Gemeinsamkeit der„religiösen und philosophischen Werte“ wurde hingegen eine nur geringe Bedeutungzugemessen (vier Prozent) (Grebing 1995: 18). „Die europäische soziale Identifikationgründet also daher nicht auf einem gemeinsamen kulturellen Vermächtnis“ (Angelucci1993: 316). Die Befunde stimmen mit den Ergebnissen der Deutungsmusteranalysedarin überein, dass eine europäische Solidaritätsgemeinschaft eher durch den Bezug aufuniversalistische politische Werte (Frieden, Überwindung der Rivalitäten) als durch denRekurs auf eine gemeinsame europäische Kultur begründet werden kann.

Aus der Perspektive des interpretativen Ansatzes der politischen Kultur erscheinenalso manche Befunde der traditionalen Forschung in einem neuen Licht. Die Deu-tungsmusteranalyse interessiert sich nicht für Einstellungen, sondern nur für kontext-bezogene Deutungsmuster politischer Wirklichkeit. Ihr Zweck liegt in der Erforschungvon Inhalten, Zusammenhängen und Definitionspotenzialen der ideellen Komponen-ten eines politischen Weltbildes. Durch die Differenzierung zwischen Motiven undnormativen Gründen des Handelns, zwischen subjektiven Einstellungen und geteiltenDeutungsmustern leistet der interpretative Ansatz einen wichtigen Beitrag zur Erklä-rung politischer Phänomene.

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