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PETER HORN Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg "Sich träumend, seiner eignen Nachwelt gleich". Verhinderte Tragik im Traum des 'Prinzen Friedrich von Homburg' von seinem posthumen Ruhm Peter Horn Universität Kapstadt Was! Laub der Weid, o Herr! - Der Lorbeer ists, Wie ers gesehen hat, an der Helden Bildern, Die zu Berlin im Rüstsaal aufgehängt. (Vs. 47-49) Das Begehren ist nie einfach "Natur". Der manifeste Trauminhalt, in dem es sich ausspricht, benutzt immer schon Zeichen, und jedes Zeichen gehört zur Konvention, zum Gesetz, zur Sprache und somit zum Gesellschaftlichen. Wie immer das Begehren hinter den ursprünglichen Gesellschaftsvertrag zurückgehen möchte, in die Zeit, da weder Gesetz noch Sprache das Begehren in seine Bahnen lenkte, jenes Vorher Rousseaus ist nie erreichbar. Zwar hat der Prinz sich halb entkleidet (er "sitzt mit bloßem Haupt und offener Brust"), zwar sitzt er in der Natur ("unter einer Eiche"), aber weder kann er die Kleidung der Kultur ganz abwerfen, wieder zum Tier werden, noch ist die Eiche wirklich Natur: Sie steht in einem "Garten im altfranzösischen Stil", noch nicht einmal in einem der neumodischen, romantischen, englischen Gärten, die Natur, wenn auch mit kurzgeschorenem Rasen, jedenfalls täuschend nachahmen. Zwar ist es Nacht, und im schlafwandlerischen Zustand, "halb wachend, halb schlafend", kann das 1

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PETER HORN Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg

"Sich träumend, seiner eignen Nachweltgleich". Verhinderte Tragik im Traum des'Prinzen Friedrich von Homburg' von seinemposthumen RuhmPeter HornUniversität Kapstadt

Was! Laub der Weid, o Herr! - Der Lorbeer ists,Wie ers gesehen hat, an der Helden Bildern,Die zu Berlin im Rüstsaal aufgehängt. (Vs. 47-49)

Das Begehren ist nie einfach "Natur". Der manifesteTrauminhalt, in dem es sich ausspricht, benutztimmer schon Zeichen, und jedes Zeichen gehört zurKonvention, zum Gesetz, zur Sprache und somit zumGesellschaftlichen. Wie immer das Begehren hinterden ursprünglichen Gesellschaftsvertrag zurückgehenmöchte, in die Zeit, da weder Gesetz noch Sprachedas Begehren in seine Bahnen lenkte, jenes VorherRousseaus ist nie erreichbar. Zwar hat der Prinzsich halb entkleidet (er "sitzt mit bloßem Hauptund offener Brust"), zwar sitzt er in der Natur("unter einer Eiche"), aber weder kann er dieKleidung der Kultur ganz abwerfen, wieder zum Tierwerden, noch ist die Eiche wirklich Natur: Siesteht in einem "Garten im altfranzösischen Stil",noch nicht einmal in einem der neumodischen,romantischen, englischen Gärten, die Natur, wennauch mit kurzgeschorenem Rasen, jedenfallstäuschend nachahmen.Zwar ist es Nacht, und im schlafwandlerischenZustand, "halb wachend, halb schlafend", kann das

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Unterbewußte des Prinzen freier sprechen, als esihm die Konventionen des vollen Bewußtseins und desGesetzes erlauben würden, zwar kann er deshalb seinVerlangen nach Glück und Ruhm äußern, zwar kann ersich auch zu der Leidenschaft zu der Frau bekennen,der seine Liebe gilt, die ihm aber mehrfachverboten ist -- als Nichte des Kurfürsten, den erseinen Vater nennt, und daher mit dem Zeichen"Schwester" belegt, als Besitz des Kurfürsten, derallein die Gewalt hat, sie als Frau zu vergeben,und als bereits vergebenes Unterpfand für denFrieden mit den Schweden -- aber er tut es doch imAngesicht des Hofes und im Licht der Fackeln, der"Lichter und Laternen" der Pagen, die ihn, derverloren ging, suchen. Und der "prächtge Kranz desRuhmes" (Vs. 28), den er sich windet, ist nicht nuraus den Zweigen eines Strauchs gemacht, den es inBrandenburg höchstens in Kräuter- und Küchengärtenals höchst künstlichen Fremdling gibt, "wo derGärtner / Mehr noch der fremden Pflanzenauferzieht" (Vs. 52f); die Idee des Lorbeerkranzesist selbst ein Import aus antiken Kulturen, dem"märkschen Sand" (Vs. 50) sehr fremd.1

Das Begehren, für das der Kranz ein kulturellesSymbol ist, das Begehren nach Ruhm, ist selbstwieder ein höchst abgeleitetes, kulturspezifisches.Es ist ein Begehren, dessen Erfüllung so haltlosist wie der begehrende Traum selber, Traum, der imErträumten bereits vom Staat vorprogrammiert ist;Traum, der Ruhm und Ehre zu erringen sucht, indemer die Feinde des Staates bezwingt, aber das in1 Vgl. Bettina Schulte, Unmittelbarkeit und Vermittlung imWerk Heinrich von Kleists. Göttingen und Zürich: Vandenhoek& Ruprecht 1988, S. 174

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einem Staat, der den individuellen Helden längstnicht mehr in seiner Schlachtenmaschineriegebrauchen kann, der einzig und allein den totalenGehorsam und die totale Unterwerfung unter dasGesetz verlangt. Dennoch: Ruhm und Ehre werdenimmer noch dem versprochen, der sich "heldenhaft"dem Tode aussetzt. Wie immer wird das Begehren erstdurch die Bilder, die die Gesellschaft anbietet,geweckt, dann wird ihm die Möglichkeit derErfüllung entzogen. Damit erzieht sich der Staatseine Prinzen von Homburg selbst, wird zum Ursprungdes Traums, der sich dann vor uns auf der Bühneabspielt, und damit ist der Staat schuldig, längstvor jener verhängnisvollen Traumszene, mit der dasStück beginnt: der Staat hat Homburg einen Traumsuggeriert, den er nicht mehr zu honorierengedenkt, der Kurfürst,2 der zwar nicht zugibt, abereigentlich zugeben müßte, daß er selber dann nochganz spezifisch an dem "Fehltritt" des Prinzen,wenn es denn ein solcher wirklich war, mitschuldigist. So führt Hohenzollern den "Beweis, daßKurfürst Friedrich / Des Prinzen Tat selbst" (Vs.

2 Die "hoheitsvolle Herrschergestalt" des KurfürstenFriedrich Wilhelms wird nicht nur als die "herrlichsteVerkörperung des Staates selbst gelesen, sondern von Roethez. B. in die Nähe eines Schöpfergottes gerückt. DemHerrscher werden "Weisheit", ein "weitschauender Blick" unddie Fähigkeit, "das Reich fest zu gründen" attestiert, die"unerbittliche Strenge" als positive Eigenschaftangerechnet, aber auch freundlich-menschlichere Zügezugesprochen: Gottesfurcht, Frömmigkeit und Dankbarkeitzieren ihn ebenso wie Tapferkeit und Unerschrockenheit. Vgl.Rolf Busch, Imperialistische und faschistische Kleist-Rezeption 1890-1950. Eine ideologiekritische Untersuchung.Frankfurt am Main, 1974, S. 115-119

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23f) verschuldet und der Kurfürst verstehtdurchaus, was ihm da vorgeworfen wird:

Und nun, wenn ich dich anders recht verstehe,Türmst du, wie folgt, ein Schlußgebäu mir auf:Hätt ich, mit dieses jungen Träumers Zustand,Zweideutig nicht gescherzt, so blieb er schuldlos:Bei der Parole wär es nicht zerstreut,Nicht widerspenstig in der Schlacht gewesen. (Vs.1706-1711)

"Die Verwechslung von militärischen Ehrgeiz underotischem Begehren, aus der die Verwirrung desPrinzen von Homburg folgt, wird [...] durch denKurfürsten selbst inszeniert."3 "Zweideutig"allerdings! Zwar wehrt sich der Kurfürst heftiggegen diese Erkenntnis und versucht die Schuld,wenn schon ein anderer als der Prinz schuldig seinsoll, auf Hohenzollern selbst abzuwälzen:

Tor, der du bist, Blödsinniger! hättest duNicht in den Garten mich herabgerufen,So hätt ich, einem Trieb der Neugier folgend,Mit diesem Träumer harmlos nicht gescherzt.Mithin behaupt ich, ganz mit gleichem Recht,Der sein Versehn veranlaßt hat, warst du! -- (Vs.1714-1719)

Gerade die Heftigkeit seiner Verteidigung verrätaber doch, daß er sich zutiefst getroffen fühlt,daß so "harmlos" der Scherz nicht war, daß er nur3 Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist derPoesie. Heinrich von Kleist und die Strategie derBefreiungskriege. Freiburg: Rombach 1987, S. 262

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auf keinen Fall zugeben kann und darf, daßHohenzollern recht hat, weil ein solchesEingeständnis eben dem, der Anspruch darauf erhebtselbst das Gesetz zu verkörpern, unmöglich ist. Sosieht er sich selbst immer als Wahrer derbestehenden Gesetze und zweifelt bis zu seinerKonfrontation mit Natalie kein einziges Mal an derRichtigkeit seines Urteils und setzt beim Prinzendas gleiche Vertrauen zu ihm und in dieUnfehlbarkeit der Gesetze voraus.Erst in der Begegnung mit Natalie wird er"betroffen", "im äußersten Erstaunen", "verwirrt"inne, daß der Prinz dieses Gesetz, nun, da es aufihn angewandt werden soll, nicht anerkennt. DieseAuffassung des Prinzen, daß ihm Unrecht gescheheund daß er erwarte, begnadigt zu werden, ist demKurfürsten unverständlich; immerhin respektiert ersie zunächst, denn: "Die höchste Achtung ... Tragich im Innersten für sein Gefühl" (Vs. 1183f). Aberdiese Toleranz ist nur scheinbar und vorübergehend:in Wirklichkeit ist sein Begnadigungsangebot einverschleierter Appell an den Prinzen aus derVerirrung seines Gefühls in jenen Bereichzurückzukehren, dessen Prinzipien der Kurfürst alsabsolut geltende voraussetzt. Der Bedingungssatz,"Meint Ihr, ein Unrecht sei Euch widerfahren" (Vs.1311), impliziert bereits, daß nach den Gesetzendes Staats jedenfalls dem Prinzen kein Unrechtwiderfahren ist. Die Frage, die dem Prinzengestellt wird, heißt dementsprechend nicht: Bist duunschuldig? sondern nur: Bist du ungerechtverurteilt worden? Der Prinz erkennt nicht nur, daßdie Auseinandersetzung von der moralischen Ebeneauf die legalistische Ebene verschoben wurde,

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sondern sieht gleichzeitig, daß dem Kurfürsten eineandere als die legalistische Ebene überhaupt nichtzugänglich ist: "kann er mir / Vergeben nur, wennich mit ihm drum streite, / So mag ich nichts vonseiner Gnade wissen". (Vs. 1383-1385)Die Lösungsmöglichkeit, die vor allem Kottwitz,aber auch Natalie anbieten, die die Gesetze inFrage stellt, die den Menschen zum bloßen Werkzeugeines starren Staatsmechanismus in den Händen einesabsoluten Fürsten erniedrigt, wird damit verspielt- denn dazu müßte der Prinz mit dem Kurfürsten umein besseres Recht "streiten", er müßte sich denrebellierenden Offizieren anschließen, er müßte zum"Revolutionär" werden. Gewiß, der Individualismusdes Prinzen ist staatsfeindlich, ebenso derSpontaneitätsbegriff von Kottwitz, ebenso Nataliens"liebliche Gefühle" als konkurrierende Instanzneben oder über den Kriegsgesetzen; aber auch dieWillkür des Kurfürsten zerstört die Grundlage desStaates, das Gesetz. Der Kampf zwischen Individuumund Staat, zwischen individuellem Rechtsgefühl undpositivem Recht - eine zentrale Idee Kleists unddes bürgerlichen Liberalismus überhaupt - ist nurnotwendig, solange die Diskrepanz zwischen denGesetzen als Ausdruck der gesellschaftlichenNotwendigkeit und dem individuellen Rechtsgefühlals notwendige Diskrepanz und als unaufhebbarpostuliert wird.4

4 Jürgen Habermas, Theorie und Praxis. SozialphilosophischeStudien. Frankfurt am Main, 1971, S. 91: Diese Diskrepanzist aber, wie Habermas gezeigt hat, keine immerwährendeStruktur gesellschaftlicher Organisation, sondern Folgeeines zentralistisch und absolutistisch regierten Staates."Weil aber das Formalrecht das Verhalten der Bürger in einem

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Wenn Hohenzollern den Prinzen dadurch verteidigt,daß er als den eigentlich Schuldigen den Kurfürstenhinstellt und dem Kurfürsten dadurch das Rechtnimmt, über den Prinzen zu Gericht zu sitzen, wenner das Ineinander von Verantwortung, Schuld undUnschuld im Leben betont, das nur willkürlich durchein künstliches juristisches Verfahren zuschuldhaften Tatbeständen reduziert werden kann,wenn er schließlich die rechtliche Fiktion, derKurfürst selbst unterstünde den Gesetzen ebenso wieseine Untertanen, gegen den Kurfürsten kehrt; soverteidigt Kottwitz die Freiheit des Einzelnen zurspontanen Handlung, ja er argumentiert, daß derStaat nur dann bestehen kann, wenn seine Bürger undsein Heer nicht wie ein totes Werkzeug reinmechanisch den Willen des Fürsten ausführen,sondern wenn sie in eigener Initiative undbegeistert sich für das Gemeinwohl einsetzen:

Willst du das Heer, das glühend an dir hängt,Zu einem Werkzeug machen, gleich dem Schwerte,Das tot in deinem goldnen Gürtel ruht?Der ärmste Geist, der in den Sternen fremd,Zuerst solch eine Lehre gab! Die schlechtesittlich neutralisierten Bereich von der Motivation durchverinnerlichte Pflichten gerade entbindet und zurWahrnehmung eigener Interessen freisetzt, können auch dieEinschränkungen, die sich daraus ergeben nur mehr äußerlichimponiert werden. Weil prinzipiell Freiheitsrecht, ist einvon den informellen Lebensordnungen abgelöstes Formalrechtauch Zwangsrecht. Die Kehrseite der privaten Autonomie, zuder es berechtigt, ist die psychologische Zwangsmotivierungdes Gehorsams. Geltendes Formalrecht ist durch physischwirksame Gewalt sanktioniert, Legalität von Moralitätgrundsätzlich geschieden."¶

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Kurzsichtge Staatskunst, die, um eines Falles,Da die Empfindung sich verderblich zeigt,Zehn andere vergißt, im Lauf der Dinge,Da die Empfindung einzig retten kann. (Vs. 1579-1587)

Nicht zufällig wird in dieser Rede noch einmal dieWerkzeug-Metaphorik der 'Familie Schroffenstein'aufgenommen, die hier wie dort auf die Entwürdigungdes Menschen zum Ding hinweist: der lebendigeMensch wird zur Waffe, einem "Schwert", das "tot"ist.5 Gefordert wird hier die Zustimmung zu einerHandlung, die dem Gesetz, dem Befehl widersprach,ja darüber hinaus zu einer Handlungsweise, diegrundsätzlich das Gesetz umgeht. An die Stelle desGesetzes tritt das Gefühl, die Empfindung.Jene Empfindung, die "einzig retten kann", istallerdings selbst nicht so spontan, wie dasmanchmal gesehen wurde. Sie ist selbst wieder einProdukt der Erzeugung des Subjekts in einemgesellschaftlichen Prozeß. Das sagt zunächst nichtsgegen das Gefühl. Daß z. B. dieser Wunschtraum vomRuhm als gesellschaftlich-pädagogisch vorfabriziertbedenkliche Züge trägt, schließt nicht aus, daß erauch Elemente enthält, die Bedürfnisse des Prinzenaussprechen, die vor dem gesellschaftlichinduziertem manifesten Trauminhalt stehen.6 Aber

5 Vgl. Robert Labhardt, Metapher und Geschichte. Kleistsdramatische Metaphorik bis zur 'Penthesilea' alsWiderspiegelung seiner geschichtlichen Position. Kronberg,1976, S. 136f.6 Daß der Traum des Prinzen solche problematischen Züge hat,sah schon Benno von Wiese, Die deutsche Tragödie von Lessingbis Hebbel. Hamburg, 1952, S. 334ff; und Gerhard Fricke,

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das "Unmittelbare" -- das, gäbe es das in diesemSinn, uns als das Unbewußte unzugänglich bleibenmüßte -- und das "Mittelbare", sind -- gegeben dieSpaltung in Bewußtes und Unbewußtes im Subjekt --ohne einander undenkbar: sobald es sich aussprichtist das Begehren historisch und kulturellspezifisch, auch wenn es mit dem Gesetz dieserKultur im Widerspruch steht. Noch der Widerspruchzwischen Begehren und Gesetz ist historisch

"Kleists Prinz von Homburg". In: Germanisch-RomanischeMonatsschrift, 1951, S. 189ff. Auch Walter Müller-Seidel,"Kleist. Prinz Friedrich von Homburg". In: Benno von Wiese(Hg.), Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart.Düsseldorf, 1958, S. 388, meint: "Gerade in HomburgsTraumversunkenheit spricht uns eine Menschlichkeit an, diewir am wenigsten an dieser Gestalt vermissen möchten".Allerdings sieht auch Müller-Seidel die bedenkliche Seitedieses Traumes, wenn er die "eigentümlicheSelbstbezogenheit" des Prinzen betont, ohne diesenIndividualismus und diese Egozentrik im Rahmen des Ganzenvoll erklären zu können. Was diesen Analysen fehlt, ist einBegriff für und eine Analyse des Traums als Ersatz für undAbgeschnittenheit von der Wirklichkeit. So ist zum Beispielbezeichnend, daß Bernhard Blume Homburgs Schlafwandeln reinformal als Weiterentwicklung eines Motivs in Goethes Egmonterläutert. Daß solche Traumversunkenheit auch neurotische,gesellschaftlich induzierte krankhafte Züge trägt, bleibtihm verborgen: "und wenn ich ein Nachtwandler wäre und aufdem gefährlichen Gipfel eines Hauses spazierte, ist esfreundschaftlich, mich zu warnen, zu wecken und zu töten?" -"Man möchte fast meinen, daß dieser Satz der Anlaß zu einerder schönsten szenischen Erfindungen Kleists geworden ist.Denn was Egmont figürlich ist, das ist der Prinz wirklich:ein Nachtwandler. Und gerade das, was Egmont abwehrt,geschieht dem Prinzen: daß er gewarnt, geweckt und »getötet«wird, symbolisch wenigstens." Bernhard Blume, "Kleist undGoethe". In: Monatshefte, Bd. 38, 1946, S. 158í

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spezifisch.Der Wunsch nach Ruhm ist aber noch in einer anderenWeise paradox: Er setzt, anders als Beifall,Bekanntheit, Anerkennung und Beliebtheit strenggenommen den Tod -- den Heldentod des Berühmten --voraus: Ruhm ist immer Nachruhm, der Kranz, deneinem die Nachwelt flicht, eine Anerkennung, "derenWesen es ausmacht, nur von der Instanz des/deranderen erteilt werden zu können."7 DerRuhmsüchtige muß, um diesen Ruhm ernten zu können,"tot" sein: Ruhm ist nichts, das wir "erleben"können, er ist, selbst da wo er bei Lebzeitenmöglich wäre, etwas "Nachträgliches", einSupplement. Der Opfertod an sich, losgelöst vonjeder vernünftigen Begründung, erscheint als Kerndes abstrakten und wesenlosen Heldentums, alsnotwendiger Übergang in den Ruhm. Die Vision derSchlachtenheroik am Anfang fällt schließlich einerneuen, noch sinnloseren Heroik zum Opfer: wenn Ruhmnicht auf dem Schlachtfeld erworben werden kann,weil dort persönlicher Heldenmut nichts mehr gilt,dann muß er im Opfertod für die Erhaltung desabsolutistischen Prinzips der unumschränktenBefehlsgewalt des Kurfürsten erworben werden. Unddoch ist die Wunschmaschine nicht in Bewegung zusetzen, ohne dieses Nachträgliche vorwegzunehmen:der Tod in der Schlacht, der Heldentod, wird zumZiel, weil der Prinz vor der Schlacht bereits jenesNachträgliche inszeniert.Nicht nur das: er verbindet "militärischen Ehrgeizund erotische Wünsche",8 den Heldentod mit einem

7 Schulte, (wie Anm.1), S. 1748 Kittler, (wie Anm.3), S. 263

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erotischen Zeichen, das ebenso in seinerNachträglichkeit, in der es eigentlich sinnlos ist,nicht mehr erlebbar ist, daher im Traumvorweggenommen wird, gegen das Gesetz, "daß man denRuhm und die Frau allein aus der Hand einerväterlichen Autorität empfängt."9 Gegeben diehistorische Spezifizität des Begehrens, gegeben dieVoraussetzung, daß die Zustimmung zum eigenenBegehren mit dem Tode unentwirrbar verflochten,dieses Begehren ein erotisches Zeichen ist, dassein Ziel nur im Tode erreichen kann, kann dasDrama als ein traumseliger Versuch gelesen werden,wie das Begehren in jenes Nachher springen kann, indem es sich verwirklichen kann, ohne aber den Preisdafür zu zahlen. Das ist, wie der erste Auftrittdes Dramas zeigt nur möglich, indem man "sichselbst" in einem Traum der Nachwelt gleichsetzt,die man definitionsgemäß nie sein kann.Man muß sich also durch seinen Tod in seine eigeneNachwelt hinein träumen, in der man -- "Ist es einTraum?" -- "Ein Traum, was sonst?" -- bei seinemBegräbnis den "Kranz, an welchem die Kette hängt,"von der Prinzessin aufgesetzt bekommt und dieLaudatio anhören kann, die in einem Satz denbegehrten Ruhm zusammenfaßt: "Heil, Heil dem Prinzvon Homburg!" -- "Heil! Heil! Heil!" -- "Dem Siegerin der Schlacht von Fehrbellin!" (Vs. 1854ff)Daß das Drama mit einem träumenden Nachtwandlerbeginnt und mit der Einsicht endet, daß dieses --untragische -- Ende nur als Traum möglich ist, daß"dem Traum über diese [erste] Szene hinaus dieBedeutung eines Leitmotivs zukommt, daß eine

9 Kittler, (wie Anm.3), S. 263

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Traumsequenz als Grundpfeiler die gesamtedramatische Konstruktion trägt, ist mehrfachbeobachtet und ausgedeutet worden."10 Daß derKonflikt, der für das träumende Subjekt eintragischer zu werden droht, dann aber in einerbestätigenden Wiederholung der ersten Szene endet,die Tragödie um Haaresbreite vermeidet, kannallerdings nicht als Versöhnung von Traum undWirklichkeit gelesen werden. Eine wie immergeartete "Wirklichkeit" kommt gar nicht ins Spiel:das Phantasma hat kein Außen. Auch ist dieWiederholung der Anfangspantomime keineswegseinfach deren Umkehrung, so als ob, "was dort dieInszenierung eines Traums war, hier zurInszenierung von Realität" würde,11 es sei denn indem Sinne, in dem der Träumer immer seinephantasmatische Realität, seine subjektiveWirklichkeit inszeniert, und ihr in derInszenierung den Charakter von Objektivitätverleiht. Ganz richtig nämlich fragt BettinaSchulte: "Was aber bedeutet dann die seltsameUmkehrung der Realitätsebenen, welche Homburg nunals Traum empfinden läßt, was wirklich ist? Stehtder Prinz mithin am Schluß des Dramas nicht genausoaußerhalb der 'Objektivität' wie zu Beginn?"12 Dasallerdings wäre eine Schlußfolgerung, die es zu

10 Schulte, (wie Anm.1), S. 172 ff. Vgl. auch JochenSchmidt, Heinrich von Kleist. Studien zu seiner poetischenVerfahrensweise. Tübingen 1974, S. 93 ff., S. 146f.; Müller-Seidel, (wie Anm.6), S. 390-409; Arthur Henkel, "Traum undGesetz in Kleists »Prinz Friedrich von Homburg«". In Kleist,Aufsätze und Essays. S. 576-60411 Schulte, (wie Anm.1), S. 17312 Schulte, (wie Anm.1), S. 173

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erwägen gälte. Was wird dem Prinzen denn anderesbestätigt, als wieder jenes Phantasma, jeneVerquickung von Erotik, Ruhmsucht undTodessehnsucht, die bereits am Anfang steht? Kommter jemals aus jener Spiegelszene heraus, dieHohenzollern in der ersten Szene evoziert:

Schade, ewig schade,Daß hier kein Spiegel in der Nähe ist!Er würd ihm eitel, wie ein Mädchen nahn,Und sich den Kranz bald so, und wieder so,Wie eine florne Haube aufprobieren. (Vs. 59-63)

Als ob wir uns je anders als in diesem eitlenSpeculum erkennen könnten, als ob wir je über dieseSpiegelszene hinauskämen, wenn wir versuchen zuerfahren, was wir sind. Was sich geändert hat inder spekulären Inszenierung, in der der Träumersich als sein eigener Revenant sieht, ist einzig,daß diejenigen, die ihn zunächst "Ins Nichts! InsNichts!" (Vs. 75) zurückgestoßen haben, ihm nun --nach seinem erträumten Tode -- traumhaft gewähren,was er sich erträumt.Was sich zwischen traumhaftem Anfang undtraumhaftem Schluß vor allem in der Todesfurcht-Szene vollzieht, ist der Einbruch einesRealitätsprinzips, das das Phantasma zunächstzerstört, der Abbau aller Idealisierungen und dieReduktion des Lebens auf die kreatürliche Existenz,das sinnenhaft erlebte "Ins Nichts!", die ödipaleDrohung, die das Begehren in seine Schranken weist:

O Gottes Welt, o Mutter, ist so schön!Laß mich nicht, fleh ich, eh die Stunde schlägt,

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Zu jenen schwarzen Schatten niedersteigen!Mag er doch sonst, wenn ich gefehlt, mich strafen,Warum die Kugel eben muß es sein?Mag er mich meiner Ämter doch entsetzen,Mit Kassation, wenns das Gesetz so will,Mich aus dem Heer entfernen: Gott des Himmels!Seit ich mein Grab sah, will ich nichts, als leben,Und frage nichts mehr, ob es rühmlich sei! (Vs.995-1004)

Das Begehren negiert sich selbst und sagt, daß esnichts begehrt, es sei denn zu leben. Ehre, Mut,Ansehen, Liebe, alle Ideale des adeligen Offizierserweisen sich als bloße Ideologien, für die es sichnicht lohnt zu sterben. Die Realität des Todes istunfaßbar und überwältigend. Wer, wie Homburg,gezwungen wird, seinen eigenen Tod als vollendeteTatsache zu kontemplieren, kann nur einüberwältigendes Grauen empfinden:

Ach! Auf dem Wege, der mich zu dir führte,sah ich das Grab, beim Schein der Fackeln, öffnen,Das morgen mein Gebein empfangen soll.Sieh, diese Augen, Tante, die dich anschaun,Will man mit Nacht umschatten, diesen BusenMit mörderischen Kugeln mir durchbohren. (Vs. 981-986)

Das ist eine Wirklichkeit, angesichts der jederIdealismus, der glaubt sich gegenüber der Macht undWillkür als Mensch behaupten zu können, sich als

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großartig aber unzulänglich erweist.13

Wie kommt es dann zu der scheinbar völligentgegengesetzten Haltung des Prinzen vom siebentenAuftritt des fünften Akts an, und was hat dieseVeränderung zu bedeuten? Die Inszenierung derZeichen -- offenes Grab, mörderische Kugeln, Gebein-- gehört selbst zum Traum, wie der "Schein derFackeln" andeutet. Der phantasmatische Durchgangdurch Todesfurcht und Tod ist die notwendigePassage zu dem imaginären Ziel, seine eigeneNachwelt zu sein. Allerdings kann dieser geträumteTod noch hinter der geträumten Todesfurcht nieanders als abstrakt und leer erfahren werden, denndieses Dahinter ist selbst der unerreichbare Kerndes Phantasmas, das was jenseits aller Zeichenliegt, das was nicht mehr gesagt oder geträumtwerden kann.Die Abstraktheit des Todesbegriffs spiegelt sich indem Monolog des Prinzen im zehnten Auftritt desfünften Akts, in dem er den Tod nicht mehr wie inder Todesfurchtszene real und erschreckend als

13 Wenn z. B. Schiller in "Über Anmut und Würde" schreibt:"Die bloße Macht, sei sie auch noch so furchtbar undgrenzenlos, kann nie Majestät verleihen. Macht imponiert nurdem Sinneswesen, die Majestät muß dem Geist seine Freiheitnehmen. Ein Mensch hat darum noch keine Majestät für mich,sobald ich nur selbst bin, was ich sein soll. Sein Vorteilüber mich ist aus, sobald ich will. Wer mir aber in seinerPerson den reinen Willen darstellt, vor dem werde ich mich,wenn's möglich ist, auch noch in künftigen Welten beugen",(Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 11. (Säkularausgabe)Stuttgart, 1904, S. 242f), dann bringt er in seineArgumentation ideologisierende Begriffe wie Majestät, Würde,"reiner Wille" und "geistige Freiheit" ein, die vor demkonkreten Erlebnis des Prinzen von Homburg vergehen.ù

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Sterben, als "Nichts", sondern als leere Idealitäterlebt. Der Heroismus Homburgs in dieser Szene istdenkbar nur als das Nicht-mehr-erleben. Deshalb istes auch nicht nur ein Versehen, eine für sein Wesenbezeichnende Zerstreutheit, sondern bezeichnend fürdie Unfähigkeit des Prinzen, sich seinen eigenenTod vorzustellen - und zwar genau in demAugenblick, da er sich angeblich mit seinem Todversöhnt hat - wenn er eine Nelke bricht und sagt:"Lieber! - / Ich will zu Hause sie ins Wassersetzen." (Vs. 1844f).14 Meiner Meinung nach brichtin diesem Satz durch, daß die heroische Haltung desPrinzen Phantasma ist. Die Endgültigkeit undUnwiderruflichkeit des Todes wird nicht längererlebt, Homburg "versöhnt" sich mit seinem eigenenTode, will ihn nun nicht länger so konkretbegreifen, wie er ihn im Anblick des geöffnetenGrabes begriffen hat. Wie wenig dieser Tod noch Todist, läßt sich schon an der Sprache ablesen, diemit Klischees und Abstraktionen durchsetzt ist:

Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!Du strahlst mir, durch die Binde meiner Augen,Mir Glanz der tausendfachen Sonne zu!Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern,Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist;

14 Nur wenn man die vorangehende Todesfurchtszeneausklammert, kann man wie Eleanore Frey-Staiger behaupten:"Die Beiläufigkeit der Geste, die vom Leben in den Todhinübergreift, läßt diesen sonst als einmalig undirreversibel begriffenen Übergang in einem ungewohnten Lichterscheinen." Eleonore Frey-Staiger, "Das Problem des Todesbei Kleist". In: Modern Language Notes, Bd. 83, 1968, S.821f.

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Und wie ein Schiff, vom Hauch des Winds entführt,Die muntre Hafenstadt versinken sieht,So geht mir dämmernd alles Leben unter:Jetzt unterscheid ich Farben noch und Formen,Und jetzt liegt Nebel alles unter mir. (Vs. 1830-1839)

Bezeichnend für die leere Idealität dieserJenseitsvorstellung, die kein positives Bild desLebens nach dem Tode mehr zeichnen kann, sondernden Tod nur noch als leere Dauer begreift, ist dasWort "Nebel": Farben und Formen verschwinden, anihre Stelle tritt Unsterblichkeit als farb- undformlose Leere, als der ständig wiederholteBeifall, der den Heldenschauspieler nach demAbschluß des Dramas umrauscht, wenn er, der totwar, noch einmal aufsteht, um sich zu verbeugen, umals bereits Toter sich in der Zustimmung derGesellschaft zu spiegeln.Maria Tatar15 nimmt den Hinweis der Kurfürstin, "Derjunge Mann ist krank, so wahr ich lebe", undNataliens Ausruf, "Er braucht des Arztes", (Vs.32f)ganz wörtlich. Sie sieht mit Verweis auf KleistsKenntnis der Psychologie des zeitgenössischenArztes J. C. Reil im 'Prinz von Homburg' eineKrankheits- und Heilungsgeschichte. Wolf Kittlergeht noch einen Schritt weiter: "Der dramatischeProzeß des Stücks verläuft wie eine klassischePsychoanalyse, nämlich als Auslegung desSignifikanten, mit denen der Kurfürst das ödipaleSchicksal des Prinzen in der ersten Szene

15 Maria Tatar, "Psychology and poetics: J. C. Reil andKleist's »Prinz Friedrich von Homburg«". In: GermanicReview, Bd. 48, 1973, S. 21-34

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programmierte."16 Aber er widerlegt sich selbstgleich wieder: "Allerdings mit dem Unterschied" --und der Unterschied ist gewaltig! --, "daß hier derVater mit der Person des Analytikers zusammenfällt,daß also eine pädagogische und keine therapeutischeSituation gegeben ist."Das bedeutet doch, daß der Kurfürst an dergrundlegenden Strukturierung des Unbewußten desPrinzen, die übrigens auf ein Vorher zurückgeht,das vor der ersten Szene des Dramas liegt, das ernicht programmiert, sondern höchsten ausnutzt,nichts Wesentliches ändern kann: Pädagogik, wieimmer aufgeklärt und "nach den neuestenpädagogischen Erkenntnissen", kann nicht mehr alszur Einhaltung der Konvention, des Gesetzeszwingen. Zugegeben, der Kurfürst kann seinemUntergebenen die Zeichen klar machen, die er selbstgesetzt hat, aber er hat keinen Einfluß auf dasPhantasma, das er höchstens durch seine Zeichen zuseinen Gunsten manipulieren kann. Wolf Kittler gehtdavon aus, daß diese Pädagogik erfolgreich ist:"Statt den Prinzen durch Furcht und Hoffnung zumotivieren [?] oder vielmehr zu tyrannisieren, hälter sich an den Grundsatz Pestalozzis, daß derSchüler nur dann lernt, wenn man seineSelbsttätigkeit erregt. [...] So wird das Gesetznoch einmal durch die Selbsttätigkeit [!] desStaatsbürgers hervorgebracht. Und erst in dieserForm herrscht es allgemein, so daß sich jedeAusnahme als Akt der Willkür definiert."17 Daran istmancherlei ungenau: nicht nur benutzt der Kurfürst

16 Kittler, (wie Anm.3), S. 264f17 Kittler, (wie Anm.3), S. 264f

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natürlich Furcht und Hoffnung, um den Prinzen zumanipulieren: Wie anders als mit Erschrecken kannman die letzten beiden Szenen des Dramas lesen, dieden folgenreichen Scherz des ersten Aktespotenziert wiederholen? Ist nicht die Ohnmacht desPrinzen ein überdeutliches Zeichen, daß hier mitdem Bewußtsein eines Menschen frevelhaft gespieltwird? Ist diese letzte Szene nicht eine deutlicheEntlarvung der Willkürherrschaft des Kurfürsten?18

Eine wirkliche Selbsttätigkeit des Prinzen indieser Manipulation zu entdecken, dürfteschwerfallen, und gerade die Begnadigung desPrinzen kann unmöglich anders als als Willküraktgelesen werden, wenn man denn die Gültigkeit desGesetzes als absolut voraussetzt.Der entscheidende Widerspruch im Kurfürsten, der esihm nicht erlaubt, einen Fehler einzugestehen, ist,daß er einerseits die Fiktion aufrechterhält, diehinter dem Recht stehende Gewalt beruhe auf einemvon gemeinsamer und vernünftiger Einsicht gelenktenWillen aller, andererseits aber einen absolutenMachtanspruch entfaltet, der sich innerhalb dieserFiktion nur aufrechterhalten läßt, wenn er selbstvollkommen diesem gemeinsamen Willen entspricht. Inder Auseinandersetzung mit Natalie z. B. beruft ersich auf "den Spruch, / Den das Gericht gefällt"(Vs. 1116f) und das "Vaterland" (Vs. 1121) , das

18 Ralph Gätke, Manfred Richter und Günter Ulrich, "ZurWirkungsgeschichte von Kleists »Prinz Friedrich vonHomburg«". In: Die Horen, Bd. 16, 1971, S. 67: "Aus derOhnmacht des Prinzen nach der Verkündigung des Freispruchsersieht man, in welch perfider Weise mit ihm umgegangenwurde. Nicht umsonst gehören Scheinhinrichtungen zum festenRepertoire der Folterknechte in aller Welt."

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als "Höhres" noch über dem Fürsten steht, underzeugt so den Eindruck, als ob seine persönlicheMacht dem Gesetz ebenso unterworfen ist wie jederseiner Untertanen. Da er später dann den Prinzenganz willkürlich begnadigt, wird der Anspruch, dender Kurfürst zunächst erhebt, daß er in seinerPerson das allgemeinverbindliche Gesetz nurrepräsentiert und nicht willkürlich zu seinenGunsten oder nach seiner Laune anwendet,offensichtlich als hohl entlarvt. Der Wille desKurfürsten, "daß dem Gesetz Gehorsam sei" (Vs.734), erweist sich von Anfang an als nichts anderesals die Legalisierung höchster Willkür, wenn er dasUrteil des Gerichts vorwegnimmt: "Wers immer war,der sie zur Schlacht geführt, / ... hat seinen Kopfverwirkt", (Vs. 735f) und das Gericht so zum bloßenInstrument seiner Macht reduziert: der Herrscherfällt das Urteil, das Gericht legalisiert es nur.19

In dem Versuch das Drama in der Interpretation alspatriotisch-erzieherisches Werk zu konstruieren,setzt man Recht mit Staat und Staat mit Gemeinwohlgleich und argumentiert, daß ein Mensch dann zurBesinnung komme, wenn er sein eigenes Begehren derGemeinschaft, dem Vaterland unterordnet.20 Damitwird die eigentliche Dialektik zwischen Einzelnem,19 Vgl. Siegfried Bartels, Vermittlung der Gegensätze in derDichtung Heinrich von Kleists. Bürgerliche Subjektivität imKonflikt mit höfischen Machtverhältnissen. (Diss.) Frankfurtam Main, 1972, S. 141. Die vom Kurfürsten als apologetischeIdeologie verkündete Unfehlbarkeit trotz der Anzeichen einerpersönlichen Verschuldung als Tatsache der Interpretation zuunterlegen, heißt nicht nur ihn mit dem Glorienschein einernicht vorhandenen "Weisheit" zu schmücken, sondern auch dieim Stück durchaus kritische Analyse der großen Führergestaltunkritisch für jede Art Führerverehrung bereit zu stellen.

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Gemeinschaft und Staat, die der problematischeAbgrund sind, über den das Stück spielt, durchvereinfachende Wortspiele, unterschlagen.21

Gehen wir also statt von einer Pädagogik dochlieber von einer Krankengeschichte aus: Der Prinzist in der Tat krank, ebenso krank wie Penthesilea.Nur, der Arzt nach dem Natalie ruft, ist nicht in

20 Vgl. Siegfried Streller, "Heinrich von Kleist und Jean-Jaques Rousseau". In: Weimarer Beiträge, Bd. 8, 1962, S.562. Auch in Müller-Seidel, Walter, Heinrich von Kleist.Aufsätze und Essays. Darmstadt, 196721 Solch kunstvoller Verschleierungen ist die Kleist-Literatur voll, wenn es darum geht, Kleists angeblichkonservative Grundhaltung auch noch gegen den Augenscheindes Textes zu retten. Wenn Elmar Hoffmeister z. B. zunächstden Gerichtsrat Walter aus dem Zerbrochnen Krug und Jupiteraus dem Amphitryon anführt und sagt, sie gewähren einegewisse Sicherheit für den glücklichen Ausgang, für den Siegdes Guten über das Böse, und dann fortfährt: "Auf denpreußischen Staat bezogen, vertritt der Kurfürst in demSchauspiel Prinz Friedrich von Homburg die humane staatlicheOrdnung", dann können einem schon schwerwiegende Bedenkenkommen bei soviel unbedenklichen Optimismus. Der Kurfürstals allgütiger und allwissender Herrscher, der sich nureinen "folgenreichen Scherz" erlaubt, ansonsten aber ein"milder, vergebender, Gnade gewährender Herrscher ist",(Elmar Hoffmeister, Täuschung und Wirklichkeit bei Heinrichvon Kleist. Bonn, 1968, S. 46f.) der zwar kein "Gott (ist),wenn auch seine Erscheinung an den höchsten Gott erinnert":das geht doch zu leicht über die bedenklichen, javerstörenden Elemente des Stücks hinweg. (Vgl. Hans Mayer,"Prinz Friedrich von Homburg". In: Theater Heute, H. 12,1972, S. 9) Noch losgelöster von aller Stofflichkeitbetrachtet Hafner als das zentrale Thema des Prinzen vonHomburg den "Abfall des Menschen von Gott und die Rückkehrins Paradies". Es gehört schon ein gerüttelt Maß anBlindheit dazu, den Kurfürsten mit Gott und den preußischen

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Reichweite, und der Kurfürst ist es jedenfallsnicht. Der, der die Ursache der psychischenErkrankung ist, kann diese am wenigsten heilen --genauso wenig wie der Vater den ödipalen Knotenlösen kann, den er geknüpft hat, genausowenig, wieer zum Objekt der imaginären Transferenz werdenkann, die die Grundlage der "talking cure" ist,genausowenig kann der Kurfürst als Vater-Imago und"Vater" genannter den Prinzen heilen. DiePsychoanalyse findet nicht statt, und diePädagogik, mit Verlaub, auch nicht, es sei denneine höchst vertrackte, in der der Sohn mithilfeder "Mutter"/"Geliebten" den Vater erzieht -- einWunschtraum, wie schon gesagt. Der Sohn möchte denVater ermorden, oder zumindest tot sehen,22 die vomVater kontrollierte Frau heiraten, seine Stellungeinnehmen, nach seinem Begehren verfahren, eineWunschmaschine sein: und gleichzeitig nicht nur demTod / der Kastration entrinnen, sondern auch nochnach seinem nicht stattfindendem Tod den Beifallaller, einschließlich des so subvertierten Vaterserhalten und als Held gefeiert werden. Nicht demGesetz des Tauschs möchte er sich unterwerfen,sondern als Nomade, Kriegsmaschine und Guerilla inder Anarchie der Eroberung leben. Deswegen benimmter sich als Feldherr wie ein stürmischer Liebhaber,und in der Liebe wie ein Eroberer:23 "Daher hat derPrinz nach der Schlacht nichts Eiligeres zu tun,

Militärstaat mit dem Paradies zu verwechseln. (Franz Hafner,Heinrich von Kleists 'Prinz Friedrich von Homburg'. Zürich,1952, S. 79)Q22 "Denn das Gerücht vom Tod des Kurfürsten enthüllt wiejeder descensus ad inferos die Wünsche der Überlebenden."Kittler, (wie Anm.3), S. 263

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als die Prinzessin Natialie um ihre Hand zu bitten.Er setzt sich also auch hier über die väterlicheInstanz hinweg und folgt dem 'Gesetz des Herzensund dem Wahnsinn des Eigendünkels'. Insubordinationund Liebeserklärung im Schatten der Nachricht vomTode des Kurfürsten sind dasselbe".24

Warum also wird der Prinz dann verurteilt? Weil erausdrücklich gegen den Befehl des Kurfürsten zufrüh in die Schlacht eingegriffen hat? Es wäreunsinnig zu behaupten, daß das verfrühte Eingreifendes Prinzen einen totalen Sieg über die Schwedenverhindert hat,25 denn der Prinz kann seinerseitsgewichtige Gründe dafür anführen, daß die Schlachtim Augenblick seines Eingreifens zweifelhaft, jadaß sein Angriff eine bereits drohende Niederlageabgewendet hat. Die meisten Interpretationen26

verlassen sich hier einseitig auf die Auffassungdes Kurfürsten, und übersehen, daß der Bericht23 Kittler, (wie Anm.3), S. 262f: "Homburgs Fehler aberbesteht darin, daß er die Zeichen, die ihm der Kurfürstgibt, mit einem realen Pfand verwechselt. Deshalbverwechselt er den Anblick der Geliebten mit einermilitärischen Instruktion. Und deshalb verhält er sich inder Schlacht dann wie ein allzu stürmischer Liebhaber, derdem Gesetz des Herzens statt dem Befehl seines Fürsten folgt[...] diese Liebe äußert sich als wilde Leidenschaft undnicht in der Unterwerfung unter das väterliche undstaatliche Gesetz."24 Kittler, (wie Anm.3), S. 26325 Wie auch noch Kittler, (wie Anm.3), S. 265, meint26 Z. B. Ernest L. Stahl, Heinrich von Kleist's dramas.Oxford, 1961, S. 104 und Donald H. Crosby, "Kleist's Prinzvon Homburg - an intensified Egmont?" In: German Life andLetters, Bd. 23, 1969/70, S. 314; Kittler argumentiert vonder Schlacht von Jena und Auerstedt her: aber ein Text istein Text ist ein Text. S. 268-280

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Mörners (Vs. 516ff) uns hinreichende Gründe gibt zubehaupten, daß ohne das Eingreifen des Prinzen indem Augenblick, als das Heer den Kurfürstengefallen glaubt, die Schlacht mit einer völligenNiederlage des verwirrten preußischen Heeres hätteenden können.27 Wie anders wäre es sonst zuverstehen, daß der Prinz immer wieder, auch vomKurfürsten, der Sieger in der Schlacht genannt wird?Daher ist jede Argumentation, die vom Ende hereinen Erziehungsprozeß des Prinzen auf eineSynthese hin postuliert, einseitig auf denStandpunkt des Kurfürsten aufgebaut, derunsinnigerweise

Den Sieg nicht mag [...], der, ein Kind desZufalls,Mir von der Bank fällt; das Gesetz will ich,Die Mutter meiner Krone, aufrecht halten,Die ein Geschlecht von Siegen mit erzeugt! (Vs.1566-1569)Das Entscheidende ist allerdings, daß er sich durchden Sieg des Prinzen, der gegen seine ausdrücklicheOrder errungen wurde, in seiner Autorität in Fragegestellt sieht, und diese Autorität nun wiederdurch einen Akt völliger und blinder Unterwerfungbestätigen muß. Was bestraft werden muß, ist daseigenmächtige Verhalten des "Sohnes", der nicht nur

27 Das gibt im Grunde auch Kittler zu, wenn er sagt, daß esdurchaus "Gelegenheiten geben kann, in denen selbsttätigeund sogar eigenmächtige Entscheidungen der einzelnenOffiziere durchaus zu taktischen Vorteilen führen können.Insofern ist das unüberlegte [!] Handeln Homburgs imAugenblick der Schlacht zweifellos korrekt." Kittler, (wieAnm.3), S. 282

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seine "Schwester"/"Base" in Besitz nehmen will,ohne daß der "Vater" gefragt wurde, sondern derbeim vermeintlichen und wohl erwünschten Tode des"Vaters" dessen Gewalt usurpieren möchte, ohne sichdem Gesetz zu unterwerfen. Das Ineinander vonfamiliärer, militärischer und staatlicherTerminologie zeigt die Verflochtenheit von Familieund Ödipus mit den gesellschaftlichen Gewalten.Das geht natürlich selbst im Traum -- zumindest immanifesten Traum, der die gesellschaftliche Zensuran der Schwelle zum Bewußten passieren muß, und imDrama, das auf der öffentlichen Bühne dargestelltwerden will -- nicht ohne einige Verschleierungenund Verbeugungen vor dem Gesetz ab, obwohl dasGesetz ganz grundsätzlich in Frage gestellt,subvertiert wird. Damit das Gesetz die Subversiondes Gesetzes erlaubt, muß das Gesetz in seinerganzen Furchtbarkeit auf der Bühne repräsentiertwerden, der Träumer muß dem Tode ins Auge schauen.Damit aber hat es sein Bewenden. Endet also der'Prinz Friedrich von Homburg' deswegen nichttragisch, weil es in einem Traum keine Tragik gibt?Der Traum nämlich folgt seiner eigenen Logik, dieimmer die Logik einer Wunscherfüllung ist, auchwenn es ein Alptraum ist, in dem das Gesetz desVaters in voller grauenerregender Strenge gegen dennarzistischen und ödipalen Wunsch auftritt, um denWunsch dann doch zuzulassen. Die Drohung wäre dannsowohl wirklich und schreckenerregend, denn das mußsie nach dem Realitätsprinzip sein, als auch ein"Scherz", ein Spiel, Theater: der Vater macht dieödipale Drohung nicht wahr, es kommt nicht zurTragödie.Die Erschießung ist, um musikalisch zu reden, ein

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"Trugschluß", dem als lösende Dominante das In-Einsdes Begehrens von "Vater" und "Sohn" folgt. DesPrinzen berauschte Ruhmsucht und des Kurfürstenwankender Absolutismus verschmelzen zu einemgemeinsamen Ziel, in dem jeder die Zwangslage desjeweils anderen für sich selbst ausnutzt. DerKurfürst braucht die Zustimmung des Prinzen zuseinem eigenen Tod, um seine wankende Autoritätgegenüber den Offizieren seiner Armee zu stärken,und um mit dieser neugefestigten Autorität seinZiel, die vollständige Vernichtung der Schweden zuerreichen; der Prinz braucht die Rehabilitierungseiner Ehre und seines Ruhms in einem freiwilligenphantasmatischen Tod, der gleichzeitig dieErfüllung seines erotischen Begehrens und seinesBegehrens seine eigene Nachwelt zu sein enthält.Die Tragödie ist überflüssig, da ihr Begehren sichals identisch erweist. Aber das ist natürlich: "EinTraum, was sonst?"28

28 Sonst ist alles "Traum in diesem Schauspiel. Der Traumdes armen Heinrich von Kleist vom glücklichen PrinzenHomburg, der, zart und mächtig, unter der Gefahr des Todes,seine großen Sehnsüchte und Wunschbilder gegen dieherrschenden engen Lebensbedingungen durchsetzt undschließlich, wie im Wunder, ihre paradiesische Erfüllungerlebt." Bodo Strauß, "Prinz Friedrich von Homburg". In:Theater Heute, H. 12, 1972, S. 12