Versicherung und Verbriefung - Der Irrweg der Kommission auf der Suche nach einer Regulierung von...

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Versicherung und Verbriefung – Der Irrweg der Kommission auf der Suche nach einer Regulierung von derivativen Finanzprodukten Verfasser: Philipp Hacker, LL.M. (Yale) * Erscheint in: Versicherungsmechanismen im Recht, Mohr Siebeck, Herbst 2015. Inhalt: I. Einleitung ........................................................................................................................... 3 II. Mikroskopische Mängel: Traditionelle ökonomische Theorie .......................................... 4 1. Zum Begriff und Prozess der Verbriefung (securitization) ........................................... 4 2. Ökonomische Funktionen von Verbriefung ................................................................... 6 a) Credit Transformation .............................................................................................. 6 b) Liquidity Transformation ......................................................................................... 7 c) Risikotransfer ........................................................................................................... 7 d) Hedging .................................................................................................................... 8 e) Spekulation .............................................................................................................. 8 3. Effekt des Gütesiegels .................................................................................................... 9 III. Makroskopische Mängel: Verhaltensökonomische und kognitionspsychologische Theorie ..................................................................................................................................... 10 1. Kontrollillusion ............................................................................................................ 10 a) Suchkosten ............................................................................................................. 10 b) Kognitive Konsistenz, Aufmerksamkeit, und andere Illusionen ........................... 11 c) Effekt des Gütesiegels............................................................................................ 13 2. Fehlgewichtung von Wahrscheinlichkeiten ................................................................. 14 a) Risiken und Verbriefung: R v und R h ...................................................................... 15 b) (Fehl-)Einschätzungen ........................................................................................... 15 i. Unterschätzung ...................................................................................................... 15 * Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin, Professor Dr. Dr. Stefan Grundmann, LL.M. (Berkeley). Der Beitrag profitierte von Hinweisen von Herrn Professor Dr. Alexander Stomper zu den finanzmathematischen Zusammenhängen sowie von Kommentaren der Teilnehmer der Tagung „Versicherungsmechanismen im Recht“ an der LMU München. Alle Fehler bleiben meine eigenen.

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Versicherung und Verbriefung – Der Irrweg der Kommission auf der Suche nach einer Regulierung von derivativen Finanzprodukten

Verfasser: Philipp Hacker, LL.M. (Yale)*

Erscheint in: Versicherungsmechanismen im Recht, Mohr Siebeck, Herbst 2015.

Inhalt:

I. Einleitung ........................................................................................................................... 3

II. Mikroskopische Mängel: Traditionelle ökonomische Theorie .......................................... 4

1. Zum Begriff und Prozess der Verbriefung (securitization) ........................................... 4

2. Ökonomische Funktionen von Verbriefung ................................................................... 6

a) Credit Transformation .............................................................................................. 6

b) Liquidity Transformation ......................................................................................... 7

c) Risikotransfer ........................................................................................................... 7

d) Hedging .................................................................................................................... 8

e) Spekulation .............................................................................................................. 8

3. Effekt des Gütesiegels .................................................................................................... 9

III. Makroskopische Mängel: Verhaltensökonomische und kognitionspsychologische

Theorie ..................................................................................................................................... 10

1. Kontrollillusion ............................................................................................................ 10

a) Suchkosten ............................................................................................................. 10

b) Kognitive Konsistenz, Aufmerksamkeit, und andere Illusionen ........................... 11

c) Effekt des Gütesiegels ............................................................................................ 13

2. Fehlgewichtung von Wahrscheinlichkeiten ................................................................. 14

a) Risiken und Verbriefung: Rv und Rh ...................................................................... 15

b) (Fehl-)Einschätzungen ........................................................................................... 15

i. Unterschätzung ...................................................................................................... 15

* Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Humboldt-Universität zu Berlin, Professor Dr. Dr. Stefan Grundmann, LL.M. (Berkeley). Der Beitrag profitierte von Hinweisen von Herrn Professor Dr. Alexander Stomper zu den finanzmathematischen Zusammenhängen sowie von Kommentaren der Teilnehmer der Tagung „Versicherungsmechanismen im Recht“ an der LMU München. Alle Fehler bleiben meine eigenen.

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ii. Überschätzung .................................................................................................... 17

iii. Korrekte Einschätzung ....................................................................................... 18

c) Effekt des Gütesiegels ............................................................................................ 18

i. Auswirkungen auf Rv ............................................................................................. 18

ii. Auswirkungen auf Rh ......................................................................................... 19

iii. Gesamteffekt ...................................................................................................... 19

IV. Alternativsystem: Verbriefung, Versicherung und Risiko ........................................... 20

1. Produkthaftung für Finanzprodukte ............................................................................. 20

2. Debiasing ...................................................................................................................... 22

a) Cognitively Optimized Disclosure ......................................................................... 23

b) Warnhinweise ........................................................................................................ 24

V. Zusammenfassung ............................................................................................................ 24

I. Einleitung

Die EU-Kommission hat in ihrem vor kurzem erschienenen Grünbuch zur Kapitalmarktunion,

das nach der Regulierungswelle im Gefolge der Finanzkrise neue Wege beschreiten soll, auch

die gesetzlichen Rahmenbedingungen für risikoreiche Finanzprodukte erneut ins Auge

gefasst. Einmal mehr sind dabei vor allem Verbriefungen und Derivate in den Fokus gerückt.

Konkret geplant ist ein „Qualitätssiegel“ für „nachhaltige Verbriefungen“, das die

Kommission zentral an solche Finanzprodukte vergeben möchte, die aus ihrer Sicht besonders

risikoarm oder sozial wertvoll sind1. Der Verfasser hatte das Glück, bei einer kürzlich in

Berlin abgehaltenen Anhörung nach den Bemessungskriterien für die Qualität von

Finanzprodukten fragen und dabei erfahren zu können, dass die Kommission sich dabei vor

allem von der Qualität der zugrunde liegenden, verbrieften Forderungen leiten lassen möchte.

Verbriefungen und Derivate sind in der Tat nicht umsonst für die Finanzkrise verantwortlich

gemacht worden, die seit 2007 die internationalen Finanz- (und Produkt-)märkte heimgesucht

hat2. Sie verdienen daher neue Formen der Regulierung. Der Weg der Kommission jedoch ist

verfehlt, verschließt er doch vor dem ökonomischen Hintergrund ebenso die Augen, wie er

verhaltensökonomische und kognitionspsychologische Erkenntnisse ausblendet. Die

Ankündigung der Kommission bietet daher Anlass dazu, den Nutzen und Nachteil von

Finanzprodukten wie Verbriefungen aus rechtlicher wie ökonomischer Perspektive noch

einmal kritisch zu bewerten – auch und gerade vor dem Hintergrund ihrer potentiellen

Funktion als alternative Versicherungsinstrumente.

Der Vorstoß der Kommission, ein Gütesiegel für Finanzprodukte anhand der Qualität der

zugrunde liegenden Forderungen einführen zu wollen, leidet an schweren mikroskopischen

wie makroskopischen Mängeln. Im ersten Teil dieses Beitrags sollen daher kurz die

mikroskopischen, auf traditioneller ökonomischer Theorie beruhenden Kritikpunkte

dargestellt werden: Prägnant formuliert kann eine Verbriefung oder ein Derivat auch bei

hoher Qualität der zugrunde liegenden Forderung äußerst risikoreich gestaltet werden;

andererseits wird bei einem einseitigen Fokus auf die zugrunde liegenden Forderungen

übersehen, dass Verbriefungen gerade bei risikoreichen Forderungen eine wichtige

ökonomische Funktion erfüllen können, wenn sie nämlich diese Risiken diversifizieren oder

versicherungsähnlich kompensieren. Blickt der erste Teil somit auf die Mikrostruktur von

Verbriefungen, so kommt im zweiten Teil der Kontext der Anlagesituation als Interaktion von

menschlichen Entscheidern, sozusagen makroskopisch, hinzu. Dort soll gezeigt werden, dass

aus verhaltensökonomischer und kognitionspsychologischer Sicht die Regulierung von

Finanzprodukten durch Qualitätssiegel äußerst problematisch erscheint. Sie können falsche

Qualitätssignale senden und kognitive Verzerrungen, wie Fehleinschätzungen von Risiko

durch Investoren infolge beschränkter Rationalität, sowie Kontrollillusionen verstärken.

Schließlich soll im dritten Teil ein Ausblick auf ein alternatives Regime der

1 Grünbuch: Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 18.2.2015, COM(2015) 63 final, S. 11 f. 2 Siehe etwa C. Foote/P. Willen, the subprime mortgage crisis, in: S. Durlauf/L. Blume (eds.), The New Palgrave Dictionary of Economics Online (2011) (05 May 2015); N. Gennaioli/A. Shleifer/R. Vishny, Neglected risks, financial innovation and financial fragility, 104 Journal of Financial Economics 452-468, 453 (2012); W.

Fikentscher/P. Hacker/R. Podszun, FairEconomy. Crises, Culture, Competition and the Role of Law (2013), 96; eingehend J. Hull, Options, Futures, and Other Derivatives (9th ed., Boston et al., 2014), Chapter 8.

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Finanzproduktregulierung gegeben werden, das eng an ökonomische Funktionalität einerseits

und an verhaltensökonomische wie kognitionspsychologische Parameter andererseits

anknüpft: durch ein System der „Produkthaftung für Finanzprodukte“ bei gerade jenen

Produkten, die keinem Versicherungs- sondern einem Spekulationszweck dienen; und durch

debiasing-Maßnahmen, die eine bessere Risikoeinschätzung zum Ziel haben.

II. Mikroskopische Mängel: Traditionelle ökonomische Theorie

1. Zum Begriff und Prozess der Verbriefung (securitization)

Verbriefungen (asset-backed securities, ABS) sind einer der klassischen Bestandteile des

Schattenbankings, also der Wahrnehmung traditioneller Bankfunktionen wie credit, maturity

und liquidity transformation3 durch nicht dem Bankenaufsichtsrecht unterliegende Entitäten4.

Jüngst haben sich die G20-Staaten darauf geeinigt, diesen Sektor nunmehr umfassend einer

Regulierung unterwerfen zu wollen, um systemische Risiken5 besser zu kontrollieren6.

Angesichts des rasanten Wachstums dieser Branche in den letzten Jahrzehnten überrascht dies

nicht: Wurden Mitte der 1940er Jahre noch fast 100 % der Kredite in den USA durch

klassische Banken vergeben, so stieg der Anteil des Schattenbankenwesens bis auf 60 % im

Jahr 2007. Im Zuge der Finanzkrise sank der Anteil zwar wieder, jedoch nicht signifikant7 -

dies ungeachtet der Tatsache, dass der Zusammenbruch des Schattenbankensystems einer der

zentralen Auslöser der Finanzkrise von 2007/08 war8. Im Jahr 2011 umfassten Verbriefungen

(ABS) nach US-amerikanischem Recht ein Volumen von 11 Billionen $ – mehr als die

gesamten US Treasury Securities9. 25 % aller Verbraucherkredite in den USA wurde im

gleichen Jahr durch Verbriefungen finanziert10. In der EU betrug das Emissionsvolumen von

Verbriefungen vor der Finanzkrise im Jahr 2007 immerhin 594 Mrd. €; seitdem ist es auf

knapp die Hälfte im Jahr 2014 gefallen11.

In den Fokus der Regulierung jenseits wie diesseits des Atlantiks rücken einmal mehr

komplexe Finanzprodukte wie Verbriefungen und andere Derivate12. Derivate sind

3 Dazu D. Focarelli/A. Pozzolo, banking industry, in: S. Durlauf/L. Blume (eds.), The New Palgrave Dictionary of Economics (Houndmills, 2008), 352-353, 352; siehe auch E. Fama, What’s Different about Banks, 15 Journal of Monetary Economics 29-39 (1985); ausführlich G. Gorton/A. Winton, Financial intermediation, in: G. Constantinides/M. Harris/R. Stulz (eds.), Handbook of the Economics of Finance, vol. 1, (Amsterdam, 2003), 431-552. 4 T. Adrian/A . Ashcraft, shadow banking: a review of the literature, in: S. Durlauf/L. Blume (eds.), The New Palgrave Dictionary of Economics Online (2011) (05 May 2015), unter 1.A; N. Gennaioli/A. Shleifer/R. Vishny, A Model of Shadow Banking, 58 The Journal of Finance 1331-1361, 1331 (2013). 5 „Systemic risk is the risk that a default by one financial institution will create a ‘‘ripple effect’’ that leads to defaults by other financial institutions and threatens the stability of the financial system.“ (Hull (Fn. 2), 5). 6 Th. Pötzsch, Aktuelle Entwicklungen des Kapitalmarktrechts – Ein Überblick, WM 2015, 357, 358. 7 Siehe die Darstellung bei Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.B; zu den Gründen für das immense Wachstum ebd., unter 2. 8 Siehe oben, Fn. 2, sowie Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 4. 9 Darunter fallen etwa US-Staatsanleihen, siehe G. Gorton/A. Metrick, Securitization, Working Paper 18611, 2012, abrufbar unter http://www.nber.org/papers/w18611, 1. 10 Gorton/Metrick (Fn. 9). 11 Grünbuch (Fn. 1), 12. 12 Zu den regulatorischen Anstrengungen in den USA, siehe etwa A. Levitin/A. Pavlov/S. Wachter, The Dodd-Frank Act and Housing Finance: Can It Restore Private Risk Capital to the Securitization Market?, 29 Yale Journal on Regulation 155-180 (2012); V. Acharya/Th. Cooley/M. Richardson/I. Walter (eds.), Regulating Wall Street (Hoboken, 2010); in der EU soll dies gerade die im Grünbuch vorgestellte Kapitalmarktunion leisten.

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grundsätzlich, wie bereits der Name etymologisch nahelegt, Finanzprodukte, die ihren Wert

ganz explizit von externen, außerhalb ihrer selbst gelegenen Variablen beziehen13. Dies

können Fußballergebnisse, Wetterphänomene, Preisentwicklungen oder Aktienindizes sein,

um nur ein paar Beispiele zu nennen. Viele Derivate im klassischen Sinne beziehen sich, wie

in den letzten beiden Beispielen14, auf andere Finanzprodukte oder Marktkategorien15.

Verbriefungen sind nun eine spezielle Klasse von Derivaten, in der aus Forderungen oder

anderen Eigentumsrechten handelbare Wertpapiere erzeugt werden16. Der Wert dieser

Wertpapiere (securities) hängt dann (unter anderem) von den zugrunde liegenden, verbrieften

Forderungen (underlyings) mittelbar ab, was den Derivatcharakter erklärt.

Die Verbriefung selbst geschieht zumeist in einem komplexen, von finanzmathematischen

Gesetzmäßigkeiten bestimmten Prozess17. {Bild nach Gorton/Metrick, 87?) Dabei werden

zunächst diejenigen Forderungen oder Eigentumsrechte ausgesucht, die verbrieft werden

sollen. Dies können typischerweise verschiedene Aktiva eines Unternehmens sein, etwa

Kredit- oder Hypothekenforderungen einer Bank. Sie werden gebündelt und in toto vom

bisherigen Inhaber, dem originator, an ein Special Purpose Vehicle (SPV), eine Gesellschaft,

die eigens zum Halten und Verwalten dieser Forderungen gegründet wurde, gegen einen

bestimmten Betrag übertragen. Das hat vor allem steuerliche und insolvenzrechtliche

Gründe18. Das SPV wiederum, dessen einzige Aktiva aus den Forderungen bestehen,

refinanziert den Kauf durch Ausgabe von Wertpapieren, eben den Verbriefungen, die als

Privatplatzierungen oder öffentlich am Kapitalmarkt angeboten werden. Da diese Wertpapiere

durch die Forderungen „gesichert“ sind, spricht man eben von asset-backed securities

(ABS)19. Die Investoren erhalten dann Zahlungen aus dem ABS in Abhängigkeit der

Zahlungsströme, die hinsichtlich der zugrunde liegenden Forderungen eingehen. Rating

Agenturen klassifizieren die Bonität der Verbriefungen, die häufig noch in einzelne Tranchen

gegliedert werden, nach Maßgabe der Priorität des Zugriffs auf die eingehenden

Zahlungsströme: Die senior tranche hat grob gesagt den Erstzugriff, dann die mezzanine

tranche, zuletzt kommt die equity tranche. Diese Tranchen haben dementsprechend

unterschiedliche Risikostrukturen, was sich auch in den Ratings niederschlägt.

Eine spezielle Klasse von ABS stellen wiederum die colleteralized debt obligations (CDO)

dar: Diese bestehen aus einem kleineren Pool von Forderungen, im Gegensatz zu den sonst

meist aus größeren Pools bestehenden übrigen ABS20. Sind die underlyings

Hypothekenforderungen, spricht man von mortgage-backed securities (MBS). Diese waren

13 Hull (Fn. 2), 1. 14 Ein weiteres, simples Beispiel ist der Optionsvertrag über den Kauf einer bestimmten Aktie. 15 J. Tietze, Einführung in die Finanzmathematik (12. Aufl., 2015), 352. 16 Gorton/Metrick (Fn. 9), 3-4; F. Fabozzi/V. Kothari, Introduction to Securitization (Hoboken, 2008), 5-8; Hull (Fn. 2), 186 ff. 17 Dazu sehr gute Darstellung bei Gorton/Metrick, 5-10; knappe Darstellungen auch bei Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C und 3.A.; Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), 100 f.; ausführlicher bei Hull (Fn. 2), Chapter 8.1.; spezifisch zu der finanzmathematischen Seite A. Hirsa/F. Neftci, Introduction to the Mathematics of Financial Derivatives (Amsterdam et al., 2014), 388-394. 18 Gorton/Metrick (Fn. 9), 6. 19 Gorton/Metrick (Fn. 9), 1; Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. 20 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”; im Übrigen zeichnen sich CDOs dadurch aus, dass sie häufig ABS aufkaufen, und diese neu tranchieren; hier werden die SPVs zudem zumeist (partiell) aktiv gemanaget (Gorton/Metrick (Fn. 9), 11).

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historisch die ersten ABS, ersonnen in den 1960er Jahren, um die große Nachfrage nach

hypothekengesicherten Krediten bankseitig zu refinanzieren21. Die Finanzkrise von 2007 hat

sie wieder in das Licht der Öffentlichkeit gebracht. Ferner können nicht nur simple

Forderungen verbrieft werden, sondern auch Verbriefungen selbst – es entsteht dann

gewissermaßen eine Metaverbriefung (etwa ein ABS CDO). Auch diese komplexen Produkte

haben im Zuge der Finanzkrise das Interesse einer breiteren, kritischen Öffentlichkeit

gefunden22, nachdem niemand anderes als Warren Buffet sie bereits im Jahr 2002 als

„financial weapons of mass destruction“ bezeichnet hatte23.

2. Ökonomische Funktionen von Verbriefung

Bei aller, zum Teil berechtigten, Kritik gegenüber der Praxis der Verbriefung sollte nicht

übersehen werden, dass diese einige durchaus sinnvolle Funktionen im Wirtschaftssystem

erfüllt, die eng an die Bankenfunktionen angelehnt sind24.

Zwar kann über Verbriefungen nur schwer eine maturity transformation erzielt werden25; aber

die beiden anderen Hauptfunktionen des Bankwesens, credit und liquidity transformation,

werden auch durch Derivate und besonders Verbriefungen gewährleistet, und zwar in

flexibler, auf die Parteien potentiell maßgeschneiderter Weise. Hinzu kommen weitere,

spezifische Funktionen der Verbriefung; insgesamt können fünf Hauptfunktionen ausgemacht

werden: credit transformation, liquidity transformation, Risikotransfer, hedging, und

Spekulation.

a) Credit Transformation

Zunächst zur credit transformation26: Risikoreiche Kredite (oder allgemeiner: Forderungen

oder assets) können durch Diversifizierung infolge einer Verbriefung risikoärmer gemacht

werden. Denn durch die Bündelung vieler Forderungen in einem Pool, dessen cash flow die

Verbriefung letztlich abbildet, werden die Ausfallrisiken diversifiziert. Das kommt einer

Versicherung gegen den Ausfall der einzelnen Forderung gleich. Man nehme beispielsweise

und stark vereinfacht an, es gebe drei risikoreiche Forderungen A, B und C, die nun

kombiniert werden zur Verbriefung D. Würde der Investor nur Forderung A kaufen, und

würde A notleidend, so hätte er seine gesamte Investition verloren. Entscheidet er sich

hingegen für D, kommen ihm bei Uneinbringbarkeit von A immer noch die Kapitalflüsse aus

B und C zugute.27 Um es etwas präziser zu formulieren: Wenn die Erwartungsgewinne aus A,

B und C gleich sind, so ändert D zwar nicht den Erwartungsgewinn (Erwartungswert der

stochastischen Gewinnfunktion), wohl aber vermindert D die Varianz des Gewinns28. Die

21 Hull (Fn. 2), 185. 22 Etwa H.-W. Sinn, Casino Capitalism (Oxford/New York, 2010). 23 Er bezog sich mit der Formulierung sogar auf Derivate im Allgemeinen, siehe Warren Buffet on Derivatives, http://www.fintools.com/docs/Warren%20Buffet%20on%20Derivatives.pdf, 2. 24 Adrian/Ashcraft (Fn. 4). 25 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”. 26 Dazu etwa Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”. 27 Die Mathematik hinter dem Verbriefungsprinzip ist natürlich etwas komplexer, kann aber hier nicht ausführlich dargestellt werden. Auch das Beispiel ist stark verkürzt, was die Darstellung der einzelnen Risiken anbelangt, wird aber aus Gründen der Anschaulichkeit so beibehalten. 28 Prinzipiell Ähnliches gilt, wenn die Erwartungsgewinne der eingebrachten Forderungen nicht identisch sind; dann ist der Erwartungsgewinn der Verbriefung vielmehr - bei einer simplen Verbriefung - etwa das nach

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Varianz wiederum, die man sich als das Schwanken der Zahlungsströme vorstellen kann, ist

aber in der Finanzwissenschaft ein herkömmliches Maß für Risiko29.

Gerade etwa bei junk bonds oder subprime Krediten ist eine Verbriefung essentiell um

Risiken zu minimieren. Zudem werden häufig noch Ausfallversicherungen eingeschaltet, um

das Risiko schwankender Zahlungsströme aus den underlyings weiter zu minimieren. Sind

Investoren risikoavers bei prospektiven Gewinnen, wie grundsätzlich von der

Finanzierungstheorie30 und auch von der Prospect Theory unterstellt31, dann werden solche

Instrumente stark nachgefragt werden. Die Zeit vor der Finanzkrise von 2007/08 zeigt, dass

genau dies der Fall war. Es gilt dann: “[T]here is room for financial innovation to offer

investors cash flow streams that are not available from traditional securities in sufficient

supply32.” Diese Marktlücke füllen die Verbriefungen33.

b) Liquidity Transformation

Ähnlich steht es mit der Liquiditätstransformation. Diamond und Rajan definieren die

Liquidität einer Forderung in einem bekannten Aufsatz wie folgt: “Loans are illiquid when a

lender needs relationship-specific skills to collect them34.” Liquide Forderungen können

hingegen jederzeit und ohne größere Umstände eingezogen werden.

Liquidität spielt bei Banken eine große Rolle, genauer: die Transformation von Illiquidität in

Liquidität35. Illiquide assets von Kunden werden in liquide Bankguthaben konvertiert; und

zugleich werden, auf der Aktivseite der Bankbilanz, Darlehen an illiquide Kunden vergeben36.

Wie sieht dies nun im Bereich der Verbriefung aus? Hier sind zwei Formen von

Liquiditätssteigerung zu verzeichnen. Erstens können Verkäufer (originators), z.B. Banken,

illiquide Forderungen in ein SPV einbringen und sich durch die Gegenleistung, etwa einen

Geldbetrag, selbst Liquidität verschaffen. Dies betrifft den ersten Schritt der Verbriefung.

Zweitens aber greift danach das gleiche Prinzip wie bei Kredittransformation: Die Bündelung

von Forderungen in dem asset pool, den das SPV aufkauft, schafft Liquidität. Einzelne

Forderungen können illiquide sein, durch die Bündelung aber ist der ABS insgesamt

liquide(r)37.

c) Risikotransfer

Forderungen können durch Verbriefung jedoch nicht nur generell risikoärmer und liquider

gemacht werden, sondern es kann zudem ein spezifischer Risikotransfer an solche

Institutionen stattfinden, welche die mit den Forderungen verbundenen Risiken besser zu Volumen der Forderungen gewichtete arithmetische Mittel der einzelnen Erwartungsgewinne. Wichtig bleibt aber auch in diesem Fall die Verringerung der Varianz durch Diversifizierung. 29 Siehe etwa B. Malkiel, A Random Walk Down Wall Street (rev. ed., New York, 2007), 181-183. 30 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), 453. 31 D. Kahneman/A. Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, 47 Econometrica 263-292, 268 (1979). 32 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), 454. 33 Siehe auch Hull (Fn. 2), 571 ff. 34 D. Diamond/R. Rajan, Liquidity risk, liquidity creation and financial fragility: a theory of banking, 109 Journal of Political Economy 287–327, 287 (2001). 35 Gorton/Winton (Fn. 3), 453-456. 36 Grundlegend D. Diamond/P. Dybvig, Bank Runs, Deposit Insurance, and Liquidity, 91 Journal of Political Economy 401-419 (1983); Diamond/Rajan (Fn. 34). 37 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”.

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tragen geeignet sind38. Dies können beispielsweise große Versicherungen oder Banken mit

langfristiger Anlagestrategie sein. Insbesondere durch die Langfristigkeit der

Investmentstrategie können solche Entitäten in Krisenzeiten einer Abwärtsspirale

entgegenwirken, wenn sie nicht kurzfristig im Kurs sinkende Papiere (etwa wegen eigenem

starkem leveraging39) abstoßen müssen40, sondern halten und auf eine Beruhigung des

Marktes setzen können41.

d) Hedging

Ein weiterer Gesichtspunkt, der wiederum mit Risiko zu tun hat, ist die Absicherung des

Investors gegen bestimmte Risiken durch spezifisch darauf maßgeschneiderte Verbriefungen

oder, allgemeiner, Derivate (hedging)42. Ein Beispiel: Winzer, die in Franken Wein anbauen,

können sich gegen die unbeständige Witterung mittels Derivaten versichern. Sie können etwa

einen Future-Vertrag eingehen und bereits im Winter den neuen Jahrgang, der erst langsam

auf dem Weinberg heranreift, zu einem Fixpreis verkaufen. Selbst wenn die Ernte qualitativ

oder quantitativ schlecht ausfallen sollte, wäre der Future-Käufer verpflichtet, die Ware zu

dem vereinbarten Preis abzunehmen. Alternativ kann der Winzer einen Wetter-Swap

abschließen: Dieses kann Zahlungen der Gegenseite von den Durchschnittstemperaturen, der

Menge des Niederschlags und anderen önologisch relevanten Faktoren abhängig machen. Im

Falle einer für den Winzer schlechten Witterung würde dieser dann, bei gleichbleibenden

eigenen Zahlungen an die Gegenseite, einen höheren Betrag von dieser erhalten. Der

geringere Verkaufspreis des Weins würde dann durch die höheren Einnahmen aus dem

Wetter-Swap ganz oder teilweise kompensiert. Die Parallelen zu einem Versicherungsvertrag

liegen auf der Hand.

e) Spekulation

Zuletzt können aber Verbriefungen und andere Derivate auch zu spekulativen Zwecken

genutzt werden43, also als eine Art Wette, ohne dass es auch nur einer der Parteien darauf

ankäme, ein zuvor real existierendes Risiko zu minimieren oder sich Liquidität zu

verschaffen. Beispielsweise könnte der Winzer, von dem zuvor die Rede war, in den Wetter-

Swap noch eine weitere Auszahlungsfunktion einbauen lassen, die sich von der Position des

FC Bayern München in der Bundesligatabelle ableitet44. Diese Möglichkeit steht letztlich

hinter dem Schlagwort des Casino-Kapitalismus45, und sie trug tatsächlich nicht unerheblich

zum Ausbruch der Finanzkrise bei46. Statt von einer Funktion der Verbriefung sollte man hier

daher besser von einer Dysfunktion sprechen.

38 Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 1.C. “ABS issuers”; auch Gorton/Metrick (Fn. 9), 48. 39 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), 452-53. 40 Vgl. Gorton/Metrick (Fn. 9), 24 f.; Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2). 41 Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), 98. 42 Tietze (Fn. 15), 351; ausführlich Hull (Fn. 2), 49 ff. und 571 ff. 43 Tietze (Fn. 15), 351; zum Ganzen aus rechtswissenschaftlicher und finanzökonomischer Perspektive grundlegend L. Klöhn, Kapitalmarkt, Spekulation und Behavioral Finance (2006). 44 Über die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Ausgangswerte dieser Funktion, und damit die Risikoträchtigkeit des Derivats, soll hier nicht weiter spekuliert werden. 45 Dazu etwa Sinn, (Fn. 22), vor allem Chapter 4. 46 Siehe oben (Fn. 2).

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3. Effekt des Gütesiegels

Die Kommission jedoch will, dem Vernehmen nach, diesen (Dys)-Funktionen in ihrem neu zu

schaffenden Qualitätssiegel keine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Statt sich

an den mit diesen Aspekten verbundenen Chancen und Gefahren von Derivaten zu

orientieren, soll das Qualitätssiegel reduktionistisch – und finanzmathematisch unterkomplex

– maßgeblich von der (wie auch immer zu bestimmenden) Qualität der underlyings abhängig

gemacht werden.

Die Engführung der Qualität eines komplexen Finanzprodukts mit der Qualität (spezifischer:

wohl Bonität) der zugrunde liegenden Forderungen ist aus ökonomischer Perspektive verfehlt.

Zwar kann die (mangelnde) Qualität der underlyings auf das komplexe Produkt

durchschlagen; eine Differenzierung allein nach deren Bonität reguliert jedoch sehenden

Auges an der ökonomischen Funktion und Komplexität der Verbriefungen vorbei. Denn

einerseits ist es für Finanzmathematiker ein leichtes, Hochrisikoprodukte aus sehr

hochwertigen underlyings zu konstruieren. Man denke nur an eine deutsche Staatsanleihe,

deren Auszahlung mit dem Abschneiden der deutschen Fußballnationalmannschaft bei der

nächsten Fußball-EM verknüpft wird. Schon entsteht ein risikoreiches Derivat auf der

Grundlage momentan sehr solider Wertpapiere. Andererseits sind Verbriefungen gerade bei

risikoreichen underlyings besonders angezeigt – in diesem Kontext wurden sie ursprünglich

auch erfunden, und hier haben sie ihr genuines funktionales Terrain, wie soeben gezeigt

wurde.

Natürlich heißt das nicht, dass Derivate und Verbriefungen unproblematische Heilsbringer

wären. Dass vor der Finanzkrise durch das sogenannte „originate-and-distribute“-System der

massenhaften Verbriefung auch überflüssige Kredite vergeben und Risiken in den Markt

hineingetragen wurden, ist vielmehr richtig; es ist dies aber ein Sonderproblem der

fehlerhaften Anreizstrukturen auf dem Verbriefungsmarkt, auf die noch zurückzukommen

sein wird (unter III.), nicht aber der Verbriefung an sich. Letztlich gilt: Die Ausrichtung an

underlyings ist verfehlt, weil sie die Versicherungskomponente von Finanzprodukten

unterschlägt. Denn Derivate können unter zwei (inklusiv) disjunktiv hinreichenden

Bedingungen tatsächlich ökonomisch und gesellschaftlich sinnvoll eingesetzt werden: Erstens

kann das Risiko der underlyings minimiert werden. Dies hängt von der Konstruktion des

Finanzprodukts ab. Wenn dem aber so ist, dann wird durch Diversifikation der Investor

ceteris paribus besser geschützt als bei einer Investition in die einzelne Forderung selbst;

jedenfalls werden dann risikoärmere Finanzprodukte bereitgestellt, was auf lange Sicht das

systemische Risiko verringert47.

Zweitens können Derivate wie soeben gesehen eine hedging-Funktion übernehmen. Damit

erfüllen sie klassische Versicherungsaufgaben, die preisgünstig, maßgeschneidert und schnell

an den Markt gebracht werden können. Dem kann zwar entgegnet werden, dass diese

Produkte keiner Regulierung wie klassische Versicherungsverträge unterliegen. Die Antwort

darauf ist aber, dass dann eben das Schattenbankenwesen eingedämmt oder regulatorisch den

47 Siehe V. Acharya/L. Pedersen/Th. Philippon/M. Richardson, Taxing Systemic Risk, in: Acharya/Cooley/Richardson/Walter (Fn. 12), 121-142, 123; vgl. auch Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2), sowie id. (Fn. 4), 1332; ausführlich zum systemischen Risiko, siehe etwa Acharya/Cooley/Richardson/Walter (Fn. 12), Part 2.

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traditionellen Versicherungsformen angenähert werden müsste. Dies kann im Rahmen dieses

Beitrags nicht im Einzelnen diskutiert werden48.

Keinesfalls jedoch hilft hier ein Gütesiegel, das an der Qualität der underlyings orientiert ist.

Denn diese ist von den beiden soeben angesprochenen Kriterien völlig unabhängig.

Risikominimierung ist vielmehr gerade bei Hochrisiko-underlyings notwendig. Und beim

hedging muss nicht einmal eine Forderung als underlying existieren – man denke an den

Wetter-Swap, der den Winzer versichert. Von welchem underlying soll hier das Gütesiegel

abhängen – von der Volatilität der Wetterprognose?

Es zeigt sich daher bei genauerer Betrachtung, dass der Vorschlag der Kommission, trotz

allen guten Willens, der unterstellt werden kann, die falschen Mittel bemüht, um löbliche

Ziele zu verfolgen.

III. Makroskopische Mängel: Verhaltensökonomische und kognitionspsychologische Theorie

Zu den mikroskopischen Mängeln, die in einer unzureichenden Analyse von Funktion und

Struktur der Verbriefung liegen, treten jedoch auch makroskopische Probleme bei der

Verwendung eines Gütesiegels für Finanzprodukte aus besonders wertvollen underlyings: Sie

können behavioral market failures49

womöglich verstärken, statt sie zu verhindern. Dies

vollzieht sich einerseits über die Induktion einer Kontrollillusion, und andererseits über die,

dadurch noch virulentere, Fehleinschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Beide Aspekte

wurden in den letzten Jahrzehnten im Bereich der Verhaltensökonomik und

Kognitionspsychologie eingehend untersucht, jedoch keineswegs abschließend geklärt.

1. Kontrollillusion

In einer makroskopischen Betrachtung ist also zunächst kritisch anzumerken, dass ein

Qualitätssiegel einer Illusion der Kontrolle und des Vertrauens seitens der Anleger in einem

sensiblen Bereich der Finanzwirtschaft Vorschub leisten kann, in dem kritische

Zurückhaltung oft besser am Platz wäre. Ein Gütesiegel suggeriert Qualität, Prüfung durch

Experten, Verlässlichkeit. Angesichts des soeben in der mikroskopischen Analyse Gesagten

kann das Siegel diese Versprechen jedoch keineswegs einlösen. Das wäre unbedenklich, wenn

man davon ausgehen könnte, dass die Anleger sich selbst die notwendigen Informationen

beschaffen und diese kognitiv korrekt verarbeiten könnten. Dem wird jedoch in den meisten

Fällen mitnichten so sein; vielmehr steht zu erwarten, dass verschiedene kognitive Faktoren

eine ungünstige Liaison mit hohen Suchkosten eingehen werden, um eine trügerische Illusion

der Kontrolle zu schaffen.

a) Suchkosten

Für den ersten Teil dieser Analyse, die Suchkosten, muss man den durch die neoklassischen

Ökonomik aufgespannten Theorierahmen noch nicht einmal behavioralistisch erweitern.

Vielmehr hat bereits George Stigler 1961 die naheliegende Intuition formalisiert, dass

48 Dazu etwa Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 4). 49 Zu behavioral market failure O. Bar-Gill, Seduction by Contract (Oxford, 2012), Chapter 1 sowie unten, Fn. 108 und Text.

11

Individuen nur so lange nach weiteren Informationen suchen werden, wie der erwartete

Grenznutzen der Informationsakquise größer ist als die erwarteten Grenzkosten der Suche50.

Stigler, einer der Begründer der Chicago School of Economics, setzte damit die von den

Marginalisten51 des ausgehenden 19. Jahrhunderts wie Edgeworth, Jevons und Marshall

begründete Analyse mithilfe der differentiellen Betrachtung von Grenzzuständen fort52. Dies

machte das Modell mathematisch einfach formalisierbar, und gab ihm so einen Hauch von

rigoroser, naturwissenschaftsanaloger Wissenschaftlichkeit, die spätestens seit der frühen

Neuzeit zum Inbegriff wissenschaftlichen Fortschritts geworden war53. Bei aller Ambivalenz

dieser Verengung der Wirtschaftswissenschaften bleiben jedoch einige Grunderkenntnisse der

Chicago School, jedenfalls dem Tenor nach, unbestritten. Die Suchkosten dürften

dazugehören54; sie wirken in der Tat abschreckend, wie jeder, der einmal den leidvollen

Versuch unternommen hat, den günstigsten Handytarif für sich zu ermitteln, leicht

nachvollziehen kann.

Auf den Fall der Derivate gewendet, bedeutet dies: Inwiefern sich Anleger über das

Gütesiegel hinaus informieren, hängt (unter anderem) davon ab, wie hoch die Suchkosten und

der erwartete Informationsgewinn ist. Erstere sind bei Derivaten und Verbriefungen

grundsätzlich hoch anzusetzen, zählen sie doch, durch bundling und tranching, zu den

komplexesten Finanzprodukten überhaupt. Häufig werden die Suchkosten daher prohibitiv

hoch sein. Zugleich ist der erwartete Informationsgewinn niedrig, denn die Produkte wurden

ja schon positiv (oder negativ) bewertet von der Kommission oder anderen Behörden – in

Form des Gütesiegels. Eine eigenständige Suche nach Informationen über die Güte der

Produkte dürfte daher nur von professionellen Individuen und Anlegern zu erwarten sein –

gerade also nicht den Kleinanlegern, welche die Kommission durch ihren Vorschlag

zumindest auch schützen möchte55. Nur sophisticated investors verfügen grundsätzlich über

das Know-how und die Kapazitäten, um eine Analyse der Verbriefungen selbst vorzunehmen.

Kleinanleger werden dies, das lässt sich mit großer Sicherheit bereits mit dem Stigler’schen

Analyseraster prognostizieren, durchaus rational unterlassen.

b) Kognitive Konsistenz, Aufmerksamkeit, und andere Illusionen

Nicht nur aber werden die meisten Kunden keine eigene Suche anstellen: Sie werden auch

kaum eine kritische Distanz zu dem Gütesiegel aufbauen, zumal da sie gerade nicht selbst

über überlegene Informationen verfügen.

Dafür lassen sich in einem ersten Zugriff einige kognitionspsychologische Phänomene ins

Feld führen. Bereits 1957 veröffentlichte Leon Festinger seinen Klassiker „A Theory of

50 G. Stigler, The Economics of Information, 69 Journal of Political Economy 213-225 (1961). 51 Dazu etwa D. Winch, Marginalism and the Boundaries of Economic Science, 4 History of Political Economy 327-333 (1972); R. Howey, The Origins of Marginalism, 4 History of Political Economy 281-302 (1972). 52 Zu einer stärker behavioralistisch geprägten, problemorierentierten Theorie der Suche (problemistic search) siehe R. Cyert/J. March, A Behavioral Theory of the Firm (2nd ed., Cambridge, Mass./Oxford, 1992), 169 ff. 53 Statt vieler R. Descartes, Discours de la Méthode (1637), sowie in B. Spinoza, Ethica ordine geometrico demonstrata (1677); ferner dann bei I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), besonders Vorrede zur 2. Aufl. (1787); Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik (Werkausgabe Band 6, hg. von G. E. M. Anscombe, Rush Rhees und G.H. von Wright, 6. Aufl., 1999). 54 Siehe etwa J. Stiglitz, The Contributions of the Economics of Information to Twentieth Century Economics, 115 Quarterly Journal of Economics 1441-1478, 1455 (2000); S. Grundmann, {PrivRTh. 55 Siehe Fn. 1.

12

Cognitive Dissonance56“, in dem er ausführte, dass Menschen eine Tendenz zur Vermeidung

kognitiver Konflikte haben. Kognitive Dissonanz definiert Festinger als einen motivationalen

Zustand innerer Widersprüche57. Seine Theorie setzte allerdings noch voraus, dass

Entscheidungen zunächst frei von sonstigen kognitiven Verzerrungen getroffen werden und

nach der Entscheidung kognitive Dissonanz durch die postfaktische Glättung von

Widersprüchen verringert werde58. Die heutige Forschung hat sich von dieser spezifischen

Prämisse und Konsequenz gelöst und geht davon aus, dass bereits die

Entscheidungsgrundlage verzerrt sein kann, nicht nur aufgrund von biases, sondern auch und

besonders durch vorgängige Vorstellungen der Entscheider. Das Streben geht daher, wie man

heute sagt, nach kognitiver Konsistenz59. Daraus lassen sich auch einzelne kognitive biases

wie etwa der confirmation bias60

und perseverance61, aber auch die sunk cost fallacy

62 und der

status quo bias63 erklären: Sie bringen, häufig unwillkürlich, Konsistenz in die eigenen

Anschauungen, indem sie vorgeprägte Meinungen perpetuieren und einmal begonnene

Handlungen stabilisieren64.

Das Potential zu kritischem Denken ist daher von vornherein, wenngleich natürlich nicht

immer und bei jedem Akteur gleich, aber doch in der Tendenz, (leider) beschränkt. Umso

mehr ist auf primer65

wie Gütesiegel zu achten, die kognitive Einstellungen anstoßen können,

welche dann womöglich nur noch selten hinterfragt werden, jedenfalls von einer signifikant

großen Gruppe von Anlegern66.

Das Zusammenspiel von kognitivem Konsistenzstreben und biases kann eine trügerische

Illusion der Kontrolle generieren, in welcher sich die Akteure gar nicht bewusst sind, auf

welch informationell dünnem Eis sie sich bewegen. Dies illustriert auch die jüngste

Forschung zu beschränkter Aufmerksamkeit. Kognitive Verzerrungen können mit dieser eine

unheilige Allianz eingehen, die Kontrollillusion noch verstärkt, weil Warnsignale nicht

56 L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance (Stanford, 1957). 57 Festinger (Fn. 56), 13. 58 Festinger (Fn. 56), 8 f.; siehe auch A. Greenwald/D. Ronis, Twenty Years of Cognitive Dissonance: Case Study of the Evolution of a Theory, 85 Psychological Review 53-57 (1978), 54. 59 S. Samuelson/R. Zeckhauser, Status Quo Bias in Decision Making, 1 Journal of Risk and Uncertainty 7-59, 49 (1988). 60 Dazu R. Nickerson, Confirmation Bias: A Ubiquitous Phenomenon in Many Guises, 2 Review of General Psychology 175-220 (1998). 61 Dazu C. Guenther/M. Alicke, Self-enhancement and belief perseverance, 44 Journal of Experimental Social Psychology 706-712 (2008). 62 Dazu früh bereits H. Arkes/C. Blumer, The Psychology of Sunk Cost, 35 Organizational Behavior and Human Decision Processes 124-140 (1985). 63 Dazu Samuelson/Zeckhauser (Fn. 59); B. Madrian/D. Shea, The Power of Suggestion: Inertia in 401(k) Participation and Savings Behavior, 116 The Quarterly Journal of Economics 1149-1187 (2001). 64 Nickerson (Fn. 60), 197 für den confirmation bias und perseverance; R. Korobkin/Th. Ulen, Law and Behavioral Science: Removing the Rationality Assumption from Law and Economics, 88 California Law Review 1051-1144, 1125 (2000) für die sunk cost fallacy; Samuelson/Zeckhauser (Fn. 59), 38 f. für den status

quo bias; dies ist jedoch jeweils nicht die einzig mögliche Erklärung für diese Phänomene, siehe dazu auch die soeben angegebenen Fundstellen. 65 Zum priming siehe etwa Th. Mussweiler/F. Strack, Hypothesis-Consistent Testing and Semantic Priming in the Anchoring Paradigm: A Selective Accessibility Model, 35 Journal of Experimental Social Psychology 136-164 (1999). 66 Zur Frage, wie viele beschränkt rationale Akteure in Situationen empirischer Unsicherheit angenommen werden sollen, ausführlich P. Hacker, Overcoming the Knowledge Problem in Behavioral Law and Economics. Bounded Rationality, Uncertainty, and Decision Theory, Humboldt Private Law Working Paper No. 2015-02 (on file with author).

13

beachtet werden. Denn nicht nur die Kapazität kognitiver Verarbeitung Information hat eine

Grenze, deren Überschreitung Phänomene auslösen kann, die unter dem Stichwort

information overload bekannt geworden sind67; eine ebensolche Beschränkung gilt für die

Aufmerksamkeit. Dass nicht jeder Akteur ständig auf alles achten kann, ist ebenso richtig wie

trivial68: So wurde von Daniel Kahneman in einem seiner weniger bekannten Werke bereits

1973 monographisch die Aufmerksamkeit zur grundsätzlich begrenzten Ressource erklärt69.

Erstaunlich ist vielmehr, wie beschränkt diese Ressource ist. Selbst wenn die Umgebung

scheinbar aufmerksam beobachtet wird, ist die Fähigkeit, auch signifikante Änderungen

wahrzunehmen, sehr begrenzt (change blindness) 70. In einer bekannten Studie71 sollten auf

der Straße angesprochene Passanten einem Versuchsleiter auf einem Stadtplan den Weg

erklären. Mitten im Gespräch trugen zwei „Arbeiter“ eine große Tür dergestalt über den

Gehweg, dass die beiden Gesprächspartner für eine Sekunde getrennt wurden72. Dies nutzten

die Versuchsleiter, um den Gesprächspartner des Passanten auszutauschen. Die Hälfte der

Passanten fuhr danach mit der Wegerklärung fort, als sei nichts geschehen – dass sie mit einer

anderen Person redeten, hatten sie nicht bemerkt. Ein weiteres Kuriosum zeigte sich in der

Studie73 des „invisible gorilla“74: Hier bemerkten große Teile der Betrachter eines Films, der

Jugendliche beim Basketballspiel zeigt, nicht, dass zwischendurch ein großer Gorilla durch

die Gruppe der Spieler läuft, sich auf die Brust trommelt, und verschwindet. Die Betrachter

waren angewiesen worden, die Pässe der Spieler zu zählen; daneben waren viele nicht in der

Lage, unerwartete Umstände wie den Gorilla, außerhalb ihrer engen Fokussierung,

wahrzunehmen (inattentional blindness). Veränderungen an einem Gegenstand oder

hinzutretende, relevante Umstände werden häufig also nicht wahrgenommen, wenn man sich

auf den Gegenstand selbst fokussiert. Diese beschränkte Aufmerksamkeit ist dabei leider

häufig gepaart mit dem unerschütterlichen Glauben an die eigene Unfehlbarkeit gerade

aufgrund des Fokussierens – eine gefährliche Melange, die Kontrollillusion

heraufbeschwört75.

c) Effekt des Gütesiegels

Diese Phänomene werden durch ein Gütesiegel nun nicht etwa verringert, sondern aller

Wahrscheinlichkeit nach verstärkt. Natürlich ist das methodische caveat auch hier am Platz,

67 Siehe die Überblicke bei A. Edmunds/A. Morris, The problem of information overload in business organizations: a review of literature, 20 International Journal of Information Management 17-28 (2000); Th.

Jackson/ P. Farzaneh, Theory-based model of factors affecting information overload, 32 International Journal of Information Management 523-532 (2012). 68 Eine Studie zu der schwedischen Kennzeichnung von Möbeln mit Gebrauchsinformationen kam zu dem Schluss, dass nur 20 % der Kunden die Kennzeichnung, die an den zu verkaufenden Möbeln angebracht war, überhaupt wahrnahmen: A. Weser, Die informative Warenkennzeichnung. Eine Übersicht über den Stand der Praxis und der Literatur, Zeitschrift für Verbraucherpolitik 1977, 80-89, 85. 69 D. Kahneman, Attention and Effort (Englewood Cliffs, 1973), Überblick auf S. 7-11; siehe dazu auch M.

Eysenck/M. Keane, Cognitive Psychology. A Student’s Handbook (4th ed., Hove/New York, 2000), 151-155. 70 P. Williams/D. Simons, Detecting Changes in Novel, Complex Three-dimensional Objects, 7 Visual Cognition

297-322 (2000). 71 D. Simons/D. Levin, Failure to detect changes to people during a real-world intervention, 5 Psychonomic Bulletin and Review 644-649 (1998). 72 Video auf youtube unter https://www.youtube.com/watch?v=FWSxSQsspiQ. 73 D. Simons/Ch. Chabris, Gorillas in our midst: sustained inattentional blindness for dynamic events, 28 Perception 1059-1074 (1999). 74 Video auf youtube unter https://www.youtube.com/watch?v=IGQmdoK_ZfY. 75 C. Chabris/D. Simons, the invisible gorilla. And Other Ways Our Intuitions Deceive Us (New York, 2010), 7.

14

dass generalisierende Interpretationen von einzelnen Studien aufgrund beschränkter externer

Validität (ihrer beschränkten Übertragbarkeit auf andere Sachverhalte) immer nur mit größter

Zurückhaltung angestellt werden dürfen. Nichtsdestoweniger zeichnen die Studien zu

beschränkter Aufmerksamkeit und den genannten biases, von denen hier nur die absolute

Spitze des Eisbergs dargestellt werden konnte76, ein überzeugendes Bild von begrenzten

kognitiven Ressourcen und der Tendenz zum Aufbau von Kontrollillusion. Daher erscheint es

nicht unplausibel, dass auch ein Gütesiegel, immerhin mit der quasi-normativen Kraft des

Offiziösen ausgestattet, solchen Verhaltensmustern Vorschub leisten wird. Die Anleger

werden sich darauf verlassen, in dem Gefühl, damit vieles richtig gemacht und alles unter

Kontrolle zu haben. Kritische Reflexion wird so tendenziell unterdrückt, Fehlentscheidung

vorprogrammiert.

2. Fehlgewichtung von Wahrscheinlichkeiten

Kontrollillusion ist im Bereich von Derivaten und Verbriefungen jedoch besonders fatal, da

Anleger ohnehin dazu neigen, die (häufig opaken) Risiken von Finanzprodukten falsch

einzuschätzen. Behavioral Finance hat in den letzten Jahrzehnten unzählige kognitive

Verzerrungen offengelegt, die eine Fehleinschätzung von Risiken bedingen können77. So kann

Übergewichtung kleiner Wahrscheinlichkeiten, wie sie die Prospect Theory nahelegt, zu einer

Überinvestierung in Versicherungen – und damit diversifizierende Finanzprodukte – führen.

Andererseits bewirkt der optimism bias z.B. eine Unterschätzung von Risiken und damit eine

Unterversicherung78. Es lassen sich damit drei Klassen von Anlegern unterscheiden:

diejenigen, die Risiken im Einzelfall (a) unterschätzen, (b) überschätzen, oder (c) korrekt

einschätzen. Das Problem besteht nun darin, dass sich aufgrund der Wechselwirkung vieler

verschiedener kognitiver Verzerrungen in einer konkreten Entscheidungssituation häufig der

Nettoeffekt beschränkter Rationalität nicht vorhersagen lässt79 – ob es also nun insgesamt zu

einer Unter-, einer Über-, oder einer korrekten Einschätzung kommt. Infolge der beschränkten

externen Validität von empirischen Studien kann nur sehr selten und nur für ganz

kontextspezifische Situationen eine Wahrscheinlichkeitsverteilung hinsichtlich der drei

Kategorien angegeben werden. In aller Regel werden dafür die empirischen Daten fehlen;

man wird also gerade nicht sagen können, dass 1/3 der Anleger zu Gruppe (a), 1/3 zu (b) und

1/3 zu (c) gehören wird80. Daher müssen die Auswirkungen des Qualitätssiegels auf alle drei

Gruppen, unabhängig von ihrer Größe, untersucht werden. Um das Ergebnis

vorwegzunehmen: Vor allem die letzten beiden Gruppen könnten schlussendlich eher

gefährdet als geschützt werden. Im Einzelnen:

76 Einen breiten Überblick bieten etwa Morris Altman (ed.), Handbook of Contemporary Behavioral Economics (Armonk, New York/London, UK, 2006); C. Camerer/G. Loewenstein/M. Rabin, Advances in Behavioral Economics (Princeton/Oxford, 2003). 77 Einen Überblick über Behaviora Finance bieten etwa N. Barberis/R. Thaler, A Survey of Behavioral Finance, in: R. Thaler (ed.), Advances in Behavioral Finance, Vol. II (New York/Princeton/Oxford, 2005), 1-75. 78 Dazu sogleich mehr, Teil III.2.b). 79 Dazu Hacker (Fn. 59); A. Schwartz, Regulating for Rationality, Stanford Law Review (forthcoming). 80 Eine solche Zuweisung von gleichen Wahrscheinlichkeiten zu allen Naturzuständen wird von einigen Ökonomen und Mathematikern jedoch mit dem von Laplace stammenden Prinzip des unzureichenden Grundes zu begründen versucht, siehe P.-S. Laplace, Théorie Analytique des Probabilités (2nde éd., Paris, 1814), iv-vi; J.

Harsanyi, Morality and the theory of rational behaviour, in: A. Sen/B. Williams (eds.), Utilitarianism and beyond (Cambridge, UK, et al., 1982), 39-62, 45 ff.; dieses Prinzip ist aber aufgrund seiner Willkürlichkeit grundsätzlich, auch aus mathematisch-logischen Gründen, abzulehnen, siehe etwa J. Rawls, A Theory of Justice (revised ed., Cambridge, Mass., 1999), 149 f.

15

a) Risiken und Verbriefung: Rv und Rh

Wie gesehen, besteht ein Gutteil der Funktion von Verbriefungen in der Verteilung von

Risiko81 zwischen den Parteien. Dieses Risiko kann etwa das Ausfallrisiko der Ernte des

Winzers sein, oder das Insolvenzrisiko eines Unternehmens, oder jedes andere Risiko. Die

Verbriefung bewirkt nun dreierlei: Sie modifiziert erstens das den underlyings immanente

Risiko, indem sie diese in einem Pool bündelt, tranchiert und daran bestimmte

Zahlungsflussstrukturen knüpft. Zweitens nimmt sie dem Verkäufer (originator) das Risiko

ab und verschiebt es an den Investor. Dieser kann zudem, drittens, durch die Übernahme

dieses Risikos ein entgegengesetztes Risiko kompensieren (hedging).

Wir haben es hier also mit zumindest zwei unterschiedlichen, relevanten Risiken zu tun:

erstens mit dem Risiko, das der Verbriefung als Finanzinstrument inhärent ist (Ausfallrisiko,

letztlich die Varianz der künftigen erwarteten Gewinne/Verluste82). Sei dies Rv; es wird in den

beiden ersten oben betrachteten Szenarien relevant (origination, Verschiebung). Zweitens

aber geht es noch um das (externe) Risiko, gegen das sich der Investor beim hedging, dem

dritten obigen Szenario, absichern möchte. Sei dies Rh. Das könnte etwa das Risiko der

Missernte in unserem Beispiel mit dem fränkischen Winzer sein. Hier besteht das Risiko also

in der Wahrscheinlichkeit, dass ein negatives Ereignis eintritt, gegen das sich der Investor

versichern möchte.

Damit die Investoren jedoch optimale, oder jedenfalls günstige, Entscheidungen treffen

können, müssen sie das jeweilig relevante Risiko (Rv oder auch Rh) richtig einschätzen. An

dieser Fähigkeit jedoch lässt die verhaltensökonomische und kognitionspsychologische

Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte einige Zweifel aufkommen.

b) (Fehl-)Einschätzungen

Vielmehr wird es, wie bereits bemerkt, drei Gruppen geben: Diejenigen Investoren, die

Risiken unterschätzen (Iu), diejenigen, die sie überschätzen (Iü), und schließlich diejenigen,

die sie korrekt einschätzen (Ik).

i. Unterschätzung

Einige kognitive Effekte können dazu führen, dass Risiko unterschätzt wird. Daraus rekrutiert

sich die Gruppe Iu. Das wohl bekannteste dieser Phänomene ist der optimism bias. Darunter

ist die Tendenz zu verstehen, die Wahrscheinlichkeit zu unterschätzen, dass negative

Ereignisse die eigene Person betreffen werden83 (comparative-optimism effect84). Raucher

81 Entscheidungstheoretisch, und hier relevant, spricht man von Risiko, im Gegensatz zu Unsicherheit, wenn sich eine bestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilung dem Raum der möglichen, für die Entscheidung relevanten Naturzustände zuweisen lässt, wenn also (mit hinreichender Bestimmtheit) gesagt werden kann, dass z.B. die Ernte mit 10 % Wahrscheinlichkeit schlecht, mit 20 % gut und mit 70 % mittel ausfallen wird. Der locus

classicus ist F. Knight, Risk, uncertainty and profit (Boston/New York, 1921), 19-21. Letztlich geht es beim Begriff des Risikos also immer um bestimmte Verteilungen von Wahrscheinlichkeiten. Zum Begriff des Risikos in der Finanzwissenschaft, als Varianz einer stochastischen Funktion, siehe oben (Fn. 29). 82 Siehe dazu oben (Fn. 29). 83 N. Weinstein/W. Klein, Resistance of Personal Risk Perceptions to Debiasing Interventions, in: Th. Gilovich/D. Griffin/D. Kahneman (eds.), Heuristics and Biases: The Psychology of Intuitive Judgment (Cambridge, UK, 2002), 313-323, 323. 84 J. Chambers/P. Windschitl, Biases in social comparative judgments: The Role of Nonmotivated Factors in Above-Average and Comparative-Optimism Effects, 130 Psychological Bulletin 813-838, 813 (2004).

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sind so der Meinung, sie selbst seien für Krebs weniger anfällig als andere Raucher85,

Krebspatienten, sie selbst seien durch die Krankheit weniger gefährdet als andere

Krebspatienten, und Ehepartner kurz nach Eheschließung halten ihre Ehe natürlich ohnehin

für unfehlbar86. Hinzu kommt die Neigung, sich in vielerlei Hinsicht für besser befähigt zu

halten als die relevante Vergleichsgruppe (above average effect87), etwa beim Autofahren88

oder bei der Gründung eines Unternehmens89. Auch wenn viele der Studien im Einzelnen an,

teils groben, methodischen und mathematischen Mängeln leiden90, so lässt sich doch

insgesamt eine Tendenz zu einem überhöhten Optimismus (man ist versucht zu sagen:

glücklicherweise) nicht gänzlich in Abrede stellen91.

Dies führt bei der Bewertung von Verbriefungen dazu, dass Rv (also die Varianz der

Zahlungsströme, unter anderem das Risiko, das Investment komplett zu verlieren) zu niedrig

eingeschätzt wird. Der Kunde ersteht dann ein risikoreicheres Produkt, als es seinen

Präferenzen entspricht92. Beim hedging hingegen sind die Konsequenzen etwas komplexer:

Wird einerseits das Risiko Rh eines negativen Ereignisses, etwa einer Missernte, durch ein auf

das identische Ereignis abstellendes Produkt kompensiert, so wird sich die Fehleinschätzung

zwar zweimal (identisch oder jedenfalls ähnlich) auswirken. Allerdings wird der Winzer dann

eventuell Schwierigkeiten haben, ein passendes Produkt zu finden, da er den Eintritt des

Versicherungsereignisses für zu unwahrscheinlich hält. Hier sind wiederum zwei Fälle zu

unterscheiden: Kontrahiert er erstens mit einem weniger optimistischen Vertragspartner, so

werden die preislichen Vorstellungen über Leistung und Gegenleistung stark divergieren.

Auch für diese Fälle aber hält letztlich die schillernde Welt der Finanzprodukte geeignete

Konstrukte bereit, bei denen beide Vertragspartner auf subjektiv unterschiedlich eingeschätzte

Werte von Rh wetten. Nichtsdestoweniger wird die „Versicherung“ über Derivate anders und

weniger ökonomisch effizient verlaufen als bei korrekter Einschätzung von Rh durch den

Winzer. Dies folgt daraus, dass Pareto-Optimalität (= ökonomische Effizienz), die aus

Wettbewerb am Markt entstehen soll, perfekte Information voraussetzt93. Findet der Investor

hingegen zweitens eine Gegenpartei, die dieselben nicht-rationalen Erwartungen hat wie er

selbst, werden sich die beiden zwar schnell auf einen Preis für das Produkt (in Form des vom

Investor zu leistenden Zahlungsstroms) einigen können. Allerdings führt die beiderseitige

85 P. Slovic, Do Adolescent Smokers Know the Risks?, 47 Duke Law Journal 1133-1141 (1998). 86 N. Weinstein, Unrealistic Optimism About Future Life Events, 39 Journal of Personality and Social Psychology 806-820, 810 (1980). 87 Chambers/Windschitl (Fn. 84), 813. 88 D. DeJoy, The Optimism Bias and Traffic Accident Risk Perception, 21 Accident Analysis and Prevention 333-340 (1989). 89 Grundlegend dazu C. Camerer/D. Lovallo, Overconfidence and Excess Entry: An Experimental Approach, 89 American Economic Review 306-318 (1999), die das überhöhte Vertrauen in eigene Fähigkeiten allerdings als overconfidence bezeichnen, und nicht, wie hier, als optimism bias. 90 A. Harris/U. Hahn, Unrealistic Optimism about Future Life Events: A Cautionary Note, 118 Psychological Review 135-154 (2011). 91 Dazu im Einzelnen P. Hacker, Verhaltensökonomik und Normativität (erscheint 2016), unter optimism bias. 92 Nach dem Capital Asset Pricing Model (CAPM, dazu unten Fn. 125) kann ein höheres Risiko zwar zu höherem return führen; dies muss jedoch nicht der Fall sein, da CAPM ja nur den Erwartungsgewinn berechnet (und auch dies bekanntermaßen ja nur mit sehr beschränkter Validität). Jedenfalls entspricht das Finanzprodukt nicht der Risikopräferenz des Investors. 93 K. Arrow/G. Debreu, Existence of an Equilibrium for a Competitive Economy, 22 Econometrica 265-290 (1954); Stiglitz (Fn. 54), 1442 Fn. 2.

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Unterschätzung des zu versichernden Risikos zu einem Narrativ, das sich an die von

Gennaioli, Shleifer und Vishny dargestellte Vernachlässigung von tail risk anlehnen kann,

von der unten noch die Rede sein wird94: Aufgrund von non-rational expectations wird eine

zu große Menge von diesen Produkten verkauft; sobald sich herausstellt (surprise effect), dass

die beiderseitigen Erwartungen an z.B. eine Missernte zu niedrig angesetzt waren, erweist

sich das Geschäft für die Gegenpartei des Investors als toxisch; sie wird versuchen, die

Verbriefung abzustoßen; geschieht dies wegen einer generellen Markterkenntnis über das

spezifische Risiko hinsichtlich einer Reihe von parallel strukturierten Verbriefungen, tritt

genau das Phänomen einer Entwertung und Abwärtsspirale ein, das bei der Finanzkrise zu

beobachten war; systemisches Risiko entlädt sich, die durch nicht-rationale Erwartungen

gefütterte Blase platzt.

Wird andererseits das zu kompensierende Risiko durch ein Produkt versichert, das nicht auf

Rh abstellt, sondern dieses Risiko z.B. zahlenmäßig beziffert (z.B.: „im Falle von Missernte,

höchstens aber in 10 % der Fälle über den Zeitraum der Dauer des Vertrags“), wird der

Winzer einfach zu wenig Versicherung erwerben. Auch dies ist ein suboptimales, ineffizientes

Ergebnis.

Man sieht also: Wie man es auch wendet, eine Unterschätzung Rv oder Rh, geboren aus

kognitiven Prozessen, führt in jedem Fall zu einer Fehlinvestition.

ii. Überschätzung

Biases gibt es jedoch wie Sand am Meer. Daher nimmt es nicht wunder, dass für jeden bias,

der in eine Richtung weist, auch immer ein anderer gefunden werden kann, der in die

entgegengesetzte wirkt. Im hiesigen Fall: die π-Funktion der (Cumulative95) Prospect

Theory96. Diese bewirkt die berühmte Übergewichtung kleiner Wahrscheinlichkeiten, die

Kahneman und Tversky zu einem Herzstück ihrer Theorie machten; der Theorie, die bis heute

die führende Formalisierung der heuristics and biases-Literatur darstellt97. Die π-Funktion ist

eine Transformation von Wahrscheinlichkeiten und besagt, dass menschliche Entscheider

Wahrscheinlichkeiten nicht als mathematische Entitäten wahrnehmen, sondern, wenig

verwunderlich, gewissen „Verzerrungen“ unterwerfen. Kahneman und Tversky behaupteten

nun, dass sich eine Reihe von Experimenten gut dadurch erklären ließe, dass besonders kleine

Wahrscheinlichkeiten überschätzt werden98. Diese Vorstellung hat sich bis heute im Bereich

von behavioral economics, trotz nicht immer belastbarer Daten und auch gegenteiliger

94 Siehe unten (Fn. 115 und Text). 95 Die Cumulative Prospect Theory ist eine mathematisch raffiniertere Version der Prospect Theory, die mit kumulativen Wahrscheinlichkeiten operiert und dadurch entscheidende, theoretische Schwächen der alten Theorie vermeidet, siehe A. Tversky/D. Kahneman, Advances in Prospect Theory: Cumulative Representation of Uncertainty, 5 Journal of Risk and Uncertainty 297-323 (1992). 96 Die klassische Formulierung der Prospect Theory findet sich in D. Kahneman/A. Tversky, Prospect Theory: An Analysis of Decision under Risk, 47 Econometrica 263-292 (1979); daneben lassen sich natürlich noch unzählige weitere Gründe für eine Überschätzung des Risikos finden, siehe etwa sogleich zur availability

heuristic. 97 Vgl. N. Barberis, 30 Years of Prospect Theory in Economics: A Review and Assessment, NBER Working Paper 18621, 2012, abrufbar unter http://www.nber.org/papers/w18621. 98 Kahneman/Tversky (Fn. 31).

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Ergebnisse99, hartnäckig gehalten. Ebenso ist eine Überbewertung von Risiken dadurch

möglich, dass der Investor gerade Geschichten über ökonomische Krisen und Manifestierung

von Risiken gehört oder erlebt hat. Dann kann die availability heuristic einsetzen, die bewirkt,

dass Ereignisse, die „mental verfügbar“ sind, als wahrscheinlicher bewertet werden100.

Die Folgen der Überbewertung der relevanten Risiken sind denen der Unterbewertung genau

entgegengesetzt: Der Investor erhält ein risikoärmeres Produkt, als er wünscht, und damit

eines mit geringerem Erwartungsgewinn101. Gleichzeitig überschätzt er das zu

kompensierende Risiko, etwa der Missernte, und erwirbt zu viel (= zu teure) oder anderweitig

durch nicht-rationale Erwartungen verzerrte Versicherung. So entsteht letztlich die Gruppe Iü.

iii. Korrekte Einschätzung

Schließlich mag es auch noch Individuen geben, die, zufällig oder aufgrund hoher

entscheidungstheoretischer Rationalität, die maßgeblichen Risiken korrekt einschätzen (Ik).

Sie machen im Prinzip alles richtig, erwerben das gewünschte Produkt, und die gewünschte

Menge an Versicherung zu den besten Konditionen (sofern auch sonst alle Bedingungen für

den perfekten Vertrag102 erfüllt sind, was hier vereinfachend einmal, wenngleich

kontrafaktisch, angenommen wird). Ihr Verhalten ist präferenzkonform.

c) Effekt des Gütesiegels

Was ändert sich an dieser Analyse nun durch die Einführung eines Gütesiegels? Die Antwort

ist: Einerseits zu viel, andererseits zu wenig.

i. Auswirkungen auf Rv

Zu viel ändert sich, weil das Gütesiegel eine (ziemlich) pauschale Verschiebung der

Risikowahrnehmung hinsichtlich von Rv bewirkt; das ist jedenfalls eine plausible Prognose,

die empirisch erhärtet werden müsste. Ein Gütesiegel strahlt, gerade aufgrund seiner offiziell-

amtlichen Provenienz, Verlässlichkeit und Qualität aus. Es atmet gewissermaßen, wo nicht

Risikofreiheit, so doch Schutz und minimales Risiko. Die subjektive Einschätzung von Rv

wird daher verringert, und zwar, das wäre die Hypothese, für alle drei Gruppen von Anlegern

(überbewertende, unterbewertende, korrekt bewertende). Auch diese Annahme erscheint

prima facie plausibel. Das wiederum bedeutet aber lediglich, dass, je nach Intensität der

Verschiebung, nunmehr einerseits einige Mitglieder von Iü näher an Ik heranrutschen, ihre

Risikowahrnehmung also im entscheidungstheoretischen Sinne rationaler wird103. Zugleich

aber werden, andererseits, einige weitere Mitglieder von Iü nunmehr in Iu landen, wenn

nämlich die Verschiebung größer ist als ihre ursprüngliche Verzerrung. Für die gesamte

Gruppe Iu sowie Ik gilt ferner: Ihre Mitglieder werden sich (weiter) von einer korrekten

99 So Shane Frederick, ehemaliger enger Mitarbeiter von Daniel Kahneman und jetzt Professor an der Yale School of Management, in einem Gespräch mit dem Verfasser über nicht publizierte Datensätze. 100 Grundlegend A. Tversky/D. Kahneman, Availability: A Heuristic for Judging Frequency and Probability, 5 Cognitive Psychology 207-232 (1973); jüngst Th. Pachur/R. Hertwig/F. Steinmann, How Do Peope Judge Risks? Availability Heuristic, Affect Heuristic, or Both?, 18 Journal of Experimental Psychology: Applied 314-330 (2012). 101 Siehe dazu oben (Fn. 92). 102 Dazu R. Cooter/Th. Ulen, Law and Economics (6th ed., Boston et al., 2011), 291 ff. 103 Das gilt bildlich gesprochen dann, wenn die Verschiebung geringer ist als die ursprüngliche „Entfernung“ von der rationalen Einschätzung der Mitglieder von Ik.

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Risikoeinschätzung in Richtung Unterschätzung entfernen. Es erfolgt also eine Umverteilung

von Iü und Ik zu Iu, sowie zu einem kleineren Maße von Iü zu Ik. Diejenigen, die innerhalb von

Iü bleiben, werden besser, diejenigen, die aus Ik nach Iu emigrieren, und diejenigen, die in Iu

bleiben, schlechter gestellt.

Hier ändert sich also zu viel: Statt dass nur die Mitglieder von Iü in Richtung Ik verschoben

werden, stupst das Gütesiegel zugleich Mitglieder von Iu und Ik von Ik weg. Je nach

ursprünglicher Verteilung aller Betroffenen auf die drei Gruppen kann dies zu negativen

Nettoeffekten führen, insbesondere dann, wenn sich die Extensionen von Iu und Iü in etwa die

Waage halten104.

ii. Auswirkungen auf Rh

Hinsichtlich Rh hingegen ändert sich zu wenig, genauer: gar nichts. Denn das Gütesiegel

bezieht sich ja nur auf die Güte der Verbriefung, nicht aber auf die externen Risiken, die ein

Investor eventuell absichern möchte. Wie gesehen können Fehleinschätzungen von Rh jedoch

ebenso zu ökonomischen Effizienzverlusten und anderen misslichen Konsequenzen führen

wie Fehleinschätzungen von Rv. Nun lässt sich entgegnen, dass die Korrektur von Fehlern in

der Bewertung von Rh ja auch gar nicht die Aufgabe ist, der sich die Kommission mit der

Einführung von Gütesiegeln stellen wollte. Dies greift jedoch zu kurz. Denn erstens ist

uneinsichtig, weshalb lediglich eines von zwei relevanten Risiken regulatorisch aufgegriffen

werden soll, wenn deren Fehleinschätzung beide ähnlich negative Effekte zeitigen. Zweitens

jedoch kann es zu komplexen Interaktionen kommen zwischen Rh und Rv: Denn auch beim

hedging ist ein Faktor für die Auswahl des geeigneten hedging-Produkts natürlich dessen

Risikostruktur, deren Wahrnehmung in der soeben entfalteten Weise verändert wird105.

iii. Gesamteffekt

Überspitzt formuliert lässt sich damit zur Wirkung des Gütesiegels sagen: Marktversagen

infolge von Informationsasymmetrie (hinsichtlich der Qualität des Finanzprodukts) wird

(sehr) partiell kompensiert, jedoch nur durch die Verstärkung einer neuen Form von

Marktversagen: desjenigen infolge von beschränkter Rationalität.

Zunächst einmal bietet die Uninformiertheit der Investoren über Rv eine klassische

Konstellation von Informationsasymmetrie, was, wie spätestens seit Akerlofs Paper über

markets for lemons bekannt ist, zu Marktversagen führen kann106. Die Antwort, ein Gütesiegel

zu installieren, bedient ebenfalls noch eine Standardkategorie der Informationsökonomik:

104 Denn dann ist der Effekt für die Mitglieder von Iu, von Ik und einen Teil von Iü schlecht; weiterhin muss angenommen werden, dass der Effekt im Mittel Iu und Iü etwa gleich betrifft (bzw. präziser: die jeweils nach Ik hin- und wegwandernden Mitglieder). 105 Dass hingegen Rh nicht, Rv jedoch schon verändert wird, dürfte darüber hinaus nicht zu einer negativen „asymmetrischen“ Wirkung führen. Denn, wie oben gesehen, wird das hedging häufig so geschehen, dass dasselbe Ereignis, gegen das versichert werden soll, auch in Bezug genommen wird im hedging-Instrument. Dann spielt aber insofern zweimal Rh eine Rolle. Wenn anders kompensiert wird, so läuft auch das nur insoweit über Rv wie soeben im Text angesprochen. 106 G. Akerlof, The Market for "Lemons": Quality Uncertainty and the Market Mechanism, 84 The Quarterly Journal of Economics 488-500 (1970).

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signaling107, in diesem Fall nicht durch die besser informierte Partei selbst, sondern durch

regulatorische Behörden.

Das Problem liegt jedoch darin, dass das Signal nicht nur inhaltlich irreführend ist, wenn es

sich an der Bonität der verbrieften Forderungen orientiert, sondern auch beschränkte

Rationalität keineswegs ausräumt, sondern tendenziell verstärkt: Kontrollillusion wird

gefördert, und fehlerhafte Wahrscheinlichkeitsvorstellungen werden nicht korrigiert, sondern

pauschal transformiert. Informational wird so durch behavioral market failure

eingetauscht108. Dies muss nicht notwendig in allen Fällen so sein und sollte grundsätzlich

kontextabhängig und situationsspezifisch untersucht werden. Eine makroskopische Tendenz

zu dieser unerfreulichen Querverschiebung lässt sich jedoch nach dem bisher Gesagten

durchaus erkennen.

IV. Alternativsystem: Verbriefung, Versicherung und Risiko

Diese Kritikpunkte am Kommissionsentwurf geben zu einer Auslotung von Alternativen

Anlass. Diese können hier natürlich nicht vollumfänglich dargestellt werden. Einige Leitlinien

können jedoch aufgezeigt werden.

Methodisch sollte sich eine Regulierung von Verbriefungen und Derivaten orientieren

einerseits an deren ökonomischen Funktionen und andererseits am realen Anlegerverhalten;

sie muss mithin „economically and behaviorally informed“ sein.

Normativer Ausgangspunkt kann die Überlegung sein, dass der Emittent von Finanzprodukten

(originator; SPV) stärker als bisher an der Realisation von deren Risiko109 beteiligt werden

sollte – sonst werden Gewinne internalisiert und Risiken externalisiert. Dabei kann in der

tatbestandlichen Umsetzung eines solchen Haftungssystem nach den legitimen/ökonomisch

sinnvollen Funktionen und den illegitimen/ökonomisch weniger sinnvollen Dysfunktionen

von Derivaten und Verbriefungen differenziert werden, die oben dargestellt wurden. Zugleich

sind wirksame Maßnahmen zu suchen, durch welche die Anleger unter Berücksichtigung der

Eigentümlichkeiten menschlichen Entscheidungsverhaltens (behavioral economics; cognitive

psychology) zumindest zu einer informierteren oder besser kalibrierten Entscheidung gelenkt

werden können. Zwei Wege sollen hier schlaglichtartig ausgeleuchtet werden: Produkthaftung

für Finanzprodukte, und debiasing.

1. Produkthaftung für Finanzprodukte

Ein System für die Beteiligung von Emittenten von Finanzprodukten an der Materialisierung

von Risiken, welche sie selbst geschaffen haben und in den Markt hineintragen, hat der

Verfasser an anderer Stelle, gemeinsam mit Wolfgang Fikentscher und Rupprecht Podszun,

107 M. Spence, Job Market Signaling, 87 Quarterly Journal of Economics 355-374 (1973). 108 Dazu Fn. 49. 109 Sowohl am idiosynkratischen als auch, besonders, am systemischen Risiko, dazu sogleich detaillierter.

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nach dem Modell des Produkthaftungsrechts im Detail ausgearbeitet110. Daher sollen an dieser

Stelle einige überblicksartige Hinweise genügen111.

Normative Grundlage ist das ehrwürdige Prinzip, dass derjenige, der ein Risiko generiert oder

aufrechterhält und daraus potentiellen Nutzen zieht, auch die potentiellen Konsequenzen der

Manifestation dieses Risikos tragen sollte112. Auf Finanzprodukte wie Derivate angewandt,

bedeutet dies: Wenn originators wissentlich risikoreiche Kredite vergeben in der alleinigen

Absicht, diese bündeln zu lassen, weiterzuverkaufen und dadurch Liquiditätsgewinne zu

erzielen (sog. originate and distribute-Modell), und dadurch idiosynkratische sowie

systemische Risiken in den Markt einspeisen, so sollte dies grundsätzlich, anders als

gegenwärtig, durch eine zumindest anteilige (Gefährungs-)Haftung kompensiert werden in

den Fällen, in welchen sich die idiosynkratischen oder systemischen Risiken realisieren.

Ferner sollten die SPVs (und, soweit etwa mithilfe von piercing the veil oder gesetzlicher

Anordnung möglich, deren Muttergesellschaften sowie die individuellen

Entscheidungsträger113) und andere Distributoren, welche die Derivate letztlich am Markt

platzieren, jedenfalls dann grundsätzlich und anteilig für die Realisierung der genannten

Risiken haften, wenn sie diese durch die Verbriefung vergrößern.

Die Schwelle für eine anteilige Haftung der SPVs, Distributoren und originators (im

Folgenden untechnisch: Emittenten) für Verluste infolge des Erwerbs von Finanzprodukten

muss aber deren teloi Rechnung tragen. Daher sollte man nach dem Zweck des Produkts

differenzieren: Dient es tatsächlich primär der Diversifizierung oder auch der Versicherung

bestehender Risiken (hedging), so sollte der Emittent von einer Haftung verschont bleiben.

Handelt es sich jedoch im Schwerpunkt um ein Spekulationsprodukt, kann Regulierung, etwa

in Form von anteiliger Haftung eingreifen. Finanzprodukte wären dann endlich keine

Produkte ohne Produkthaftung mehr.

Ein Beispiel: Wenn das Z-SPV notleidende Kredite der Y-Bank aufkauft, um diese zu

verbriefen, und dadurch infolge von Diversifizierung eine Risikominderung eintritt, sollte

keine Haftung eintreten. Wenn aber die Produkte zugleich mit einer arbiträren

Spekulationskomponente versehen werden, etwa, indem die Auszahlungen als weitere

Bedingung an die aktuellen Ergebnisse der Bundesliga angepasst werden, so wäre die

Aufgreifschwelle für Haftung erfüllt. Ist andererseits der Zahlungsstrom aus dem Produkt mit

z.B. der Entwicklung des EURIBOR-Zinssatzes verknüpft (statt mit der Bundesliga), wäre im

Einzelfall zu entscheiden, ob je nach Investor eine hinreichende hedging-Komponente

vorliegt oder nicht.

110 Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), Chapter 3: A Matter of Risk and Balance – Discussing a System of Liability for Financial Products. 111 An einigen Stellen werden diese über die in Fn. 110 genannte Darstellung hinausgehen, da sich seit dem Erscheinen dieses Textes einige neue Entwicklungen in der Finanzwelt und -wissenschaft ergeben haben. 112 K. Larenz/C.-W. Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II (13. Aufl., 1994), § 84 I 2. a); R. Zimmermann, The Law of Obligations (Cape Town et al., 1996), 281 ff., besonders 291 f., auch zum Streit hinsichtlich der Geltung von periculum est emptoris im klassisch-römischen Recht. 113 Dies hat den Hintergrund, dass die SPVs häufig kein eigenes Vermögen besitzen, so dass eine gegen sie gerichtete Haftung im Ernstfall kaum Aussicht auf Realisierung von Schadensersatzforderungen hat. Dies schließt auch an die von Chris Thomale in diesem Band angestoßene Debatte zur Haftungsbeschränkung von Kapitalgesellschaften an.

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Ferner kann eine solche Haftung eingreifen, wenn Verbriefungen konsequent die

Vernachlässigung bestimmter Risiken durch Investoren ausnutzen – gemeint sind hier vor

allem die tail risks, also die sehr unwahrscheinlichen, aber eben doch nicht ausgeschlossenen

Ereignisse (wie etwa eine globale Finanzkrise)114. Wie Gennaioli, Shleifer und Vishny gezeigt

haben, beruht ein Großteil des Geschäftsmodells der Verbriefungsindustrie (auch) auf der

Unterschätzung dieser tail risks durch die Anleger115. Wird dies explizit ausgenutzt, sollte das

Anknüpfungspunkt für eine Haftung sein können116.

Entscheidend ist dabei, dass eine Haftung für Verluste des Investors, neben vielen

finanzmathematischen Einschränkungen, immer nur etwa 50 % der Schäden umfassen darf117.

So bleiben Anreize für den Investor erhalten, selbst nach guten Produkten zu screenen, und er

wird nicht einfach vollumfänglich versichert. Die Beschränkung der Haftung auf solche

Produkte, die Risiken erhöhen und keinem hedging-Zweck unterliegen, orientiert sich ferner

eng an den zuvor ausgemachten, legitimen Funktionen der Verbriefung. Zugleich wird damit

der Anreiz, spekulative Produkte zu generieren, die systemische Risiken schaffen, drastisch

verringert. Deren Risiken werden dann (partiell) von denjenigen internalisiert, die im

Erfolgsfall auch daran verdienen. Dies funktioniert im besten Fall dann wie eine Pigouvian

tax auf systemisches Risiko118, die aber dezentral, nämlich durch den Markt, verwaltet wird.

2. Debiasing

Die Setzung finanzieller Anreize zur Internalisierung von Externalitäten und zur sorgfältigen

Konstruktion von Verbriefungen speist sich aus den ökonomischen Erwägungen zu deren

Funktionen und Dysfunktionen. Daneben sind jedoch auch die verhaltensökonomischen und

psychologischen Befunde, die in Teil III dargestellt wurden, zu berücksichtigen. Dies kann

auf zwei Arten geschehen: Erstens können und sollten im Nachgang zu spezifischen Formen

von ökonomisch fundierter Regulierung, etwa dem soeben vorgeschlagenen Haftungssystem,

dessen reale Konsequenzen empirisch überprüft werden, um sicherzustellen, dass die

erstrebten normativen Ziele auch erreicht werden. Zweitens aber kann auch bereits bei der

Konstruktion eines Regulierungsansatzes empirisches Wissen eingespielt werden, und nicht

erst zur Qualitätskontrolle qua Folgenbewertung. Diese zweite Variante des Einbezugs

verhaltensökonomischer und psychologischer Erkenntnisse liegt vielen Reformvorschlägen,

die im Bereich von behavioral law and economics gemacht werden, zugrunde, etwa dem von

Thaler und Sunstein popularisierten nudging119. Hinzu kommen Ansätze, die sich

114 Der Begriff erklärt sich daraus, dass diese an einem der äußeren Enden, den tails, einer Normalverteilung abgebildet zu werden pflegen in der Finanzierungstheorie. 115 Gennaioli/Shleifer/Vishny (Fn. 2): diese Unterschätzung ist nach den Autoren Konsequenz von local thinking

(453), also der Tendenz, einige seltene Naturzustände überhaupt nicht in den Entscheidungsraum einzuspeisen; dies kreiert dann non-rational expectations (454); konkreter zum shadow banking id., A Model of Shadow Banking, 58 The Journal of Finance 1331-1361 (2013). 116 Zu weiteren Regulierungsvorschlägen hinsichtlich der Ausnutzung der Unterbewertung von tail risks siehe Adrian/Ashcraft (Fn. 4), unter 4.A und 5; besonders beliebt ist zurzeit die zwangsweise Einbehaltung von Teilen des Finanzprodukts durch die Emittenten (ebd., 5.C., unter Risk Retention). 117 Dazu im Einzelnen Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), Chapter 3, 3.2.4.5. und 3.4.3. 118 Dazu Acharya/Pedersen/Philippon/Richardson (Fn. 47), 122. 119 R. Thaler/C. Sunstein, Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness (New Haven/London, 2008); zur Kritik dieses Ansatzes umfassend etwa Hacker (Fn. 91); ferner P. Hacker, Rethinking Autonomy, in H.-W. Micklitz/K. Purnhagen/A.-L. Sibony (eds.), Consumer Research Handbook (Oxford,

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übergreifend mit dem Begriff des Debiasing beschreiben lassen, die also versuchen,

vorhandene bzw. vermutete biases spezifisch bereits auf kognitiver Ebene zu reduzieren120.

Die in Bezug auf Verbriefungen in Betracht kommenden, verhaltensökonomisch und

kognitionspsychologisch fundierten Regulierungsmöglichkeiten können hier nicht im Ansatz

umfassend dargestellt werden121. In Anbetracht der oben festgestellten Schwächen eines

Gütesiegels (uniforme Transformation von Wahrscheinlichkeitsschätzungen: „zu viel“122)

lässt sich jedoch zumindest ein exemplarischer, aber paradigmatischer Vorschlag machen: Ein

Ziel von debiasing könnte es sein, mehr Akteure aus Iü und Iu in Richtung Ik zu lenken, also

hin zu einer objektiv korrekten Einschätzung von Rv123. Dieses Unterfangen ist jedoch

aufgrund der Vielzahl an biases, welche die subjektive Bewertung von Rv verzerren können,

durchaus komplex. Hier kann in zwei Richtungen geforscht werden: einerseits zu kognitiv

optimierter Pflichtinformation (cognitively optimized disclosure), und andererseits zu

Warnhinweisen.

a) Cognitively Optimized Disclosure

Cognitively optimized disclosure124 strebt nach einer besseren, für die Rezipienten

verständlicheren Abbildung der Risiken, die mit der Investition in Verbriefungen

einhergehen. Das Design von Pflichtinformationen, das künftig im Rahmen eines

Informationsmodells 2.0 gleichrangig mit dem Inhalt derselben in den Fokus rücken muss,

sollte dabei mithilfe verhaltensökonomischer und kognitionspsychologischer Erkenntnisse

optimiert werden.

Ein Beispiel ist die Aufbereitung des Risikos Rv. Hier erscheint es sinnvoll, das Risiko eines

Investments in eine Verbriefung zu vergleichen mit dem allgemeinen Marktrisiko, also dem

Risiko, das man eingeht, wenn man in den gesamten Kapitalmarkt (eines Landes) investiert.

In der Finanzierungstheorie wird dieses relative Risiko üblicherweise als β weight bezeichnet,

nach dem Faktor, der dieses Risiko im Rahmen des capital asset pricing model (CAPM)

abbildet125. Diesen Faktor, der sich auf das Risiko des gesamten Produkts, und nicht nur der

forthcoming 2015); R. Rebonato, Taking Liberties. A Critical Examination of Libertarian Paternalism (Houndmills/New York, 2012). 120 Grundlegend Ch. Jolls/C. Sunstein, Debiasing through Law, 35 Journal of Legal Studies 199-241 (2006); kritische Würdigung bei P. Hacker, “Debias Them!? Towards a Critical Theory of Reducing Biases and Uncertainty in Private Law”, Paper presented at the 3rd Yale Doctoral Scholarship Conference, Yale Law School, New Haven, 2012 (on file with author). 121 Einen guten Einstieg bieten hier M. Barr/S. Mullainathan/E. Shafir, Behaviorally Informed Financial Services Regulation, Asset Building Program Policy Paper, New America Foundation, 2008, abrufbar unter http://repository.law.umich.edu/other/29/. 122 Siehe oben, Teil i. 123 Ebenso wünschenswert wäre natürlich eine Lenkung hin zur korrekten Einschätzung von Rh. Die folgenden Erwägungen gelten dafür analog. 124 Dazu umfassend Hacker (Fn. 91). 125 Danach gilt: ra = rf + β (rm – rf); ra ist dabei der expected return des Asset a, rf der return eines risikofreien Investments, und rm der return des gesamten betrachteten Marktes; rm – rf bezeichnet dann das sog. market

premium, also der höhere Erwartungsgewinn bei Investition am Markt als in ein risikofreies Produkt; dieser wird mit β multipliziert, wobei β eben angibt, um welchen Faktor das Risiko von a das allgemeine Marktrisiko über- oder unterschreitet. CAPM wurde in den 1960er Jahren von William F. Sharpe, John Lintner und Jan Mossin entwickelt; zwar ist die Validität von CAPM zu Recht umstritten; allerdings geht es dabei im Wesentlichen darum, ob CAPM den Erwartungsgewinn (return) eines Finanzprodukts richtig prognostiziert; siehe zum Ganzen etwa R. Merton, An Intertemporal Capital Asset Pricing Model, 41 Econometrica 867-887, 867-68 (1973); E.

Fama/K. French, The Capital Asset Pricing Model: Theory and Evidence, 18 The Journal of Economic

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underlyings bezieht, könnte man nun in Form einer farblich kodierten „Risikoampel“

graphisch darstellen: Grün für Produkte unterhalb des Marktrisikos (β < 1); gelb für Produkte

etwa gleich dem Marktrisiko (β ≈ 1); und rot für Produkte oberhalb des Marktrisikos (β > 1).

Dies würde nicht nur Komplexität sinnvoll reduzieren, sondern auch die empirisch belegte

Kraft von Graphiken nutzen, um Informationen zu übermitteln126. So können relevante Daten

dergestalt verpackt werden, dass auch die Grenzen kognitiver Verarbeitungsfähigkeit127 der

Investoren beachtet bleiben. Dies würde den Gedanken des Gütesiegels durch eine verstärkte

Visualisierung von Risiken aufgreifen, aber auf bessere Parameter für dessen Messung

abstellen.

b) Warnhinweise

Eine weitere Form von debiasing können Warnhinweise darstellen, mit deren Hilfe versucht

werden kann, subjektive Risikoeinschätzungen näher an objektive Werte anzunähern. Damit

kann einerseits vor Risiken in kognitiv wirksamer Form, andererseits aber sogar auch vor

biases selbst gewarnt werden. Allerdings können diese Techniken nur sehr kontextspezifisch

eingesetzt werden, nachdem festgestellt wurde, dass z.B. optimism bias in einer bestimmten

Situation für die allermeisten Investoren mehr Gewicht hat als Übergewichtung kleiner

Wahrscheinlichkeiten. Dieses Verhältnis kann sich auch zeitlich verändern, z.B. je nachdem,

ob an der Börse gerade Krisenstimmung herrscht oder nicht. Wenn man etwa einmal durch

eine Feldstudie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt hat128, dass optimism bias in

einer bestimmten Situation die relevante Verzerrung ist, so kann man einerseits z.B. durch

Vergrößerung der Salienz des Risikos Rv seiner Unterschätzung entgegenwirken129. Alternativ

kann man jedoch auch in standardisierter Form vor dem optimism bias selbst mittels eines

prominent platzierten Hinweises warnen: Die empirischen Erkenntnisse speisen zumindest die

Hoffnung, dass dies optimism bias reduzieren könnte130, auch wenn dies im Einzelnen noch

empirisch zu überprüfen wäre.

V. Zusammenfassung

Die Kommission möchte Wachstumsförderung und Lehren aus der Finanzkrise verbinden,

indem sie einen Markt für „nachhaltige Verbriefungen“ schafft. Dieses Ziel ist an sich zu

begrüßen. Die Erwägung, dafür ein Gütesiegel für Verbriefungen einzuführen, die auf

„guten“, mit einer hohen Bonität gesegneten Forderungen beruhen, ist jedoch zu dessen

Erreichung wenig zielführend. Sie missachtet die ökonomischen Funktionen von Verbriefung

ebenso wie die verhaltensökonomischen und kognitionspsychologischen Erkenntnisse zum

Perspectives 25-46 (2004), besonders 30 ff. zu empirischen Tests der Relation von β und return. Weitgehend unbestritten bleibt jedoch insgesamt, dass an sich β ein wichtiger Risikoparameter ist. 126 Zu letzterem siehe etwa O. Ben-Shahar/C. Schneider, The Failure of Mandated Discourse, 159 Pennsylvania LR 647-749, 743 (2011); id., More Than You Wanted to Know (Princeton/Oxford, 2014), 129; M. Kay/M. Terry, Textured Agreements: Re-envisioning Electronic Consent, in: Proceedings of the Sixth Symposium on Usable Privacy and Security, Article Nr. 13, 2010, abrufbar unter http://dl.acm.org/citation.cfm?id=1837127. 127 Dazu oben (Fn. 67 und Text). 128 Zu Feldstudien G. Harrison/J. List, Field Experiments, 42 Journal of Economic Literature 1009-1055 (2004). 129 Siehe Vorschläge etwa bei Jolls/Sunstein (Fn. 120), 210. 130 Siehe dazu im Einzelnen Hacker (Fn. 91), unter Debiasing; vgl. auch M. Alpert/H. Raiffa, A progress report on the training of probability assessors, in: D. Kahnemann/P. Slovic/A. Tversky (eds.), Judgment under

Uncertainty: Heuristics and Biases (New York, 1982), 294-305.

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Verhalten von Investoren. Bei genauerem Hinsehen ergeben sich daher mikroskopische und

makroskopische Mängel hinsichtlich des Kommissionsvorschlags.

In mikroskopischer, klassisch ökonomischer Perspektive ist festzustellen, dass Verbriefungen

flexibel eine Reihe von Funktionen übernehmen können: Sie leisten Risikominderung (credit

transformation) und Risikotransfer; sie transfomieren Liquidität; zudem können sie genutzt

werden, um Versicherungseffekte gegen bestimmte externe Risiken zu erzielen (hedging).

Schließlich wohnt ihnen aber auch das Potential inne, zu Spekulationszwecken genutzt zu

werden. Der Kommissionsvorschlag öffnet sich dieser Breite der ökonomischen Theorie nur

ungenügend. Insbesondere übersieht ein Abstellen auf die Qualität der den Verbriefungen

zugrunden liegenden Forderungen (underlyings), dass das Wesen von Verbriefungen gerade

darin besteht, aus risikoreichen Forderungen risikoärmere zu machen, oder aber auch aus

risikoarmen risikoreiche Spekulationsprodukte herzustellen. Allein ein Blick auf die

underlyings kann daher das Risikopotential dieser Instrumente keinesfalls abbilden. Vielmehr

gilt aus ökonomisch-juridischer Perspektive: Verbriefungen sind gesellschaftlich sinnvoll,

wenn sie entweder Risiko minimieren oder (auch) zu hedging-Zwecken benutzt werden.

Daran sollte sich die Regulierung dieser Produkte orientieren.

Ein auf underlyings fixiertes Gütesiegel tut dies nicht. Erschwerend kommt jedoch in

makroskopischer Perspektive hinzu, dass eine solche Technik Kontrollillusionen auf

Investorenseite Vorschub zu leisten vermag. Das ist insbesondere dann misslich, wenn die

Information gerade nicht auf die für die Einschätzung des Risikos relevanten Aspekte abstellt.

Hinzu kommt, dass Fehleinschätzungen von Wahrscheinlichkeiten durch Investoren durch das

Gütesiegel noch vergrößert werden können. Hier ist zwischen zwei Typen von Risiken zu

unterscheiden: einerseits dem Risiko der Verbriefung selbst, Rv, und andererseits dem Risiko,

gegen das beim hedging abgesichert werden soll, Rh. Ein Gütesiegel leistet hier zugleich zu

viel und zu wenig: Die Vermutung liegt nahe, dass ein mit einem Gütesiegel ausgestattetes

Produkt von Investoren als weniger riskant wahrgenommen wird, Rv also uniform sinkt.

Stattdessen wäre es aber günstig, wenn diejenigen, die Rv aus bestimmten,

verhaltensökonomisch und kognitionspsychologisch nachvollziehbaren Gründen zu niedrig

veranschlagen, das Risiko als höher, nicht niedriger, wahrnehmen würden. Es wird also

insoweit zu viel geleistet, als nicht lediglich die Risikoeinschätzungen derer, die Rv

überschätzen, nach unten korrigiert werden. Zugleich aber bietet das Gütesiegel zu wenig, da

es die Fehleinschätzungen von Rh, die regulatorisch ähnlich relevant sind, völlig unbeeinflusst

lässt.

Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass die konkrete Gefahr besteht, dass ein Gütesiegel,

bei aller wohlmeinenden Absicht, ein durch Informationsasymmetrie gespeistes

Marktversagen nur sehr partiell bereinigt, dafür aber sogenannte behavioral market failures

verstärkt.

Daher sind, abweichend vom Kommissionsvorschlag, de lege ferenda Alternativwege zu

beschreiten, um die beschriebenen Herausforderungen zu meistern. Diese sollten sich

einerseits an den ökonomischen Funktionen von Verbriefungen orientieren in der Absicht, die

gesellschaftlich wünschenswerten, wie Risikominimierung oder hedging, zu verstärken.

Andererseits sollten sie aber auch verhaltensökonomisch und kognitionspsychologisch

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informiert sein, um sicherzustellen, dass die gewünschten Effekte auch eintreten, bzw. um

Regulierungsnotwendigkeit überhaupt erst zu erkennen. Diese Prinzipien können zum

Beispiel umgesetzt werden durch ein System der Produkthaftung für spekulative,

risikoerhöhende Finanzprodukte, wie es der Verfasser an anderer Stelle bereits detailliert

dargelegt hat131. Ferner lassen sich gewinnbringend Warnhinweise und andere Strategien

bemühen, um bei Investoren kognitive Verzerrungen zu reduzieren (debiasing) und so

subjektive Risikoeinschätzungen den objektiven Gegebenheiten wieder anzunähern.

Angesichts der komplexen Interaktion des Designs derivativer Finanzprodukte mit ihren

ökonomischen Funktionen, dem realen Investorenverhalten und möglichen regulativen

Antworten kann zu diesem Zeitpunkt allerdings nur eines wirklich sicher sein: Das Thema

Verbriefung wird die Kommission, ebenso wie die Rechtswissenschaft, noch auf absehbare

Zeit beschäftigen. Dieser Beitrag soll einen Beitrag dazu leisten, die juristische Diskussion

auf ökonomisch wie psychologisch zeitgemäße Fundamente zu stellen.

131 Siehe Fikentscher/Hacker/Podszun (Fn. 2), Chapter 3: A Matter of Risk and Balance – Discussing a System of Liability for Financial Products.