Versicherung und Verbriefung - Der Irrweg der Kommission auf der Suche nach einer Regulierung von...
-
Upload
europa-uni -
Category
Documents
-
view
0 -
download
0
Transcript of Versicherung und Verbriefung - Der Irrweg der Kommission auf der Suche nach einer Regulierung von...
Versicherung und Verbriefung – Der Irrweg der Kommission auf der Suche nach einer Regulierung von derivativen Finanzprodukten
Verfasser: Philipp Hacker, LL.M. (Yale)*
Erscheint in: Versicherungsmechanismen im Recht, Mohr Siebeck, Herbst 2015.
Inhalt:
I. Einleitung ........................................................................................................................... 3
II. Mikroskopische Mängel: Traditionelle ökonomische Theorie .......................................... 4
1. Zum Begriff und Prozess der Verbriefung (securitization) ........................................... 4
2. Ökonomische Funktionen von Verbriefung ................................................................... 6
a) Credit Transformation .............................................................................................. 6
b) Liquidity Transformation ......................................................................................... 7
c) Risikotransfer ........................................................................................................... 7
d) Hedging .................................................................................................................... 8
e) Spekulation .............................................................................................................. 8
3. Effekt des Gütesiegels .................................................................................................... 9
III. Makroskopische Mängel: Verhaltensökonomische und kognitionspsychologische
Theorie ..................................................................................................................................... 10
1. Kontrollillusion ............................................................................................................ 10
a) Suchkosten ............................................................................................................. 10
b) Kognitive Konsistenz, Aufmerksamkeit, und andere Illusionen ........................... 11
c) Effekt des Gütesiegels ............................................................................................ 13
2. Fehlgewichtung von Wahrscheinlichkeiten ................................................................. 14
a) Risiken und Verbriefung: Rv und Rh ...................................................................... 15
b) (Fehl-)Einschätzungen ........................................................................................... 15
i. Unterschätzung ...................................................................................................... 15
* Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin, Professor Dr. Dr. Stefan Grundmann, LL.M. (Berkeley). Der Beitrag profitierte von Hinweisen von Herrn Professor Dr. Alexander Stomper zu den finanzmathematischen Zusammenhängen sowie von Kommentaren der Teilnehmer der Tagung „Versicherungsmechanismen im Recht“ an der LMU München. Alle Fehler bleiben meine eigenen.
2
ii. Überschätzung .................................................................................................... 17
iii. Korrekte Einschätzung ....................................................................................... 18
c) Effekt des Gütesiegels ............................................................................................ 18
i. Auswirkungen auf Rv ............................................................................................. 18
ii. Auswirkungen auf Rh ......................................................................................... 19
iii. Gesamteffekt ...................................................................................................... 19
IV. Alternativsystem: Verbriefung, Versicherung und Risiko ........................................... 20
1. Produkthaftung für Finanzprodukte ............................................................................. 20
2. Debiasing ...................................................................................................................... 22
a) Cognitively Optimized Disclosure ......................................................................... 23
b) Warnhinweise ........................................................................................................ 24
V. Zusammenfassung ............................................................................................................ 24
I. Einleitung
Die EU-Kommission hat in ihrem vor kurzem erschienenen Grünbuch zur Kapitalmarktunion,
das nach der Regulierungswelle im Gefolge der Finanzkrise neue Wege beschreiten soll, auch
die gesetzlichen Rahmenbedingungen für risikoreiche Finanzprodukte erneut ins Auge
gefasst. Einmal mehr sind dabei vor allem Verbriefungen und Derivate in den Fokus gerückt.
Konkret geplant ist ein „Qualitätssiegel“ für „nachhaltige Verbriefungen“, das die
Kommission zentral an solche Finanzprodukte vergeben möchte, die aus ihrer Sicht besonders
risikoarm oder sozial wertvoll sind1. Der Verfasser hatte das Glück, bei einer kürzlich in
Berlin abgehaltenen Anhörung nach den Bemessungskriterien für die Qualität von
Finanzprodukten fragen und dabei erfahren zu können, dass die Kommission sich dabei vor
allem von der Qualität der zugrunde liegenden, verbrieften Forderungen leiten lassen möchte.
Verbriefungen und Derivate sind in der Tat nicht umsonst für die Finanzkrise verantwortlich
gemacht worden, die seit 2007 die internationalen Finanz- (und Produkt-)märkte heimgesucht
hat2. Sie verdienen daher neue Formen der Regulierung. Der Weg der Kommission jedoch ist
verfehlt, verschließt er doch vor dem ökonomischen Hintergrund ebenso die Augen, wie er
verhaltensökonomische und kognitionspsychologische Erkenntnisse ausblendet. Die
Ankündigung der Kommission bietet daher Anlass dazu, den Nutzen und Nachteil von
Finanzprodukten wie Verbriefungen aus rechtlicher wie ökonomischer Perspektive noch
einmal kritisch zu bewerten – auch und gerade vor dem Hintergrund ihrer potentiellen
Funktion als alternative Versicherungsinstrumente.
Der Vorstoß der Kommission, ein Gütesiegel für Finanzprodukte anhand der Qualität der
zugrunde liegenden Forderungen einführen zu wollen, leidet an schweren mikroskopischen
wie makroskopischen Mängeln. Im ersten Teil dieses Beitrags sollen daher kurz die
mikroskopischen, auf traditioneller ökonomischer Theorie beruhenden Kritikpunkte
dargestellt werden: Prägnant formuliert kann eine Verbriefung oder ein Derivat auch bei
hoher Qualität der zugrunde liegenden Forderung äußerst risikoreich gestaltet werden;
andererseits wird bei einem einseitigen Fokus auf die zugrunde liegenden Forderungen
übersehen, dass Verbriefungen gerade bei risikoreichen Forderungen eine wichtige
ökonomische Funktion erfüllen können, wenn sie nämlich diese Risiken diversifizieren oder
versicherungsähnlich kompensieren. Blickt der erste Teil somit auf die Mikrostruktur von
Verbriefungen, so kommt im zweiten Teil der Kontext der Anlagesituation als Interaktion von
menschlichen Entscheidern, sozusagen makroskopisch, hinzu. Dort soll gezeigt werden, dass
aus verhaltensökonomischer und kognitionspsychologischer Sicht die Regulierung von
Finanzprodukten durch Qualitätssiegel äußerst problematisch erscheint. Sie können falsche
Qualitätssignale senden und kognitive Verzerrungen, wie Fehleinschätzungen von Risiko
durch Investoren infolge beschränkter Rationalität, sowie Kontrollillusionen verstärken.
Schließlich soll im dritten Teil ein Ausblick auf ein alternatives Regime der
1 Grünbuch: Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 18.2.2015, COM(2015) 63 final, S. 11 f. 2 Siehe etwa C. Foote/P. Willen, the subprime mortgage crisis, in: S. Durlauf/L. Blume (eds.), The New Palgrave Dictionary of Economics Online (2011) (05 May 2015); N. Gennaioli/A. Shleifer/R. Vishny, Neglected risks, financial innovation and financial fragility, 104 Journal of Financial Economics 452-468, 453 (2012); W.
Fikentscher/P. Hacker/R. Podszun, FairEconomy. Crises, Culture, Competition and the Role of Law (2013), 96; eingehend J. Hull, Options, Futures, and Other Derivatives (9th ed., Boston et al., 2014), Chapter 8.
4
Finanzproduktregulierung gegeben werden, das eng an ökonomische Funktionalität einerseits
und an verhaltensökonomische wie kognitionspsychologische Parameter andererseits
anknüpft: durch ein System der „Produkthaftung für Finanzprodukte“ bei gerade jenen
Produkten, die keinem Versicherungs- sondern einem Spekulationszweck dienen; und durch
debiasing-Maßnahmen, die eine bessere Risikoeinschätzung zum Ziel haben.
II. Mikroskopische Mängel: Traditionelle ökonomische Theorie
1. Zum Begriff und Prozess der Verbriefung (securitization)
Verbriefungen (asset-backed securities, ABS) sind einer der klassischen Bestandteile des
Schattenbankings, also der Wahrnehmung traditioneller Bankfunktionen wie credit, maturity
und liquidity transformation3 durch nicht dem Bankenaufsichtsrecht unterliegende Entitäten4.
Jüngst haben sich die G20-Staaten darauf geeinigt, diesen Sektor nunmehr umfassend einer
Regulierung unterwerfen zu wollen, um systemische Risiken5 besser zu kontrollieren6.
Angesichts des rasanten Wachstums dieser Branche in den letzten Jahrzehnten überrascht dies
nicht: Wurden Mitte der 1940er Jahre noch fast 100 % der Kredite in den USA durch
klassische Banken vergeben, so stieg der Anteil des Schattenbankenwesens bis auf 60 % im
Jahr 2007. Im Zuge der Finanzkrise sank der Anteil zwar wieder, jedoch nicht signifikant7 -
dies ungeachtet der Tatsache, dass der Zusammenbruch des Schattenbankensystems einer der
zentralen Auslöser der Finanzkrise von 2007/08 war8. Im Jahr 2011 umfassten Verbriefungen
(ABS) nach US-amerikanischem Recht ein Volumen von 11 Billionen $ – mehr als die
gesamten US Treasury Securities9. 25 % aller Verbraucherkredite in den USA wurde im
gleichen Jahr durch Verbriefungen finanziert10. In der EU betrug das Emissionsvolumen von
Verbriefungen vor der Finanzkrise im Jahr 2007 immerhin 594 Mrd. €; seitdem ist es auf
knapp die Hälfte im Jahr 2014 gefallen11.
In den Fokus der Regulierung jenseits wie diesseits des Atlantiks rücken einmal mehr
komplexe Finanzprodukte wie Verbriefungen und andere Derivate12. Derivate sind
3 Dazu D. Focarelli/A. Pozzolo, banking industry, in: S. Durlauf/L. Blume (eds.), The New Palgrave Dictionary of Economics (Houndmills, 2008), 352-353, 352; siehe auch E. Fama, What’s Different about Banks, 15 Journal of Monetary Economics 29-39 (1985); ausführlich G. Gorton/A. Winton, Financial intermediation, in: G. Constantinides/M. Harris/R. Stulz (eds.), Handbook of the Economics of Finance, vol. 1, (Amsterdam, 2003), 431-552. 4 T. Adrian/A . Ashcraft, shadow banking: a review of the literature, in: S. Durlauf/L. Blume (eds.), The New Palgrave Dictionary of Economics Online (2011) (05 May 2015), unter 1.A; N. Gennaioli/A. Shleifer/R. Vishny, A Model of Shadow Banking, 58 The Journal of Finance 1331-1361, 1331 (2013). 5 „Systemic risk is the risk that a default by one financial institution will create a ‘‘ripple effect’’ that leads to defaults by other financial institutions and threatens the stability of the financial system.“ (Hull (Fn. 2), 5). 6 Th. Pötzsch, Aktuelle Entwicklungen des Kapitalmarktrechts – Ein Überblick, WM 2015, 357, 358. 7 Siehe die Darstellung bei Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.B; zu den Gründen für das immense Wachstum ebd., unter 2. 8 Siehe oben, Fn. 2, sowie Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 4. 9 Darunter fallen etwa US-Staatsanleihen, siehe G. Gorton/A. Metrick, Securitization, Working Paper 18611, 2012, abrufbar unter http://www.nber.org/papers/w18611, 1. 10 Gorton/Metrick (Fn. 9). 11 Grünbuch (Fn. 1), 12. 12 Zu den regulatorischen Anstrengungen in den USA, siehe etwa A. Levitin/A. Pavlov/S. Wachter, The Dodd-Frank Act and Housing Finance: Can It Restore Private Risk Capital to the Securitization Market?, 29 Yale Journal on Regulation 155-180 (2012); V. Acharya/Th. Cooley/M. Richardson/I. Walter (eds.), Regulating Wall Street (Hoboken, 2010); in der EU soll dies gerade die im Grünbuch vorgestellte Kapitalmarktunion leisten.
5
grundsätzlich, wie bereits der Name etymologisch nahelegt, Finanzprodukte, die ihren Wert
ganz explizit von externen, außerhalb ihrer selbst gelegenen Variablen beziehen13. Dies
können Fußballergebnisse, Wetterphänomene, Preisentwicklungen oder Aktienindizes sein,
um nur ein paar Beispiele zu nennen. Viele Derivate im klassischen Sinne beziehen sich, wie
in den letzten beiden Beispielen14, auf andere Finanzprodukte oder Marktkategorien15.
Verbriefungen sind nun eine spezielle Klasse von Derivaten, in der aus Forderungen oder
anderen Eigentumsrechten handelbare Wertpapiere erzeugt werden16. Der Wert dieser
Wertpapiere (securities) hängt dann (unter anderem) von den zugrunde liegenden, verbrieften
Forderungen (underlyings) mittelbar ab, was den Derivatcharakter erklärt.
Die Verbriefung selbst geschieht zumeist in einem komplexen, von finanzmathematischen
Gesetzmäßigkeiten bestimmten Prozess17. {Bild nach Gorton/Metrick, 87?) Dabei werden
zunächst diejenigen Forderungen oder Eigentumsrechte ausgesucht, die verbrieft werden
sollen. Dies können typischerweise verschiedene Aktiva eines Unternehmens sein, etwa
Kredit- oder Hypothekenforderungen einer Bank. Sie werden gebündelt und in toto vom
bisherigen Inhaber, dem originator, an ein Special Purpose Vehicle (SPV), eine Gesellschaft,
die eigens zum Halten und Verwalten dieser Forderungen gegründet wurde, gegen einen
bestimmten Betrag übertragen. Das hat vor allem steuerliche und insolvenzrechtliche
Gründe18. Das SPV wiederum, dessen einzige Aktiva aus den Forderungen bestehen,
refinanziert den Kauf durch Ausgabe von Wertpapieren, eben den Verbriefungen, die als
Privatplatzierungen oder öffentlich am Kapitalmarkt angeboten werden. Da diese Wertpapiere
durch die Forderungen „gesichert“ sind, spricht man eben von asset-backed securities
(ABS)19. Die Investoren erhalten dann Zahlungen aus dem ABS in Abhängigkeit der
Zahlungsströme, die hinsichtlich der zugrunde liegenden Forderungen eingehen. Rating
Agenturen klassifizieren die Bonität der Verbriefungen, die häufig noch in einzelne Tranchen
gegliedert werden, nach Maßgabe der Priorität des Zugriffs auf die eingehenden
Zahlungsströme: Die senior tranche hat grob gesagt den Erstzugriff, dann die mezzanine
tranche, zuletzt kommt die equity tranche. Diese Tranchen haben dementsprechend
unterschiedliche Risikostrukturen, was sich auch in den Ratings niederschlägt.
Eine spezielle Klasse von ABS stellen wiederum die colleteralized debt obligations (CDO)
dar: Diese bestehen aus einem kleineren Pool von Forderungen, im Gegensatz zu den sonst
meist aus größeren Pools bestehenden übrigen ABS20. Sind die underlyings
Hypothekenforderungen, spricht man von mortgage-backed securities (MBS). Diese waren
13 Hull (Fn. 2), 1. 14 Ein weiteres, simples Beispiel ist der Optionsvertrag über den Kauf einer bestimmten Aktie. 15 J. Tietze, Einführung in die Finanzmathematik (12. Aufl., 2015), 352. 16 Gorton/Metrick (Fn. 9), 3-4; F. Fabozzi/V. Kothari, Introduction to Securitization (Hoboken, 2008), 5-8; Hull (Fn. 2), 186 ff. 17 Dazu sehr gute Darstellung bei Gorton/Metrick, 5-10; knappe Darstellungen auch bei Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C und 3.A.; Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), 100 f.; ausführlicher bei Hull (Fn. 2), Chapter 8.1.; spezifisch zu der finanzmathematischen Seite A. Hirsa/F. Neftci, Introduction to the Mathematics of Financial Derivatives (Amsterdam et al., 2014), 388-394. 18 Gorton/Metrick (Fn. 9), 6. 19 Gorton/Metrick (Fn. 9), 1; Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. 20 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”; im Übrigen zeichnen sich CDOs dadurch aus, dass sie häufig ABS aufkaufen, und diese neu tranchieren; hier werden die SPVs zudem zumeist (partiell) aktiv gemanaget (Gorton/Metrick (Fn. 9), 11).
6
historisch die ersten ABS, ersonnen in den 1960er Jahren, um die große Nachfrage nach
hypothekengesicherten Krediten bankseitig zu refinanzieren21. Die Finanzkrise von 2007 hat
sie wieder in das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Ferner können nicht nur simple
Forderungen verbrieft werden, sondern auch Verbriefungen selbst – es entsteht dann
gewissermaßen eine Metaverbriefung (etwa ein ABS CDO). Auch diese komplexen Produkte
haben im Zuge der Finanzkrise das Interesse einer breiteren, kritischen Öffentlichkeit
gefunden22, nachdem niemand anderes als Warren Buffet sie bereits im Jahr 2002 als
„financial weapons of mass destruction“ bezeichnet hatte23.
2. Ökonomische Funktionen von Verbriefung
Bei aller, zum Teil berechtigten, Kritik gegenüber der Praxis der Verbriefung sollte nicht
übersehen werden, dass diese einige durchaus sinnvolle Funktionen im Wirtschaftssystem
erfüllt, die eng an die Bankenfunktionen angelehnt sind24.
Zwar kann über Verbriefungen nur schwer eine maturity transformation erzielt werden25; aber
die beiden anderen Hauptfunktionen des Bankwesens, credit und liquidity transformation,
werden auch durch Derivate und besonders Verbriefungen gewährleistet, und zwar in
flexibler, auf die Parteien potentiell maßgeschneiderter Weise. Hinzu kommen weitere,
spezifische Funktionen der Verbriefung; insgesamt können fünf Hauptfunktionen ausgemacht
werden: credit transformation, liquidity transformation, Risikotransfer, hedging, und
Spekulation.
a) Credit Transformation
Zunächst zur credit transformation26: Risikoreiche Kredite (oder allgemeiner: Forderungen
oder assets) können durch Diversifizierung infolge einer Verbriefung risikoärmer gemacht
werden. Denn durch die Bündelung vieler Forderungen in einem Pool, dessen cash flow die
Verbriefung letztlich abbildet, werden die Ausfallrisiken diversifiziert. Das kommt einer
Versicherung gegen den Ausfall der einzelnen Forderung gleich. Man nehme beispielsweise
und stark vereinfacht an, es gebe drei risikoreiche Forderungen A, B und C, die nun
kombiniert werden zur Verbriefung D. Würde der Investor nur Forderung A kaufen, und
würde A notleidend, so hätte er seine gesamte Investition verloren. Entscheidet er sich
hingegen für D, kommen ihm bei Uneinbringbarkeit von A immer noch die Kapitalflüsse aus
B und C zugute.27 Um es etwas präziser zu formulieren: Wenn die Erwartungsgewinne aus A,
B und C gleich sind, so ändert D zwar nicht den Erwartungsgewinn (Erwartungswert der
stochastischen Gewinnfunktion), wohl aber vermindert D die Varianz des Gewinns28. Die
21 Hull (Fn. 2), 185. 22 Etwa H.-W. Sinn, Casino Capitalism (Oxford/New York, 2010). 23 Er bezog sich mit der Formulierung sogar auf Derivate im Allgemeinen, siehe Warren Buffet on Derivatives, http://www.fintools.com/docs/Warren%20Buffet%20on%20Derivatives.pdf, 2. 24 Adrian/Ashcraft (Fn. 4). 25 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”. 26 Dazu etwa Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”. 27 Die Mathematik hinter dem Verbriefungsprinzip ist natürlich etwas komplexer, kann aber hier nicht ausführlich dargestellt werden. Auch das Beispiel ist stark verkürzt, was die Darstellung der einzelnen Risiken anbelangt, wird aber aus Gründen der Anschaulichkeit so beibehalten. 28 Prinzipiell Ähnliches gilt, wenn die Erwartungsgewinne der eingebrachten Forderungen nicht identisch sind; dann ist der Erwartungsgewinn der Verbriefung vielmehr - bei einer simplen Verbriefung - etwa das nach
7
Varianz wiederum, die man sich als das Schwanken der Zahlungsströme vorstellen kann, ist
aber in der Finanzwissenschaft ein herkömmliches Maß für Risiko29.
Gerade etwa bei junk bonds oder subprime Krediten ist eine Verbriefung essentiell um
Risiken zu minimieren. Zudem werden häufig noch Ausfallversicherungen eingeschaltet, um
das Risiko schwankender Zahlungsströme aus den underlyings weiter zu minimieren. Sind
Investoren risikoavers bei prospektiven Gewinnen, wie grundsätzlich von der
Finanzierungstheorie30 und auch von der Prospect Theory unterstellt31, dann werden solche
Instrumente stark nachgefragt werden. Die Zeit vor der Finanzkrise von 2007/08 zeigt, dass
genau dies der Fall war. Es gilt dann: “[T]here is room for financial innovation to offer
investors cash flow streams that are not available from traditional securities in sufficient
supply32.” Diese Marktlücke füllen die Verbriefungen33.
b) Liquidity Transformation
Ähnlich steht es mit der Liquiditätstransformation. Diamond und Rajan definieren die
Liquidität einer Forderung in einem bekannten Aufsatz wie folgt: “Loans are illiquid when a
lender needs relationship-specific skills to collect them34.” Liquide Forderungen können
hingegen jederzeit und ohne größere Umstände eingezogen werden.
Liquidität spielt bei Banken eine große Rolle, genauer: die Transformation von Illiquidität in
Liquidität35. Illiquide assets von Kunden werden in liquide Bankguthaben konvertiert; und
zugleich werden, auf der Aktivseite der Bankbilanz, Darlehen an illiquide Kunden vergeben36.
Wie sieht dies nun im Bereich der Verbriefung aus? Hier sind zwei Formen von
Liquiditätssteigerung zu verzeichnen. Erstens können Verkäufer (originators), z.B. Banken,
illiquide Forderungen in ein SPV einbringen und sich durch die Gegenleistung, etwa einen
Geldbetrag, selbst Liquidität verschaffen. Dies betrifft den ersten Schritt der Verbriefung.
Zweitens aber greift danach das gleiche Prinzip wie bei Kredittransformation: Die Bündelung
von Forderungen in dem asset pool, den das SPV aufkauft, schafft Liquidität. Einzelne
Forderungen können illiquide sein, durch die Bündelung aber ist der ABS insgesamt
liquide(r)37.
c) Risikotransfer
Forderungen können durch Verbriefung jedoch nicht nur generell risikoärmer und liquider
gemacht werden, sondern es kann zudem ein spezifischer Risikotransfer an solche
Institutionen stattfinden, welche die mit den Forderungen verbundenen Risiken besser zu Volumen der Forderungen gewichtete arithmetische Mittel der einzelnen Erwartungsgewinne. Wichtig bleibt aber auch in diesem Fall die Verringerung der Varianz durch Diversifizierung. 29 Siehe etwa B. Malkiel, A Random Walk Down Wall Street (rev. ed., New York, 2007), 181-183. 30 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), 453. 31 D. Kahneman/A. Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, 47 Econometrica 263-292, 268 (1979). 32 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), 454. 33 Siehe auch Hull (Fn. 2), 571 ff. 34 D. Diamond/R. Rajan, Liquidity risk, liquidity creation and financial fragility: a theory of banking, 109 Journal of Political Economy 287–327, 287 (2001). 35 Gorton/Winton (Fn. 3), 453-456. 36 Grundlegend D. Diamond/P. Dybvig, Bank Runs, Deposit Insurance, and Liquidity, 91 Journal of Political Economy 401-419 (1983); Diamond/Rajan (Fn. 34). 37 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”.
8
tragen geeignet sind38. Dies können beispielsweise große Versicherungen oder Banken mit
langfristiger Anlagestrategie sein. Insbesondere durch die Langfristigkeit der
Investmentstrategie können solche Entitäten in Krisenzeiten einer Abwärtsspirale
entgegenwirken, wenn sie nicht kurzfristig im Kurs sinkende Papiere (etwa wegen eigenem
starkem leveraging39) abstoßen müssen40, sondern halten und auf eine Beruhigung des
Marktes setzen können41.
d) Hedging
Ein weiterer Gesichtspunkt, der wiederum mit Risiko zu tun hat, ist die Absicherung des
Investors gegen bestimmte Risiken durch spezifisch darauf maßgeschneiderte Verbriefungen
oder, allgemeiner, Derivate (hedging)42. Ein Beispiel: Winzer, die in Franken Wein anbauen,
können sich gegen die unbeständige Witterung mittels Derivaten versichern. Sie können etwa
einen Future-Vertrag eingehen und bereits im Winter den neuen Jahrgang, der erst langsam
auf dem Weinberg heranreift, zu einem Fixpreis verkaufen. Selbst wenn die Ernte qualitativ
oder quantitativ schlecht ausfallen sollte, wäre der Future-Käufer verpflichtet, die Ware zu
dem vereinbarten Preis abzunehmen. Alternativ kann der Winzer einen Wetter-Swap
abschließen: Dieses kann Zahlungen der Gegenseite von den Durchschnittstemperaturen, der
Menge des Niederschlags und anderen önologisch relevanten Faktoren abhängig machen. Im
Falle einer für den Winzer schlechten Witterung würde dieser dann, bei gleichbleibenden
eigenen Zahlungen an die Gegenseite, einen höheren Betrag von dieser erhalten. Der
geringere Verkaufspreis des Weins würde dann durch die höheren Einnahmen aus dem
Wetter-Swap ganz oder teilweise kompensiert. Die Parallelen zu einem Versicherungsvertrag
liegen auf der Hand.
e) Spekulation
Zuletzt können aber Verbriefungen und andere Derivate auch zu spekulativen Zwecken
genutzt werden43, also als eine Art Wette, ohne dass es auch nur einer der Parteien darauf
ankäme, ein zuvor real existierendes Risiko zu minimieren oder sich Liquidität zu
verschaffen. Beispielsweise könnte der Winzer, von dem zuvor die Rede war, in den Wetter-
Swap noch eine weitere Auszahlungsfunktion einbauen lassen, die sich von der Position des
FC Bayern München in der Bundesligatabelle ableitet44. Diese Möglichkeit steht letztlich
hinter dem Schlagwort des Casino-Kapitalismus45, und sie trug tatsächlich nicht unerheblich
zum Ausbruch der Finanzkrise bei46. Statt von einer Funktion der Verbriefung sollte man hier
daher besser von einer Dysfunktion sprechen.
38 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”; auch Gorton/Metrick (Fn. 9), 48. 39 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), 452-53. 40 Vgl. Gorton/Metrick (Fn. 9), 24 f.; Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2). 41 Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), 98. 42 Tietze (Fn. 15), 351; ausführlich Hull (Fn. 2), 49 ff. und 571 ff. 43 Tietze (Fn. 15), 351; zum Ganzen aus rechtswissenschaftlicher und finanzökonomischer Perspektive grundlegend L. Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance (2006). 44 Über die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ausgangswerte dieser Funktion, und damit die Risikoträchtigkeit des Derivats, soll hier nicht weiter spekuliert werden. 45 Dazu etwa Sinn, (Fn. 22), vor allem Chapter 4. 46 Siehe oben (Fn. 2).
9
3. Effekt des Gütesiegels
Die Kommission jedoch will, dem Vernehmen nach, diesen (Dys)-Funktionen in ihrem neu zu
schaffenden Qualitätssiegel keine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Statt sich
an den mit diesen Aspekten verbundenen Chancen und Gefahren von Derivaten zu
orientieren, soll das Qualitätssiegel reduktionistisch – und finanzmathematisch unterkomplex
– maßgeblich von der (wie auch immer zu bestimmenden) Qualität der underlyings abhängig
gemacht werden.
Die Engführung der Qualität eines komplexen Finanzprodukts mit der Qualität (spezifischer:
wohl Bonität) der zugrunde liegenden Forderungen ist aus ökonomischer Perspektive verfehlt.
Zwar kann die (mangelnde) Qualität der underlyings auf das komplexe Produkt
durchschlagen; eine Differenzierung allein nach deren Bonität reguliert jedoch sehenden
Auges an der ökonomischen Funktion und Komplexität der Verbriefungen vorbei. Denn
einerseits ist es für Finanzmathematiker ein leichtes, Hochrisikoprodukte aus sehr
hochwertigen underlyings zu konstruieren. Man denke nur an eine deutsche Staatsanleihe,
deren Auszahlung mit dem Abschneiden der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der
nächsten Fußball-EM verknüpft wird. Schon entsteht ein risikoreiches Derivat auf der
Grundlage momentan sehr solider Wertpapiere. Andererseits sind Verbriefungen gerade bei
risikoreichen underlyings besonders angezeigt – in diesem Kontext wurden sie ursprünglich
auch erfunden, und hier haben sie ihr genuines funktionales Terrain, wie soeben gezeigt
wurde.
Natürlich heißt das nicht, dass Derivate und Verbriefungen unproblematische Heilsbringer
wären. Dass vor der Finanzkrise durch das sogenannte „originate-and-distribute“-System der
massenhaften Verbriefung auch überflüssige Kredite vergeben und Risiken in den Markt
hineingetragen wurden, ist vielmehr richtig; es ist dies aber ein Sonderproblem der
fehlerhaften Anreizstrukturen auf dem Verbriefungsmarkt, auf die noch zurückzukommen
sein wird (unter III.), nicht aber der Verbriefung an sich. Letztlich gilt: Die Ausrichtung an
underlyings ist verfehlt, weil sie die Versicherungskomponente von Finanzprodukten
unterschlägt. Denn Derivate können unter zwei (inklusiv) disjunktiv hinreichenden
Bedingungen tatsächlich ökonomisch und gesellschaftlich sinnvoll eingesetzt werden: Erstens
kann das Risiko der underlyings minimiert werden. Dies hängt von der Konstruktion des
Finanzprodukts ab. Wenn dem aber so ist, dann wird durch Diversifikation der Investor
ceteris paribus besser geschützt als bei einer Investition in die einzelne Forderung selbst;
jedenfalls werden dann risikoärmere Finanzprodukte bereitgestellt, was auf lange Sicht das
systemische Risiko verringert47.
Zweitens können Derivate wie soeben gesehen eine hedging-Funktion übernehmen. Damit
erfüllen sie klassische Versicherungsaufgaben, die preisgünstig, maßgeschneidert und schnell
an den Markt gebracht werden können. Dem kann zwar entgegnet werden, dass diese
Produkte keiner Regulierung wie klassische Versicherungsverträge unterliegen. Die Antwort
darauf ist aber, dass dann eben das Schattenbankenwesen eingedämmt oder regulatorisch den
47 Siehe V. Acharya/L. Pedersen/Th. Philippon/M. Richardson, Taxing Systemic Risk, in: Acharya/Cooley/Richardson/Walter (Fn. 12), 121-142, 123; vgl. auch Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), sowie id. (Fn. 4), 1332; ausführlich zum systemischen Risiko, siehe etwa Acharya/Cooley/Richardson/Walter (Fn. 12), Part 2.
10
traditionellen Versicherungsformen angenähert werden müsste. Dies kann im Rahmen dieses
Beitrags nicht im Einzelnen diskutiert werden48.
Keinesfalls jedoch hilft hier ein Gütesiegel, das an der Qualität der underlyings orientiert ist.
Denn diese ist von den beiden soeben angesprochenen Kriterien völlig unabhängig.
Risikominimierung ist vielmehr gerade bei Hochrisiko-underlyings notwendig. Und beim
hedging muss nicht einmal eine Forderung als underlying existieren – man denke an den
Wetter-Swap, der den Winzer versichert. Von welchem underlying soll hier das Gütesiegel
abhängen – von der Volatilität der Wetterprognose?
Es zeigt sich daher bei genauerer Betrachtung, dass der Vorschlag der Kommission, trotz
allen guten Willens, der unterstellt werden kann, die falschen Mittel bemüht, um löbliche
Ziele zu verfolgen.
III. Makroskopische Mängel: Verhaltensökonomische und kognitionspsychologische Theorie
Zu den mikroskopischen Mängeln, die in einer unzureichenden Analyse von Funktion und
Struktur der Verbriefung liegen, treten jedoch auch makroskopische Probleme bei der
Verwendung eines Gütesiegels für Finanzprodukte aus besonders wertvollen underlyings: Sie
können behavioral market failures49
womöglich verstärken, statt sie zu verhindern. Dies
vollzieht sich einerseits über die Induktion einer Kontrollillusion, und andererseits über die,
dadurch noch virulentere, Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Beide Aspekte
wurden in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Verhaltensökonomik und
Kognitionspsychologie eingehend untersucht, jedoch keineswegs abschließend geklärt.
1. Kontrollillusion
In einer makroskopischen Betrachtung ist also zunächst kritisch anzumerken, dass ein
Qualitätssiegel einer Illusion der Kontrolle und des Vertrauens seitens der Anleger in einem
sensiblen Bereich der Finanzwirtschaft Vorschub leisten kann, in dem kritische
Zurückhaltung oft besser am Platz wäre. Ein Gütesiegel suggeriert Qualität, Prüfung durch
Experten, Verlässlichkeit. Angesichts des soeben in der mikroskopischen Analyse Gesagten
kann das Siegel diese Versprechen jedoch keineswegs einlösen. Das wäre unbedenklich, wenn
man davon ausgehen könnte, dass die Anleger sich selbst die notwendigen Informationen
beschaffen und diese kognitiv korrekt verarbeiten könnten. Dem wird jedoch in den meisten
Fällen mitnichten so sein; vielmehr steht zu erwarten, dass verschiedene kognitive Faktoren
eine ungünstige Liaison mit hohen Suchkosten eingehen werden, um eine trügerische Illusion
der Kontrolle zu schaffen.
a) Suchkosten
Für den ersten Teil dieser Analyse, die Suchkosten, muss man den durch die neoklassischen
Ökonomik aufgespannten Theorierahmen noch nicht einmal behavioralistisch erweitern.
Vielmehr hat bereits George Stigler 1961 die naheliegende Intuition formalisiert, dass
48 Dazu etwa Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 4). 49 Zu behavioral market failure O. Bar-Gill, Seduction by Contract (Oxford, 2012), Chapter 1 sowie unten, Fn. 108 und Text.
11
Individuen nur so lange nach weiteren Informationen suchen werden, wie der erwartete
Grenznutzen der Informationsakquise größer ist als die erwarteten Grenzkosten der Suche50.
Stigler, einer der Begründer der Chicago School of Economics, setzte damit die von den
Marginalisten51 des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie Edgeworth, Jevons und Marshall
begründete Analyse mithilfe der differentiellen Betrachtung von Grenzzuständen fort52. Dies
machte das Modell mathematisch einfach formalisierbar, und gab ihm so einen Hauch von
rigoroser, naturwissenschaftsanaloger Wissenschaftlichkeit, die spätestens seit der frühen
Neuzeit zum Inbegriff wissenschaftlichen Fortschritts geworden war53. Bei aller Ambivalenz
dieser Verengung der Wirtschaftswissenschaften bleiben jedoch einige Grunderkenntnisse der
Chicago School, jedenfalls dem Tenor nach, unbestritten. Die Suchkosten dürften
dazugehören54; sie wirken in der Tat abschreckend, wie jeder, der einmal den leidvollen
Versuch unternommen hat, den günstigsten Handytarif für sich zu ermitteln, leicht
nachvollziehen kann.
Auf den Fall der Derivate gewendet, bedeutet dies: Inwiefern sich Anleger über das
Gütesiegel hinaus informieren, hängt (unter anderem) davon ab, wie hoch die Suchkosten und
der erwartete Informationsgewinn ist. Erstere sind bei Derivaten und Verbriefungen
grundsätzlich hoch anzusetzen, zählen sie doch, durch bundling und tranching, zu den
komplexesten Finanzprodukten überhaupt. Häufig werden die Suchkosten daher prohibitiv
hoch sein. Zugleich ist der erwartete Informationsgewinn niedrig, denn die Produkte wurden
ja schon positiv (oder negativ) bewertet von der Kommission oder anderen Behörden – in
Form des Gütesiegels. Eine eigenständige Suche nach Informationen über die Güte der
Produkte dürfte daher nur von professionellen Individuen und Anlegern zu erwarten sein –
gerade also nicht den Kleinanlegern, welche die Kommission durch ihren Vorschlag
zumindest auch schützen möchte55. Nur sophisticated investors verfügen grundsätzlich über
das Know-how und die Kapazitäten, um eine Analyse der Verbriefungen selbst vorzunehmen.
Kleinanleger werden dies, das lässt sich mit großer Sicherheit bereits mit dem Stigler’schen
Analyseraster prognostizieren, durchaus rational unterlassen.
b) Kognitive Konsistenz, Aufmerksamkeit, und andere Illusionen
Nicht nur aber werden die meisten Kunden keine eigene Suche anstellen: Sie werden auch
kaum eine kritische Distanz zu dem Gütesiegel aufbauen, zumal da sie gerade nicht selbst
über überlegene Informationen verfügen.
Dafür lassen sich in einem ersten Zugriff einige kognitionspsychologische Phänomene ins
Feld führen. Bereits 1957 veröffentlichte Leon Festinger seinen Klassiker „A Theory of
50 G. Stigler, The Economics of Information, 69 Journal of Political Economy 213-225 (1961). 51 Dazu etwa D. Winch, Marginalism and the Boundaries of Economic Science, 4 History of Political Economy 327-333 (1972); R. Howey, The Origins of Marginalism, 4 History of Political Economy 281-302 (1972). 52 Zu einer stärker behavioralistisch geprägten, problemorierentierten Theorie der Suche (problemistic search) siehe R. Cyert/J. March, A Behavioral Theory of the Firm (2nd ed., Cambridge, Mass./Oxford, 1992), 169 ff. 53 Statt vieler R. Descartes, Discours de la Méthode (1637), sowie in B. Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata (1677); ferner dann bei I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), besonders Vorrede zur 2. Aufl. (1787); Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (Werkausgabe Band 6, hg. von G. E. M. Anscombe, Rush Rhees und G.H. von Wright, 6. Aufl., 1999). 54 Siehe etwa J. Stiglitz, The Contributions of the Economics of Information to Twentieth Century Economics, 115 Quarterly Journal of Economics 1441-1478, 1455 (2000); S. Grundmann, {PrivRTh. 55 Siehe Fn. 1.
12
Cognitive Dissonance56“, in dem er ausführte, dass Menschen eine Tendenz zur Vermeidung
kognitiver Konflikte haben. Kognitive Dissonanz definiert Festinger als einen motivationalen
Zustand innerer Widersprüche57. Seine Theorie setzte allerdings noch voraus, dass
Entscheidungen zunächst frei von sonstigen kognitiven Verzerrungen getroffen werden und
nach der Entscheidung kognitive Dissonanz durch die postfaktische Glättung von
Widersprüchen verringert werde58. Die heutige Forschung hat sich von dieser spezifischen
Prämisse und Konsequenz gelöst und geht davon aus, dass bereits die
Entscheidungsgrundlage verzerrt sein kann, nicht nur aufgrund von biases, sondern auch und
besonders durch vorgängige Vorstellungen der Entscheider. Das Streben geht daher, wie man
heute sagt, nach kognitiver Konsistenz59. Daraus lassen sich auch einzelne kognitive biases
wie etwa der confirmation bias60
und perseverance61, aber auch die sunk cost fallacy
62 und der
status quo bias63 erklären: Sie bringen, häufig unwillkürlich, Konsistenz in die eigenen
Anschauungen, indem sie vorgeprägte Meinungen perpetuieren und einmal begonnene
Handlungen stabilisieren64.
Das Potential zu kritischem Denken ist daher von vornherein, wenngleich natürlich nicht
immer und bei jedem Akteur gleich, aber doch in der Tendenz, (leider) beschränkt. Umso
mehr ist auf primer65
wie Gütesiegel zu achten, die kognitive Einstellungen anstoßen können,
welche dann womöglich nur noch selten hinterfragt werden, jedenfalls von einer signifikant
großen Gruppe von Anlegern66.
Das Zusammenspiel von kognitivem Konsistenzstreben und biases kann eine trügerische
Illusion der Kontrolle generieren, in welcher sich die Akteure gar nicht bewusst sind, auf
welch informationell dünnem Eis sie sich bewegen. Dies illustriert auch die jüngste
Forschung zu beschränkter Aufmerksamkeit. Kognitive Verzerrungen können mit dieser eine
unheilige Allianz eingehen, die Kontrollillusion noch verstärkt, weil Warnsignale nicht
56 L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance (Stanford, 1957). 57 Festinger (Fn. 56), 13. 58 Festinger (Fn. 56), 8 f.; siehe auch A. Greenwald/D. Ronis, Twenty Years of Cognitive Dissonance: Case Study of the Evolution of a Theory, 85 Psychological Review 53-57 (1978), 54. 59 S. Samuelson/R. Zeckhauser, Status Quo Bias in Decision Making, 1 Journal of Risk and Uncertainty 7-59, 49 (1988). 60 Dazu R. Nickerson, Confirmation Bias: A Ubiquitous Phenomenon in Many Guises, 2 Review of General Psychology 175-220 (1998). 61 Dazu C. Guenther/M. Alicke, Self-enhancement and belief perseverance, 44 Journal of Experimental Social Psychology 706-712 (2008). 62 Dazu früh bereits H. Arkes/C. Blumer, The Psychology of Sunk Cost, 35 Organizational Behavior and Human Decision Processes 124-140 (1985). 63 Dazu Samuelson/Zeckhauser (Fn. 59); B. Madrian/D. Shea, The Power of Suggestion: Inertia in 401(k) Participation and Savings Behavior, 116 The Quarterly Journal of Economics 1149-1187 (2001). 64 Nickerson (Fn. 60), 197 für den confirmation bias und perseverance; R. Korobkin/Th. Ulen, Law and Behavioral Science: Removing the Rationality Assumption from Law and Economics, 88 California Law Review 1051-1144, 1125 (2000) für die sunk cost fallacy; Samuelson/Zeckhauser (Fn. 59), 38 f. für den status
quo bias; dies ist jedoch jeweils nicht die einzig mögliche Erklärung für diese Phänomene, siehe dazu auch die soeben angegebenen Fundstellen. 65 Zum priming siehe etwa Th. Mussweiler/F. Strack, Hypothesis-Consistent Testing and Semantic Priming in the Anchoring Paradigm: A Selective Accessibility Model, 35 Journal of Experimental Social Psychology 136-164 (1999). 66 Zur Frage, wie viele beschränkt rationale Akteure in Situationen empirischer Unsicherheit angenommen werden sollen, ausführlich P. Hacker, Overcoming the Knowledge Problem in Behavioral Law and Economics. Bounded Rationality, Uncertainty, and Decision Theory, Humboldt Private Law Working Paper No. 2015-02 (on file with author).
13
beachtet werden. Denn nicht nur die Kapazität kognitiver Verarbeitung Information hat eine
Grenze, deren Überschreitung Phänomene auslösen kann, die unter dem Stichwort
information overload bekannt geworden sind67; eine ebensolche Beschränkung gilt für die
Aufmerksamkeit. Dass nicht jeder Akteur ständig auf alles achten kann, ist ebenso richtig wie
trivial68: So wurde von Daniel Kahneman in einem seiner weniger bekannten Werke bereits
1973 monographisch die Aufmerksamkeit zur grundsätzlich begrenzten Ressource erklärt69.
Erstaunlich ist vielmehr, wie beschränkt diese Ressource ist. Selbst wenn die Umgebung
scheinbar aufmerksam beobachtet wird, ist die Fähigkeit, auch signifikante Änderungen
wahrzunehmen, sehr begrenzt (change blindness) 70. In einer bekannten Studie71 sollten auf
der Straße angesprochene Passanten einem Versuchsleiter auf einem Stadtplan den Weg
erklären. Mitten im Gespräch trugen zwei „Arbeiter“ eine große Tür dergestalt über den
Gehweg, dass die beiden Gesprächspartner für eine Sekunde getrennt wurden72. Dies nutzten
die Versuchsleiter, um den Gesprächspartner des Passanten auszutauschen. Die Hälfte der
Passanten fuhr danach mit der Wegerklärung fort, als sei nichts geschehen – dass sie mit einer
anderen Person redeten, hatten sie nicht bemerkt. Ein weiteres Kuriosum zeigte sich in der
Studie73 des „invisible gorilla“74: Hier bemerkten große Teile der Betrachter eines Films, der
Jugendliche beim Basketballspiel zeigt, nicht, dass zwischendurch ein großer Gorilla durch
die Gruppe der Spieler läuft, sich auf die Brust trommelt, und verschwindet. Die Betrachter
waren angewiesen worden, die Pässe der Spieler zu zählen; daneben waren viele nicht in der
Lage, unerwartete Umstände wie den Gorilla, außerhalb ihrer engen Fokussierung,
wahrzunehmen (inattentional blindness). Veränderungen an einem Gegenstand oder
hinzutretende, relevante Umstände werden häufig also nicht wahrgenommen, wenn man sich
auf den Gegenstand selbst fokussiert. Diese beschränkte Aufmerksamkeit ist dabei leider
häufig gepaart mit dem unerschütterlichen Glauben an die eigene Unfehlbarkeit gerade
aufgrund des Fokussierens – eine gefährliche Melange, die Kontrollillusion
heraufbeschwört75.
c) Effekt des Gütesiegels
Diese Phänomene werden durch ein Gütesiegel nun nicht etwa verringert, sondern aller
Wahrscheinlichkeit nach verstärkt. Natürlich ist das methodische caveat auch hier am Platz,
67 Siehe die Überblicke bei A. Edmunds/A. Morris, The problem of information overload in business organizations: a review of literature, 20 International Journal of Information Management 17-28 (2000); Th.
Jackson/ P. Farzaneh, Theory-based model of factors affecting information overload, 32 International Journal of Information Management 523-532 (2012). 68 Eine Studie zu der schwedischen Kennzeichnung von Möbeln mit Gebrauchsinformationen kam zu dem Schluss, dass nur 20 % der Kunden die Kennzeichnung, die an den zu verkaufenden Möbeln angebracht war, überhaupt wahrnahmen: A. Weser, Die informative Warenkennzeichnung. Eine Übersicht über den Stand der Praxis und der Literatur, Zeitschrift für Verbraucherpolitik 1977, 80-89, 85. 69 D. Kahneman, Attention and Effort (Englewood Cliffs, 1973), Überblick auf S. 7-11; siehe dazu auch M.
Eysenck/M. Keane, Cognitive Psychology. A Student’s Handbook (4th ed., Hove/New York, 2000), 151-155. 70 P. Williams/D. Simons, Detecting Changes in Novel, Complex Three-dimensional Objects, 7 Visual Cognition
297-322 (2000). 71 D. Simons/D. Levin, Failure to detect changes to people during a real-world intervention, 5 Psychonomic Bulletin and Review 644-649 (1998). 72 Video auf youtube unter https://www.youtube.com/watch?v=FWSxSQsspiQ. 73 D. Simons/Ch. Chabris, Gorillas in our midst: sustained inattentional blindness for dynamic events, 28 Perception 1059-1074 (1999). 74 Video auf youtube unter https://www.youtube.com/watch?v=IGQmdoK_ZfY. 75 C. Chabris/D. Simons, the invisible gorilla. And Other Ways Our Intuitions Deceive Us (New York, 2010), 7.
14
dass generalisierende Interpretationen von einzelnen Studien aufgrund beschränkter externer
Validität (ihrer beschränkten Übertragbarkeit auf andere Sachverhalte) immer nur mit größter
Zurückhaltung angestellt werden dürfen. Nichtsdestoweniger zeichnen die Studien zu
beschränkter Aufmerksamkeit und den genannten biases, von denen hier nur die absolute
Spitze des Eisbergs dargestellt werden konnte76, ein überzeugendes Bild von begrenzten
kognitiven Ressourcen und der Tendenz zum Aufbau von Kontrollillusion. Daher erscheint es
nicht unplausibel, dass auch ein Gütesiegel, immerhin mit der quasi-normativen Kraft des
Offiziösen ausgestattet, solchen Verhaltensmustern Vorschub leisten wird. Die Anleger
werden sich darauf verlassen, in dem Gefühl, damit vieles richtig gemacht und alles unter
Kontrolle zu haben. Kritische Reflexion wird so tendenziell unterdrückt, Fehlentscheidung
vorprogrammiert.
2. Fehlgewichtung von Wahrscheinlichkeiten
Kontrollillusion ist im Bereich von Derivaten und Verbriefungen jedoch besonders fatal, da
Anleger ohnehin dazu neigen, die (häufig opaken) Risiken von Finanzprodukten falsch
einzuschätzen. Behavioral Finance hat in den letzten Jahrzehnten unzählige kognitive
Verzerrungen offengelegt, die eine Fehleinschätzung von Risiken bedingen können77. So kann
Übergewichtung kleiner Wahrscheinlichkeiten, wie sie die Prospect Theory nahelegt, zu einer
Überinvestierung in Versicherungen – und damit diversifizierende Finanzprodukte – führen.
Andererseits bewirkt der optimism bias z.B. eine Unterschätzung von Risiken und damit eine
Unterversicherung78. Es lassen sich damit drei Klassen von Anlegern unterscheiden:
diejenigen, die Risiken im Einzelfall (a) unterschätzen, (b) überschätzen, oder (c) korrekt
einschätzen. Das Problem besteht nun darin, dass sich aufgrund der Wechselwirkung vieler
verschiedener kognitiver Verzerrungen in einer konkreten Entscheidungssituation häufig der
Nettoeffekt beschränkter Rationalität nicht vorhersagen lässt79 – ob es also nun insgesamt zu
einer Unter-, einer Über-, oder einer korrekten Einschätzung kommt. Infolge der beschränkten
externen Validität von empirischen Studien kann nur sehr selten und nur für ganz
kontextspezifische Situationen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung hinsichtlich der drei
Kategorien angegeben werden. In aller Regel werden dafür die empirischen Daten fehlen;
man wird also gerade nicht sagen können, dass 1/3 der Anleger zu Gruppe (a), 1/3 zu (b) und
1/3 zu (c) gehören wird80. Daher müssen die Auswirkungen des Qualitätssiegels auf alle drei
Gruppen, unabhängig von ihrer Größe, untersucht werden. Um das Ergebnis
vorwegzunehmen: Vor allem die letzten beiden Gruppen könnten schlussendlich eher
gefährdet als geschützt werden. Im Einzelnen:
76 Einen breiten Überblick bieten etwa Morris Altman (ed.), Handbook of Contemporary Behavioral Economics (Armonk, New York/London, UK, 2006); C. Camerer/G. Loewenstein/M. Rabin, Advances in Behavioral Economics (Princeton/Oxford, 2003). 77 Einen Überblick über Behaviora Finance bieten etwa N. Barberis/R. Thaler, A Survey of Behavioral Finance, in: R. Thaler (ed.), Advances in Behavioral Finance, Vol. II (New York/Princeton/Oxford, 2005), 1-75. 78 Dazu sogleich mehr, Teil III.2.b). 79 Dazu Hacker (Fn. 59); A. Schwartz, Regulating for Rationality, Stanford Law Review (forthcoming). 80 Eine solche Zuweisung von gleichen Wahrscheinlichkeiten zu allen Naturzuständen wird von einigen Ökonomen und Mathematikern jedoch mit dem von Laplace stammenden Prinzip des unzureichenden Grundes zu begründen versucht, siehe P.-S. Laplace, Théorie Analytique des Probabilités (2nde éd., Paris, 1814), iv-vi; J.
Harsanyi, Morality and the theory of rational behaviour, in: A. Sen/B. Williams (eds.), Utilitarianism and beyond (Cambridge, UK, et al., 1982), 39-62, 45 ff.; dieses Prinzip ist aber aufgrund seiner Willkürlichkeit grundsätzlich, auch aus mathematisch-logischen Gründen, abzulehnen, siehe etwa J. Rawls, A Theory of Justice (revised ed., Cambridge, Mass., 1999), 149 f.
15
a) Risiken und Verbriefung: Rv und Rh
Wie gesehen, besteht ein Gutteil der Funktion von Verbriefungen in der Verteilung von
Risiko81 zwischen den Parteien. Dieses Risiko kann etwa das Ausfallrisiko der Ernte des
Winzers sein, oder das Insolvenzrisiko eines Unternehmens, oder jedes andere Risiko. Die
Verbriefung bewirkt nun dreierlei: Sie modifiziert erstens das den underlyings immanente
Risiko, indem sie diese in einem Pool bündelt, tranchiert und daran bestimmte
Zahlungsflussstrukturen knüpft. Zweitens nimmt sie dem Verkäufer (originator) das Risiko
ab und verschiebt es an den Investor. Dieser kann zudem, drittens, durch die Übernahme
dieses Risikos ein entgegengesetztes Risiko kompensieren (hedging).
Wir haben es hier also mit zumindest zwei unterschiedlichen, relevanten Risiken zu tun:
erstens mit dem Risiko, das der Verbriefung als Finanzinstrument inhärent ist (Ausfallrisiko,
letztlich die Varianz der künftigen erwarteten Gewinne/Verluste82). Sei dies Rv; es wird in den
beiden ersten oben betrachteten Szenarien relevant (origination, Verschiebung). Zweitens
aber geht es noch um das (externe) Risiko, gegen das sich der Investor beim hedging, dem
dritten obigen Szenario, absichern möchte. Sei dies Rh. Das könnte etwa das Risiko der
Missernte in unserem Beispiel mit dem fränkischen Winzer sein. Hier besteht das Risiko also
in der Wahrscheinlichkeit, dass ein negatives Ereignis eintritt, gegen das sich der Investor
versichern möchte.
Damit die Investoren jedoch optimale, oder jedenfalls günstige, Entscheidungen treffen
können, müssen sie das jeweilig relevante Risiko (Rv oder auch Rh) richtig einschätzen. An
dieser Fähigkeit jedoch lässt die verhaltensökonomische und kognitionspsychologische
Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte einige Zweifel aufkommen.
b) (Fehl-)Einschätzungen
Vielmehr wird es, wie bereits bemerkt, drei Gruppen geben: Diejenigen Investoren, die
Risiken unterschätzen (Iu), diejenigen, die sie überschätzen (Iü), und schließlich diejenigen,
die sie korrekt einschätzen (Ik).
i. Unterschätzung
Einige kognitive Effekte können dazu führen, dass Risiko unterschätzt wird. Daraus rekrutiert
sich die Gruppe Iu. Das wohl bekannteste dieser Phänomene ist der optimism bias. Darunter
ist die Tendenz zu verstehen, die Wahrscheinlichkeit zu unterschätzen, dass negative
Ereignisse die eigene Person betreffen werden83 (comparative-optimism effect84). Raucher
81 Entscheidungstheoretisch, und hier relevant, spricht man von Risiko, im Gegensatz zu Unsicherheit, wenn sich eine bestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilung dem Raum der möglichen, für die Entscheidung relevanten Naturzustände zuweisen lässt, wenn also (mit hinreichender Bestimmtheit) gesagt werden kann, dass z.B. die Ernte mit 10 % Wahrscheinlichkeit schlecht, mit 20 % gut und mit 70 % mittel ausfallen wird. Der locus
classicus ist F. Knight, Risk, uncertainty and profit (Boston/New York, 1921), 19-21. Letztlich geht es beim Begriff des Risikos also immer um bestimmte Verteilungen von Wahrscheinlichkeiten. Zum Begriff des Risikos in der Finanzwissenschaft, als Varianz einer stochastischen Funktion, siehe oben (Fn. 29). 82 Siehe dazu oben (Fn. 29). 83 N. Weinstein/W. Klein, Resistance of Personal Risk Perceptions to Debiasing Interventions, in: Th. Gilovich/D. Griffin/D. Kahneman (eds.), Heuristics and Biases: The Psychology of Intuitive Judgment (Cambridge, UK, 2002), 313-323, 323. 84 J. Chambers/P. Windschitl, Biases in social comparative judgments: The Role of Nonmotivated Factors in Above-Average and Comparative-Optimism Effects, 130 Psychological Bulletin 813-838, 813 (2004).
16
sind so der Meinung, sie selbst seien für Krebs weniger anfällig als andere Raucher85,
Krebspatienten, sie selbst seien durch die Krankheit weniger gefährdet als andere
Krebspatienten, und Ehepartner kurz nach Eheschließung halten ihre Ehe natürlich ohnehin
für unfehlbar86. Hinzu kommt die Neigung, sich in vielerlei Hinsicht für besser befähigt zu
halten als die relevante Vergleichsgruppe (above average effect87), etwa beim Autofahren88
oder bei der Gründung eines Unternehmens89. Auch wenn viele der Studien im Einzelnen an,
teils groben, methodischen und mathematischen Mängeln leiden90, so lässt sich doch
insgesamt eine Tendenz zu einem überhöhten Optimismus (man ist versucht zu sagen:
glücklicherweise) nicht gänzlich in Abrede stellen91.
Dies führt bei der Bewertung von Verbriefungen dazu, dass Rv (also die Varianz der
Zahlungsströme, unter anderem das Risiko, das Investment komplett zu verlieren) zu niedrig
eingeschätzt wird. Der Kunde ersteht dann ein risikoreicheres Produkt, als es seinen
Präferenzen entspricht92. Beim hedging hingegen sind die Konsequenzen etwas komplexer:
Wird einerseits das Risiko Rh eines negativen Ereignisses, etwa einer Missernte, durch ein auf
das identische Ereignis abstellendes Produkt kompensiert, so wird sich die Fehleinschätzung
zwar zweimal (identisch oder jedenfalls ähnlich) auswirken. Allerdings wird der Winzer dann
eventuell Schwierigkeiten haben, ein passendes Produkt zu finden, da er den Eintritt des
Versicherungsereignisses für zu unwahrscheinlich hält. Hier sind wiederum zwei Fälle zu
unterscheiden: Kontrahiert er erstens mit einem weniger optimistischen Vertragspartner, so
werden die preislichen Vorstellungen über Leistung und Gegenleistung stark divergieren.
Auch für diese Fälle aber hält letztlich die schillernde Welt der Finanzprodukte geeignete
Konstrukte bereit, bei denen beide Vertragspartner auf subjektiv unterschiedlich eingeschätzte
Werte von Rh wetten. Nichtsdestoweniger wird die „Versicherung“ über Derivate anders und
weniger ökonomisch effizient verlaufen als bei korrekter Einschätzung von Rh durch den
Winzer. Dies folgt daraus, dass Pareto-Optimalität (= ökonomische Effizienz), die aus
Wettbewerb am Markt entstehen soll, perfekte Information voraussetzt93. Findet der Investor
hingegen zweitens eine Gegenpartei, die dieselben nicht-rationalen Erwartungen hat wie er
selbst, werden sich die beiden zwar schnell auf einen Preis für das Produkt (in Form des vom
Investor zu leistenden Zahlungsstroms) einigen können. Allerdings führt die beiderseitige
85 P. Slovic, Do Adolescent Smokers Know the Risks?, 47 Duke Law Journal 1133-1141 (1998). 86 N. Weinstein, Unrealistic Optimism About Future Life Events, 39 Journal of Personality and Social Psychology 806-820, 810 (1980). 87 Chambers/Windschitl (Fn. 84), 813. 88 D. DeJoy, The Optimism Bias and Traffic Accident Risk Perception, 21 Accident Analysis and Prevention 333-340 (1989). 89 Grundlegend dazu C. Camerer/D. Lovallo, Overconfidence and Excess Entry: An Experimental Approach, 89 American Economic Review 306-318 (1999), die das überhöhte Vertrauen in eigene Fähigkeiten allerdings als overconfidence bezeichnen, und nicht, wie hier, als optimism bias. 90 A. Harris/U. Hahn, Unrealistic Optimism about Future Life Events: A Cautionary Note, 118 Psychological Review 135-154 (2011). 91 Dazu im Einzelnen P. Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität (erscheint 2016), unter optimism bias. 92 Nach dem Capital Asset Pricing Model (CAPM, dazu unten Fn. 125) kann ein höheres Risiko zwar zu höherem return führen; dies muss jedoch nicht der Fall sein, da CAPM ja nur den Erwartungsgewinn berechnet (und auch dies bekanntermaßen ja nur mit sehr beschränkter Validität). Jedenfalls entspricht das Finanzprodukt nicht der Risikopräferenz des Investors. 93 K. Arrow/G. Debreu, Existence of an Equilibrium for a Competitive Economy, 22 Econometrica 265-290 (1954); Stiglitz (Fn. 54), 1442 Fn. 2.
17
Unterschätzung des zu versichernden Risikos zu einem Narrativ, das sich an die von
Gennaioli, Shleifer und Vishny dargestellte Vernachlässigung von tail risk anlehnen kann,
von der unten noch die Rede sein wird94: Aufgrund von non-rational expectations wird eine
zu große Menge von diesen Produkten verkauft; sobald sich herausstellt (surprise effect), dass
die beiderseitigen Erwartungen an z.B. eine Missernte zu niedrig angesetzt waren, erweist
sich das Geschäft für die Gegenpartei des Investors als toxisch; sie wird versuchen, die
Verbriefung abzustoßen; geschieht dies wegen einer generellen Markterkenntnis über das
spezifische Risiko hinsichtlich einer Reihe von parallel strukturierten Verbriefungen, tritt
genau das Phänomen einer Entwertung und Abwärtsspirale ein, das bei der Finanzkrise zu
beobachten war; systemisches Risiko entlädt sich, die durch nicht-rationale Erwartungen
gefütterte Blase platzt.
Wird andererseits das zu kompensierende Risiko durch ein Produkt versichert, das nicht auf
Rh abstellt, sondern dieses Risiko z.B. zahlenmäßig beziffert (z.B.: „im Falle von Missernte,
höchstens aber in 10 % der Fälle über den Zeitraum der Dauer des Vertrags“), wird der
Winzer einfach zu wenig Versicherung erwerben. Auch dies ist ein suboptimales, ineffizientes
Ergebnis.
Man sieht also: Wie man es auch wendet, eine Unterschätzung Rv oder Rh, geboren aus
kognitiven Prozessen, führt in jedem Fall zu einer Fehlinvestition.
ii. Überschätzung
Biases gibt es jedoch wie Sand am Meer. Daher nimmt es nicht wunder, dass für jeden bias,
der in eine Richtung weist, auch immer ein anderer gefunden werden kann, der in die
entgegengesetzte wirkt. Im hiesigen Fall: die π-Funktion der (Cumulative95) Prospect
Theory96. Diese bewirkt die berühmte Übergewichtung kleiner Wahrscheinlichkeiten, die
Kahneman und Tversky zu einem Herzstück ihrer Theorie machten; der Theorie, die bis heute
die führende Formalisierung der heuristics and biases-Literatur darstellt97. Die π-Funktion ist
eine Transformation von Wahrscheinlichkeiten und besagt, dass menschliche Entscheider
Wahrscheinlichkeiten nicht als mathematische Entitäten wahrnehmen, sondern, wenig
verwunderlich, gewissen „Verzerrungen“ unterwerfen. Kahneman und Tversky behaupteten
nun, dass sich eine Reihe von Experimenten gut dadurch erklären ließe, dass besonders kleine
Wahrscheinlichkeiten überschätzt werden98. Diese Vorstellung hat sich bis heute im Bereich
von behavioral economics, trotz nicht immer belastbarer Daten und auch gegenteiliger
94 Siehe unten (Fn. 115 und Text). 95 Die Cumulative Prospect Theory ist eine mathematisch raffiniertere Version der Prospect Theory, die mit kumulativen Wahrscheinlichkeiten operiert und dadurch entscheidende, theoretische Schwächen der alten Theorie vermeidet, siehe A. Tversky/D. Kahneman, Advances in Prospect Theory: Cumulative Representation of Uncertainty, 5 Journal of Risk and Uncertainty 297-323 (1992). 96 Die klassische Formulierung der Prospect Theory findet sich in D. Kahneman/A. Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, 47 Econometrica 263-292 (1979); daneben lassen sich natürlich noch unzählige weitere Gründe für eine Überschätzung des Risikos finden, siehe etwa sogleich zur availability
heuristic. 97 Vgl. N. Barberis, 30 Years of Prospect Theory in Economics: A Review and Assessment, NBER Working Paper 18621, 2012, abrufbar unter http://www.nber.org/papers/w18621. 98 Kahneman/Tversky (Fn. 31).
18
Ergebnisse99, hartnäckig gehalten. Ebenso ist eine Überbewertung von Risiken dadurch
möglich, dass der Investor gerade Geschichten über ökonomische Krisen und Manifestierung
von Risiken gehört oder erlebt hat. Dann kann die availability heuristic einsetzen, die bewirkt,
dass Ereignisse, die „mental verfügbar“ sind, als wahrscheinlicher bewertet werden100.
Die Folgen der Überbewertung der relevanten Risiken sind denen der Unterbewertung genau
entgegengesetzt: Der Investor erhält ein risikoärmeres Produkt, als er wünscht, und damit
eines mit geringerem Erwartungsgewinn101. Gleichzeitig überschätzt er das zu
kompensierende Risiko, etwa der Missernte, und erwirbt zu viel (= zu teure) oder anderweitig
durch nicht-rationale Erwartungen verzerrte Versicherung. So entsteht letztlich die Gruppe Iü.
iii. Korrekte Einschätzung
Schließlich mag es auch noch Individuen geben, die, zufällig oder aufgrund hoher
entscheidungstheoretischer Rationalität, die maßgeblichen Risiken korrekt einschätzen (Ik).
Sie machen im Prinzip alles richtig, erwerben das gewünschte Produkt, und die gewünschte
Menge an Versicherung zu den besten Konditionen (sofern auch sonst alle Bedingungen für
den perfekten Vertrag102 erfüllt sind, was hier vereinfachend einmal, wenngleich
kontrafaktisch, angenommen wird). Ihr Verhalten ist präferenzkonform.
c) Effekt des Gütesiegels
Was ändert sich an dieser Analyse nun durch die Einführung eines Gütesiegels? Die Antwort
ist: Einerseits zu viel, andererseits zu wenig.
i. Auswirkungen auf Rv
Zu viel ändert sich, weil das Gütesiegel eine (ziemlich) pauschale Verschiebung der
Risikowahrnehmung hinsichtlich von Rv bewirkt; das ist jedenfalls eine plausible Prognose,
die empirisch erhärtet werden müsste. Ein Gütesiegel strahlt, gerade aufgrund seiner offiziell-
amtlichen Provenienz, Verlässlichkeit und Qualität aus. Es atmet gewissermaßen, wo nicht
Risikofreiheit, so doch Schutz und minimales Risiko. Die subjektive Einschätzung von Rv
wird daher verringert, und zwar, das wäre die Hypothese, für alle drei Gruppen von Anlegern
(überbewertende, unterbewertende, korrekt bewertende). Auch diese Annahme erscheint
prima facie plausibel. Das wiederum bedeutet aber lediglich, dass, je nach Intensität der
Verschiebung, nunmehr einerseits einige Mitglieder von Iü näher an Ik heranrutschen, ihre
Risikowahrnehmung also im entscheidungstheoretischen Sinne rationaler wird103. Zugleich
aber werden, andererseits, einige weitere Mitglieder von Iü nunmehr in Iu landen, wenn
nämlich die Verschiebung größer ist als ihre ursprüngliche Verzerrung. Für die gesamte
Gruppe Iu sowie Ik gilt ferner: Ihre Mitglieder werden sich (weiter) von einer korrekten
99 So Shane Frederick, ehemaliger enger Mitarbeiter von Daniel Kahneman und jetzt Professor an der Yale School of Management, in einem Gespräch mit dem Verfasser über nicht publizierte Datensätze. 100 Grundlegend A. Tversky/D. Kahneman, Availability: A Heuristic for Judging Frequency and Probability, 5 Cognitive Psychology 207-232 (1973); jüngst Th. Pachur/R. Hertwig/F. Steinmann, How Do Peope Judge Risks? Availability Heuristic, Affect Heuristic, or Both?, 18 Journal of Experimental Psychology: Applied 314-330 (2012). 101 Siehe dazu oben (Fn. 92). 102 Dazu R. Cooter/Th. Ulen, Law and Economics (6th ed., Boston et al., 2011), 291 ff. 103 Das gilt bildlich gesprochen dann, wenn die Verschiebung geringer ist als die ursprüngliche „Entfernung“ von der rationalen Einschätzung der Mitglieder von Ik.
19
Risikoeinschätzung in Richtung Unterschätzung entfernen. Es erfolgt also eine Umverteilung
von Iü und Ik zu Iu, sowie zu einem kleineren Maße von Iü zu Ik. Diejenigen, die innerhalb von
Iü bleiben, werden besser, diejenigen, die aus Ik nach Iu emigrieren, und diejenigen, die in Iu
bleiben, schlechter gestellt.
Hier ändert sich also zu viel: Statt dass nur die Mitglieder von Iü in Richtung Ik verschoben
werden, stupst das Gütesiegel zugleich Mitglieder von Iu und Ik von Ik weg. Je nach
ursprünglicher Verteilung aller Betroffenen auf die drei Gruppen kann dies zu negativen
Nettoeffekten führen, insbesondere dann, wenn sich die Extensionen von Iu und Iü in etwa die
Waage halten104.
ii. Auswirkungen auf Rh
Hinsichtlich Rh hingegen ändert sich zu wenig, genauer: gar nichts. Denn das Gütesiegel
bezieht sich ja nur auf die Güte der Verbriefung, nicht aber auf die externen Risiken, die ein
Investor eventuell absichern möchte. Wie gesehen können Fehleinschätzungen von Rh jedoch
ebenso zu ökonomischen Effizienzverlusten und anderen misslichen Konsequenzen führen
wie Fehleinschätzungen von Rv. Nun lässt sich entgegnen, dass die Korrektur von Fehlern in
der Bewertung von Rh ja auch gar nicht die Aufgabe ist, der sich die Kommission mit der
Einführung von Gütesiegeln stellen wollte. Dies greift jedoch zu kurz. Denn erstens ist
uneinsichtig, weshalb lediglich eines von zwei relevanten Risiken regulatorisch aufgegriffen
werden soll, wenn deren Fehleinschätzung beide ähnlich negative Effekte zeitigen. Zweitens
jedoch kann es zu komplexen Interaktionen kommen zwischen Rh und Rv: Denn auch beim
hedging ist ein Faktor für die Auswahl des geeigneten hedging-Produkts natürlich dessen
Risikostruktur, deren Wahrnehmung in der soeben entfalteten Weise verändert wird105.
iii. Gesamteffekt
Überspitzt formuliert lässt sich damit zur Wirkung des Gütesiegels sagen: Marktversagen
infolge von Informationsasymmetrie (hinsichtlich der Qualität des Finanzprodukts) wird
(sehr) partiell kompensiert, jedoch nur durch die Verstärkung einer neuen Form von
Marktversagen: desjenigen infolge von beschränkter Rationalität.
Zunächst einmal bietet die Uninformiertheit der Investoren über Rv eine klassische
Konstellation von Informationsasymmetrie, was, wie spätestens seit Akerlofs Paper über
markets for lemons bekannt ist, zu Marktversagen führen kann106. Die Antwort, ein Gütesiegel
zu installieren, bedient ebenfalls noch eine Standardkategorie der Informationsökonomik:
104 Denn dann ist der Effekt für die Mitglieder von Iu, von Ik und einen Teil von Iü schlecht; weiterhin muss angenommen werden, dass der Effekt im Mittel Iu und Iü etwa gleich betrifft (bzw. präziser: die jeweils nach Ik hin- und wegwandernden Mitglieder). 105 Dass hingegen Rh nicht, Rv jedoch schon verändert wird, dürfte darüber hinaus nicht zu einer negativen „asymmetrischen“ Wirkung führen. Denn, wie oben gesehen, wird das hedging häufig so geschehen, dass dasselbe Ereignis, gegen das versichert werden soll, auch in Bezug genommen wird im hedging-Instrument. Dann spielt aber insofern zweimal Rh eine Rolle. Wenn anders kompensiert wird, so läuft auch das nur insoweit über Rv wie soeben im Text angesprochen. 106 G. Akerlof, The Market for "Lemons": Quality Uncertainty and the Market Mechanism, 84 The Quarterly Journal of Economics 488-500 (1970).
20
signaling107, in diesem Fall nicht durch die besser informierte Partei selbst, sondern durch
regulatorische Behörden.
Das Problem liegt jedoch darin, dass das Signal nicht nur inhaltlich irreführend ist, wenn es
sich an der Bonität der verbrieften Forderungen orientiert, sondern auch beschränkte
Rationalität keineswegs ausräumt, sondern tendenziell verstärkt: Kontrollillusion wird
gefördert, und fehlerhafte Wahrscheinlichkeitsvorstellungen werden nicht korrigiert, sondern
pauschal transformiert. Informational wird so durch behavioral market failure
eingetauscht108. Dies muss nicht notwendig in allen Fällen so sein und sollte grundsätzlich
kontextabhängig und situationsspezifisch untersucht werden. Eine makroskopische Tendenz
zu dieser unerfreulichen Querverschiebung lässt sich jedoch nach dem bisher Gesagten
durchaus erkennen.
IV. Alternativsystem: Verbriefung, Versicherung und Risiko
Diese Kritikpunkte am Kommissionsentwurf geben zu einer Auslotung von Alternativen
Anlass. Diese können hier natürlich nicht vollumfänglich dargestellt werden. Einige Leitlinien
können jedoch aufgezeigt werden.
Methodisch sollte sich eine Regulierung von Verbriefungen und Derivaten orientieren
einerseits an deren ökonomischen Funktionen und andererseits am realen Anlegerverhalten;
sie muss mithin „economically and behaviorally informed“ sein.
Normativer Ausgangspunkt kann die Überlegung sein, dass der Emittent von Finanzprodukten
(originator; SPV) stärker als bisher an der Realisation von deren Risiko109 beteiligt werden
sollte – sonst werden Gewinne internalisiert und Risiken externalisiert. Dabei kann in der
tatbestandlichen Umsetzung eines solchen Haftungssystem nach den legitimen/ökonomisch
sinnvollen Funktionen und den illegitimen/ökonomisch weniger sinnvollen Dysfunktionen
von Derivaten und Verbriefungen differenziert werden, die oben dargestellt wurden. Zugleich
sind wirksame Maßnahmen zu suchen, durch welche die Anleger unter Berücksichtigung der
Eigentümlichkeiten menschlichen Entscheidungsverhaltens (behavioral economics; cognitive
psychology) zumindest zu einer informierteren oder besser kalibrierten Entscheidung gelenkt
werden können. Zwei Wege sollen hier schlaglichtartig ausgeleuchtet werden: Produkthaftung
für Finanzprodukte, und debiasing.
1. Produkthaftung für Finanzprodukte
Ein System für die Beteiligung von Emittenten von Finanzprodukten an der Materialisierung
von Risiken, welche sie selbst geschaffen haben und in den Markt hineintragen, hat der
Verfasser an anderer Stelle, gemeinsam mit Wolfgang Fikentscher und Rupprecht Podszun,
107 M. Spence, Job Market Signaling, 87 Quarterly Journal of Economics 355-374 (1973). 108 Dazu Fn. 49. 109 Sowohl am idiosynkratischen als auch, besonders, am systemischen Risiko, dazu sogleich detaillierter.
21
nach dem Modell des Produkthaftungsrechts im Detail ausgearbeitet110. Daher sollen an dieser
Stelle einige überblicksartige Hinweise genügen111.
Normative Grundlage ist das ehrwürdige Prinzip, dass derjenige, der ein Risiko generiert oder
aufrechterhält und daraus potentiellen Nutzen zieht, auch die potentiellen Konsequenzen der
Manifestation dieses Risikos tragen sollte112. Auf Finanzprodukte wie Derivate angewandt,
bedeutet dies: Wenn originators wissentlich risikoreiche Kredite vergeben in der alleinigen
Absicht, diese bündeln zu lassen, weiterzuverkaufen und dadurch Liquiditätsgewinne zu
erzielen (sog. originate and distribute-Modell), und dadurch idiosynkratische sowie
systemische Risiken in den Markt einspeisen, so sollte dies grundsätzlich, anders als
gegenwärtig, durch eine zumindest anteilige (Gefährungs-)Haftung kompensiert werden in
den Fällen, in welchen sich die idiosynkratischen oder systemischen Risiken realisieren.
Ferner sollten die SPVs (und, soweit etwa mithilfe von piercing the veil oder gesetzlicher
Anordnung möglich, deren Muttergesellschaften sowie die individuellen
Entscheidungsträger113) und andere Distributoren, welche die Derivate letztlich am Markt
platzieren, jedenfalls dann grundsätzlich und anteilig für die Realisierung der genannten
Risiken haften, wenn sie diese durch die Verbriefung vergrößern.
Die Schwelle für eine anteilige Haftung der SPVs, Distributoren und originators (im
Folgenden untechnisch: Emittenten) für Verluste infolge des Erwerbs von Finanzprodukten
muss aber deren teloi Rechnung tragen. Daher sollte man nach dem Zweck des Produkts
differenzieren: Dient es tatsächlich primär der Diversifizierung oder auch der Versicherung
bestehender Risiken (hedging), so sollte der Emittent von einer Haftung verschont bleiben.
Handelt es sich jedoch im Schwerpunkt um ein Spekulationsprodukt, kann Regulierung, etwa
in Form von anteiliger Haftung eingreifen. Finanzprodukte wären dann endlich keine
Produkte ohne Produkthaftung mehr.
Ein Beispiel: Wenn das Z-SPV notleidende Kredite der Y-Bank aufkauft, um diese zu
verbriefen, und dadurch infolge von Diversifizierung eine Risikominderung eintritt, sollte
keine Haftung eintreten. Wenn aber die Produkte zugleich mit einer arbiträren
Spekulationskomponente versehen werden, etwa, indem die Auszahlungen als weitere
Bedingung an die aktuellen Ergebnisse der Bundesliga angepasst werden, so wäre die
Aufgreifschwelle für Haftung erfüllt. Ist andererseits der Zahlungsstrom aus dem Produkt mit
z.B. der Entwicklung des EURIBOR-Zinssatzes verknüpft (statt mit der Bundesliga), wäre im
Einzelfall zu entscheiden, ob je nach Investor eine hinreichende hedging-Komponente
vorliegt oder nicht.
110 Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), Chapter 3: A Matter of Risk and Balance – Discussing a System of Liability for Financial Products. 111 An einigen Stellen werden diese über die in Fn. 110 genannte Darstellung hinausgehen, da sich seit dem Erscheinen dieses Textes einige neue Entwicklungen in der Finanzwelt und -wissenschaft ergeben haben. 112 K. Larenz/C.-W. Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II (13. Aufl., 1994), § 84 I 2. a); R. Zimmermann, The Law of Obligations (Cape Town et al., 1996), 281 ff., besonders 291 f., auch zum Streit hinsichtlich der Geltung von periculum est emptoris im klassisch-römischen Recht. 113 Dies hat den Hintergrund, dass die SPVs häufig kein eigenes Vermögen besitzen, so dass eine gegen sie gerichtete Haftung im Ernstfall kaum Aussicht auf Realisierung von Schadensersatzforderungen hat. Dies schließt auch an die von Chris Thomale in diesem Band angestoßene Debatte zur Haftungsbeschränkung von Kapitalgesellschaften an.
22
Ferner kann eine solche Haftung eingreifen, wenn Verbriefungen konsequent die
Vernachlässigung bestimmter Risiken durch Investoren ausnutzen – gemeint sind hier vor
allem die tail risks, also die sehr unwahrscheinlichen, aber eben doch nicht ausgeschlossenen
Ereignisse (wie etwa eine globale Finanzkrise)114. Wie Gennaioli, Shleifer und Vishny gezeigt
haben, beruht ein Großteil des Geschäftsmodells der Verbriefungsindustrie (auch) auf der
Unterschätzung dieser tail risks durch die Anleger115. Wird dies explizit ausgenutzt, sollte das
Anknüpfungspunkt für eine Haftung sein können116.
Entscheidend ist dabei, dass eine Haftung für Verluste des Investors, neben vielen
finanzmathematischen Einschränkungen, immer nur etwa 50 % der Schäden umfassen darf117.
So bleiben Anreize für den Investor erhalten, selbst nach guten Produkten zu screenen, und er
wird nicht einfach vollumfänglich versichert. Die Beschränkung der Haftung auf solche
Produkte, die Risiken erhöhen und keinem hedging-Zweck unterliegen, orientiert sich ferner
eng an den zuvor ausgemachten, legitimen Funktionen der Verbriefung. Zugleich wird damit
der Anreiz, spekulative Produkte zu generieren, die systemische Risiken schaffen, drastisch
verringert. Deren Risiken werden dann (partiell) von denjenigen internalisiert, die im
Erfolgsfall auch daran verdienen. Dies funktioniert im besten Fall dann wie eine Pigouvian
tax auf systemisches Risiko118, die aber dezentral, nämlich durch den Markt, verwaltet wird.
2. Debiasing
Die Setzung finanzieller Anreize zur Internalisierung von Externalitäten und zur sorgfältigen
Konstruktion von Verbriefungen speist sich aus den ökonomischen Erwägungen zu deren
Funktionen und Dysfunktionen. Daneben sind jedoch auch die verhaltensökonomischen und
psychologischen Befunde, die in Teil III dargestellt wurden, zu berücksichtigen. Dies kann
auf zwei Arten geschehen: Erstens können und sollten im Nachgang zu spezifischen Formen
von ökonomisch fundierter Regulierung, etwa dem soeben vorgeschlagenen Haftungssystem,
dessen reale Konsequenzen empirisch überprüft werden, um sicherzustellen, dass die
erstrebten normativen Ziele auch erreicht werden. Zweitens aber kann auch bereits bei der
Konstruktion eines Regulierungsansatzes empirisches Wissen eingespielt werden, und nicht
erst zur Qualitätskontrolle qua Folgenbewertung. Diese zweite Variante des Einbezugs
verhaltensökonomischer und psychologischer Erkenntnisse liegt vielen Reformvorschlägen,
die im Bereich von behavioral law and economics gemacht werden, zugrunde, etwa dem von
Thaler und Sunstein popularisierten nudging119. Hinzu kommen Ansätze, die sich
114 Der Begriff erklärt sich daraus, dass diese an einem der äußeren Enden, den tails, einer Normalverteilung abgebildet zu werden pflegen in der Finanzierungstheorie. 115 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2): diese Unterschätzung ist nach den Autoren Konsequenz von local thinking
(453), also der Tendenz, einige seltene Naturzustände überhaupt nicht in den Entscheidungsraum einzuspeisen; dies kreiert dann non-rational expectations (454); konkreter zum shadow banking id., A Model of Shadow Banking, 58 The Journal of Finance 1331-1361 (2013). 116 Zu weiteren Regulierungsvorschlägen hinsichtlich der Ausnutzung der Unterbewertung von tail risks siehe Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 4.A und 5; besonders beliebt ist zurzeit die zwangsweise Einbehaltung von Teilen des Finanzprodukts durch die Emittenten (ebd., 5.C., unter Risk Retention). 117 Dazu im Einzelnen Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), Chapter 3, 3.2.4.5. und 3.4.3. 118 Dazu Acharya/Pedersen/Philippon/Richardson (Fn. 47), 122. 119 R. Thaler/C. Sunstein, Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness (New Haven/London, 2008); zur Kritik dieses Ansatzes umfassend etwa Hacker (Fn. 91); ferner P. Hacker, Rethinking Autonomy, in H.-W. Micklitz/K. Purnhagen/A.-L. Sibony (eds.), Consumer Research Handbook (Oxford,
23
übergreifend mit dem Begriff des Debiasing beschreiben lassen, die also versuchen,
vorhandene bzw. vermutete biases spezifisch bereits auf kognitiver Ebene zu reduzieren120.
Die in Bezug auf Verbriefungen in Betracht kommenden, verhaltensökonomisch und
kognitionspsychologisch fundierten Regulierungsmöglichkeiten können hier nicht im Ansatz
umfassend dargestellt werden121. In Anbetracht der oben festgestellten Schwächen eines
Gütesiegels (uniforme Transformation von Wahrscheinlichkeitsschätzungen: „zu viel“122)
lässt sich jedoch zumindest ein exemplarischer, aber paradigmatischer Vorschlag machen: Ein
Ziel von debiasing könnte es sein, mehr Akteure aus Iü und Iu in Richtung Ik zu lenken, also
hin zu einer objektiv korrekten Einschätzung von Rv123. Dieses Unterfangen ist jedoch
aufgrund der Vielzahl an biases, welche die subjektive Bewertung von Rv verzerren können,
durchaus komplex. Hier kann in zwei Richtungen geforscht werden: einerseits zu kognitiv
optimierter Pflichtinformation (cognitively optimized disclosure), und andererseits zu
Warnhinweisen.
a) Cognitively Optimized Disclosure
Cognitively optimized disclosure124 strebt nach einer besseren, für die Rezipienten
verständlicheren Abbildung der Risiken, die mit der Investition in Verbriefungen
einhergehen. Das Design von Pflichtinformationen, das künftig im Rahmen eines
Informationsmodells 2.0 gleichrangig mit dem Inhalt derselben in den Fokus rücken muss,
sollte dabei mithilfe verhaltensökonomischer und kognitionspsychologischer Erkenntnisse
optimiert werden.
Ein Beispiel ist die Aufbereitung des Risikos Rv. Hier erscheint es sinnvoll, das Risiko eines
Investments in eine Verbriefung zu vergleichen mit dem allgemeinen Marktrisiko, also dem
Risiko, das man eingeht, wenn man in den gesamten Kapitalmarkt (eines Landes) investiert.
In der Finanzierungstheorie wird dieses relative Risiko üblicherweise als β weight bezeichnet,
nach dem Faktor, der dieses Risiko im Rahmen des capital asset pricing model (CAPM)
abbildet125. Diesen Faktor, der sich auf das Risiko des gesamten Produkts, und nicht nur der
forthcoming 2015); R. Rebonato, Taking Liberties. A Critical Examination of Libertarian Paternalism (Houndmills/New York, 2012). 120 Grundlegend Ch. Jolls/C. Sunstein, Debiasing through Law, 35 Journal of Legal Studies 199-241 (2006); kritische Würdigung bei P. Hacker, “Debias Them!? Towards a Critical Theory of Reducing Biases and Uncertainty in Private Law”, Paper presented at the 3rd Yale Doctoral Scholarship Conference, Yale Law School, New Haven, 2012 (on file with author). 121 Einen guten Einstieg bieten hier M. Barr/S. Mullainathan/E. Shafir, Behaviorally Informed Financial Services Regulation, Asset Building Program Policy Paper, New America Foundation, 2008, abrufbar unter http://repository.law.umich.edu/other/29/. 122 Siehe oben, Teil i. 123 Ebenso wünschenswert wäre natürlich eine Lenkung hin zur korrekten Einschätzung von Rh. Die folgenden Erwägungen gelten dafür analog. 124 Dazu umfassend Hacker (Fn. 91). 125 Danach gilt: ra = rf + β (rm – rf); ra ist dabei der expected return des Asset a, rf der return eines risikofreien Investments, und rm der return des gesamten betrachteten Marktes; rm – rf bezeichnet dann das sog. market
premium, also der höhere Erwartungsgewinn bei Investition am Markt als in ein risikofreies Produkt; dieser wird mit β multipliziert, wobei β eben angibt, um welchen Faktor das Risiko von a das allgemeine Marktrisiko über- oder unterschreitet. CAPM wurde in den 1960er Jahren von William F. Sharpe, John Lintner und Jan Mossin entwickelt; zwar ist die Validität von CAPM zu Recht umstritten; allerdings geht es dabei im Wesentlichen darum, ob CAPM den Erwartungsgewinn (return) eines Finanzprodukts richtig prognostiziert; siehe zum Ganzen etwa R. Merton, An Intertemporal Capital Asset Pricing Model, 41 Econometrica 867-887, 867-68 (1973); E.
Fama/K. French, The Capital Asset Pricing Model: Theory and Evidence, 18 The Journal of Economic
24
underlyings bezieht, könnte man nun in Form einer farblich kodierten „Risikoampel“
graphisch darstellen: Grün für Produkte unterhalb des Marktrisikos (β < 1); gelb für Produkte
etwa gleich dem Marktrisiko (β ≈ 1); und rot für Produkte oberhalb des Marktrisikos (β > 1).
Dies würde nicht nur Komplexität sinnvoll reduzieren, sondern auch die empirisch belegte
Kraft von Graphiken nutzen, um Informationen zu übermitteln126. So können relevante Daten
dergestalt verpackt werden, dass auch die Grenzen kognitiver Verarbeitungsfähigkeit127 der
Investoren beachtet bleiben. Dies würde den Gedanken des Gütesiegels durch eine verstärkte
Visualisierung von Risiken aufgreifen, aber auf bessere Parameter für dessen Messung
abstellen.
b) Warnhinweise
Eine weitere Form von debiasing können Warnhinweise darstellen, mit deren Hilfe versucht
werden kann, subjektive Risikoeinschätzungen näher an objektive Werte anzunähern. Damit
kann einerseits vor Risiken in kognitiv wirksamer Form, andererseits aber sogar auch vor
biases selbst gewarnt werden. Allerdings können diese Techniken nur sehr kontextspezifisch
eingesetzt werden, nachdem festgestellt wurde, dass z.B. optimism bias in einer bestimmten
Situation für die allermeisten Investoren mehr Gewicht hat als Übergewichtung kleiner
Wahrscheinlichkeiten. Dieses Verhältnis kann sich auch zeitlich verändern, z.B. je nachdem,
ob an der Börse gerade Krisenstimmung herrscht oder nicht. Wenn man etwa einmal durch
eine Feldstudie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt hat128, dass optimism bias in
einer bestimmten Situation die relevante Verzerrung ist, so kann man einerseits z.B. durch
Vergrößerung der Salienz des Risikos Rv seiner Unterschätzung entgegenwirken129. Alternativ
kann man jedoch auch in standardisierter Form vor dem optimism bias selbst mittels eines
prominent platzierten Hinweises warnen: Die empirischen Erkenntnisse speisen zumindest die
Hoffnung, dass dies optimism bias reduzieren könnte130, auch wenn dies im Einzelnen noch
empirisch zu überprüfen wäre.
V. Zusammenfassung
Die Kommission möchte Wachstumsförderung und Lehren aus der Finanzkrise verbinden,
indem sie einen Markt für „nachhaltige Verbriefungen“ schafft. Dieses Ziel ist an sich zu
begrüßen. Die Erwägung, dafür ein Gütesiegel für Verbriefungen einzuführen, die auf
„guten“, mit einer hohen Bonität gesegneten Forderungen beruhen, ist jedoch zu dessen
Erreichung wenig zielführend. Sie missachtet die ökonomischen Funktionen von Verbriefung
ebenso wie die verhaltensökonomischen und kognitionspsychologischen Erkenntnisse zum
Perspectives 25-46 (2004), besonders 30 ff. zu empirischen Tests der Relation von β und return. Weitgehend unbestritten bleibt jedoch insgesamt, dass an sich β ein wichtiger Risikoparameter ist. 126 Zu letzterem siehe etwa O. Ben-Shahar/C. Schneider, The Failure of Mandated Discourse, 159 Pennsylvania LR 647-749, 743 (2011); id., More Than You Wanted to Know (Princeton/Oxford, 2014), 129; M. Kay/M. Terry, Textured Agreements: Re-envisioning Electronic Consent, in: Proceedings of the Sixth Symposium on Usable Privacy and Security, Article Nr. 13, 2010, abrufbar unter http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1837127. 127 Dazu oben (Fn. 67 und Text). 128 Zu Feldstudien G. Harrison/J. List, Field Experiments, 42 Journal of Economic Literature 1009-1055 (2004). 129 Siehe Vorschläge etwa bei Jolls/Sunstein (Fn. 120), 210. 130 Siehe dazu im Einzelnen Hacker (Fn. 91), unter Debiasing; vgl. auch M. Alpert/H. Raiffa, A progress report on the training of probability assessors, in: D. Kahnemann/P. Slovic/A. Tversky (eds.), Judgment under
Uncertainty: Heuristics and Biases (New York, 1982), 294-305.
25
Verhalten von Investoren. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich daher mikroskopische und
makroskopische Mängel hinsichtlich des Kommissionsvorschlags.
In mikroskopischer, klassisch ökonomischer Perspektive ist festzustellen, dass Verbriefungen
flexibel eine Reihe von Funktionen übernehmen können: Sie leisten Risikominderung (credit
transformation) und Risikotransfer; sie transfomieren Liquidität; zudem können sie genutzt
werden, um Versicherungseffekte gegen bestimmte externe Risiken zu erzielen (hedging).
Schließlich wohnt ihnen aber auch das Potential inne, zu Spekulationszwecken genutzt zu
werden. Der Kommissionsvorschlag öffnet sich dieser Breite der ökonomischen Theorie nur
ungenügend. Insbesondere übersieht ein Abstellen auf die Qualität der den Verbriefungen
zugrunden liegenden Forderungen (underlyings), dass das Wesen von Verbriefungen gerade
darin besteht, aus risikoreichen Forderungen risikoärmere zu machen, oder aber auch aus
risikoarmen risikoreiche Spekulationsprodukte herzustellen. Allein ein Blick auf die
underlyings kann daher das Risikopotential dieser Instrumente keinesfalls abbilden. Vielmehr
gilt aus ökonomisch-juridischer Perspektive: Verbriefungen sind gesellschaftlich sinnvoll,
wenn sie entweder Risiko minimieren oder (auch) zu hedging-Zwecken benutzt werden.
Daran sollte sich die Regulierung dieser Produkte orientieren.
Ein auf underlyings fixiertes Gütesiegel tut dies nicht. Erschwerend kommt jedoch in
makroskopischer Perspektive hinzu, dass eine solche Technik Kontrollillusionen auf
Investorenseite Vorschub zu leisten vermag. Das ist insbesondere dann misslich, wenn die
Information gerade nicht auf die für die Einschätzung des Risikos relevanten Aspekte abstellt.
Hinzu kommt, dass Fehleinschätzungen von Wahrscheinlichkeiten durch Investoren durch das
Gütesiegel noch vergrößert werden können. Hier ist zwischen zwei Typen von Risiken zu
unterscheiden: einerseits dem Risiko der Verbriefung selbst, Rv, und andererseits dem Risiko,
gegen das beim hedging abgesichert werden soll, Rh. Ein Gütesiegel leistet hier zugleich zu
viel und zu wenig: Die Vermutung liegt nahe, dass ein mit einem Gütesiegel ausgestattetes
Produkt von Investoren als weniger riskant wahrgenommen wird, Rv also uniform sinkt.
Stattdessen wäre es aber günstig, wenn diejenigen, die Rv aus bestimmten,
verhaltensökonomisch und kognitionspsychologisch nachvollziehbaren Gründen zu niedrig
veranschlagen, das Risiko als höher, nicht niedriger, wahrnehmen würden. Es wird also
insoweit zu viel geleistet, als nicht lediglich die Risikoeinschätzungen derer, die Rv
überschätzen, nach unten korrigiert werden. Zugleich aber bietet das Gütesiegel zu wenig, da
es die Fehleinschätzungen von Rh, die regulatorisch ähnlich relevant sind, völlig unbeeinflusst
lässt.
Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass die konkrete Gefahr besteht, dass ein Gütesiegel,
bei aller wohlmeinenden Absicht, ein durch Informationsasymmetrie gespeistes
Marktversagen nur sehr partiell bereinigt, dafür aber sogenannte behavioral market failures
verstärkt.
Daher sind, abweichend vom Kommissionsvorschlag, de lege ferenda Alternativwege zu
beschreiten, um die beschriebenen Herausforderungen zu meistern. Diese sollten sich
einerseits an den ökonomischen Funktionen von Verbriefungen orientieren in der Absicht, die
gesellschaftlich wünschenswerten, wie Risikominimierung oder hedging, zu verstärken.
Andererseits sollten sie aber auch verhaltensökonomisch und kognitionspsychologisch
26
informiert sein, um sicherzustellen, dass die gewünschten Effekte auch eintreten, bzw. um
Regulierungsnotwendigkeit überhaupt erst zu erkennen. Diese Prinzipien können zum
Beispiel umgesetzt werden durch ein System der Produkthaftung für spekulative,
risikoerhöhende Finanzprodukte, wie es der Verfasser an anderer Stelle bereits detailliert
dargelegt hat131. Ferner lassen sich gewinnbringend Warnhinweise und andere Strategien
bemühen, um bei Investoren kognitive Verzerrungen zu reduzieren (debiasing) und so
subjektive Risikoeinschätzungen den objektiven Gegebenheiten wieder anzunähern.
Angesichts der komplexen Interaktion des Designs derivativer Finanzprodukte mit ihren
ökonomischen Funktionen, dem realen Investorenverhalten und möglichen regulativen
Antworten kann zu diesem Zeitpunkt allerdings nur eines wirklich sicher sein: Das Thema
Verbriefung wird die Kommission, ebenso wie die Rechtswissenschaft, noch auf absehbare
Zeit beschäftigen. Dieser Beitrag soll einen Beitrag dazu leisten, die juristische Diskussion
auf ökonomisch wie psychologisch zeitgemäße Fundamente zu stellen.
131 Siehe Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), Chapter 3: A Matter of Risk and Balance – Discussing a System of Liability for Financial Products.