Verabschiedung und Fortsetzung der Romantik im Frühwerk von Theodor Storm. Eine intertextuelle...

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Realism and Romanticism in German Literature Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur Edited by Dirk Göttsche and Nicholas Saul AISTHESIS VERLAG Bielefeld 2013 Sonderdruck aus:

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Realism and Romanticismin German Literature

Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur

Edited byDirk Göttsche and Nicholas Saul

AISTHESIS VERLAGBielefeld 2013

Sonderdruck aus:

Magdolna Orosz

Verabschiedung und Fortsetzung der Romantik im Frühwerk von Theodor StormEine intertextuelle Analyse der Novelle Immensee

1. Literarische Epocheneinteilungen: Brüche und Übergänge

Literaturhistorische Studien einzelner Autoren, ob sie sich mit dem Ge- samtwerk oder einzelnen Texten beschäftigen, sind häufig mit Problemen der Definition von ‚Epochen‘ konfrontiert, mit den Fragen ihrer inne-ren ideologisch-ästhetischen, poetologischen, gattungs- und textprakti-schen Differenziertheit, sowie ihrer vielfältigen Übergänge, wobei eben die Übergangsphänomene und Ungleichzeitigkeiten sowie die mannigfaltigen epochen internen Differenzen besondere Aufmerksamkeit verdienen. Der Realismus in der deutschen Literatur – mit den Kontinuitäten und Diskonti-nuitäten in seiner Anfangsphase im Verhältnis zur (ebenfalls ziemlich aufge-fächerten) Romantik bzw. zur Goethezeit, sowie in seiner späteren Endphase zur sich allmählich abzeichnenden Frühen Moderne – bildet einen wichtigen Untersuchungsgegenstand für das Verständnis solcher Wandlungsprozesse. Theodor Storm darf hier als gutes Beispiel gelten, da seine Werke sowohl in seiner frühen als auch in seiner späten Schaffensphase wichtige Übergangs-momente aufweisen.1

Der Goethezeit als äußerst komplexer, historisch und ideologisch mehr-fach gegliederter längerer Periode2, die auch die Romantik einschließt, folgen vielfältige Übergänge in Literatur und Kultur, bis schließlich, wie Titzmann

1 Vgl. dazu Marianne Wünsch. „Experimente Storms an den Grenzen des Realis-mus. Neue Realitäten in Schweigen und Ein Bekenntnis“. Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 41 (1992): S. 13-23.

2 Vgl. Michael Titzmann. „Literarische Strukturen und kulturelles Wissen. Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktion im Denksystem der Epoche“. Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Hg. Jörg Schönert, Konstantin Imm, Joa-chim Linder. Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 229-281, hier S. 229.

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ausführt, ein „neue[s] – sehr stabile[s] – System […], das wir als ,Realismus‘ kennen“3, zustande kommt. Es entstehe damit ein System der Literatur, das „grundlegend eine [Welt] der Grenzen und Ausgrenzungen ist“4, wobei sich nicht nur die Konzeptionen von ,Realität‘ und ,Person‘ ändern, sondern glei-cherweise „[a]usgegrenzt wird die literarische Vergangenheit durch Negie-rung literarischer Konzepte der Goethezeit und des Biedermeier“.5 In Hin-sicht auf die Brüche und Übergänge zwischen der Goethezeit und dem sich allmählich um die Mitte des 19. Jahrhunderts konstituierenden Realismus kann vor allem die Differenz von zwei Grundeinstellungen postuliert wer-den: Wo die Goethezeit im Allgemeinen (und die Romantik im Besonderen) eine vielfältig ausgeprägte offene und utopische Einstellung zur Welt, zur Person und zur Kunst bzw. Literatur aufweist6, könnte der Realismus (nach verschiedenen Übergangsmodalitäten des Biedermeier) durch den Verzicht auf dieses Utopische und somit „durch weitestgehend konstante und starre Grenzziehungen“7 charakterisiert werden. Damit dürfte der Realismus teil-weise auch als ein gewisses Zurücktreten in Bezug auf die Modernität und Progressivität der Romantik betrachtet werden, wobei dies gewiss auch durch

3 Michael Titzmann. „Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft“. Modelle des literarischen Strukturwandels. Hg. Michael Titzmann. Tübingen: Niemeyer, 1991, S. 395-438, hier S. 421.

4 Hans Krah. „Die ‚Realität‘ des Realismus. Grundlegendes am Beispiel von Theodor Storms Aquis submersus“. Realismus (1850-1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Mit Beiträgen von Jan-Oliver Decker, Peter Klimczak, Hans Krah und Martin Nies. Hg. Marianne Wünsch. Kiel: Ludwig, 2007, S. 61-90, hier S. 64.

5 Ebd.6 Vgl. dazu die Demonstration dieser Annahme am Beispiel der goethezeitlichen

Bildungsgeschichte bei Michael Titzmann. „Die ‚Bildungs-‘/Initiationsge-schichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologi-schen Diskurs der Epoche“. Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. Lutz Danneberg, Friedrich Vollhard, Hartmut Böhme, Jörg Schönert. Tübingen: Niemeyer, 2002, S. 7-64.

7 Michael Titzmann. „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamenta-len Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘“. Welt-entwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Festschrift für Marianne Wünsch. Hg. Hans Krah und Claus-Michael Ort. Kiel: Ludwig, 2002, S. 181-209, hier S. 184.

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die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen um 1840-1850 bedingt ist. Demgegenüber ist der Realismus bemüht, eine (lite-rarisch konstruierte) Welt aufzuzeigen, die „sich durch Konstanz und Bewah-rung des Eigenen auszeichnet“8, wobei Grenzüberschritte zwar möglich seien, die Grenzen aber „im Regelfalle bekannt und akzeptiert“9 werden.

Auf Theodor Storms Novellistik scheinen diese Behauptungen, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, im Großen und Ganzen ebenfalls zuzu-treffen: Die Figuren der erzählten Welten der Storm’schen Texte sind mit Lebensproblemen konfrontiert, deren Lösung durch Veränderungen ihres Verhaltens gegenüber den anderen Figuren und den Verhältnissen herbeizu-führen wäre, wobei sie aber zur Übertretung ihrer Grenzen nicht fähig sind und daher in Ausweglosigkeit, Entsagung, Verzicht oder im Extremfalle im Tod enden. Bei näherer Analyse erweisen sich Storms Erzählungen jedoch als komplizierter: Sie zeigen vielfältige und komplexe Auseinandersetzungen mit den Problemen seiner Zeit, mit der sich herausbildenden ästhetischen Konzeption des Realismus, wobei sie literarische, insbesondere auch roman-tische Traditionen in der Form der Weiterführung, Negation oder Aufbe-wahrung intensiv reflektieren. Die Frage, wie Storm in seinen Textwelten mit den romantischen Traditionen erzählerisch umgeht, wie er Themen, Motive und Fragestellungen der Romantik verschiedenartig funktionalisiert, soll im weiteren auf Grund seiner frühen Novellistik, in erster Linie durch eine Ana-lyse der Novelle Immensee, aufgezeigt werden.

2. Theodor Storms frühe Erzählungen: Artikulierungen von Verzicht und Aufbewahrung

Die Novellen der frühen Schaffensphase von Storm, die etwa vom Ende der 1840er bis zum Ende der 1850er bzw. dem Anfang der 1860er Jahre dauert10,

8 Krah. „Die ‚Realität‘ des Realismus“ (wie Anm. 4), S. 89.9 Titzmann. „‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘“ (wie Anm. 7), S. 184.10 No-Eun Lee z.B. setzt Storms frühe Schaffensphase zwischen die Jahre 1848

und 1859 und ordnet dazu die Novellen Marthe und ihre Uhr (1848), Im Saal (1849), Immensee (1850), Posthuma (1851), Ein grünes Blatt (1854), Im Son-nenschein (1854), Angelika (1855), Auf dem Staatshof (1859) ein; vgl. No-Eun Lee. Erinnerung und Erzählprozesse in Theodor Storms frühen Novellen (1848-1959). Berlin: Erich Schmidt, 2005, S. 21.

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werden oft als „lyrisch“11 oder als „Stimmungsbilder“12 charakterisiert. Mari-anne Wünsch betrachtet diese Texte als solche, „in deren Folge sich in den 1850er Jahren die neue realistische Literaturkonzeption konstituiert“13: Das Subjekt dieser erzählten Welten wird als „realistisches Subjekt“ „über sein Bewusstsein [definiert], das sich nach außen gegen die Umwelt, nach innen gegen ein Nicht-Bewusstes abgrenzt“14, wobei das Nicht-Bewusste „nur punktuell, in manchen Texten Spuren [hinterlässt]“15 und sich u.a. durch Themen wie unglückliche Liebe, Liebesverzicht, Resignation, Versagen, Ein-samkeit und Tod in den dargestellten (erzählten) Welten in vielfältiger Form artikuliert. Roger Paulin bemerkt beim frühen Storm die Herausbildung einer „Thematik, die immer wieder als Grundmuster sichtbar wird: das Ausei-nanderklaffen von Einst und Jetzt, die unwiederbringliche Vergangenheit, die die Gegenwart noch immer beeinflusst und alle Tätigkeit erlahmen lässt“.16 Eckart Pastor betrachtet die frühen Novellen wegen dieser charakteristischen Zeitstruktur als „Erinnerungsnovellen“17, die, nach Lee, „in ihrer konsequen-ten Gestaltung der Erinnerungsthematik [erforscht werden]“18 können.

Im Gegensatz dazu konzentrieren sich die in den (späten) 1990er Jah-ren einsetzenden Forschungen19 viel stärker auf „die Modernität und das

11 Vgl. dazu den Brief an Erich Schmidt vom 1.3.1882; Theodor Storm und Erich Schmidt. Briefwechsel. Kritische Ausgabe. 2. Bd: 1880-1888. Hg. Karl Ernst Laage. Berlin: Erich Schmidt, 1976, S. 57.

12 Vgl. dazu Christine Reiter. Gefährdete Kohärenz. Literarische Verarbeitung einer ambivalenten Wirklichkeitserfahrung in den Novellen Theodor Storms. St. Ing-bert: Röhrig, 2004, S. 40.

13 Marianne Wünsch. „Konzeptionen der ‚Person‘ und ihrer ‚Psyche‘ in der Litera-tur der ‚Goethezeit‘ bis zum ‚Frühen Realismus‘“. Realismus (1850-1890) (wie Anm. 4), S. 121-151, hier S. 135.

14 Ebd., S. 139.15 Ebd.16 Roger Paulin. Theodor Storm. München: Beck, 1992, S. 28.17 Eckart Pastor. Die Sprache der Erinnerung. Zu den Novellen von Theodor Storm.

Frankfurt/Main: Athenäum, 1988, S. 49. Pastors Charakterisierung der erzähl-ten Welten der ersten drei Novellen von Storm als „voller Geselligkeit (Marthe), wohlgeordnet (Im Saal) und in Sommer, Liebe und Lebensfreude getaucht (Immensee)“ (ebd.) kann in Anbetracht der unterschwelligen Thematik von Verzicht/Versagen jedoch nur bedingt zugestimmt werden.

18 Lee. Erinnerung und Erzählprozesse (wie Anm 10), S. 10.19 Für eine Übersicht der Forschung zu Immensee vgl. Wiebke Strehl. Theodor

Storm’s ‚Immensee‘. A Critical Overview. Rochester/NY: Camden House, 2000.

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hohe künstlerische Niveau der sich durch Offenheit, Multi-Perspektivik und psychologische Motivierung auszeichnenden Texte“.20 Zu den narrato-logisch verankerten Analysen21 gesellen sich auch Arbeiten, die, indem sie die Feststellungen und Ergebnisse einer methodologisch weniger reflektier-ten Quellenforschung weiterführen und systematisieren, die intertextuellen Bezüge der Storm’schen Texte herausarbeiten, wodurch auch verschiedene Brechungen einer realistischen Textkonstruktion bzw. Poetologie bei Storm demonstriert werden können.22 Dies trifft jedoch vor allem „auf die Novellen der mittleren und späten Schaffensperiode [zu], während die frühen Prosaar-beiten nur geringe Aufmerksamkeit fanden“23, woraus sich weitere Aufga-ben und Herausforderungen für die sich mit den frühen Texten befassende Storm-Philologie ergeben.

Hier werden die späteren intertextuell ausgerichteten Untersuchungen noch nicht in Betracht gezogen werden; für eine kurze Zusammenfassung der Annä-herungen an Immensee vgl. auch Margherita Versari. „‚Immensee‘ – ein frag-würdiger makrobiotischer Lebenslauf “. Abweichende Lebensläufe, poetische Ordnungen. Hg. Thomas Betz und Franziska Mayer. München: Kieser, 2005, S. 325-341, hier S. 325ff.

20 Stefanie Kugler. „‚Meine Mutter hat’s gewollt‘. Weiblichkeit und männliche Identität in Theodor Storms ‚Immensee‘“. Poetische Ordnungen. Zur Erzähl-prosa des deutschen Realismus. Hg. Ulrich Kittstein und Stefanie Kugler. Würz-burg: Königshausen & Neumann, 2007, S. 201-232, hier S. 201.

21 Vgl. z.B. die Analyse von Aquis submersus bei Michael Boehringer. The Telling Tactics of Narrative Strategies in Tieck, Kleist, Stifter, and Storm. New York, Bern: Lang, 1999, S. 111-151.

22 Vgl. z.B. Malte Stein. „Tod und Weiblichkeit in Theodor Storms Novelle Auf der Universität. Eine Textanalyse aus intertextueller Perspektive“. Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 45 (1996): S. 27-45; Achim Küpper. „‚Das kommt von all’ dem Bücherlesen‘! Intertextualität, Erzählproblematik und alternative Lesepläne in Theodor Storms Novelle ‚Im Schloß‘“. Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft 54 (2005): S.  93-111, sowie die intertextuelle Analyse der Novelle Eine Hallig fahrt bei Aiko Onken. Erinnerung, Erzählung, Identität. Theodor Storms mittlere Schaffensperiode (1867-1872). Heidelberg: Winter, 2009, S. 209-258.

23 Kugler. „Meine Mutter hat’s gewollt“ (wie Anm. 20), S. 201. Als Beispiel dafür hebt sie die Novelle Immensee hervor, die sie weniger intertextuell als eher unter dem Schwerpunkt „komplizierte[s] Verhältnis der Geschlechter“ (ebd., S. 202) untersucht.

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3. Intertextuelle Konstruktionen in Immensee

Die Auseinandersetzung mit ästhetisch-literarischen Traditionen und die Konstruktion eines realistischen Programms geht bei Storm in seinen frü-hen Novellen auf vielfältige Weise vor sich: Narrative Verfahren wie die Her-ausbildung der Varianten seiner Rahmungstechnik, die spezifischen Figu-renkonstellationen sowie Symbolisierungsstrategien werden teilweise durch Anlehnung an intertextuelle Modelle erprobt. In den frühen Novellen sind somit auch ganz eindeutig markierte intertextuelle Bezugnahmen auf lite-rarische Texte zu finden, die verschiedene kulturelle und literarische Tradi-tionen aufrufen. So wird in der 1847 entstandenen kurzen Novelle Marthe und ihre Uhr Mörikes Maler Nolten als Marthes Lektüre hervorgehoben, wodurch mit der Anspielung zugleich die erzählte Zeit (literatur)historisch festgelegt wird:

Mörikes „Maler Nolten“, welcher damals erschien, machte großen Eindruck auf sie, so daß sie ihn immer wieder las; erst das Ganze, dann diese oder jene Partie, wie sie ihr eben zusagte. Die Gestalten des Dichters wurden für sie selbstbestimmende lebende Wesen, deren Handlungen nicht mehr an die Not-wendigkeit des dichterischen Organismus gebunden waren; und sie konnte stundenlang darüber nachsinnen, auf welche Weise das hereinbrechende Ver-hängnis von so vielen geliebten Menschen dennoch hätte abgewandt werden können.24

Die in der Novelle dominierende Vergänglichkeits- und Verzichtsthematik wird damit intertextuell-motivisch verankert. Ausserdem wird durch die naiv-referenzialisierende Rezeptionshaltung der fiktiven Figur Marthe die Gestaltung des Lebens nach literarischem Muster bzw. die Modellfunktion intertextueller Bezüge in der Fiktion selbst angedeutet. In der fast zehn Jahre nach Immensee veröffentlichten Novelle Späte Rosen wird Gottfrieds von Straßburg Tristan als umgekehrte intertextuelle Folie von der erin-nernden Figur Rudolf ausführlich aufgerufen, indem in Storms Text statt ,Liebesrausch‘ und ,Tragik‘ des referierten Textes eine ,Resignation‘ und

24 Vgl. Theodor Storm. Sämtliche Werke in 4 Bdn. Hg. Peter Goldammer. Bd. 1. Gedichte, Märchen, Spukgeschichten, Novellen. 6. Aufl. Berlin, Weimar: Aufbau, 1986, S. 478. Im weiteren zitiere ich unter Verwendung der Sigle SW aus dieser Ausgabe.

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der ,Verzicht auf ausufernde Gefühle‘ thematisiert werden.25 Ebenfalls als intertextueller Bezug taucht in Drüben am Markt Bernardin de Saint-Pierres Roman Paul et Virginie auf; allerdings fungiert er nicht als von der Figur gelesenes Werk, denn „[d]as Buch selbst kannte er nicht“, sondern als „auf einer Landschaftstapete“ (SW 1, S. 651), also nicht als künstlerisches Werk, sondern zum Alltagsgebrauch bestimmt ins Bild gesetzte „fremde, aber lieb-liche Welt“ (SW 1, S. 653). Das literarische Modell der unglücklichen Liebe fungiert als Vorbild des Versagens der Figur, das zur offensichtlichen Ver-drängung und somit wiederum zu Verzicht und Resignation führt: „dann schloß er ab und nahm den Schlüssel mit herunter“ (SW 1, S. 657).

Die Novelle Immensee ist unter Storms frühen Werken, vor allem was ihre intertextuelle Verflechtung betrifft, vielleicht das komplizierteste: Im Text bilden markierte und kaum oder nicht markierte intertextuelle Elemente ein dichtes Netz und verankern den Text am Schnittpunkt verschiedener Poeto-logien. Der erzählten Geschichte sollen, wie dies bei Wooley behauptet wird, literarische Texte aus dem Umkreis der Spätromantik bzw. des Biedermeier zugrundegelegt worden sein26; das intertextuelle Bezugsnetz von Immensee ist jedoch, wie zu zeigen sein wird, vielfältiger und lässt mehrere Autoren und Texte in die Interpretation einbeziehen.

Der anscheinend einfach konstruierte Text folgt einer in Storms Werken öfter vorkommenden narrativen Rahmenstruktur, wobei hier die Binnen-

25 Für eine detaillierte Analyse der Verwendung des intertextuellen Musters in die-ser Novelle vgl. Michael Titzmann. „Die Verarbeitung von Gottfrieds ‚Tristan‘ in Storms ‚Späte Rosen‘. Die Begegnung unvereinbarer Anthropologien“. helle döne schöne. Versammelte Arbeiten zur älteren und neueren deutschen Literatur. Festschrift für Wolfgang Walliczek. Hg. Horst Brunner, Claudia Händl, Ernst Hellgardt, Monika Schulz. Göppingen: Kümmerle, 1999, S. 295-322.

26 Eine frühe Auseinandersetzung mit den vermuteten „Quellen“ des Textes bie-tet Elmer Otto Wooley. „Two Literary Sources of Immensee“. Monatshefte 42.6 (1950): S.  265-272. Wooley praktiziert keine intertextuelle Lektüre, er zählt bestimmte Textstellen aus Storms Novelle auf, die er mit den seiner Meinung nach als Quellentexte zu betrachtenden Werken, Eichendorffs Dichter und ihre Gesellen und Mörikes Maler Nolten, verbindet. Als Hauptargument für die Richtigkeit seiner Behauptungen betrachtet er Storms Bekanntschaft mit den Schriftstellern und ihren Einfluss auf ihn (S. 265, 272). Der Bezug auf Maler Nolten wird auch bei Kugler erwähnt; vgl. Kugler. „Meine Mutter hat’s gewollt“ (wie Anm. 20), S. 204.

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geschichte, d.h. die erinnerten Lebensepisoden27 der (in der Rahmenerzäh-lung als „der Alte“ eingeführten) fiktiven Figur Reinhard, nicht in Ich-Form, sondern von einem auf die Figur fokussierenden Er-Erzähler geschildert wird. Damit weicht die Erzählung zugleich vom Grundtyp einer Rahmenge-schichte mit einer in Ich-Form gehaltenen Binnengeschichte ab und nimmt zugleich eine spezifische Erzählerposition ein, die immerhin „nur bedingt als auktorial charakterisiert werden [kann], denn zu stark nähert sich der Erzäh-ler der Perspektive seines Helden an“.28 Innerhalb der Binnengeschichte bleibt die zeitliche Strukturierung linear und hebt punktuell drei Lebens-alter der Figuren hervor: Kindheit und frühe Jugend/Adoleszenz (in den Kapiteln „Die Kinder“ und „Im Walde“), Jugend mit Szenen aus Reinhards Studentenzeit („Da stand das Kind am Wege“, „Daheim“ und „Ein Brief “), dann ein reiferes Erwachsenenalter, woraus eigentlich nur auf das Zusam-mentreffen am Immensee fokussiert wird („Immensee“, „Meine Mutter hat’s gewollt“, „Elisabeth“); der darauf folgende Lebensabschnitt der zentralen Figur wird ausgespart.29

Die in der Binnengeschichte erzählte Handlung ruft einige Momente einer Bildungsgeschichte auf und setzt damit klassische Traditionen fort. Hier führt die ,Bildung‘ aber im bürgerlichen Leben zu einem negativen Ausgang (Reinhard versagt als Liebender wie auch als ,Bürger‘ mit praktisch-wirtschaftlichem Lebensziel), sie führt jedoch zu einem bestimmten Erfolg im Nicht-Bürgerlichen, wenn auch – damit die klassisch-romantische Oppo-sition teilweise aufhebend bzw. abschwächend – nicht im Künstlerischen im

27 Vgl dazu Kortens Einordnung von Immensee in die Gruppe der „erinnerten Geschichten“, in denen die Binnengeschichte eine Erinnerungsstruktur auf-weist; Lars Korten. Poetischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848-1888. Stif-ter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen: Niemeyer, 2009, S. 200ff.

28 Jäggi hält die Novelle Immensee eben deshalb nicht für eine „richtige“ Rahmen-geschichte; vgl. Andreas Jäggi. Die Rahmenerzählung im 19. Jahrhundert. Bern: Lang, 1994, S.  69f. Jäggi nennt die Erzählung deshalb „Erinnerungsnovelle“ (ebd.).

29 Reichelt erwähnt in dieser Hinsicht „Biographiebrüche“, „Lücken“, die „bedeu-tungskonstitutiv [sind], ohne mit Bedeutung aufgefüllt zu werden“ und „letzt-lich nicht gelebt[e] biographisch[e] Zeit“ signalisieren; Gregor Reichelt. „Theodor Storms Bildgebrauch im Kontext des Zeitschriftenmediums“. Theo-dor Storm und die Medien. Zur Mediengeschichte eines poetischen Realisten. Hg. Gerd Eversberg und Harro Segeberg. Berlin: Erich Schmidt, 1999, S. 81-102, hier S. 95.

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engeren Sinne (Reinhard wird allem Anschein nach kein Künstler, sondern Gelehrter). Dieser Ausgang wird schon in der ersten erinnerten Episode im intertextuellen Bezug auf die im Text selbst nicht eindeutig als biblisch markierte Geschichte des Propheten Daniel in der Löwengrube angedeutet, die „als Sinnbild der uralten Dichter-Seher-Tradition – des poeta vates – ver-standen werden [muß], der in göttlicher Eingebung den Menschen Wahr-heit verkündet“.30 Die eindeutige Identifikation bleibt aber ausgeschlossen, indem sie von der kindlichen Figur Reinhard als „nur so eine Geschichte“ (SW 1, S. 493) abgestempelt und damit ihr Wahrheitswert zurückgenom-men wird. Somit kann sie nicht zum „Lebensprogramm“ werden: der alte Reinhard ist ein klarer Beweis dafür.

Reinhard, der dem romantischen Bildungsmuster nicht folgt, indem er nicht zum Künstler, sondern zum Gelehrten wird, könnte sogar als „zum Bildungsbürger [degeneriert]“31 aufgefasst werden. Somit werde – meint Brülls – „der fixe Konflikt der Romantik, der zwischen ,Künstler‘ und ,Bür-ger‘, […] auch nicht mehr als Reserve des Altbürgers gegen seinen neuen, prosperierenden Antitypus, den selbstbewußten, da ökonomisch erfolgrei-chen Bourgeois“32, d.h. als Gegensatz zwischen Reinhard und Erich ver-standen. Reinhard könnte damit auch „zum Prototyp einer dilettierenden Generation“33 erklärt werden, die die Kunst, im Gegensatz zur romantischen Ansicht, nicht mehr als Lebensaufgabe zu verstehen vermag. Der in Immen-see sich abzeichnende „Dialog“ mit der Romantik bleibt indessen nicht in einer zumindest scheinbar eindeutigen Abkehr stecken: Durch die mannig-faltigen intertextuellen Bezüge entwickelt sich die ideologisch-poetologische Auseinandersetzung vielfältiger als diese Ansichten suggerieren. Der Text weist nämlich durch die verschiedenartig funktionalisierten intertextuellen Bezüge auf verschiedene Phasen und Konzeptionen der deutschen Roman-tik hin, deren Aufeinanderwirken im Text eine etwas differenziertere Einstel-lung Storms erkennen lässt: auf der einen Ebene eine Verabschiedung roman-tischer Positionen, auf einer anderen allerdings ihre Fortsetzung (wenn auch mit anderen Akzenten und Kontexten) sowie ihre spezielle Aufbewahrung.

30 Pastor. Die Sprache der Erinnerung (wie Anm. 17), S. 57.31 Holger Brülls. „Der Künstler als Biedermann. Zum Problem der ‚Bürgerlich-

keit‘ in Theodor Storms ‚Immensee‘“. Wirkendes Wort 35.4 (1985): S. 184-202, hier S. 199.

32 Ebd., S. 200.33 Pastor. Die Sprache der Erinnerung (wie Anm. 17), S. 67.

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Die auffälligsten intertextuellen Bezüge aber – sieht man von der die Gattungsgrenzen auflockernden frühromantischen poetischen Praxis der Liedeinlagen und der narrativen Funktionalisierung des Gemäldes ab34  – sind die auf frühromantische Texte markiert oder unmarkiert anspielenden Bezugnahmen. Alle kommen auf dem semantischen Feld einer Natursymbo-lik zustande, welche erzähltechnisch sehr differenziert aktualisiert wird und funktional der Figurencharakteristik zugrunde liegt.35 Mehrfach wird direkt und indirekt auf Tiecks frühe Novellen hingewiesen. Bei der Erdbeerensu-che z.B. ruft Reinhard die Elfen in Erinnerung, deren Existenz dann in einen negativen Kontext gestellt und damit verneint wird:

„Hier haben sie gestanden“, sagte er, „aber die Kröten sind uns zuvorgekom-men, oder die Marder, oder vielleicht die Elfen. “„Ja“, sagte Elisabeth, „die Blätter stehen noch da; aber sprich hier nicht von Elfen.“ (SW 1, S. 498)

Somit verneint hier schon die junge Generation die Möglichkeit des Vor-kommens von Wunderbarem, was bei Tieck – wie in seiner Erzählung Die Elfen – erst der Elterngeneration zugeschrieben wird, die eine nüchterne/ernüchternde Sicht auf die Natur und deren potentiell übernatürlichen Ele-mente vertritt. Die ihrer Früchte enthobene Natur (Reinhard und Elisabeth finden keine Erdbeeren) erinnert in Immensee an das Ende der Handlung in Die Elfen, indem dort „dieselbe Gegend, die sonst die Freude jedes Durchrei-senden war, im Herbst verödet, nackt und kahl [stand]“.36 An einem späteren Punkt der erzählten Geschichte scheint die Gegenüberstellung von wilder und kultivierter Natur auf, wie sie in Tiecks Runenberg eingeführt wird. Dort geraten Christians Jäger-, Gärtner- und Bergmannexistenz in Konflikt miteinander, wobei am Ende die wilde Natur der Bergschlucht Christians (der die domestizierte Natur verlassen hat) – zumindest aus seiner Pers-pektive  – dominierend bleibt. In Immensee wird dagegen die Opposition

34 Elisabeths Porträt wird „zum Gegenstand eines privaten Gedächtniskultes“. Vgl. Reichelt. „Stroms Bildgebrauch“ (wie Anm. 29), S. 84.

35 Vgl. dazu Birgit Reimann. Zwischen Harmoniebedürfnis und Trennungserfah-rung. Das menschliche Naturverhältnis in Theodor Storms Werk. Zur dichteri-schen Gestaltung von Natur und Landschaft in Lyrik und Novellistik. Diss. Frei-burg/Br. 1995, S. 110f.

36 Ludwig Tieck. Die Märchen aus dem Phantasus. Der gestiefelte Kater. München: Winkler, 1964, S. 183.

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zwischen wilder und kultivierter Natur auf zwei Figuren verteilt. Reinhard nimmt, wie schon in der Kindheit, eher das Poetische der Landschaft wahr:

[…] der Weg führte an einem Abhang, aus dem die Gipfel hundertjähriger Eichen nur kaum hervorragten. Über sie hinweg öffnete sich eine weite, son-nige Landschaft. Tief unten lag der See, ruhig, dunkelblau, fast ringsum von grünen, sonnbeschienenen Wäldern umgeben; nur an einer Stelle traten sie auseinander und gewährten eine tiefe Fernsicht, bis auch diese durch blaue Berge geschlossen wurde. […] Es war fast, als hätte er das Ziel seiner Reise erreicht […]. (SW 1, S. 510f.)

Erich dagegen vertritt die wirtschaftliche Nutzbarmachung und Umgren-zung der Natur:

„Das ist die Spritfabrik“, sagte Erich; „ich habe sie erst vor zwei Jahren ange-legt. Die Wirtschaftsgebäude hat mein Vater selig neu aufsetzen lassen; das Wohnhaus ist schon von meinem Großvater gebaut worden. So kommt man immer ein bißchen weiter.“Sie waren bei diesen Worten auf einen geräumigen Platz gekommen, der an den Seiten durch die ländlichen Wirtschaftsgebäude, im Hintergrunde durch das Herrenhaus begrenzt wurde, an dessen beide Flügel sich eine hohe Garten-mauer anschloß […]. (SW 1, S. 512)

Kennzeichnend ist jedoch, dass die zwei einander entgegengesetzten Wahr-nehmungen auf eine im Grunde genommen schon kultivierte Landschaft bezogen sind, so dass erstens sich die beiden Figuren in Wahrheit nicht unvermittelt gegenüberstehen37 und zweitens die romantischen Oppositio-nen – jene Ambivalenzen im Runenberg und deren identitätsvernichtende Konsequenzen38 – abgeschwächt werden.

In der frühen Phase der erzählten Geschichte zeichnet sich auch schon eine ästhetisierende Einstellung zur frühromantischen Konstellation ab,

37 Vgl. dazu die Zeichnung über Elisabeth, die der dilettierende Erich verfertigt, „damit [er] die Geliebte auf seine Weise abbildet“ (Brülls. „Der Künstler als Bie-dermann“ [wie Anm. 31], S. 200); damit wird er zum Pendant des dichtenden Reinhard.

38 Für eine diesbezügliche Analyse der Erzählung Der Runenberg vgl. Magdolna Orosz. „Progresszív egyetemes poézis“. Romantikus ellentételezések és utópiák. [„Progressive Universalpoesie“. Romantische Gegenüberstellungen und Uto-pien]. Budapest: Gondolat, 2007, S. 184-187.

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indem sie lediglich in einem Gedicht von Reinhard, also nicht als erlebte, sondern als erdichtete Möglichkeit (durch den Hinweis auf die „Waldes-königin“) intertextuell postuliert wird:

Reinhard hatte aber doch etwas gefunden; waren es keine Erdbeeren, so war es doch auch im Walde gewachsen. Als er nach Hause gekommen war, schrieb er in seinen alten Pergamentband:[…]

Sie hat die goldnen AugenDer Waldeskönigin. (SW 1, S. 500)

Somit wird die ästhetische Position der Dichtung eigentlich als Ersatz für das Misslingen praktischer Selbstbehauptung postuliert. Sollte das romantische Naturerlebnis später dann wortwörtlich am eigenen Leib erfahren werden, kommt es zu einem eindeutigen Versagen, wenn Reinhard in der Nachtszene auf Immensee die geheimnisvolle Wasserlilie nicht zu erreichen vermag:

Dann war es plötzlich unter ihm weg, die Wasser quirlten über ihn zusammen […] Nun regte er Hand und Fuß und schwamm im Kreise umher, bis er sich bewußt geworden, von wo er hineingegangen war. Bald sah er die Lilie wieder; sie lag einsam zwischen den großen blanken Blättern. – Er schwamm langsam hinaus und hob mitunter die Arme aus dem Wasser, daß die herabrieselnden Tropfen im Mondlicht blitzten; aber es war, als ob die Entfernung zwischen ihm und der Blume dieselbe bliebe; nur das Ufer lag, wenn er sich umblickte, in immer ungewisserem Dufte hinter ihm. (SW 1, S. 518)

Orientierungslosigkeit und Herumkreisen werden in dieser Szene charakte-ristisch, und dies zeigt – da die Blume durch ihre Farbensymbolik eindeutig Elisabeth kennzeichnet39 – das zweideutige Verhalten der Figur gegenüber der geliebten Frau auf, die damit als unerreichbar erscheint, so dass Rein-hard die Suche aufgibt und auf sie (hier symbolisch und dann durch seinen Abschied tatsächlich) verzichtet:

Er gab indes sein Unternehmen nicht auf, sondern schwamm rüstig in dersel-ben Richtung fort. Endlich war er der Blume so nahe gekommen, daß er die silbernen Blätter deutlich im Mondlicht unterscheiden konnte, zugleich aber

39 Vgl. dazu auch Reimann. Zwischen Harmoniebedürfnis und Trennungserfah-rung (wie Anm. 35), S.  94. Die Szene kann auch als Beweis für die Existenz unterdrückter unbewusster psychischer Inhalte gedeutet werden, vgl. Wünsch. „Experimente Storms“ (wie Anm. 1), S. 14f.

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fühlte er sich wie in einem Netze verstrickt; die glatten Stengel langten vom Grunde herauf und rankten sich an seine nackten Glieder. Das unbekannte Wasser lag so schwarz um ihn her, […] es wurde ihm plötzlich so unheimlich in dem fremden Elemente, daß er mit Gewalt das Gestrick der Pflanzen zerriß und in atemloser Hast dem Lande zuschwamm. (SW 1, S. 518f.)

Die Szene lässt sich vielfach interpretieren: als Manifestation einer kom-plexen psychologischen Persönlichkeitsstruktur, einer „zeichenhafte[n] Bedeutung, die auf unbewusste und vom Text nicht thematisierte Prozesse im Subjekt verweist“40; oder diese Umkehr der Figur dürfte eben von „dem komplizierten Verhältnis der Geschlechter“41 zeugen, wobei „die Gründe für das Scheitern der Liebesbeziehung […] in Reinhardts Selbstentwurf als Mann, der zugleich Bürger und Künstler ist, zu suchen sind“.42

Darüber hinaus wird hier mit dem Gemisch von Bürgerlichkeit und (eigentlich nicht mehr romantischem) Künstlertum zugleich eine inter-textuelle Absage an das frühromantische Liebes- und Individuumkonzept erteilt. Die nächtliche Szene mit der unerreichbaren Wasserlilie ist (wie auch Pastor bemerkt43), eine bewusste Kontrafaktur der Traumszene aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Hier nämlich erscheint die blaue Blume, in deren Kelch blüht das Gesicht der Geliebten, und diese Bildreihe symbolisiert deutlich genug sowohl das Ineinanderfliessen von Natur und Mensch als auch die Aufhebung der Grenzen von Innen und Aussen. Doch findet diese Begegnung bei Novalis im Traum, bei Storm in der Wirklichkeit statt. Ferner dominiert gegenüber dem „leuchtenden Strome“ und dem „Tageslicht“44 im

40 Wünsch. „Konzeptionen der ‚Person‘“ (wie Anm. 13), S. 138.41 Kugler. „Meine Mutter hat’s gewollt“ (wie Anm. 20), S. 202.42 Ebd., S. 203.43 Diese intertextuelle Bezugnahme wird, bis auf Pastors Hinweis auf Novalis’

Roman (vgl. Pastor. Die Sprache der Erinnerung [wie Anm. 17], S.  68f.), in der Fachliteratur nicht erwähnt. Pastors Überlegungen stimmen mit den mei-nen, die ich seit langem, von ihm unabhängig vor der Lektüre seiner Analyse gewonnen habe, weitgehend überein. Ausserdem meine ich, dass – wie hier nachgewiesen werden soll – diese wohl zentrale Bezugnahme in ein ganzes Netz intertextueller Verweise eingebettet ist und daher in diesem breiteren Zusam-menhang zu interpretieren wäre, was bei ihm nicht vorgenommen wird.

44 Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. Paul Kluckhohn, Richard Samuel. 6 Bde. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer, 1960ff., Bd. 1, S. 197.

Romantik im Frühwerk Storms: „Immensee“

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Ofterdingen eher „schwül[e] Mondesdämmerung“ und „Mondlicht“ (SW 1, S.  518) in Immensee. Außerdem ist Storms Blume, die Farbensymbolik der intertextuellen Folie verändernd, keine „hohe lichtblaue Blume, […] mit […] glänzenden Blättern“45, sondern „eine weiße Wasserlilie“ (SW 1, S. 518). Im Ofterdingen dominieren weiters die positiven Eindrücke – „unzählige Blumen von allen Farben, und der köstliche Geruch erfüllte die Luft“46 –, dagegen sind in Immensee vorwiegend „schwarze Pflanzen und Steine“ vor-handen, die Reinhard „an den Füßen“ (SW 1, S. 518) schneiden. Schließ-lich verwandelt sich die blaue Blume, die „ihn [Ofterdingen] mit ihren breiten, glänzenden Blättern berührte“, in „ein zartes Gesicht“47, während in Storms Novelle Abstand gehalten wird: „die Lilie lag wie zuvor fern und einsam über der dunkeln Tiefe“ (SW 1, S. 519). Heinrichs „süßes Staunen“ gegenüber „der sonderbaren Verwandlung“48 der Blume steht in krassem Gegensatz zum unheimlichen Gefühl „in dem fremden Elemente“ und zur „atemlose[n] Hast“ (SW 1, S. 519) der Flucht in Immensee. Das „Entzücken“ und „[e]ine Art von süßem Schlummer“49 des werdenden Künstlers Ofter-dingen, der in diesem potenzierten Traum im Traum die Kunst als magische Begebenheit und als den „Weg der innern Betrachtung“50 versteht, wird in Immensee aufgegeben. Kurz: der frühromantischen Konzeption der poeti-schen Durchdringung der Welt und der künstlerischen Bildung wird hier eine intertextuelle Absage erteilt.

Eine andere Gruppe der intertextuellen Auseinandersetzung Storms mit der romantischen Tradition nimmt auf andere romantische, aber nicht mehr frühromantische Traditionen Bezug und etabliert damit eine weitere Reflexionsebene, die ambivalente Momente hereinspielt. Die Konstellation der weiblichen Figuren in Immensee kann bestimmte romantische figurale Zusammenstellungen bei E.T.A. Hoffmann51 und Eichendorff aufrufen: einander entgegengesetzte Frauenfiguren, die entgegengesetzte Werte und

45 Ebd.46 Ebd.47 Ebd.48 Ebd.49 Ebd.50 Ebd., Bd. 1, S. 208.51 Für Storms Affinität gegenüber Hoffmanns Erzählen vgl. Ingrid Schuster.

„Theodor Storm und E.T.A. Hoffmann“. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 11 (1970): S.  209-223; hier wird auch eine kurze Übersicht über die diesbe-zügliche frühere Fachliteratur gegeben. Eine detaillierte intertextuelle Analyse

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Welten repräsentieren, wie ,Bürgerliches‘ vs. ,Künstlerisches‘, ,gesellschaft-lich sanktioniertes Gefühl‘ vs. ‚rauschhaftes Gefühl‘ sind bei beiden Auto-ren mehrfach anzutreffen, wobei es bei Hoffmann eher um eine aufrecht-erhaltene Ambivalenz der entgegengesetzten Sphären, bei Eichendorff um eine Verdrängung der Opposition geht.52 In Immensee erscheint die Figur des „Zithermädchen[s] mit feinen zigeunerhaften Zügen“ (SW 1, S.  501) als eine Art Gegenpart zu Elisabeth. Die in der Goethezeit oft verwendete Zigeunermotivik53 und darunter die zugegebene Anspielung auf die inter-textuelle Vorlage in Mörikes Maler Nolten54 führen eine Figur ein, die nicht so sehr durch die – allemal schillernde – ethnische Zuschreibung, sondern durch ihre Funktion als „sexualized femme fatale“55 oder als Reinhards „künstlerische[r] Dämon“56 das Nicht-Bürgerliche und Verführerische ver-tritt.57 Die zweifellos faustisch anmutende Ratskellerszene mit der verführe-rischen Frauenfigur mit „schönen, sündhaften Augen“ (SW 1, S. 501)58 kann den romantischen Gegensatz zwischen der bürgerlichen und der potentiell künstlerisch-sinnlichen Welt der Figur etablieren, wozu eine ähnliche – dort allerdings erfolgreiche – Verführungsszene bei Hoffmann als intertextuelle Vorlage hereingespielt werden dürfte. In Hoffmanns erzähltechnisch äußerst komplex strukturierter Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht werden ebenfalls Frauenfigurenpaare eingeführt, die die Opposition zwischen der

über die Hoffmann-Bezüge in Storms Eine Hallig fahrt vgl. Onken. Erinnerung, Erzählung, Identität (wie Anm. 22), S. 246-255.

52 Zur Funktion der Ambivalenz bei Hoffmann vgl. Magdolna Orosz. Identi-tät, Differenz, Ambivalenz. Erzählstrukturen und Erzählstrategien bei E.T.A. Hoffmann. Frankfurt/Main, Bern: Lang, 2001, S. 217-226, zu Eichendorff vgl. Orosz. „Progresszív egyetemes poézis“ (wie Anm. 38), S. 192-197.

53 Vgl. dazu Nicholas Saul. Gypsies and Orientalism in German Literature and the Anthropology of the Long Nineteenth Century. London: Legenda, 2007, S. 20.

54 Vgl. dazu Pastor. Die Sprache der Erinnerung (wie Anm. 17), S. 61ff.55 Saul. Gypsies and Orientalism (wie Anm. 53), S. 49.56 Pastor. Die Sprache der Erinnerung (wie Anm. 17), S. 61.57 In der ersten Fassung der Novelle geht es übrigens um „zwei Zithermädchen“

(SW 1, S. 781), sie haben dort beide einen eigenen Namen, und die Begegnung Reinhards mit der „schwarze[n] Lore“ (ebd.) wird auch ausführlicher darge-stellt; die spätere Fassung verkürzt die erste u.a. um erotische Anspielungen wie z.B. „aber sie [die falschen Augen] haben mein Blut in Brand gesteckt“ (ebd.).

58 Dadurch wird eine Opposition zu Elisabeth aufgebaut, die im Gedicht als „Wal-deskönigin“ mit „goldnen Augen“ (SW 1, S. 500) erscheint.

Romantik im Frühwerk Storms: „Immensee“

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bürgerlichen und der künstlerischen Welt repräsentieren. Julie, die einstige Liebe des als Ich-Erzähler funktionierenden reisenden Enthusiasten, die das „Leben voll Liebe und Poesie“59 verkörpert, und ihre am Sylvesterabend als Justizratsfrau wie „ein glatter kalter Basilisk“60 erscheinende und dem Bürger-lichen verhaftete „Variante“ können als solche angesehen werden. Noch mehr trifft dies auf die Figur der in den Rahmen der Sylvesternacht-Erzählung ein-gebetteten Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde in „Italien“, dem „Land der Liebe“61 zu, d.h. auf Giulietta, die in der Welt des Exotisch-Anderen auftritt. Als er Giulietta erblickt, gibt der bis dahin bürgerlich-spiessige Spikher die bürgerliche Welt auf und vergisst seine „liebe fromme Hausfrau“62:

Als sie sich ihm näherte, faßte ihn eine fremde Gewalt und drückte seine Brust zusammen, daß sein Atem stockte. Das Auge fest geheftet auf Giulietta mit erstarrten Lippen saß er da und konnte kein Wort hervorbringen […]. Er trank, Glut strömte durch seine Adern. […] Wenn Giulietta sang, war es, als gingen aus tiefster Brust Himmelstöne hervor nie gekannte nur geahnte Lust in allen entzündend.63

Durch das Augen-, das Gesang- und das Trinkmotiv lässt sich die Textstelle mit Storms Text verbinden, indem dadurch das Oppositionspaar Elisabeth vs. Zithermädchen aufgebaut werden kann. Festzuhalten ist jedoch, dass Reinhard die Grenzen des Bürgerlichen nicht übertritt und die exotische Sphäre fluchtartig verlässt; somit tritt er aus der potentiell ,romantischen‘ Welt aus (ohne wirklich dorthin gelangt zu sein). Die spätere Wieder-kehr des Zithermädchens am Immensee weicht die Opposition zwischen ihr und Elisabeth insofern auf, dass beide einem sichtbaren psychisch oder physisch bedingten Verfallsprozess ausgesetzt sind. Durch die intertextu-elle Auseinandersetzung mit romantischen Vorgaben wird deutlich, dass die Figur weder eine sublimierte noch eine sexuell beladene Beziehung zu einer Frau aufbauen kann; eine solche Beziehung wird ihm nur in einer ästhetischen Transposition (im Gedicht, im Lied) möglich. Damit führt

59 E.T.A Hoffmann. Sämtliche Werke. Bd. 2/1. Hg. Hartmut Steinecke unter Mit-arbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht. Frankfurt/Main: Deut-scher Klassiker Verlag, 1993, S. 328.

60 Ebd., S. 327.61 Ebd., S. 343.62 Ebd., S. 342.63 Ebd., S. 344f.

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das „self-conscious deployment of Romantic leitmotifs such as symbolic flowers, folksongs, and mysterious gypsies“64 auch auf dieser Ebene der Aus-einandersetzung mit der romantischen ästhetischen und anthropologischen Tradition der Romantik durch die umkehrende Inszenierung der intertex-tuellen Bezugnahmen zu einer Absage.

Es gibt jedoch eine weitere Ebene, auf der die intertextuellen Beziehungen eine eher bewahrende Funktion besitzen. Die Hauptfigur erscheint schon im Rahmenteil als eine zwar bürgerliche, aber innerhalb dieser Sphäre eine geistige Tätigkeit ausübende Person:

Hier war es heimlich und still; die eine Wand war fast mit Repositorien und Bücherschränken bedeckt; an der andern hingen Bilder von Menschen und Gegenden; vor einem Tische mit grüner Decke, auf dem einzelne aufgeschla-gene Bücher umherlagen, stand ein schwerfälliger Lehnstuhl mit rotem Sam-metkissen. (SW 1, S. 492)

Der Rahmenschluss verstärkt diesen Eindruck, indem sich der Alte, nach den eingeblendeten Lebenserinnerungen, seiner gewohnten Tätigkeit widmet:

Die Stubentür ging auf, und ein heller Lichtstrahl fiel ins Zimmer. […]Dann rückte er auch den Stuhl zum Tische, nahm eins der aufgeschlagenen Bücher und vertiefte sich in Studien, an denen er einst die Kraft seiner Jugend geübt hatte. (SW 1, S. 523)

Die Studien, die „die Kraft seiner Jugend“ berufen, bedeuten – im Gegensatz zu den angedeuteten anfänglichen eigenen dichterischen Versuchen, als er „mit sorgsamer Hand sein erstes Gedicht [schrieb]“ (SW 1, S. 495) – eine Art „Archivierung“ vorgefundenen Materials. Reinhard „schrieb […] sie [die Märchen] genau auf, wie er sie selber gehört hatte“ (SW 1, S. 495), und wird zum Sammler von Volksdichtung:

Er hatte seit Jahren, wo er deren habhaft werden konnte, die im Volke leben-den Reime und Lieder gesammelt und ging nun daran, seinen Schatz zu ord-nen und wo möglich mit neuen Aufzeichnungen aus der Umgegend zu ver-mehren. (SW 1, S. 514)

64 Saul. Gypsies and Orientalism (wie Anm. 53), S. 48.

Romantik im Frühwerk Storms: „Immensee“

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Diese Sammeltätigkeit kann mit seiner botanischen Sammelpraxis in Bezie-hung gesetzt werden. So wie er sich in der Märchensammlung wie in der Bota-nik übt, verwandelt er die lebendige Natur als Untersuchungsgegenstand in eine „getrocknete“ und ordnet sie dementsprechend (sich dadurch zugleich auch von der romantischen Auffassung einer lebendigen Natur entfernend):

Reinhard und Elisabeth gingen ins Nebenzimmer, um ihre Pflanzen zu ord-nen. Nun wurden Staubfäden gezählt, Blätter und Blüten sorgfältig ausge-breitet und von jeder Art zwei Exemplare zum Trocknen zwischen die Blät-ter eines großen Folianten gelegt. […] und von Zeit zu Zeit wurde Reinhards gedämpfte Stimme gehört, wenn er die Ordnungen und Klassen der Pflanzen nannte. (SW 1, S. 507)

Auf einer anderen Ebene könnte dieses Lieder- und Märchensammeln als eine Art „poetische Botanik“ betrachtet werden, die die autonome, leben-dige Poesie als Sammlungs- und Katalogisierungsobjekt versteht. Reinhard geht mit den Märchen und Liedern, die ursprünglich wie Pflanzen wachsen sollen, ebenso um, da sie „in einem Schubfach […] sorgfältig aufbewahrt“ (SW 1, S. 495) werden; genauso werden die „geistigen Naturprodukt[e]“, die Volkslieder, die der Erwachsene wie frei wachsende Wald- und Feldblumen sammelt, auf der „aus sauber geschriebenen Blättern zu bestehen“ scheinen-den „Papierrolle“ (SW 1, S. 515) schriftlich fixiert65:

Sie werden gar nicht gemacht; sie wachsen, sie fallen aus der Luft, sie fliegen über Land wie Mariengarn, hierhin und dorthin, und werden an tausend Stel-len zugleich gesungen. Unser eigenstes Tun und Leiden finden wir in diesen Liedern; es ist, als ob wir alle an ihnen mitgeholfen hätten. […] So geht’s von Mund zu Mund. (SW 1, S. 516)

Reinhard, der in der lebendigen Natur einen Mangelzustand erlebt (er findet keine Erdbeeren, sein Vogel stirbt und die Wasserlilie bleibt unerreichbar)

65 Die Verbindung beider Szenen kann auch durch die gleiche Figurenkonstella-tion nahegelegt werden: Beim Botanisieren sind Reinhard, Elisabeth und ihre Mutter präsent, der abwesende Erich wird jedoch im Gespräch aufgerufen, bei der Volksliedpräsentation sind Reinhard, Elisabeth, ihre Mutter und – diesmal tatsächlich – Erich anwesend. Außerdem beschäftigt sich die Mutter beide Male mit einer ähnlichen Arbeit: sie sitzt „an ihr[em] Spinnrad“ (SW 1, S. 507), dann „an ihrer Näherei“ (SW 1, S. 516).

Magdolna Orosz

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und im Alltagsleben auch versagt (er kann Elisabeth nicht für sich gewin-nen und wird kein autonomer Künstler), greift zu ihrer Reflexion: Die Natur wird zu getrockneten Pflanzen präpariert, die Liebe wird in (traurigen) Lie-besliedern aufbewahrt. Er wird somit eben zum Sammler, zum Archivar der Volkspoesie, der nicht selbst erlebt, sondern das Erlebte „transponiert“ und sogar das von anderen in die Lieder transponierte Erleben aufbewahrt. Er wird dadurch kein Künstler mehr im (früh)romantischen Sinne, der nach dem Unbedingten strebt. Mit diesem Verzicht bleibt er aber einem ande-ren romantischen Ansatz treu, nämlich der Sammeltätigkeit der Heidelber-ger Romantik und ihrer Einstellung zur Volkspoesie.66 Reinhards Aussage über die Lieder, die „gar nicht gemacht“ werden, sondern – mit einem botanischen Ausdruck – „wachsen“, kann als intertextueller Hinweis auf die Auffassung der Produkte der Volkspoesie aufgefasst werden, wie sie bei den Grimms erscheint. Sie bedienen sich in der Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen einer ähnlichen organischen Natursymbolik, wenn dort die Märchen „wie eine gute Frucht aus einer gesunden Blüthe ohne Zuthun der Menschen“ erwachsen, worin „sich jede ächte Poesie [bewährt]“.67

Reinhards archivierende Betätigung in Immensee, der er von der Jugend bis zum Alter treu bleibt, wird damit zur Aufbewahrung einer Spielart der Romantik. Während die (früh)romantischen Postulate verabschiedet wer-den, bleibt die museale Form und ihre wissenschaftliche Reflexion aufrecht-erhalten. Die wissenschaftlich-folkloristische „Präparierung“ von Poesie und die Verabschiedung des (früh)romantischen Künstlers durch den Gelehrten signalisieren nicht nur die Aufgabe des frühromantischen utopischen Pro-gramms der Universalität von Kunst, sondern auch ihre Aufbewahrung als gesammelter, archivierter Text, d.h. als quasi historisch gewordene literari-sche Tradition.

66 Für eine kurze Übersicht darüber vgl. Harro Segeberg. „Phasen der Romantik“. Romantik-Handbuch. Hg. Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner, 1994, S. 31-78, hier S. 52ff.

67 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Kinder- und Hausmärchen. 2 Bde. Berlin: Realschulbuchhandlung, 1812/15, Bd. 1, S. 5-22, hier S. 11; http://www.zeno.org/nid/20004900278 (Zugriff 20.11.2011).

Romantik im Frühwerk Storms: „Immensee“

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4. Romantik und Realismus: literarische Wahlverwandtschaften

Auf Grund der Analyse der Novelle lässt sich feststellen, dass sich das Wei-terleben romantischer Motive68 und Elemente im Frühwerk von Theodor Storm zwar beobachten lässt; er entfernt sich jedoch eben durch die Art und Weise ihrer Thematisierung von der (früh)romantischen ästhetischen wie anthropologischen Konzeption und kehrt ihr auf diese Weise den Rücken, wie dies in einer der zentralen Szenen der Novelle Immensee bildhaft in Szene gesetzt wird. Dies spricht für eine Abwendung Storms von der Romantik. Sein Verhältnis zur Romantik erweist sich aber in dieser Novelle als viel kom-plizierter. Immensee bietet ein besonders komplexes Beispiel für den Umgang mit literarisch-ästhetischen Traditionen und Konzeptionen. Ihre intertextu-elle Analyse dürfte zugleich aufgezeigt haben, wie Storm mit der verschie-denartigen Funktionalisierung romantischer Motive und Konzepte in der narrativen Struktur neben einer Verabschiedung auch eine weniger offen-sichtliche Fortschreibung der Romantik leistet. Obwohl er zentrale romanti-sche Konzepte des Künstlers, der Kunst und der Liebe thematisiert und ihre romantischen Formen als nicht mehr möglich herausstellt, geht er zu einer Schreibweise über, die Anklänge an die Romantik und somit romantische Ambivalenzen unterschwellig aufruft. Das Archivieren als zentrales Moment der Erzählung leistet sowohl auf der Ebene der erzählten Geschichte (in der Betätigung der Figur) wie auch im Erzählakt (im intertextuellen ,Archi-vieren‘ der romantischen Elemente durchs Erzählen selbst) eine kreative Aus einandersetzung mit und Fortsetzung der Romantik. Ähnliches dürfte sich in anderen Texten Storms und anderer Autoren des Realismus nach-weisen lassen. Entsprechende Untersuchungen könnten dazu beitragen, die komplexe Problematik von Epochenumbrüchen, -übergängen und schar-fen Grenzziehungen im Allgemeinen sowie auf den Realismus bezogen im Besonderen in einen breiteren literaturhistorischen Kontext zu stellen und in all ihrer Komplexität zu erhellen.

68 Ergänzend sollte jedoch bemerkt werden, dass Storm auch andere goethezeitliche Konzeptionen intertextuell aufruft, so könnten gewisse Reminiszenzen an Goe-thes Wahlverwandtschaften ebenfalls ausgemacht werden (vgl. dazu Ferdinand von Ingen. „Erinnerungsästhetik in Theodor Storms Novellistik“. Realismus-Stu-dien. Hartmut Laufhütte zum 65. Geburtstag. Hg. Hans-Peter Ecker und Michael Titzmann. Würzburg: Ergon, 2002, S.  235-250, hier S.  246 und 248). Darauf wird hier wegen eines anderen Fokus der Untersuchung nicht näher eingegangen.

Magdolna Orosz

Contents

Introduction .....................................................................................................

1. From Romanticism to Realism: Negations, Transitions, Transformations

Rainer HillenbrandRealistische Romantik in Tiecks letzter Novelle Waldeinsamkeit ....

Jesko ReilingDie „poetischeren Momente der Erscheinungswelt“. Berhold Auerbachs Romantikrezeption ................................................

Gert VonhoffRomantisches und der Prototyp des realistischen Erzählens. Gedanken zur Evolution der ‚Dorfgeschichte‘ .....................................

Benedict Schofield“Die Willkür der alten Romantik”. The Romantic Legacy in Gustav Freytag’s Literary Works and Theory ...................................

Magdolna OroszVerabschiedung und Fortsetzung der Romantik im Frühwerk vonTheodor Storm. Eine intertextuelle Analyse der Novelle Immensee

2. Realism and Romanticism and the Two Cultures: Science, Literature and Modernity

Martina KingDer romantische Arzt als Erzähler. Medizinisches Wissen in Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters (1868) ...............................

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75

95

125

149

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Christiane ArndtFieberkrank – Realistisches Erzählen als romantische Ansteckung bei Raabe und Storm .................................................................................

3. Romanticism in Realism I: Uncanny Returns

Christian BegemannGespenster des Realismus. Poetologie – Epistemologie – Psychologie in Fontanes Unterm Birnbaum ................................................................

Philip AjouriVom unerklärbaren Übernatürlichen zur unerklärten Natur. Gottfried Kellers Die Geisterseher und sein romantischer Prätext, E.T.A. Hoffmanns Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde ......

Nicholas Saul“Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute!” Spiritualism and the Presence of Romantic Poetics in Raabe’s Vom alten Proteus (1875) .......................................................

Martina Süess„Solange der Götze gilt“. Romantische Reminiszenzen in Fontanes Effi Briest .................................................................................

4. Romanticism in Realism II: Memory, Art, History

Dirk GöttscheThe Place of Romanticism in the Literary Memory of the Anti-Napoleonic Wars (1848-1914). Roquette, Raabe and Jensen .....................................................................

Martin SwalesThe Need to Believe and the Impossibility of Belief. Romantic and Realistic Strategies in Gottfried Keller’s Der grüne Heinrich .....................................................................................

203

229

261

297

315

341

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449

455

Ralf SimonGeschichtsverlauf und Subjektgenese. Zu einem Deutungsmuster romantischer Geschichtsphilosophie und der realistischen Korrektur bei Raabe (Im Siegeskranze, Horacker) ................................

5. Romanticism, Realism, and Beyond

Russell A. BermanThe Integrity of Fiction in the Age of Realism: Theodor Storm ......

Notes on the Contributors ............................................................................

Index ...................................................................................................................