ZIVILGESELLSCHAFT UND STAAT IM AKTUELLEN DISKURS

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Karel B. Müller ZIVILGESELLSCHAFT UND STAAT IM AKTUELLEN DISKURS Empirische, normative und komplementäre Perspektiven Versucht man eine Übersichtsdarstellung der Forschung, die sich mit dem Thema Zivilgesellschaft befasst, vorzulegen, stößt gleich auf mehrere Pro- bleme. Das erste Problem ist die schlichte Tatsache, dass der bloße Abdruck einer relevanten Bibliographie zu diesem Thema mühelos den Umfang der vorgelegten Studie übertreffen würde. Ein zweites Problem besteht darin, dass es sich um ein ausgesprochen interdisziplinäres Thema handelt und da die verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Ansätze und Ausgangspunkte ha- ben, stehen wir einem Gewirr von mehr oder weniger miteinander verbunde- nen Argumenten und Diskursen gegenüber. 1 Der Begriff Zivilgesellschaft 1 Es ist vor allem die historisch-philosophische Diskussion, die sich mit der Herkunft und Entwicklung des Konzepts von Zivilgesellschaft befasst, ferner der ethisch-philosophi- sche Diskurs über die moralische Verankerung der sozialen Ordnung (der Streit zwi- schen Kommunitarismus und Liberalismus) und zusätzlich der historisch-soziologische Diskurs zur Entstehung der öffentlichen Sphäre. Diese drei Diskurse werden oft allge- meineren Theorien der Modernität zugeordnet. In einem allgemeinen Rahmen ließe sich außerdem der politologische Diskurs zu Theorien über Interessenvermittlung, poli- tische Kultur sowie politische und demokratische Transformation nennen. Dazu kommt der sozialwissenschaftliche Diskurs, der sich mit der Krise des Wohlfahrtsstaates beschäftigt, mit den sozialen Bewegungen, den Diskussionen über Nationalismus, der Internationalisierung der Zivilgesellschaft, dem Einfluss neuer Technologien im Bereich der Kommunikation, der Globalisierung und dem transnationalen System von Regie- rungen und Ordnungen (global governance), dem Multikulturalismus oder methodolo- gischen Auseinandersetzungen wie der Kritik an der zu einseitigen normativen Perspek- tive des Konzepts von Zivilgesellschaft. Diese Aufzählung könnte man noch weiter fort- setzen. — Vgl. dazu auch weitere Studien des Autors: Müller, Karel B.: Česká občanská společnost. Předpoklady a problémy [Die tschechische Zivilgesellschaft]. In: Hrubec, Marek (Hg.): Demokracie, veřejnost a občanská společnost [Demokratie, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft]. Praha 2004, 233–251; Müller, Karel B.: Koncept občanské společ- nosti, lobbování a veřejný zájem. Příčiny, podoby a důsledky demokratického deficitu v České republice [Das Konzept der Zivilgesellschaft, der Lobbyismus und das Gemein- wohl. Ursachen, Formen und Folgen demokratischer Defizite in der Tschechischen Re- publik]. In: Sociální studia 1(2005), 111–128 (= Marada, Radim (Hg.): Dilemata občan- ské společnosti [Dilemmata der Zivilgesellschaft]. Brno 2005); Müller, Karel B.: Formo- vání pozitivních identit mezi minulostí a budoucností. Příspěvek k projektu evropské identity [Die Herausbildung positive Identitäten zwischen Vergangenenheit und Zu-

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Karel B. Müller

ZIVILGESELLSCHAFT UND STAAT IM AKTUELLEN DISKURS

Empirische, normative und komplementäre Perspektiven Versucht man eine Übersichtsdarstellung der Forschung, die sich mit dem Thema Zivilgesellschaft befasst, vorzulegen, stößt gleich auf mehrere Pro-bleme. Das erste Problem ist die schlichte Tatsache, dass der bloße Abdruck einer relevanten Bibliographie zu diesem Thema mühelos den Umfang der vorgelegten Studie übertreffen würde. Ein zweites Problem besteht darin, dass es sich um ein ausgesprochen interdisziplinäres Thema handelt und da die verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Ansätze und Ausgangspunkte ha-ben, stehen wir einem Gewirr von mehr oder weniger miteinander verbunde-nen Argumenten und Diskursen gegenüber.1 Der Begriff Zivilgesellschaft

1 Es ist vor allem die historisch-philosophische Diskussion, die sich mit der Herkunft und

Entwicklung des Konzepts von Zivilgesellschaft befasst, ferner der ethisch-philosophi-sche Diskurs über die moralische Verankerung der sozialen Ordnung (der Streit zwi-schen Kommunitarismus und Liberalismus) und zusätzlich der historisch-soziologische Diskurs zur Entstehung der öffentlichen Sphäre. Diese drei Diskurse werden oft allge-meineren Theorien der Modernität zugeordnet. In einem allgemeinen Rahmen ließe sich außerdem der politologische Diskurs zu Theorien über Interessenvermittlung, poli-tische Kultur sowie politische und demokratische Transformation nennen. Dazu kommt der sozialwissenschaftliche Diskurs, der sich mit der Krise des Wohlfahrtsstaates beschäftigt, mit den sozialen Bewegungen, den Diskussionen über Nationalismus, der Internationalisierung der Zivilgesellschaft, dem Einfluss neuer Technologien im Bereich der Kommunikation, der Globalisierung und dem transnationalen System von Regie-rungen und Ordnungen (global governance), dem Multikulturalismus oder methodolo-gischen Auseinandersetzungen wie der Kritik an der zu einseitigen normativen Perspek-tive des Konzepts von Zivilgesellschaft. Diese Aufzählung könnte man noch weiter fort-setzen. — Vgl. dazu auch weitere Studien des Autors: Müller, Karel B.: Česká občanská společnost. Předpoklady a problémy [Die tschechische Zivilgesellschaft]. In: Hrubec, Marek (Hg.): Demokracie, veřejnost a občanská společnost [Demokratie, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft]. Praha 2004, 233–251; Müller, Karel B.: Koncept občanské společ-nosti, lobbování a veřejný zájem. Příčiny, podoby a důsledky demokratického deficitu v České republice [Das Konzept der Zivilgesellschaft, der Lobbyismus und das Gemein-wohl. Ursachen, Formen und Folgen demokratischer Defizite in der Tschechischen Re-publik]. In: Sociální studia 1(2005), 111–128 (= Marada, Radim (Hg.): Dilemata občan-ské společnosti [Dilemmata der Zivilgesellschaft]. Brno 2005); Müller, Karel B.: Formo-vání pozitivních identit mezi minulostí a budoucností. Příspěvek k projektu evropské identity [Die Herausbildung positive Identitäten zwischen Vergangenenheit und Zu-

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erlebt seit den 1990er Jahren eine bisher nicht da gewesene Konjunktur und das nicht allein im akademischen Bereich, sondern auch in der Politik und in der breiten Öffentlichkeit. Daher überrascht es auch nicht, dass sowohl die Komplexität als auch sein zu häufiger Gebrauch in einem allzu vagen Sinne zu einer gewissen Entwertung des Begriffes führen. Das dritte und gewiss nicht letzte Problem ist die kulturelle und sprachliche Bedingtheit einer jeden solchen Diskussion. Daher lässt sich in der folgenden Analyse ein gewisser Reduktionismus nicht vermeiden.2

Der Begriff Zivilgesellschaft hat einen empirischen wie auch einen norma-tiven Aspekt.3 Es handelt sich um einen Begriff zur Beschreibung einer

kunft. Ein Beitrag zum Projekt der Europäischen Identität]. In: Sociologický časopis 43/4 (2007), 785-807; Ders.: Evropa a občanská společnost. Projekt evropské identity [Europa und die Zivilgesellschaft. Das Projekt der europäischen Identität]. Praha 2008; Ders.: Politická sociologie. Politika a identita v proměnách modernity [Politische Soziologie. Politik und Identität im Wandel der Moderne]. Praha 2008, 2. erw. Aufl. Plzeň 2012; Ders./Skovajsa, Marek: From Reflections on Post-Communism to Perspec-tives on Europeanization: Democracy and Civil Society in Central Europe. In: Interna-tional Political Science Review 30/5 (2009), 501-517; Müller, Karel B./Laboutková, Šár-ka/Vymětal, Petr (Hg.): Lobbing v moderních demokraciích [Lobbyismus in modernen Demokratien]. Praha 2010; Müller, Karel B. Veřejná sféra, identita a dilema politizace. Čtyři syntetické teze k evropeizaci občanské společnosti [Die öffentliche Sphäre, Iden-tität und das Dilemma der Politisierung. Vier zusammenfassende Thesen zur Europäi-sierung der Zivilgesellschaft]. In: Politologická revue 18/2 (2012), 120–136.

2 Es ist nötig, darauf hinzuweisen, dass es nicht Ziel dieser Studie ist, eine Genealogie des Begriffs Zivilgesellschaft zu erläutern oder die historische Entwicklung der Zivilgesell-schaft im Westen darzustellen, auch wenn eine solche Perspektive zum Verständnis der aktuellen Diskussion über Zivilgesellschaft nützlich wäre. — Cohen, Jean L./Arato, An-drew: Civil Society and Political Theory. Cambridge, Mass. 1992; Bell, Daniel: „Ameri-can Exceptionalism“ Revisited: The Role of Civil Society. In: Eberly, Don (Hg.): The Es-sential Civil Society Reader. Classic Essays in the American Civil Society Debate. New York, Oxford 2000, 373–389; Hall, John (Hg.): Civil Society: Theory, History and Com-parison. Cambridge 1995; Keane, John (Hg.): Civil Society and the State: New European Perspectives. London, New York 1988; Ders. (Hg.): Democracy and Civil Society: On the Predicaments of European Socialism, the Prospects for Democracy and the Problem of Controlling Social and Political Power. London, New York 1988; Ders.: Civil Society: Old Images, New Visions. Cambridge u. a. 1998; Kumar, Krishnan: Civil Society: An Inquiry into the Usefulness of a Historical Term. In: British Journal of Sociology 44/3 (1993) 375–395; Pérez-Díaz, Víctor: The Return of Civil Society: The Emergence of Democratic Spain. Cambridge, Mass. 1993; Seligman, Adam: The Idea of Civil Society. New York 1992; Shils, Edward: The Virtue of Civil Society. In: Government and Opposition 26/1 (1991), 3–20; Taylor, Charles: Invoking Civil Society. In: Ders.: Philosophical Arguments. Cambridge, Mass. 1995, 204–224; Walzer, Michael: The Idea of Civil Society. In: Dissent 38/2 (1991), 293–304 (dt.: Was heißt zivile Gesellschaft. In: Ders.: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. Frankfurt am Main 1996, 64–97).

3 Alexander, Jeffrey C. (Hg.): Real Civil Societies. Dilemmas of Institutionalization. Lon-don 1998; Fullinwider, Robert (Hg.): Civil Society, Democracy and Civil Renewal. Lanham, New York 1999; darin insbesondere: Barber, Benjamin: Clansmen, Consumers and Citizens: Three Takes on Civil Society. In: Ebenda, 9–30.

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bestimmten sozialen und institutionellen Struktur, die es einer Gesellschaft, wenn auch unvollkommen, ermöglicht, gewisse Erwartungen zu erfüllen und bestimmten Werten zu entsprechen. Wenngleich mancher,4 nach Meinung des Autors zu Recht, einwendet, dass der Begriff der modernen Zivilgesell-schaft seit seinen Anfängen in der Zeit der Aufklärung ein Begriff mit klar normativem Akzent ist, wird zur Vereinfachung der Struktur des vorliegenden Aufsatzes diese Unterscheidung beibehalten. So wie diese Aufgliederung in der Praxis ohnehin künstlich ist, so ist sie in der gegenwärtigen Diskussion doch eindeutig vorhanden. Beide Perspektiven werden sich zwangsläufig in der vorliegenden Analyse verbinden.

Im ersten Teil der Studie wird versucht, die jüngere Diskussion aus empiri-scher Sicht zusammenzufassen. Der zweite Teil gilt der Problematik aus nor-mativer Perspektive. Der dritte, abschließende Teil bemüht sich um einen komplementären Zugang zum Konzept der Zivilgesellschaft und versucht das Dilemma zwischen empirisch-mikrosoziologischer und normativ-makrosozio-logischer Position zu überwinden. Es geht dabei um den Versuch, eine Theorie zu formulieren, der es gelingt, das Problem in seiner Komplexität verständlich zu machen und gewisse strukturelle Zusammenhänge zu erklären, ohne dabei das Handeln der konkreten sozialen Akteure in einem breiterem Beziehungsrahmen aus dem Blickfeld zu verlieren. In dieser Frage lässt sich der Autor von Anthony Giddens’ Ansatz zur Theorie der reflexiven Modernität inspirieren.5 Die empirische Perspektive Auch wenn im vorliegenden Aufsatz das Problem der Definition von Zivil-gesellschaft bewusst übergangen wird,6 so mit einer Ausnahme: Charles Tay-lor fasst die Skala der möglichen Definitionsansätze auf eine Weise zusam-men, die sowohl die präskriptive als auch die deskriptive Dimension berück-sichtigt und die als Ausgangspunkt zur Erfassung sowohl der empirischen als auch der normativen Perspektive genutzt werden kann: In a minimal sense, civil society exists where there are free associations that are not under tutelage of state power. […] In a stronger sense, civil society exists where society as a whole can structure itself and coordinate its actions through such free associations. […] As an

4 Tester, Keith: Civil Society. London 1992, 9. 5 Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity. Cambridge 1990. — Dazu auch:

Müller, Karel B.: The Civil Society-State Relationship in Contemporary Discourse: A Complementary Account from Giddens’ Perspective. In: The British Journal of Politics & International Relations, 8/2 (2006), 311–330.

6 Vgl. dazu Müller, Karel: Češi a občanská společnost. Pojem, problémy, východiska [Die Tschechen und die Bürgergesellschaft. Begriff, Probleme, Standpunkte]. Praha 2002, 2. Aufl. Praha 2003; ders.: Czech Civil society. Preconditions, problems and perspec-tives. In: Central Europeean Political Science Review 3 (2002), 160-184.

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alternative or supplement to the second sense, we can speak of civil society wherever the ensemble of associations can significantly determine or inflect the course of state policy.7

Der Begriff der Zivilgesellschaft ist im sehr allgemeinen Sinne als Problem der Beziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre begreifbar.8 Es geht da-bei vor allem um den Charakter der Beziehungen zwischen der Sphäre der politischen Entscheidungen, der Sphäre des Marktes und der Sphäre der politisch aktiven bürgerlichen Öffentlichkeit. Aus empirischer Sicht können zwei grundlegende Ansätze zum Konzept der Zivilgesellschaft unterschieden werden: der soziokulturelle und der reduktionistische (ökonomische).9 Die Gruppe der soziokulturellen Ansätze lässt sich weiter unterteilen in drei vor-herrschende Theorien: die generalistische, die maximalistische und die mini-malistische. Der reduktionistische Ansatz lässt sich in linke und rechte Theo-rien unterteilen.10

7 Taylor: Invoking Civil Society, 208. 8 Calhoun, Craig: Habermas and the Public Sphere. Cambridge, Mass. 1999; Cohen, Jean:

American Civil Society Talk. In: Fullinwider: Civil Society, 55–85, hier 66; Janoski, Tho-mas: Citizenship and Civil Society. A Framework of Rights and Obligations in Liberal, Traditional, and Social Democratic Regimes. Cambridge 1998, 16; Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied, Berlin 1962 (engl.: The Structural Transformation of the Public Sphere. Cambridge 1989, tschech.: Strukturální přeměna veřejnosti. Zkoumání jedné kategorie občanské společnosti. Praha 2000); Seligman, Adam: Trust and Civil Society. In: Tonkiss, Fran/Passey, Andrew (Hg.): Trust and Civil Society. London 2000, 12–30, hier 13.

9 Der reduktionistische Ansatz wird hier aufgrund seiner offensichtlichen Nachteile bei-seite gelassen. In der aktuellen Diskussion scheint diese Theorie nach Ansicht des Autors wenig attraktiv. Bei der gegenwärtigen Form des reduktionistischen Ansatzes lässt sich von mindestens zwei Varianten sprechen: Zu Arbeitszwecken kann man die eine als linksgerichtet, die zweite als kapitalistisch bezeichnen. Vgl. Walzer, Michael (Hg.): Towards a Global Civil Society. Oxford 1995, 12–14. — Der linksgerichtete An-satz entstammt den Traditionen marxistischer Vorstellungen über kooperative Ökono-mie und konfliktfreie Gesellschaft. Er geht von den Möglichkeiten einer unpolitischen Verwaltung aller Angelegenheiten aus, von der Möglichkeit einer Regulierung, ohne dass Konflikte entstehen, was durch die Beseitigung der Klassenkonflikte ermöglicht würde. In diese Kategorie kann man viele Vertreter des utopistischen und linksorien-tierten Denkens einordnen. Die kapitalistische Version der reduktionistischen Theorie beruht auf den Vorstellungen eines autonomen Marktes, der mit einem Minimum an Politik auskommt. Bei dieser Version geht es um die bekannte Forderung nach einer minimalen Rolle des Staates als ‚Nachtwächter‘ oder bloße Polizei. Anhänger dieser Theorie sind vor allem die Libertarianer.

10 Zur Frage des empirischen Standpunktes ist anzumerken, dass die Bevölkerungen im Westen mit einer großen Vielfalt historischer Erfahrungen, Denktraditionen und ver-schiedenster Formen und Probleme der einzelnen Zivilgesellschaften konfrontiert sind. Zu den Unterschieden zwischen den Traditionen siehe etwa Bell: „American Exception-alism“ Revisited; Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit; Kocka, Jürgen: The Difficult Rise of a Civil Society: Societal History of Modern Germany. In: Fulbrook, Mary (Hg.): German History since 1800. London 1997, 493–511; Pérez-Díaz: The Re-

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Die Generalisten, die den Auffassungen der schottischen Aufklärer um Adam Ferguson am nächsten stehen, zählen ebenfalls die Existenz von beschränkter und verantwortungsvoller öffentlicher Autorität zu den grundle-genden Charakteristika der Zivilgesellschaft. Zu den Vertretern dieser Theorie gehören z. B. Ernest Gellner oder Víctor Pérez-Díaz. Den Begriff der Zivil-gesellschaft betrachten sie in gewissem Sinne sogar als einen, zum Begriff der Demokratie konkurrierenden und zwar insofern, als dass sie meinen, ersterer drücke die besonderen Bedingungen der Existenz von Demokratie besser und realistischer aus.

Die Vertreter der zweiten Theorie, welche die Zivilgesellschaft im oben genannten Sinne, jedoch mit Ausnahme des engeren Regierungsbereichs, ver-stehen, könnte man als Maximalisten bezeichnen. Als Vertreter dieser Theorie lassen sich John Keane, William Sullivan, Edward Shils oder Charles Taylor nennen. Zu den wichtigsten Formen der Zivilgesellschaft zählen sie die politi-sche Öffentlichkeit, aber auch den Markt. Sie sind Anhänger jenes Konzepts, das Jeffrey Alexander „Regenschirmkonzept“ (umbrella-like concept) nennt.11 Es bezeichnet die Ebene der Institutionen außerhalb des staatlichen Rahmens, schließt die Marktwirtschaft und ihre Institutionen, die öffentliche Meinung, politische Parteien, öffentliche und private Verbände sowie die verschieden-sten Formen gesellschaftlicher Zusammenarbeit ein, die Bindungen schaffen und deren Beziehungen auf Vertrauen gründen.

Die Vertreter der dritten Auffassung, des soziokulturellen Ansatzes, lassen sich als Minimalisten bezeichnen. Als ihre wichtigsten Protagonisten kann man Jeffrey Alexander, Yesim Arat, Jean Cohen oder Jürgen Habermas anführen. In der minimalistischen Theorie ist die Zivilgesellschaft als Konzept einer Sphäre zu verstehen, die analytisch nicht allein von der des Staates und der Wirtschaft unterschieden werden muss, sondern auch von anderen öffent-lichen Räumen, die als Sphären den einzelnen Mitglieder für die gegenseitige

turn of Civil Society; Skocpol, Teda: How Americans Became Civic. In: Skocpol, Teda/Fiorina, Morris (Hg.): Civic Engagement in American Democracy. Washington, D.C. 1999. — Trotzdem spricht man im Zusammenhang mit den Prozessen der europä-ischen Integration und Globalisierung immer häufiger von der Existenz einer europä-ischen oder sogar globalen Zivilgesellschaft und kommt zu neuen Überlegungen und Analysen über das Verhältnis von Regierung, Markt und Öffentlichkeit im internatio-nalen Bereich. Vgl. dazu: Keane, John: Global Civil Society? Cambridge 2003. — Vgl. auch: Pérez-Díaz, Víctor: The Public Sphere, and European Civil Society. In: Alexander, Jeffrey C. (Hg.): Real Civil Societies. London 1998, 211–238; Walzer: Towards a Global Civil Society. — Ebenso kann man einwenden, dass sich die Beziehung zwischen Zivil-gesellschaft und Staat durch eine ständig verändernde Dynamik auszeichnet, so dass es, wie Giddens bemerkt, keine feste Grenze zwischen diesen beiden gibt. Giddens, Antho-ny: The Third Way: The Renewal of Social Democracy. Cambridge 1998, 79 f. (dt.: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie. Frankfurt am Main 1997; tschech.: Třetí cesta. Obnova sociální demokracie. Praha 2001); ders.: Post-traditional Civil Socie-ty and the Radical Centre. In: New Perspective Quarterly 15/2 (1998), 14–20.

11 Alexander: Real Civil Societies, 3.

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Solidarität keinen Rückhalt geben, verstanden werden. Die Zivilgesellschaft wird hier als eine Sphäre oder ein Subsystem definiert, welches analytisch, und bis zu einem gewissen Maße auch empirisch, von der Sphäre der Politik und der Ökonomie abgegrenzt ist. Auch wenn die Zivilgesellschaft selbst von den Quellen und Einflüssen aus den Sphären des politischen Lebens, der ökonomischen Institutionen und des breiteren kulturellen Kontextes abhängig ist, stellt sie die eigentliche Sphäre der gesellschaftlichen Solidarität dar, die partikuläre Verbundenheiten und Interessen transzendiert und das Finden einer kollektiven Identität zwischen sonst voneinander separierten Individuen ermöglicht. Es geht um die Sphäre der Solidarität, in der bis zu einem be-stimmten Maße eine gewisse Art von sich universalisierender Gemeinschaft schrittweise definiert und verstärkt wird. Die Zivilgesellschaft ist in dieser Theorie als Synonym der Unparteilichkeit zu verstehen, als Träger universaler und transzendenter Werte sowie den eskalierenden Auseinandersetzungen der Parteien übergeordnet. Diese Art von Zivilgesellschaft kann in der be-schriebenen Form nie existieren, sondern sich immer nur in „einem gewissen Grade“ ausbilden.12 Die Minimalisten bezeichnen als Zivilgesellschaft mehr oder weniger das, was die Maximalisten als öffentliche Sphäre verstehen.13 Auseinandersetzungen um die Definition des Begriffes Die grundlegende Auseinandersetzung verläuft vor allem zwischen Genera-listen auf der einen und Maximalisten auf der anderen Seite. Wie schon ge-schildert, benutzen die Minimalisten den Begriff Zivilgesellschaft dort, wo die Maximalisten von der öffentlichen Sphäre sprechen. Der Großteil der Mini-malisten lehnt es ab, die Existenz von systematischen Verbindungen zwischen den unterschiedlichen Komponenten der Sphäre anzuerkennen, welche die Maximalisten als Zivilgesellschaft bezeichnen. Der Markt bietet ihrer Mei-nung nach genauso wie der Staat nur geringen Rückhalt für die gesellschaft-liche Solidarität; weder vom Markt noch vom Staat werden Bedingungen für die Stärkung des bürgerlichen Ethos geschaffen. Die Minimalisten neigen da-zu, fundamentale Konflikte zwischen Marktwirtschaft, Staat und öffentlicher Sphäre (die sie mit Zivilgesellschaft gleichsetzen) zu sehen. Die Zivilgesell-schaft (öffentliche Sphäre) ist ihnen zufolge nicht nur von Staat und Markt getrennt, sondern stellt einen fundamentalen Gegensatz zu beiden dar. Die relative Asymmetrie der Ressourcen, die für die Wirtschaft charakteristisch, ja eine Sphäre von materiellen und selbstbezogenen Interessen ist, habe die Ten-denz, auch die zivilgesellschaftliche (respektive öffentliche) Sphäre negativ zu beeinflussen. Für Bürger ohne wirtschaftlichen Erfolg oder Reichtum ist es häufig schwierig, effektiv in der bürgerlichen bzw. zivilgesellschaftlichen

12 Ebenda, 97. 13 Pérez-Díaz: The Public Sphere, 213.

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Sphäre zu kommunizieren und den Respekt der Institutionen dieser Sphäre oder anderer Bürger zu erlangen.14 Die Minimalisten überschätzen laut Pérez-Díaz15 einerseits den repressiven Charakter der Marktwirtschaft und des bürokratischen Staates, andererseits aber auch das „liberative Potential“ der öffentlichen Sphäre. Die Zivilgesellschaft sehen sie daher als Verteidigungs-wall gegen den sich gegenseitig verstärkenden Druck, der sowohl von Seiten des Staates als auch des Marktes und anderer gesellschaftlicher Sphären ausgeht. Die öffentliche Sphäre (Zivilgesellschaft) sollte, folgt man ihnen, mit anderen Worten die Grundlagen für eine Transformation von Staat und Wirt-schaft beisteuern.

Hinter dieser Argumentation verbirgt sich die Überzeugung, dass die Qua-lität der Zivilgesellschaft die Qualität ihrer Organisationsformen nicht über-treffen kann. Die Minimalisten konzentrieren sich daher auf die Analyse die-ser Formen. Dabei zählen manche Autoren die Kirche nicht zum Bereich der Zivilgesellschaft, da sie durch ihren Charakter zum Sakralen gehört und in der profanen Sphäre nur geringfügig zur Schaffung eines bürgerlichen Ethos beiträgt.16 Als wichtigste Formen der Zivilgesellschaft nennen die Minima-listen vor allen Dingen die Freiwilligenorganisationen und die sozialen Bewe-gungen, die sich in erster Linie durch nicht marktwirtschaftlich orientiertes Verhalten und ein minimales Maß an Hierarchisierung auszeichnen. Freiwil-ligkeit erscheint hier als grundlegende Voraussetzung zur Führung eines öffentlichen Dialogs. Handelt ein Mensch freiwillig, scheint der Raum dafür, ihn zu etwas zu zwingen, minimal zu sein. Besonders die neuen sozialen Be-wegungen zeichnen sich durch ein größeres Maß an Spontaneität, Offenheit und Flexibilität aus. Ihre Aktivitäten haben zum großen Teil den Charakter symbolischer Forderungen gegenüber dem existierenden Machtgeflecht und den etablierten kulturellen Vorbildern und sind im traditionellen Sinne des Wortes nicht politisch. Ihre Arena ist der öffentliche Raum, unabhängig von den öffentlichen Institutionen, Parteisystemen oder staatlichen Strukturen. Die Art ihrer Aktivitäten und der Raum, in dem sie wirken, bedingen, dass sie den Charakter von hierarchiefreien Netzen, ohne stark institutionalisierte Struktur, aufweisen.17

Es stellt sich selbstverständlich die Frage, in welchem Maße diese Erwar-tungen berechtigt sind. Wie Goran Ahrne bemerkt, können sich nach dem be-rühmten ‚ehernen Gesetz der Oligarchie‘ von Robert Michels freiwillige eben-so wie andere Organisationen durch eine starke Tendenz zur Oligarchisierung auszeichnen.18 Außerdem kann ihre Freiwilligkeit auch insofern problema-

14 Alexander: Real Civil Societies, 9. 15 Pérez-Díaz: The Public Sphere, 213. 16 Alexander: Real Civil Societies, 97. 17 Ahrne, Goran: Civil Society and Uncivil Organizations. In: Alexander, Jeffrey C. (Hg.):

Real Civil Societies. London 1998, 84–95, hier 91. 18 Ebenda, 90.

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tisch sein, als in dieser Form die Frage der Ein- und Unterordnung eine be-sonders wichtige Rolle spielt. Alle Freiwilligenorganisationen sind exklusive Clubs, deren Mitgliedschaft durch die Akzeptanz bestimmter Werte und Ideen ermöglicht wird, welche respektiert werden müssen. Freiwilligenorganisatio-nen können unter diesem Gesichtspunkt äußerst intolerant sein und ihre Mitglieder werden, falls sie nicht die ‚richtige‘ Meinung haben, möglicherwei-se von den anderen Mitgliedern ausgeschlossen.

Was die neuen sozialen Bewegungen betrifft, so sind sie durch ihren Cha-rakter sowohl räumlich als auch zeitlich beschränkt. Eine Untersuchung der neuen sozialen Bewegungen zeigt, dass über einen längeren Zeitraum hinweg jede soziale Bewegung vor ein unlösbares Dilemma gestellt wird. In dem Moment, wo die Bewegung vor die strategische Entscheidung über die Ver-wendung der kollektiven finanziellen Mittel gestellt wird, ist sie gezwungen, ihre Offenheit aufzugeben und Bedingungen für die Aufnahme ihrer Mitglie-der zu formulieren. In der längerfristigen Perspektive unterscheiden sich so-ziale Bewegungen nicht im Geringsten von Freiwilligenorganisationen. Selbstverständlich wird durch die Tatsache, dass sich soziale Bewegungen nach einer bestimmten Zeit entweder auflösen oder transformieren und in-stitutionalisieren, ihre Bedeutung in keiner Weise verringert. Trotzdem muss man fragen, in welchem Maße man sie – bedenkt man die kurze Dauer ihrer Existenz – diese als grundlegenden Beweis und als Garantie für die Existenz der Zivilgesellschaft ansehen kann.19

Was den Markt betrifft, beharren Generalisten und Maximalisten wie-derum darauf, dass die auf Privatbesitz begründete Marktwirtschaft und die öffentliche Sphäre, die sich durch freiwillige Aktivitäten auszeichnet, theore-tisch komplementär und praktisch gut vereinbar seien. Sie verweisen auf viele Bindeglieder zwischen Markt und öffentlicher Sphäre, die sie als zwei Schlüs-selkomponenten ihrer Auffassung von Zivilgesellschaft ansehen.20 Die Aus-einandersetzung darüber ist keine rein terminologische, sondern eine inhalt-liche; es geht um die Frage, in welchem Maße bzw. ob überhaupt die Markt-wirtschaft zur Stärkung des bürgerlichen bzw. zivilgesellschaftlichen Ethos beiträgt. Die Gegner des Minimalismus verweisen in erster Linie auf die Tat-sache, dass die eigentliche Entwicklung der öffentlichen Sphäre untrennbar mit der Diskussion über wirtschaftliche Fragen und mit der Frage nach der Rolle der öffentlichen Autorität verbunden ist. Pérez-Díaz erinnert daran, dass das Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft historisch mit dem Beginn der

19 Ebenda. 20 Pérez-Díaz: The Public Sphere, 215; Taylor, Charles: Liberální politika a veřejnost

[Liberale Politik und Öffentlichkeit]. In: Michalski, Krzystof (Hg.): Liberální společnost. Sborník příspěvkú z konference v Castel Gandolfo 1992 [Die liberale Gesellschaft. Bei-trägeband der Castelgandolfo-Gespräche 1992]. Prague 1994, 17–53, hier 19; dt.: Libe-rale Politik und Öffentlichkeit. In: Michalski, Krzystof (Hg.): Die liberale Gesellschaft: Castelgandolfo-Gespräche 1992. Stuttgart 1993, 21–67. Der Beitrag bzw. Tagungsband ist auch auf Polnisch erschienen.

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Debatte über die Steuerpolitik und über die Beschränkungen und Bedingun-gen des Ausübens der öffentlichen Macht zusammenhängt.21 Dabei gingen, wie Habermas zeigt,22 wirtschaftliche Fragen, etwa die nach den Regeln in der Sphäre des Warenaustauschs und die zur gesellschaftlichen Arbeit, den politi-schen Fragen voran. Kurz gesagt ist der Markt – Maximalisten wie Genera-listen zufolge – eine in der europäischen historischen Tradition nicht wegzu-denkende Komponente der Zivilgesellschaft, genauso wie letztere ohne den Markt undenkbar ist. Der Markt ist für die Zivilgesellschaft ein unverzicht-bares Mittel der Zivilisierung, was in den aktuellen Bemühungen um eine Konzeptualisierung des Begriffes Zivilgesellschaft keinesfalls übersehen wer-den sollte.23

Die Entwicklung der öffentlichen Sphäre ist von der Kultivierung be-stimmter Voraussetzungen und Gebräuche abhängig, die durch eine aktive Teilnahme am Markt verstärkt werden können. Wenn Handel und Tausch, die bestimmte Wertvorstellungen voraussetzen, möglich sind, so bringen sie den Beteiligten positive Erfahrungen und werden zu einer Art bürgerlichen Trai-nings, welches zur Verstärkung des Selbstbewusstseins und der Verantwort-lichkeit der wirtschaftlichen Akteure beiträgt. Voraussetzung dafür – und für den immer wieder zu bestätigenden Ausgangspunkt – ist es aber auch die An-erkennung der Interessen der anderen wirtschaftlicher Akteure als berechtigt. Dieser Austausch lehrt die Beteiligten nicht nur Toleranz, sondern führt auch zu einer Verstärkung des Sinns für die Pluralität von Interessen und Anschau-ungen sowie zur Entwicklung der Fähigkeit der selbst gewählten und somit freiwilligen Selbstbeschränkung.

Ein Großteil der Minimalisten folgt nach Pérez-Díaz der Tendenz, den ra-tionalisierenden Charakter der öffentlichen Sphäre zu überschätzen. Sie sehen sie als Ort, an dem es nach bestimmten definierten und moralischen Regeln der Kommunikation zum Austausch rationaler Argumente kommt.24 Die To-leranz gegenüber anderen fördere gleichzeitig die Bereitschaft, sich indivi-dueller Gewalt entgegenzustellen und die öffentliche Autorität in ihre Gren-zen zu weisen. Diese Gewohnheiten und Voraussetzungen könnten nicht allein das Ergebnis persönlicher kommunikativer Selbsterfahrung bzw. rein rationaler Überzeugung sein, sondern sie seien das Ergebnis praktischer Er-fahrungen infolge häufigen Agierens auf dem Markt und in der liberalen Politik.

Das Verhältnis zwischen der Zivilgesellschaft im allgemeinen Sinne und der Marktwirtschaft als unverzichtbarem Bestandteil der Zivilgesellschaft ist,

21 Pérez-Díaz: The Public Sphere, 215. 22 Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit; ders: Strukturální přeměna veřejnosti, 87. 23 Calhoun, Craig: Nationalism and Civil Society. In: International Sociology 8/4 (1993),

387–412, hier 392. 24 Pérez-Díaz: The Public Sphere, 216.

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wie Gellner zeigt,25 noch enger, als es auf den ersten Blick scheint. Zivilgesell-schaften sind Gesellschaften, die auf dem Grundsatz der Gleichheit beruhen, also auch auf Unbeständigkeit und Wandel, was eine zur Erstarrung führende Hierarchisierung verhindert. Sie sind daher auch vom wirtschaftlichen Wachs-tum abhängig. Nur mit Hilfe technischer Innovationen und ökonomischen Gewinns können sie sich diesem Zustand nähern oder dieses Niveau beibe-halten. Solche Gesellschaften benötigen nicht allein sozialen und politischen Pluralismus, der ausgeprägt zentralistischen und autoritaristischen Tendenzen entgegenwirkt, sondern auch wirtschaftlichen Pluralismus aus Gründen der Effektivität der Produktion. Zivilgesellschaften sind wegen ihrer Legitimität abhängig vom wirtschaftlichen Wachstum, ohne das ein riskantes Nullsum-menspiel entsteht (zero-sum game), in dem der Gewinn des einen durch den Verlust des anderen aufgehoben wird. Die Wirtschaft agiert in diesem Kontext als eine unverzichtbare Kontrollinstitution des Staates und verhindert die Ausbildung ideologischer Monopolen. Das Vertrauen in das wirtschaftliche Wachstum verlangt ein kognitives Wachstum, das ein ideologisches Monopol jeder Art unmöglich macht.

Eine ernste Gefahr besteht nach Pérez-Díaz darin,26 dass die minimalisti-sche Auffassung von Zivilgesellschaft paradoxerweise zu einer Gesellschaft von verantwortungslosen Bürgern führt. Sobald wir menschliche Erwartun-gen und Bestrebungen mit Blick auf die Regeln, die die Marktwirtschaft und den Staat beschränken, reduzieren, könnten wir zu Befürwortern einer neuen Version der epikureischen Moral werden. Sobald wir für bürgerliche Bestre-bungen als einzig gangbaren Weg das „Anlegen eines Gartens“ zulassen und gleichzeitig die Verantwortung für das ökonomische und politische System ablehnen, gestatten und fördern wir die Möglichkeit eines niedrigen Niveaus des rationalen Diskurses in der Sphäre der Politik und gleichzeitig den Verlust der praktischen Moral in der Sphäre der Wirtschaft.27

25 Gellner, Ernest: Podmínky svobody. Občanska společnost a její rivalové. Brno 1997, 174

(deutsch: Bedingungen der Freiheit. Die Zivilgesellschaft und ihre Rivalen. Stuttgart 1995, engl. Original: Conditions of Liberty: Civil Society and Its Rivals. New York u.a. 1994; hier zitiert nach der tschech. Fassung).

26 Pérez-Díaz: The Public Sphere, 218. 27 Der Begriff Zivilgesellschaft wird wegen seines moralischen Akzents in den modernen

Sozialwissenschaften mitunter als Synonym für die Kennzeichnung einer moralisch fundierten ‚Gemeinschaft‘ gebraucht, der eine formal gegründete ‚Gesellschaft‘ und ein amoralischer Staat gegenüber stehen. Diese Gemeinschaft ist Sztompka zufolge Ver-mittlerin zwischen der Mikrosphäre Familie und der Makrosphäre Staat und hat eine unpolitische Identität. Sztompka, Piotr: Mistrusting Civility: Predicament of a Post-Communist Society. In: Alexander, Jeffrey C. (Hg.): Real Civil Societies. London 1998, 191–210, hier 1991. — Die Idee des modernen Staatsbürgers wird hier auf gefährliche Weise verengt und ihrer Betonung von Autonomie und Individualismus, die einen un-trennbaren Bestandteil der westlichen Auffassung vom Staatsbürger bilden, beraubt. Hall: Civil Society 10. — Wie Alexander bemerkt, sind die Zivilgesellschaften keine Ordnungen des Guten, sondern Ordnungen, die auf Übereinkünften von Anstand und

Zivilgesellschaft und Staat 11

Es soll jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass in der Auffassung der Maximalisten und Generalisten der Markt die wichtigste oder gar einzige Garantie der Zivilgesellschaft darstellt (hierin unterscheiden sie sich von den Reduktionisten). Sie weisen lediglich auf die Tatsache hin, dass der Blick auf den Staat und die wirtschaftlichen Organisationen als einzige Sphären mit der Neigung zusammenzuwachsen sowie der Tendenz, die Öffentlichkeit zu mani-pulieren und die Bürger, Angestellten und Konsumenten zu unkritischem Gehorsam zu ‚erziehen‘, eine gefährlich vereinfachende Ansicht darstellt. Mit kritischen Augen sollte man alle großen Organisationen betrachten, nicht allein den Staat, politische Parteien und wirtschaftliche Subjekte, sondern auch Gewerkschaften, Medien, Kirchen, Kultur-, Verbraucher-, ökologische, feministische und alle möglichen anderen Verbände. Keine dieser Institutio-nen sollte unkritisch wahrgenommen werden, denn alle bemühen sich um Macht und Einfluss. Es wäre daher falsch, einzelnen von ihnen aufgrund ihrer propagierten Beweggründe ohne jegliche Bedenken zu begegnen.28 Ebenso wäre es dieser Auffassung nach verkehrt, von vornherein bestimmte Organi-sationen zu behindern oder auszuschließen, falls ein liberatives und Partizi-pation förderndes Potential für die öffentliche Sphäre gegeben ist.

Es stellt sich selbstverständlich die Frage, bis zu welchem Maße diese Er-wartungen in der Zeit einer globalisierten Wirtschaft berechtigt sind. Häufig ist der Einwand zu hören, dass die globalen Märkte und transnationalen Konzerne die lokalen Zivilgesellschaften bedrohen. Vom minimalistischen Standpunkt aus ist die Befürchtung zweifellos berechtigt, dass es den Institu-tionen der örtlichen Zivilgesellschaft (öffentlichen Sphäre) nicht gelingen wird, eine Schutzmauer gegen die Ungerechtigkeiten und Gefahren der glo-balisierten Wirtschaft zu errichten. Daher sei es nötig, die öffentliche (zivilge-sellschaftliche) Sphäre ebenso zu globalisieren; Anzeichen für einen solchen Prozess gibt es nicht wenige. Organisationen wie Greenpeace, Global Watch oder Transparency International scheinen tatsächlich zum Keim einer globali-sierten Gesellschaft zu werden.29

Auch vom maximalistischen Standpunkt aus scheint ein Netz von globali-sierten Zivilgesellschaften (einer globalisierten öffentlichen Sphäre) notwen-dig zu sein. Der globale Markt kann nur dann Bestandteil der Zivilgesellschaft sein, wenn diese auch in anderen Aspekten global ist. Mit anderen Worten: Nur eine globale öffentliche Sphäre kann für die globale Ökonomie sicherstel-

Höflichkeit beruhen. Alexander: Real Civil Societies, 2. — Auch ein solcher Zustand (Gemeinschaft) kann, wie Gellner unterstreicht, pluralistische Verhältnisse bieten und widerstandsfähig gegen despotische Zentralisierung sein. Dies verleiht seinen Mit-gliedern nicht das Maß an Freiheit, das man von Zivilgesellschaften erwartet, und zeichnet sich durch einen erstickenden Kommunalismus aus. Gellner: Podmínky svo-body, 13.

28 Pérez,Díaz: The Public Sphere, 218. 29 Salamon, Lester u. a.: Global Civil Society: Dimensions of the Nonprofit Sector.

Baltimore 1999; Keane: Global Civil Society?

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len, dass diese Teil einer globalen Zivilgesellschaft wird. Die Möglichkeit, sich den Folgen ihres Handelns zu entziehen, ist nach Zygmunt Bauman eine der profitabelsten Errungenschaften der mobilen globalen Eliten.30 Die Freiheit von der Verantwortung und die Befreiung von der Pflicht, zur Entwicklung der lokalen Kommunitäten beizutragen, sind bezeichnend für das heutige globale Kapital. Es entsteht eine neue Asymmetrie zwischen einer exterritoria-len Form der Macht und einer fortschreitenden Territorialität der normalen menschlichen Erfahrung. Die lokalen ökonomischen Eliten sind auf dem Rückzug und die globalen sind wiederum nicht dort, wo sie benötigt wer-den.31

Was speziell den Streit zwischen Generalisten und Maximalisten betrifft, so verstehen die Generalisten unter dem Begriff Zivilgesellschaft auch das Vorhandensein einer in ihrer Macht beschränkten, kontrollierbaren und verantwortungsvollen Regierung. Sie argumentieren hier ähnlich wie beim Beispiel des Marktes und verweisen auf die historische, theoretische und pragmatische Verbindung der Entwicklung von Zivilgesellschaft und öffentli-cher Autorität. Wie schon dargelegt, betrachten sie den Begriff der Zivilgesell-schaft als in Konkurrenz stehend zu dem der Demokratie. Gellner erinnert daran,32 dass es recht umstritten ist, ob die Demokratie als naiv formuliertes Ideal, das oft mit der institutionellen und kulturellen Situation wenig zu tun hat und dennoch als wertvoll für die Menschheit angesehen wird, überhaupt in der menschlichen Natur verankert ist. Die normative Perspektive Mit Blick auf die normative Sichtweise kann man konstatieren, dass diesbe-züglich zwischen den Sozialwissenschaftlern ein größeres Maß an Überein-stimmung existiert. Allgemein lässt sich sagen, dass die Zivilgesellschaft heute vom Großteil der Sozialwissenschaftler nicht als ‚allmächtiges Heilmittel‘ an-gesehen wird, sondern als pure Notwendigkeit, ohne die Demokratie kaum funktionieren kann. Es ist offensichtlich, dass im Rahmen der Zivilgesell-schaft von Zeit zu Zeit ernste und schwer lösbare Konflikte entstehen, die das Eingreifen des Staates erfordern. Obgleich das Hervorheben des Konzepts der Zivilgesellschaft mitunter in einen Zusammenhang mit der Schwächung des Prinzips der repräsentativen Demokratie gestellt wird, steht vollkommen außer Zweifel, dass Zivilgesellschaft und demokratischer Staat gegenseitig voneinander abhängig sind. Auch wenn diese Beziehung von einem bestimm-ten Standpunkt aus als entgegengesetzt proportionale Beziehung charakteri-

30 Bauman, Zygmunt: Globalizace. Důsledky pro člověka [Die Globalisierung. Auswirkun-

gen auf für den Menschen]. Praha 1999, 18. 31 Putnam, Robert: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community.

New York 2000, 282. 32 Gellner: Podmínky svobody, 159–161.

Zivilgesellschaft und Staat 13

siert wird (je mehr Zivilgesellschaft, desto weniger Staat und umgekehrt), ist es nicht gerechtfertigt, Staat und Zivilgesellschaft als gegenseitige Rivalen oder in einem Wettkampf stehend darzustellen. Es handelt sich um eine part-nerschaftliche Beziehung.33 Zwar besteht die Möglichkeit, dass das Bedürfnis nach einem Eingreifen staatlicher Institutionen umso geringer wird, je größer das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten ist, das sich die Zivilgesellschaft erarbeitet. Dennoch brauchen wir den demokratischen Staat zum Schutz vor dem Missbrauch der Freiheit ebenso notwendig wie eine autonome und offene Zivilgesellschaft zum Schutz vor einem Missbrauch der staatlichen Macht.

Zum Verständnis des normativen Standpunkts ist es sicher sinnvoll, an den Kontext und die Ursachen des wieder erstarkten Interesses an der Zivilge-sellschaft zu erinnern. Es handelt sich hierbei um vier Ursachen, die unterein-ander verbundene Phänomene darstellen. Die erste dieser Ursachen war der Kampf gegen die kommunistischen totalitären Regime in Mittel- und Osteu-ropa. Die Zivilgesellschaft wurde in den Konzepten mitteleuropäischer Dissi-denten wie Václav Havel,34 Adam Michnik35 oder György Konrád36 vor allem als Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte sowie als Grundlage für den Kampf gegen die staatliche Macht verstanden.

Die zweite Ursache war der folgende Zusammenbruch jener Regime. Die damit zusammenhängende Diskussion war nun nicht mehr durch die Angst vor der Ausbreitung der totalitären Macht begründet, sondern vor allem durch die Reflexion über die Defizite der postkommunistischen Gesellschaf-ten, die sich damit schwer taten, in kurzer Zeit Demokratien aufzubauen, ver-gleichbar mit den etablierten Demokratien des Westens.37 Der Begriff der Zi-vilgesellschaft wurde nun als ein Versuch eines möglichst komplexen Nach-denkens über die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie verstanden, als Bedingung für das Über-leben und die Weiterentwicklung der Demokratie. Dies betraf im gleichen Maße auch den Westen.38

Die dritte Ursache ist die Krise des Wohlfahrtsstaates. Hierauf wurde schon in den 1980er Jahren verwiesen;39 diese Problematik nahm jedoch nach

33 Dahrendorf, Ralf: Reflections on the Revolution in Europe: In a Letter Intended to Have

Been Sent to a Gentlemen in Warsaw. London 1990, 96; Hall: Civil Society, 16; Shils: The Virtue of Civil Society, 9; Neocleous, Mark: Administrating Civil Society. Towards a Theory of State Power. New York City 1996, VIII.

34 Havel, Václav: The Power of the Powerless. Herausgegeben von John Keane. Armonk, New York 1985.

35 Michnik, Adam: Letters from Prison and Other Essays. Berkley 1987. 36 Konrád, György: Antipolitics: An Essay. London 1984. 37 Dahrendorf: Reflections on the Revolution in Europe; Sztompka: Mistrusting Civility. 38 Keane: Civil Society. 39 Offe, Claus: Contradiction of Welfare State. London 1984; Keane: Democracy and Civil

Society.

14 Karel B. Müller

dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Ostmitteleuropa weiter an Brisanz zu.40 Man warnte davor, dass der Zuwachs an staatlichen Kompetenzen sich auf die Fähigkeit der Zivilgesellschaft, sich um verschie-dene Angelegenheiten zu kümmern und vielfältige Probleme und Konflikte zu lösen, negativ auswirken würde. Im Zusammenhang mit dem Aufschwung des Sozialstaates nach dem Zweiten Weltkrieg sei es zu einer Kolonialisierung der Zivilgesellschaft gekommen. Die gegenwärtige Krise des Sozialstaates, der nicht fähig ist, im Zeitalter der Globalisierung ernste politische und andere Probleme zu lösen, äußert sich nach Meinung vieler in der Schwächung der Legitimität von politischen Institutionen einschließlich der politischen Par-teien.41

Die vierte und letzte Ursache ist die Reaktion auf die neuen Formen sozia-ler Mobilität und Vielfältigkeit und auf die Schnelligkeit und den Umfang von technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die die Globalisierung mit sich bringt.42 Soziale und politische Integration und Parti-zipation, die bisher als etwas Selbstverständliches und Natürliches angesehen wurden, gelangten nun in den Mittelpunkt des Interesses der Sozialwissen-schaftler. Es wird vielfach hervorgehoben, dass es nicht nur immer schwieri-ger wird, ernste soziale Probleme durch vernünftige kollektive Verhandlungen zu lösen,43 sondern dass unter den Bedingungen der Spät- oder Post-Moder-ne, in der die räumliche Dichte der menschlichen Bevölkerung deutlich ihr moralisches Potential übersteigt und die Fähigkeit, menschliches Vertrauen aufzubauen, überfordert.44 So könne die Existenz der Zivilgesellschaft nicht mehr als Selbstverständlichkeit angesehen werden.45

Durch den Verweis auf Taylors zitierte Definition von Zivilgesellschaft und auf Grundlage der bisher aufgeführten Argumente können vier grundlegende funktionale Dimensionen (Werte) in der Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Staat formuliert werden. Auf diese, wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung, nehmen alle Autoren Bezug, die sich mit der Problematik der Zi-vilgesellschaft befassen: Es geht um die Dimensionen Schutz, Legitimation, Partizipation und Integration, die im Folgenden genauer betrachtet werden sollen.

Der wichtigste Wert der Zivilgesellschaft besteht im Status des Außerpoli-tischen, ihrer Unabhängigkeit von der staatlichen Macht und in ihrem Poten-tial, sich diese Fähigkeit zu bewahren. Zivilgesellschaft sollte vor allen Dingen als Schutz gegen ein immer stärkeres Anwachsen der staatlichen Macht

40 Cohen: American Civil Society Talk; Powell, Fred: State, Welfare, Civil Society. In: Ton-

kiss/Passey (Hg.): Trust and Civil Society, 90–110; Putnam: Bowling Alone. 41 Pérez-Díaz: The Public Sphere, 235. 42 Cohen: American Civil Society Talk, 55. 43 Bauman: Globalizace, 85. 44 Ebenda. 45 Tester: Civil Society, 8.

Zivilgesellschaft und Staat 15

dienen.46 Es gehört zu den historischen Erfahrungen in Europa, dass jede Macht die Tendenz zur Zentralisierung, häufig im Namen der Effektivität und der Handlungsfähigkeit, hat, wodurch das Risiko des Machtmissbrauchs wächst.

Die legitimierende Funktion (oder funktionale Dimension) beruht darauf, dass die Zivilgesellschaft mit ihrer Unabhängigkeit und Autonomie die gesell-schaftlichen Quellen der politischen Macht herstellt, dass sie also den Staat und seine Regierung legitimiert.47 Die Macht des Staates bzw. der Regierung ist nur dann legitim, wenn sie das Vertrauen der Bürger genießt. Davon abge-sehen wies bereits John Locke darauf hin, dass Regierung oder Gesetz, um hinreichend wirksam zu sein, auf Vertrauen beruhen müssen, und dass es nötig ist, dieses Vertrauen zu schützen.48 Allerdings ist es für eine Regierung schwierig, dieses Vertrauen aufzubauen. Falls die Regierung, auf die auf Grundlage des Prinzips der Volkssouveränität die Macht des Volkes übertra-gen wurde, dieses Vertrauen verliert, haben die Bürger jederzeit das Recht, sie auszutauschen. Der außerpolitische Status der Zivilgesellschaft garantiert un-ter anderem dadurch eine ‚vernünftige‘ Umsetzung der politischen Macht, dass sich eine Zivilgesellschaft unabhängig von der politischen Macht besteht und dass sie die öffentliche Meinung bildet, die wiederum für jede politische Macht verbindlich, d. h. normativ ist. In keiner Demokratie lässt sich mittel-fristig im Widerspruch zur öffentlichen Meinung regieren. Um eine solche öffentliche Meinung zu formulieren, muss die Zivilgesellschaft eine relativ umfangreichere und differenzierte Struktur aufweisen, welche die Beachtung, Benennung und Bestätigung der gesellschaftlichen Interessen und Prioritäten zum Ausdruck bringt. Diese bedingen und legitimieren den demokratischen Staat und die Politik der Regierung. Gleichzeitig ergibt sich eine gewisse Aus-wahl von Interessen und Werten. Gruppen oder Einzelne können auf die Durchsetzung einiger ihrer Interessen verzichten oder sich zurückziehen, wenn sie feststellen, dass sie keine Unterstützung erhalten oder sogar Ableh-nung erfahren.

Eine weitere Dimension ist die Funktion der Partizipation.49 Die Zivilge-sellschaft sollte durch das Engagement der Bürger eine effektivere Umsetzung öffentlicher Angelegenheiten ermöglichen, als dies die politischen Parteien tun. Wenn jemand den Bau einer Tankstelle verhindern oder die Errichtung eines Kinderspielplatzes durchsetzen will, bedeutet das nicht, dass er dafür – sei es nur auf kommunaler Ebene – in die Politik einsteigen, also auf Mit-

46 Cohen/Arato: Civil Society and Political Theory, 63; Hall: Civil Society, 15; Janoski: Citi-

zenship and Civil Society, 16; Shils: The Virtue of Civil Society, 10. 47 Dahrendorf: Reflections on the Revolution in Europe; Taylor: Invoking Civil Society,

208; Tester: Civil Society, 5. 48 Locke, John: Two Treatises of Government. Cambridge 1963. 49 Cohen: American Civil Society Talk, 55; Fullinwider: Civil Society, 2; Shils: The Virtue

of Civil Society, 13; Taylor: Invoking Civil Society, 208.

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gliederversammlungen gehen und Mitgliedsbeiträge bezahlen, oder die nächsten Wahlen abwarten muss. Eine breite Bürgerbeteiligung kann auch eine deutliche Mobilisierung der Ressourcen darstellen, die durch die Nut-zung oder die der Verbreitung von Informationen und Kenntnissen erreicht wird und so eine höhere Qualität der demokratischen politischen Entschei-dungen sicherstellt. Eher als die politische Zentralisierung ist es eine viel-schichtige Dezentralisierung, die den Bürgern einen theoretisch problemlosen Kontakt mit der Verwaltung ermöglicht, eventuell auch den Zugang zum Pro-zess politischer Entscheidungen. Diese Dezentralisierung führt zu einer wirt-schaftlicheren und effektiveren Nutzung materieller Ressourcen. Allgemein können Interessengruppen aufgrund ihrer Form und ihres Charakters – zu dem auch die Konzentration auf bestimmte Probleme gehört – häufig früher als politische Parteien ernsthafte Risiken oder Gefahren erkennen oder auf sie hinweisen und so praktische und interessante Lösungen vorschlagen. Es ist dann an der Öffentlichkeit und den Politikern, wie das Verhalten dieser Grup-pen beurteilt und wie darauf reagiert wird.

Schließlich ist die letzte und nicht weniger wichtige, mit dem Begriff der Zivilgesellschaft verbundene Erfahrung der Sachverhalt, dass es hier zur Bil-dung von Beziehungen kommt, die von Zugehörigkeit und Loyalität bestimmt sind, also zu einer integrativen Funktion.50 Die wiederholte Teilnahme am Geschehen der Zivilgesellschaft vermittelt uns die Erfahrung, dass wir uns, damit unsere Stimme gehört und unsere Interessen beachtet werden, mit jemand anderem verbünden müssen. Wenn wir in einer starken egalitären de-mokratischen Gesellschaft Einfluss ausüben und effektiv wirken wollen, müssen wir mit anderen zusammenarbeiten. Es entsteht das Gefühl der Zuge-hörigkeit zu einer konkreten Interessengemeinschaft. Im weitesten Sinne entsteht das Gefühl der Zusammengehörigkeit der gesamten Gesellschaft und der Zugehörigkeit zum politischen System. Die Zivilgesellschaft begründet damit neben anderen Dingen Raum für die Reproduktion gemeinsamer Symbole, Werte und Normen. Es geht dabei jedoch nicht darum, allen die Durchsetzung ihrer Interessen zu ermöglichen. Es geht vielmehr um das, was Taylor schlicht als das „Gefühl der Menschen, dass man ihnen zuhört“, be-zeichnet,51 und dass man sie im selben Maße beachtet. Man muss dabei auch den Charakter des politischen Prozesses berücksichtigen, nicht allein seine Ergebnisse. Wichtig ist für den Einzelnen das Gefühl, dass seine Forderungen gehört wurden und dass es, auch wenn sie nicht sofort umgesetzt wurden, möglich ist, sich darum zu bemühen, dass sie irgendwann in der Zukunft um-

50 Cohen: American Civil Society Talk, 55; Dahrendorf, Ralf: After 1989. Morals, Revolu-

tion and Civil Society. London, Oxford 1997, 58; Shils: The Virtue of Civil Society, 10; Sullivan, William: Making Civil Society Work: Democracy as a Problem of Civic Coop-eration. In: Fullinwider: Civil Society, 31–54, hier 37.

51 Taylor: Liberální politika, 38.

Zivilgesellschaft und Staat 17

gesetzt werden. Man hat ihn angehört und irgendwann hat er die Möglichkeit, seinen Standpunkt in einer Debatte näher zu erläutern.

Die komplementäre Perspektive Die aktuelle liberale Auffassung des Konzepts von Zivilgesellschaft hat ihre Wurzeln in der europäischen Aufklärung, und diese philosophische Tradition lässt sich mindestens bis zu Locke zurückverfolgen. Tatsächlich kann aller-dings Alexis de Tocqueville als erster moderner Theoretiker der Zivilgesell-schaft angesehen werden.52 Bei sorgfältiger Lektüre von Tocquevilles „Die De-mokratie in Amerika“ lässt sich feststellen, dass dieser mit einer außerge-wöhnlichen soziologischen Scharfsicht begabte Autor bei seiner Beobachtung der Entstehung der amerikanischen Demokratie in vollem Maße auf die oben genannten Aspekte und die daraus folgenden Risiken jener neuen sozialen Ordnung aufmerksam gemacht hat.

Inspiriert von Giddens’ Ansatz zur Analyse der modernen Gesellschaft53 schlägt der Autor des vorliegenden Aufsatzes vor, die funktionale Dimension in der Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Staat auf folgende Weise zu definieren (siehe Schema 1):

Schema 1: Die funktionale Dimension in der Beziehung von Zivilgesellschaft und Staat

(Begriffe im Uhrzeigersinn von oben: schützend, legitimierend, partizipatorisch, integrativ)

52 Cohen/Arato: Civil Society and Political Theory, 116. Dazu auch Müller, Karel B.: Kon-

cept občanské společnosti. Pokus o komplementární přístup. Tocquevillovské dědictví a giddensovská perspektiva [Das Konzept der Zivilgesellschaft. Der Versuch eines kom-plementären Zugangs. Das Erbe von Tocqueville und die Perspektive von Giddens]. In: Sociologický časopis 39 (2003), 607–624.

53 Giddens: Consequences of Modernity.

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Der äußere Kreis stellt die gesamte Zivilgesellschaft dar. Der kleinere mittlere Kreis grenzt den Staat und die Sphäre der politischen Macht ein, d. h. die Sphäre, die die Informationskontrolle und die soziale Überwachung betrifft. Die erwähnten Erwartungen oder Funktionen, die mit dem Konzept der Zi-vilgesellschaft verbunden sind, können auf folgende Weise in das Schema eingeordnet werden: Auf der Vertikalen einander gegenüber liegen die Funk-tionen von Schutz und Teilhabe. Am oberen Ende der Vertikalen sind die Schutz- oder Verteidigungsfunktionen zu finden, die auch Abbild der soge-nannten negativen Auffassung von Freiheit sind (Giddens spricht in diesem Zusammenhang von sogenannten „emancipatory politics“).54 Es geht dabei vor allem um die Sicherung rechtlicher Garantien, die Sicherung des Raumes bürgerlicher Autonomie und die Befreiung von Ungleichheit. Am unteren Ende finden sich dagegen die Funktionen der Partizipation, die der sogenann-ten positiven Auffassung von Freiheit (dies korrespondiert mit den von Gid-dens so bezeichneten „life politics“) entsprechen. Es handelt sich hier um die Gesamtqualität des sozialen Raums, der sich durch die Möglichkeiten politi-scher Selbstverwirklichung und ein erfülltes und zufriedenes Leben in der Gesellschaft ausdrückt. Beide Werte der vertikalen Achse sind Bestandteil der sich ständig ändernden Dynamik, die die Beziehung zwischen Zivilgesell-schaft und Staat bestimmt.55

Rechts geht es um die Funktion der Legitimation von Zivilgesellschaft; die rechte Hälfte der horizontalen Achse verweist auf die gegenseitige Abhängig-keit und Verbundenheit von Zivilgesellschaft und Staat. Die Zivilgesellschaft bildet die gesellschaftlichen Ressourcen der politischen Macht und begründet die Glaubwürdigkeit des demokratischen Staates, der wiederum für den Schutz der Zivilgesellschaft und die Pflege der von Vertrauen bestimmten Be-ziehungen zu den demokratischen politischen Institutionen einsteht. Am lin-ken Ende der Horizontale finden sich die Werte der gesellschaftlichen Inte-gration, durch die belegt wird, dass die Zivilgesellschaft imstande ist, sich selbst zu reproduzieren und als Gesellschaft integrierend zu wirken. Die linke Achse verdeutlicht aber auch, dass diese Zivilgesellschaft in den Rahmen eines politischen Systems integriert ist. Der Prozess demokratischer politi-scher Entscheidung kann laut Taylor nicht in einer Gesellschaft ablaufen, de-ren Mitglieder sich selbst nicht als Mitglieder dieser Gesellschaft verstehen.56 Im Hintergrund jenes Schemas sind die Schlüsselwerte der liberalen Demo-kratie an sich zu sehen: Der Wert menschlicher Freiheit und Sicherheit (vgl. Schema 2).

Die Vertikale stellt hier die Werte menschlicher Individualität dar: Freiheit und Partikularinteressen. Diese Fragen sind in den sozialen Gesellschaften eher Gegenstand von Untersuchungen, die sich auf das Handeln der Akteure

54 Ebenda. 55 Tocqueville, Alexis de: Democracy in America. New York 1968. 56 Taylor: Liberální politika, 37.

Zivilgesellschaft und Staat 19

richten. Die horizontale Achse bezieht sich auf die Werte des gesellschaftli-chen Zusammenhalts und gemeinsame Werte wie Geborgenheit, Sicherheit und eine gemeinsame Orientierung. Diese Untersuchungsebene ist in den Sozialwissenschaften meist Inhalt makrothematischer Analysen, die die Ge-sellschaft als Ganzes und ihr strukturelles Wesen und die Zusammenhänge im Blickfeld haben. Hier spricht man in den Sozialwissenschaften normalerweise vom sogenannten strukturell-funktionalen Ansatz. Man könnte sagen, dass die Vertikale eher liberale, die Horizontale dagegen eher republikanische Werte und Überzeugungen darstellt.

Schema 2: Die Werte der modernen Demokratie

(Begriffe im Uhrzeigersinn von oben: der Einzelne / Aktivität, Freiheit, Interessen; Gesell-schaft / Struktur, Sicherheit, Normen)

Im Bemühen, dem ersten Schema etwas von seinem utopischen Gehalt zu nehmen und etwas Skeptizismus und Realismus hinzuzufügen, könnte man es in die Form des folgenden Schemas umformulieren (Schema 3), das die Ver-teilung realistischer Risiken und Ursachen des Versagens, mit dem der Pro-zess demokratischer politischer Entscheidung häufig endet, darstellt. Diese Faktoren bedrohen in den Beziehungen von Zivilgesellschaft und Staat deren Zusammenhalt und Dynamik. Dies führt zur Gefahr eines Legitimitätsver-lusts der politischen Institutionen, zum Nachlassen bürgerlicher Anteilnahme, zu einem unkontrollierten Anwachsen staatlicher Überwachung und schließ-lich zur drohenden gesellschaftlichen Atomisierung oder sogar Anomie. Zwi-schen diesen Risiken existieren zweifellos viele Zusammenhänge und daher bietet das vorliegende Schema gerade in dieser Hinsicht neue Erkenntnismög-lichkeiten, sowohl für die theoretische als auch für die empirische Analyse. Es folgt daher eine kurze Betrachtung der einzelnen Dimensionen.

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Die Gefahr einer übertriebenen Zentralisierung und Konzentration politi-scher Macht, die das Risiko ihres Missbrauchs mit sich bringt, ist eine der größten Bedrohungen des demokratischen Prozesses.57 Die Demokratien mit ihrer Liebe zur Gleichheit sind, wie schon Tocqueville überzeugend ausge-führt hat,58 für diese Gefahr besonders anfällig. Die Bildung demokratischer Mechanismen zum Schutz vor Ungleichheit und zur Abschaffung von Privile-gien – im Namen von Gleichbehandlung und gerechter materieller Absiche-rung – führt zu einer zunehmenden Konzentration der Macht in den Händen des zentralisierten Staates. Im Namen der demokratischen Gleichheit ent-wickelt sich der Staat zum Regulator, Berater, Lehrer und Richter, also zu einer Schutzmacht, die sich selbst immer weniger als Gewalt, sondern immer mehr als Garant des öffentlichen Interesses präsentiert. Die Macht der Zivil-gesellschaft, die dem Staat demokratisch anvertraut wurde, wendet sich so gegen ihre eigene Freiheit. Das Anwachsen staatlicher Macht im Namen von Effektivität und Handlungsfähigkeit ist eine Tendenz, die zwar auf den ersten Blick lobenswert, wenn nicht sogar unverzichtbar zu sein scheint, die aber letztendlich zu einer gesellschaftlichen Atomisierung, zu einem Verlust von Legitimität oder sogar zu einem Nachlassen des gesellschaftlichen Zusam-menhalts führen kann.

Schema 3: Die Risiken der modernen Demokratie

(Begriffe im Uhrzeigersinn von oben: Expansion der Staatsmacht, Bürokratisierung, Zen-tralisierung; Krise der Legitimität; Krise der politischen Freiheit, zivilgesellschaftliche Apa-thie; Atomisierung, Anomie)

57 Cohen: American Civil Society Talk, 77; Putnam: Bowling Alone, 78. 58 Tocqueville: Democracy in America.

Zivilgesellschaft und Staat 21

Die Legitimationsfunktion der Zivilgesellschaft entspricht der Gefahr des Ver-lustes von Legitimität auf Seiten des Staates und anderer politischer Institutio-nen.59 Sobald der demokratische Staat nicht in der Lage ist, die Interessen der Bürger oder die von Interessengruppen zu vertreten, verliert er ihr Vertrauen. Wenn der Staat und die politischen Institutionen nicht über das Vertrauen der Bürger verfügen, können sie nicht effektiv und auf demokratische Weise ver-walten und regieren; die Gesetze verlieren an Wirksamkeit und das ganze politische System gerät in Gefahr. Die politischen Parteien allein genügen hier nicht, um ein von Vertrauen geprägtes Verhältnis von Bürgern und Staat her-zustellen und aufrechtzuerhalten. Gerade bei diesem Vertrauensverhältnis von Staat und Bürgern bildet die Zivilgesellschaft eine Schlüsselstruktur, die dem demokratischen Staat Glaubwürdigkeit und Kraft verleiht. Im Zusam-menhang mit der demokratischen Transformation der postkommunistischen Staaten wird häufig auf das geringe Maß an Vertrauen hingewiesen, das deren Bürger in die politischen Institutionen haben. Dies wird als wichtigstes Hin-dernis der demokratischen Transformation in jenen Ländern genannt.60 Als Ergebnis des Legitimationsverlustes der politischen Parteien kann es zweifel-los zu einem Nachlassen der politischen Anteilnahme wie auch zum unkon-trollierten Anwachsen der staatlichen Macht, zum Niedergang des gesell-schaftlichen Zusammenhalts oder zu sozialen Spannungen und Spaltungen kommen.

Das dritte Risiko besteht in einem Rückgang politischer und bürgerlicher Partizipation und in der immer geringer werdenden Fähigkeit, öffentliche Entscheidungsprozesse zu beeinflussen.61 Selbstverständlich kann dies etwa durch die Entfremdung von den politischen Institutionen als Ergebnis ihres Legitimationsverlusts verursacht werden. Die nachlassende Partizipation schafft ungünstige Vorbedingungen, die vor allem eine Verstärkung oligar-chischer Tendenzen fördern. Umso weniger die Zivilgesellschaft imstande ist, anstehende Probleme durch die aktive Teilnahme ihrer Mitglieder zu lösen, desto häufiger muss der Staat einschreiten. Falls die Aussage von Giddens zu-trifft, dass die Selbstverwirklichung einen wesentlichen Faktor für die Bildung der eigenen Identität darstellt,62 bedeutet dies, dass hier eine unmittelbare Verbindung zwischen bürgerlicher Beteiligung und sowohl individueller als auch Gruppenidentität besteht: Die Abnahme von bürgerlicher Partizipation

59 Cohen: American Civil Society Talk, 78; Fullinwider: Civil Society, 2; Sullivan: Making

Civil Society Work, 33. 60 Müller, Karel: Czech Civil Society: Preconditions, Problems, Perspectives. In: Central

European Political Science Review 3/9 (2002), 160–184; Mishler, William/Rose, Richard: Trust, Distrust and Skepticism: Popular Evaluation of Civil and Political Institutions in Post-Communist Societies. In: Journal of Politics 59/2 (1997), 418–451; Sztompka: Mis-trusting Civility.

61 Cohen: American Civil Society Talk; Putnam: Bowling Alone; Sullivan: Making Civil Society Work.

62 Giddens: The Third Way, 139.

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führt möglicherweise zu einer ernsten Schwächung des gesellschaftlichen Zu-sammenhalts.

Schließlich ist die Gefahr der gesellschaftlichen Atomisierung zu nennen. Diese kann Folge von Zentralisierung, aber auch Ergebnis des Nachlassens von politischer Anteilnahme und der politischen Entfremdung sein. Gerade Robert Putnam63 und Francis Fukuyama64 führten die Diskussion von der Qualität der Zivilgesellschaft zu Fragen nach dem Verhältnis zwischen menschlichem Vertrauen und dem sogenannten sozialen Kapital,65 die heute die Diskussion über die Zivilgesellschaft in den USA bestimmen.66 Die gerade für egalitäre Gesellschaften charakteristische Gefahr der gesellschaftlichen Atomisierung, wie Tocqueville sie brillant darlegt,67 kann unter anderem Ten-denzen in Richtung Anomie begründen, also hin zum Verschwinden gesell-schaftlicher Werte und Normen, zum Zerfall der moralischen Ordnung und insgesamt zum Verlust von moralischer Orientierung.68

Dazu kommt, dass die gesellschaftliche Desintegration, wie Taylor be-merkt,69 meist eskalierend wirkt und der Anfang eines Teufelskreises sein kann. Das geschwächte Gefühl von Zusammengehörigkeit und gegenseitiger Sympathie kann das Ergebnis, aber auch die Ursache des Verlusts von gesell-

63 Putnam: Bowling Alone; Ders.: Making Democracy Work: Civic Traditions in Modern

Italy. Princeton 1993. 64 Fukuyama, Francis: Trust: The Social Virtue and Creation of Prosperity. New York

1995. 65 Von den vielen möglichen Einteilungen des sozialen Kapitals sieht Putnam die Unter-

scheidung zwischen ‚bridging‘ und ‚bonding‘ des sozialen Kapitals als die wichtigste. Es handelt sich dabei um eine Art Inklusion und Exklusion, wobei erstere eine spezifische Reziprozität und starke Gruppensolidarität produziert, aber auch starke Antagonismen zwischen Gruppen hervorrufen kann. Exklusion hingegen bildet eine allgemeinere Auf-fassung von Reziprozität und Identität und kann größeren äußeren Nutzen bringen. Die Frage kann allerdings nicht heißen, das eine oder das andere, sondern mehr oder weniger von dem einen oder dem anderen. Putnam: Bowling Alone, 20–23.

66 Eine überzeugende Kritik des in diese Richtung verlaufenden Diskurses finden wir bei Cohen. Er moniert dabei deren übertrieben konservative Töne wie auch den Reduktio-nismus und kulturell-historischen Determinismus. Diese Debatte überschätze einerseits die Rolle der kulturellen Faktoren (society-centered analysis), andererseits institutio-nelle Aspekte, vor allem die Rolle des Staates, und vernachlässige die Analyse von Form und Bedeutung der öffentlichen Sphäre. Cohen: American Civil Society Talk.

67 Tocqueville: Democracy in America. 68 Spricht man über den Verlust von sozialem Zusammenhalt, spricht man nach Putnam

nicht allein vom Qualitätsverlust des Sozialraumes, sondern auch vom Qualitätsverlust in der öffentlichen Sphäre; hier geht es folglich auch um einen politischen Verlust. Die integrative Funktion, die durch eine Vielfalt von Formen und Möglichkeiten menschli-cher Geselligkeit und Kommunikation garantiert wird, stellt die Grundlage für die Re-produktion und Transformation von moralischer und schließlich auch politischer Ordnung dar. Es geht hier vor allen Dingen um die Reflektion der Gefahr, dass sich eine atomisierte Gesellschaft sehr einfach regieren lässt. Putnam: Bowling Alone.

69 Taylor: Liberální politika, 47.

Zivilgesellschaft und Staat 23

schaftlich anerkannten Normen, Werten und Symbolen und der Fähigkeit zur Selbstbeschränkung im Namen der Anerkennung gesellschaftlicher Interessen der Allgemeinheit sein. Von dieser Allgemeinheit ist das Individuum ein Teil und daher sind ihre Interessen auch die des Einzelnen. Die Entstehung eines moralischen Vakuums und der Verfall gesellschaftlicher Normen und gemein-samer Werte stellen eines der größten Risiken für den demokratischen politi-schen Prozess dar. Unter dieser Art von Bedrohungen sind außerdem die Ge-fahren der politischen Aufspaltung der Gesellschaft und der Entfremdung bedeutender gesellschaftlicher Segmente vom politischen System zu nennen.

Soll die normative Perspektive, die Staat und Zivilgesellschaft in eine eini-germaßen ungleiche Stellung einordnet (civil society-centered analysis), noch etwas mehr in den Hintergrund treten, so kann man mit Hilfe der Schemata vier weitere ernste Risiken analysieren, die die Dynamik von Zivilgesellschaft und Staat bedrohen. Im Falle der Dimension der Schutzfunktion im Verhält-nis von Zivilgesellschaft und Staat wiesen John Stuart Mill und Tocqueville als erste darauf hin, dass man genauso wie die Zivilgesellschaft vor der staatli-chen Macht auch den Einzelnen vor dem Willen der Mehrheit schützen müs-se. Bereits erwähnt wurde, dass im Rahmen der Zivilgesellschaft ernsthafte Konflikte entstehen können und keineswegs alle von einer unabhängigen Öffentlichkeit formulierten Interessen unbedingt wünschenswert oder positiv sein müssen. Es steht nicht in der Macht der Zivilgesellschaft, die individuel-len Rechte ohne Vorhandensein einer wirksamen Staatsgewalt schützen zu können. Eine ernste Gefahr für die Zivilgesellschaft und die Demokratie ist demnach auch das Risiko eines Nachlassens der Kräfte und der Unabhängig-keit der staatlichen Autorität sowie einer abnehmenden Effektivität und Handlungsfähigkeit der öffentlichen Verwaltung. Ein schwacher Staat führt zu nichts anderem als zu einer Kolonisierung der staatlichen Institutionen, im besten Fall durch die politischen Parteien (partitocracy), im schlimmsten Fall durch einflussreiche Interessengruppen; am wahrscheinlichsten ist allerdings, dass beides gleichzeitig eintritt. Der allgegenwärtige Klientelismus und eine sich ausbreitende Korruption sind der einzige Ersatz für einen schwachen Staat. Folgt man weiter der vertikalen Achse, kann als zweites Risiko die Überlastung des politischen Entscheidungsprozesses durch eine übermäßige bürgerliche Teilnahme benannt werden. Diese kann besonders bei einem ge-schwächten Entscheidungsmechanismus von Staat und Verwaltung ernste Probleme hervorrufen.70

Auf der horizontalen Achse von Schema 3 sieht man (rechts) die Gefahr eines übertriebenen Vertrauens bis hin zur übertriebenen Kritik der Zivilge-sellschaft gegenüber staatlichen Institutionen und den geschwächten rationa-len Diskurs innerhalb der Zivilgesellschaft selbst,71 der Ergebnis wie auch Ur-

70 Almond, Gabriel/Verba, Sidney: The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy

in Five Nations. Princeton, N. J. 1963. 71 Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit.

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sache eines geschwächten rationalen Diskurses in der Sphäre der politischen Macht sein kann. Auf der anderen Seite der horizontalen Achse (links) droht der Verlust von innerer Pluralität in der Zivilgesellschaft durch ein voll inte-griertes soziales System. Auch wenn es vom historischen Standpunkt aus falsch ist, bürgerliches und nationales Ethos als zwei sich widersprechende Prinzipien anzusehen, steht außer Frage, dass ein übertriebener Nationalis-mus für Zivilgesellschaft und Demokratie eine der größten Gefahren dar-stellt.72

Die Schutz- und Sicherungselemente der funktionalen Dimensionen im Ver-hältnis von Gesellschaft und Staat Am Schluss des vorliegenden Aufsatzes steht die Beschäftigungen mit der Fra-ge, die den Hintergrund der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion bildet: Was lässt sich eine Zivilgesellschaft aufbauen? Ist es überhaupt möglich und wünschenswert, sich um die Entwicklung jenes „schöpferischen Chaos“ – wie Ralf Dahrendorf die Zivilgesellschaft euphemistisch nennt73 – zu bemü-hen, welches im Westen entstanden und die Frucht von schwer vermittelbaren Erfahrungen ist. Der Autor dieses Aufsatzes ist der Meinung, dass eine solche Fragestellung sicher berechtigt ist. Wenngleich auch gerne auf den fehlenden Bedarf für das Konzept Zivilgesellschaft hingewiesen wird,74 ist es kein Zufall, dass sie heute eines der einflussreichsten Konzepte in den Sozialwissenschaf-ten darstellt. Die heutigen Gesellschaften sind einem dramatischen Einfluss vor allem durch die Globalisierungsprozesse ausgesetzt, die ein unerbittliches Anwachsen von Risiken und Gefahren mit sich bringen und grundlegend unser unmittelbares Erleben wie auch viele institutionelle Veränderungen be-einflussen.

Die Zivilgesellschaft gewinnt auch deswegen an Bedeutung, weil sie sich mit der Frage beschäftigt, wie man diese Risiken reduzieren und sie in sozial und menschlich erträgliche Form transformieren kann. Das Konzept der Zi-vilgesellschaft ist darum bemüht, sich den aktuellen Problemen der (post-) modernen Gesellschaft mit einem höheren Maß an Sensibilität zu nähern als andere gut bekannte Konzepte. Es versucht, die genannten Probleme unter dem Blickwinkel der gegenseitigen Beziehungen und in ihrer Komplexität zu analysieren.75

72 Calhoun: Nationalism and Civil Society; Gellner: Podmínky svobody; Hall: Civil Society. 73 Dahrendorf: After 1989, 56. 74 Kumar: Civil Society. 75 Bryant, Christopher: Social Self-determinations, Civility and Sociology: A Comment on

Kumar’s „Civil“ Society. In: British Journal of Sociology 44/3 (1993), 397–401, hier 399; Smith, Philip: Barbarism and Civility in the Discourses of Fascism, Communism and Democracy. In: Alexander (Hg.): Real Civil Societies, 115–137, hier 133.

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Macht man sich das Prinzip von Karl Marx zu eigen, dass das jedes Bemü-hen um ersehnte soziale Veränderungen ohne großen praktischen Einfluss bleibt, wenn dieses Streben nicht in eine Institutionalisierung einmündet,76 so kann man versuchen, das vorgelegte Schema in die Form institutionalisierter Sicherungspotentiale der erwähnten funktionalen Dimensionen oder in die Form einer institutionalisierten Prävention der dargestellten Risiken (Sche-ma 4) zu übertragen. Es ist jedoch offensichtlich, dass die institutionale Äuße-rung der geschilderten funktionalen Dimensionen in der Beziehung von Zi-vilgesellschaft und demokratischem Staat aus sich heraus vom kontrafakti-schen Charakter der Moderne beeinflusst wird und dass daher nicht einmal in diesem Fall, wie Giddens bemerkt,77 die strikte Trennung zwischen realisti-scher und utopischer Denkweise möglich ist.78

Schema 4: Die Schutz- und Sicherungselemente der funktionalen Dimensionen in den Be-ziehungen von Zivilgesellschaft und Staat

(Begriffe im Uhrzeigersinn von oben. Im äußeren Kreis: öffentliche Kontrolle; Herstellung von Vertrauen, ontologische Sicherheit; autonome Öffentlichkeit, Steigerung der Partizipa-tion; soziale Integration, Zuwachs an sozialem Kapital. Im inneren Kreis bzw. in der Raute: Gewaltenteilung; Schutz des Vertrauens; Offenheit des politischen Procederes und der öffentlichen Verwaltung, Systemintegration)

76 Giddens: The Third Way, 138. 77 Ebenda. 78 Giddens spricht in diesem Zusammenhang von der Forderung des so genannten utopi-

schen Realismus und verweist darauf, dass ein übertriebener Utopismus ohne Bezie-hung zur sozialen Realität potentiell durchaus gefährlich sein kann. Während eine zu starke Betonung des Realismus sich wiederum als wenig produktiv und innovativ aus-wirken kann, wird dabei nicht zumindest ein gewisses Maß an Utopismus und morali-scher Überzeugung berücksichtigt. Giddens: The Third Way, 137–140.

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Weil sich jede soziale Interaktion durch die Anwesenheit von wenigstens zwei Akteuren auszeichnet, sind auch die funktionalen Dimensionen in der Beziehung von Zivilgesellschaft und demokratischem Staat einerseits als ‚Nachfrage‘ garantiert, andererseits sind sie ein ‚Angebot‘ für die mögliche Umsetzung von Aspekten der Zivilgesellschaft von Seiten der Machtzentren. Bei jeder der vier geschilderten Beziehungen können so zwei gegensätzliche – und oft nicht ausgeglichene – Positionen unterschieden werden, die auf diese Beziehungen einwirken und deren Vitalität und praktischen Nutzen garantie-ren. Beginnt man am oberen Rand der vertikalen Achse, so kann man die institutionelle Prävention der Risiken von Zentralisierung, Bürokratisierung und des Wachstums der staatlichen Gewalt zweifellos in der aktiven Kontrol-le der politischen Macht durch eine unabhängige Öffentlichkeit sehen. Von Seiten der Zivilgesellschaft geht es dabei um das Schaffen von Voraussetzun-gen, Mechanismen und Formen zur Kontrolle des Staates durch die unab-hängige Öffentlichkeit. Das setzt unter anderem die aktive Entwicklung und die Unterstützung der öffentlichen Sphäre von Seiten der Öffentlichkeit selbst voraus, wozu z. B. das aktive Bemühen um Qualität und Entwicklung des öf-fentlichen Raumes gehört.

Bewegt man sich in Richtung Mitte (Staat), so geht es hier um die eigentli-che Verteilung der Macht im weitesten Sinne des Wortes (horizontal, verti-kal, durch die Verfassung garantierte unabhängige Körperschaften). Der Ge-fahr, dass die Macht des Staates unkontrolliert anwächst, kann man mit Hilfe des verfassungsmäßig verankerten Prinzips der Kontrolle von staatlicher Macht, des Gleichgewicht der Kräfte von Exekutive, Legislative und Judikati-ve sowie selbstverständlich durch Rechtsgarantien für Individuen und Grup-pen begegnen. Schlüsselforderungen sind dabei die Garantie der Unabhän-gigkeit der Medien, die Sicherstellung von Pluralismus auf dem Medienmarkt und geeignete Mechanismen für die öffentliche Kontrolle der Medien, vor allem des Fernsehens. Eine wichtige Rolle kann auch eine ‚Dezentralisierung‘ der staatlichen Finanzen spielen. Dazu zählt etwa die Einführung einer geeig-neten Steuerregelung (z. B. Steuerassignation, also das Zuweisen eines kleinen Anteils seiner Steuerleistungen durch den jeweiligen Steuerzahlers an eine bestimmte NGO) ebenso wie die gesetzliche Bekämpfung von korruptem und klientelistischem Handeln, in erster Linie durch ein durchdachtes Gesetz zu den Interessenkonflikten (the bill on conflict of interests). Nicht zu vernach-lässigen ist dabei wiederum die aktive Entwicklung und Unterstützung des öffentlichen Raums von Seiten des Staates.79

Geht man auf der vertikalen Achse ‚der Freiheit‘ vom Staat weiter in Rich-tung des unteren Randes, also zur Zivilgesellschaft, kann man allgemein als Schutz- und Sicherungselemente die institutionelle und praktische Offenheit der demokratischen politischen Entscheidungsprozesse in Bezug auf die Öf-fentlichkeit nennen. Dies betrifft die Möglichkeit, die Öffentlichkeit in die

79 Barber: Clansmen, Consumers and Citizens, 26.

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öffentliche Verwaltung und in den Prozess politischer Entscheidungen im weitesten Sinne des Wortes einzubeziehen. Ebenso geht es dabei um die Schaffung institutioneller Bedingungen für eine vielschichtige demokratische Partizipation. Dies könnte einerseits ein weit dezentralisiertes System der öf-fentlichen Verwaltung garantieren, andererseits Maßnahmen wie die Sicher-stellung von Transparenz und Zugänglichkeit von Informationen der öffent-lichen Verwaltung, die Möglichkeit eine sogenannten öffentlichen Anhörung, das Recht der Allgemeinheit, bei Bauvorhaben von öffentlich wichtigen Pro-jekten mitzubestimmen, usw. Es geht hier darum, die Öffentlichkeit in die öf-fentliche Verwaltung einzubeziehen und neue institutionelle Mechanismen zu schaffen, die das ermöglichen. Giddens spricht in diesem Zusammenhang von der ‚Demokratisierung der Demokratie‘.80

Wichtig ist dabei wiederum die Forderung, sinnvolle rechtliche steuerliche und fiskalische Regelungen zu schaffen (z. B. günstige Bedingungen für Spon-soren). Positiv könnte sich hierbei etwa auch eine aktive Rolle des Staates beim Schutz von kleinen und mittleren Betrieben oder die Durchsetzung eines Programms zur gemeinsamen sozialen Verantwortung (corporate social re-sponsibility) auswirken. Aufgabe der Regierung ist es zudem, den Markt akti-ver zu schützen und sicherzustellen, dass sich die internationalen Konzerne als verantwortungsvolle Mitglieder der Zivilgesellschaft verhalten.81 Auf dem untersten Rand der vertikalen Achse wird die Existenz einer zu Kommunika-tion fähigen und autonomen Zivilgesellschaft vorausgesetzt. Keine Demokra-tie kommt ohne eine rege Öffentlichkeit aus,82 die willig und fähig ist, sich an der öffentlichen Verwaltung zu beteiligen, und in der Lage ist, ihre Interessen und Werte zu benennen und darüber immer neu zu reflektieren. Dies setzt voraus, dass die Öffentlichkeit zur Durchsetzung ihrer Interessen und Priori-täten organisiert und zu sinnvollem kollektivem Handeln fähig ist. An kon-kreten Vorschlägen ließe sich u. a. die Entwicklung eines guten Bildungs- und Schulsystems nennen, das bei Kindern und Schülern die unterschiedlichsten Interessen und Orientierungen unterstützt und fördert. Ebenso ist es nötig, sich für Demokratie im Schulsystem und die Förderung politischer Kompe-tenz einzusetzen, ferner für die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten und die Ausformung des Sinnes für eine Meinungs- und Interessenvielfalt (also Werte wie Offenheit, die Bereitschaft zuzuhören, die Fähigkeit seinen Standpunkt zu formulieren etc.). Und dies muss in Schulen aller Stufen erfol-gen. Wie Putnam richtig bemerkt,83 ist die Bürgerbeteiligung umso höher, je besser die Bildung im Allgemeinen ist.

Wechselt man auf die horizontale Achse des Schemas Nr. 4, so findet man auf der rechten Seite eine Struktur, die es, wie bereits erläutert, ermöglicht,

80 Giddens: The Third Way. 81 Barber: Clansmen, Consumers and Citizens, 26. 82 Taylor: Liberální politika, 39. 83 Putnam: Bowling Alone, 186.

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die gesellschaftlichen Interessen und Prioritäten näher zu bestimmen, zu be-nennen und zu bestätigen, was allerdings die Existenz einer starken und dy-namischen Zivilgesellschaft voraussetzt. Hier spielen natürlich die Schutz- und Sicherungselemente eine wichtige Rolle, die in einem engen Zusammen-hang mit den Werten stehen, die die Beziehungen auf der vertikalen Achse sichern. Zusätzlich zu den genannten wären zahlreiche weitere Sicherungs-elemente anzuführen, die sich allgemein als Herstellen und Verdichten von Beziehungen im Rahmen der Zivilgesellschaft beschreiben lassen. Es fällt al-lerdings keinesfalls leicht, vertrauensvolle Beziehungen in einer Atmosphäre schaffen, in der Misstrauen herrscht. Piotr Sztompka stellt die Frage, ob dies überhaupt möglich ist.84 Es ist immerhin logisch und manchmal sogar not-wendig, sich in einer von Misstrauen bestimmten Atmosphäre entsprechend vorsichtig zu verhalten. Von Psychologen wird in diesem Zusammenhang meistens angemerkt, dass sich Voraussetzungen für ein Vertrauensverhältnis – eher ein emotionales als ein kognitives Phänomen – sich im Rahmen der primären Sozialisation in der frühesten Kindheit ausbilden. Diese existentiel-le Verwurzelung von Vertrauensfähigkeit betrachten die Fachleute als ent-scheidend für die weitere Entwicklung eines Menschen.85 Weiterhin ließe sich die Stärkung der politischen Sozialisation in den Schulen aller Stufen anführen. Wie Giovanni Sartori treffend feststellt,86 ist die Demokratie ein komplizierteres System als andere politische Formen und wird unmittelbar dadurch bedroht, dass ihre Mechanismen jenseits des intellektuellen Hori-zonts liegen, über den ein durchschnittlicher Bürger verfügt.

Geht man auf der horizontalen Achse weiter zur Mitte, kann man die Fül-le der Schutz- und Sicherungselemente betrachten, die den Schutz und die Aufrechterhaltung des Vertrauensverhältnisses von staatlicher Seite darstel-len. Es geht hier im konkretesten Sinne des Wortes um die Erfüllung des Prinzips der Delegierung der Macht und der Souveränität des Volkes sowie um den Schutz und die Sicherung der demokratischen Legitimität politischer Institutionen. Dies betrifft die Bildung und den Schutz einer legitimen Ent-stehung der demokratischen politischen Entscheidungen. Zu den Formen von staatlichem Schutz und der Pflege des öffentlichen Vertrauens könnte

84 Sztompka: Mistrusting Civility, 206. 85 Erik Erikson, den Giddens zitiert, verweist auf den Zusammenhang zwischen Ver-

trauensverhältnis und so genannter „ontologischer Sicherheit“. Das Gefühl der „ontolo-gischen Sicherheit“, das sich in der frühesten Kindheit bildet, ist nach dieser Definition die Voraussetzung für die persönliche Integrität und für eine gesunde mentale und per-sönliche Entwicklung. Die „ontologische Sicherheit“ stellt eine gewisse Bereitschaft zum Vertrauen in die Beständigkeit der eigenen Identität und in die Konstanz der sozialen und materiellen Grundlagen unseres Handelns, also ein grundlegendes Gefühl der Ver-lässlichkeit in Personen und Dinge. Erikson sieht das Gefühl der „ontologischen Si-cherheit“ als entscheidende Voraussetzung dafür, Vertrauensverhältnisse im komplexe-ren Wortsinne zu entwickeln. Nach Giddens: The Third Way, 85–91.

86 Sartori, Giovanni: Teória democracie. Bratislava 1993, 16.

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man zusätzlich das Bemühen um professionelle und moralische Integrität an sogenannten access points zählen,87 an denen der Bürger mit dem Staat kon-frontiert wird. Hinzu kommt die Sicherstellung einer transparenten und un-abhängigen Beziehung des Staates und seiner Vertreter zu Medien und Mei-nungsforschungsinstituten. Dazu gehören auch der konsequente rechtliche Schutz von Kindern und ein gutes System der sozialen Kinderbetreuung. Zwar kann der Staat den Kindern kein Gefühl „ontologischer Sicherheit“ ver-mitteln,88 er kann jedoch versuchen, jene weniger ‚Glücklichen‘ vor überflüs-siger Entfremdung zu schützen, etwa indem er konsequent von vornherein häuslicher Gewalt entgegenwirkt.

Auf der horizontalen Achse weiter nach links gehend, gelangt man zur in-tegrativen Dimension im Verhältnis von Gesellschaft und Staat. So geht es dem Staat vor allem um die Integration von einzelnen Gruppen im Rahmen des politischen Systems. Im Vordergrund sollte ein politisches und Verwal-tungssystem stehen, das eine Politik garantiert, die gegenseitigen Respekt und Anerkennung sowohl gegenüber Gruppen als auch Individuen durchsetzt. Zu den möglichen Mitteln einer solchen Integration zählen die sogenannte af-firmative Aktion oder – unter gegebenen Umständen – die Einführung von Elementen einer sogenannten konsozialen Demokratie (d. h. Bemühungen um die Präsenz von Minderheiten in Politik und Verwaltung, um ein Veto-recht in Schlüsselfragen). Wichtig sind dabei die Rechtsgarantien für Grup-pen (Minderheiten) wie auch für den Einzelnen oder die institutionellen Entwicklungen in Fragen der Bildung sowie eine aktive Rolle des Staates hin-sichtlich der Verbreitung von Toleranz und des Bewusstseins für Meinungs-vielfalt.89

Weiter auf der horizontalen Achse geht es am inneren linken Rand zur Frage der gesellschaftlichen Integration an sich, zur Bildung von sozialem Zusammenhalt und der Qualität sozialer Interaktion: Selbstverständlich gibt es kein zuverlässiges Rezept um soziales Kapital, d. h. gesellschaftliche Solida-rität und gemeinschaftlichen Zusammenhalt, herzustellen. Die Qualität sozia-ler Interaktionen wird durch viele Faktoren bestimmt, wobei zu den wichtigs-ten zweifellos die Rolle der Familie gehört. Putnam kommt in seinen Studien zu dem Schluss,90 dass die Familie (bzw. ihr Zerfall) wahrscheinlich die ent-scheidende Grundlage zur Bildung von sozialem Kapital (bzw. den Verlust) darstellt. Eine gut funktionierende demokratische Familie ist zwar schwer zu verwirklichen, daher aber ein umso zuverlässigeres Mittel zur Stärkung des sozialen Kapitals. Darum sollte der Staat sich in dieser Frage um eine aktive Politik bemühen. Es ist klar, dass auch die anderen genannten Maßnahmen, die – in geringerem oder in größerem Maße – die funktionale Dimension im

87 Giddens: The Third Way, 78–82; Sztompka: Mistrusting Civility, 208. 88 Vgl. Anmerkung 85. 89 Cohen: American Civil Society Talk, 72. 90 Putnam: Bowling Alone, 277.

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Verhältnis Zivilgesellschaft und Staat verstärken und schützen, bei der Stär-kung des sozialen Kapitals eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielen.

Zwischen den genannten funktionalen Dimensionen im Verhältnis von Zivilgesellschaft und demokratischem Staat existieren zahlreiche Verbindun-gen und Resonanzen. Es ist nicht leicht, die möglichen Ursachen für das Ver-sagen des demokratischen politischen Entscheidungsprozesses nach ihrer Be-deutung zu ordnen; sicher lassen sich zwischen ihnen die verschiedensten Zusammenhänge finden und interpretieren. Das Thema des vorliegenden Aufsatzes ist äußerst komplex. Es ist nicht immer eindeutig zu bestimmen, welche Risiken die Ursachen und welche die Folgen sind für den Verfall der funktionalen Dimension im Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat. Es ist allerdings sicher, dass dies alles ernste Gefahren für die Sicherheit der Gesell-schaft und die Demokratie darstellen und jenen Zustand der Freiheit bedro-hen, der im Westen erreicht worden ist. Das Konzept der Zivilgesellschaft ist durch nichts Geringeres motiviert, als durch das Bemühen, eine demokrati-sche Entwicklung zu garantieren. Es will dessen Gefahren und Ursachen er-kennen, versucht sich diesen zu stellen, ihnen vorzubeugen, ihre Ergebnisse vorauszusehen und bemüht sich, die Risiken zu mäßigen und zu reduzieren.

Die vorgeschlagene Schematisierung der gesamten Problematik stellt ei-nen Versuch dar, die Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und demokrati-schem Staat in ihrer Komplexität zu begreifen. Zur Inspiration trug dabei eine ganze Reihe von Autoren bei, die alle mehr oder weniger an Tocquevilles Botschaft anknüpfen wie auch an den komplementären Ansatz von Giddens, der sich in der Theorie der reflexiven Moderne bewährt hat. Aus Giddens Ansatz leitet sich auch der Wunsch ab, eine komplementäre Theorie der Zi-vilgesellschaft zu formulieren, die sowohl den utopistischen normativen Standpunkt als auch den empirischen Standpunkt mit seinem Sinn für Fakti-zität und den Wunsch, das Thema auf angemessene Weise zu behandeln, be-rücksichtigen muss. Zu guter Letzt geht es auch um den Versuch, einen durchdachten und strukturierten Raum für die Formulierung praktischer Vorschläge und Maßnahmen zur Diskussion zu stellen.

Aus dem Tschechischen von Stefan Zwicker