Reaktionen und Veränderungen im niederrheinischen Protestantismus (2009)

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Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 58. Jahrgang 2009 Im Auftrag des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte herausgegeben von Dr. S. Flesch . Dr. B. Magen . Prof. Dr. A. Mühling Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH . Bonn

Transcript of Reaktionen und Veränderungen im niederrheinischen Protestantismus (2009)

Monatshefte

für

Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes

58. Jahrgang

2009

Im Auftrag des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte herausgegeben von Dr. S. Flesch . Dr. B. Magen . Prof. Dr. A. Mühling

Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH . Bonn

Titelbilder: Kinder mit Betreuerin (Frida Lötschert?) vor dem Hofmannschen Haus

in Wetzlar (nach 1925) (Foto: Archiv des Gemeindeamts der Ev. Kirchengemeinde Wetzlar)

Die Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes sind mit Unterstützung der Evangelischen Kirche im Rheinland

gedruckt.

Redaktion und Layout: Dr. Beate Magen, Meerbusch-Osterath Druck: Müller • Satz, Grevenbroich

ISSN 0540–6226

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Inhaltsverzeichnis

Andreas Mühling: Der Heidelberger Katechismus im 16. Jahrhundert. Entstehung, Zielsetzung, Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Andreas Mühling: Obrigkeit und „Secterei“. Politik und Religion in Jülich-Berg im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Mart in Szameita t : Humanismus zwischen Religionspolitik und Ge-lehrsamkeit: Das Beispiel Konrad Heresbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Wera Groß: Die Reformierte Kirche in Frechen. Vom Predigthaus zum Gemeindezentrum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

Hermann Deeters : Ein Augenblick auf dem Weg zur protestantischen Konfessionalisierung. Ein Brief von Wittenberg nach Wesel aus dem Jahre 1557 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Gustav Adolf Benrath: Der Mystiker Gerhard Tersteegen als Predi-ger und Seelsorger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Andreas Metzing: Die evangelische Kirchengemeinde Enkirch in der Frühen Neuzeit – Schlaglichter aus einer bewegten Geschichte . . . . . . . . . 99

Wolfgang Motte: Die Brüder Bernhard Heinrich und Wilhelm Georg Vogt, Prediger zu Burscheid und Radevormwald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Andreas Becker : Reaktionen und Veränderungen im niederrheinischen Protestantismus unter französischer Besatzung (1794-1801) . . . . . . . . . . . 131

Frank Rudolph: Spielsachen, Sacktücher und Gebet. 200 Jahre Kinder-gartenarbeit in Wetzlar (1809-2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Manfred Jül icher : 150 Jahre Erziehungsverein im Kirchenkreis Moers – Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Thomas Mart in Schneider : Glanz und Elend des Kulturprotestan-tismus: Adolf von Harnack und Johannes Müller-Elmau . . . . . . . . . . . . . 193

Elmar Spohn: „Wir haben mehr oder weniger geschwiegen dazu“. Verwicklungen – Ambivalenzen – Opportunismus: Die Allianz-China-Mission in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Joachim Conrad: Die Erste Saarbrücker Bekenntnissynode vom 1. Juli 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

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VI

Kleine Mitteilungen

Joachim Conrad: Die älteste Darstellung eines Pfarrers an der Saar . . . 229

Bibliographie 2008

Ulr ich Dühr: Bibliographie 2008 zur Rheinischen Kirchengeschichte . . . 235

Buchbesprechungen

Hansgeorg Molitor: Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubens-kämpfe (1515-1688). Bespr. von Stefan Flesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

Auguste Zeiß-Horbach: Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus. Zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Bespr. von Thomas Martin Schneider . . . . . . . . . . . 255

Manfred Gailus (Hg.): Kirchliche Amtshilfe. Die Kirche und die Juden-verfolgung im Dritten Reich. Bespr. von Simone Rauthe . . . . . . . . . . . . . 258

Bernd Hey u. Volkmar Wittmütz (Hg.): 1968 und die Kirchen.. Bespr. von Wolfgang Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260

Peter Schmidtsiefer u. Birgit Siekmann (Hg.): Geschichte als Verunsiche-rung. Karl-Hermann Beeck und Günther van Norden am Historischen Seminar Wuppertal. Bespr. von Uwe Eckardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

Wolfgang Stoffels. Einträchtig beieinander wohnen: Gelebte Ökumene. Mit einem Geleitwort von Nikolaus Schneider. Bespr. von Hans-Peter Friedrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Wolfgang Apelt: Kurze Geschichte der Vereinten Evangelischen Mission. Short History of the United Evangelical Mission. Bespr. von Volkmar Wittmütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Gerhard Tersteegen: Briefe. 2 Bde., hg. v. Gustav Adolf Benrath unter Mitarbeit v. Ulrich Bister u. Klaus vom Orde. Bespr. von Rudolf Mohr . . 267

Der Graue Mann, eine Volksschrift von Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling. Nach den Erstdrucken hg. u. kommentiert v. Erich Mertens u. Martin Völkel. Bespr. von Stephan Bitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

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VII

Dokumente zur Kirchenpolitik des Dritten Reiches. Bd. V: 1939-1945. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs (September 1939-Mai 1945). Bearb. v. Gertraud Grünzinger u. Carsten Nicolaisen. Bespr. von Holger Weitenha-gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Siegfried Hermle u. Jörg Thierfelder (Hg.): Herausgefordert. Dokumente zur Geschichte der Evangelischen Kirche in der Zeit des Nationalsozialis-mus. Bespr. von Simone Rauthe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Jens Murken: Die evangelischen Gemeinden in Westfalen. Bd. 1: Ahaus bis Hüsten. Bespr. von Thomas Martin Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Kleine Geschichte der Kevelaer-Wallfahrt. Von den Anfängen bis heute, hg. v. Peter Dohms. Bespr. von Ernst Heinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

400 Jahre Mennoniten in Krefeld. Referate vom 26.-28. Oktober 2007. Bespr. von Andreas Becker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

Bastian Fleermann: Marginalisierung und Emanzipation. Jüdische All-tagskultur im Herzogtum Berg 1779-1847. Bespr. von Jochen Gruch . . . . 286

Ulrich T. Christenn: Atlas der christlichen Glaubensgemeinschaften in Wuppertal. Bespr. von Volkmar Wittmütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Kirchen und Gottesdienststätten in Wuppertal. Bd. 2: Kirchen und Got-tesdienststätten in Barmen, hg. v. Sigrid Lekebusch u. Florian Speer. Bespr. von Hermann-Peter Eberlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

Friedrich Brass: Kemna-Bericht 1933/34 – Michael Okroy: Volksgemein-schaft, Erbkartei und Arisierung. Ein Stadtführer zur NS-Zeit in Wup-pertal – Haus des Lebens. Der jüdische Friedhof in Wuppertal-Barmen – Zwischen Webstuhl und Synagoge. Jüdisches Leben in Wuppertal. Bespr. von Hermann-Peter Eberlein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Wolfgang Heinrichs u. Hartmut Nolte: Das Lexikon der Wülfrather Kir-chengeschichte. Bespr. von Volkmar Wittmütz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

Ulrike Winkler: Männliche Diakonie im Zweiten Weltkrieg. Kriegserle-ben und Kriegserfahrung der Kreuznacher Brüderschaft Paulinum von 1939 bis 1945 im Spiegel ihrer Feldpostbriefe. Bespr. von Holger Weiten-hagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

150 Jahre Evangelische Kirchengemeinde Wittlich. Hg. v. Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Wittlich. Bespr. von Andreas Met-zing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

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Reaktionen und Veränderungen im niederrheinischen Protestantismus

unter französischer Besatzung (1794-1801)

von Andreas Becker

Die Erforschung der Zeit der französischen Herrschaft am Rhein zwischen 1792 und 1815, insbesondere ihrer Kirchengeschichte, ist bis heute von zahlreichen Mythen geprägt. Das ist insofern wenig verwunderlich, als diese Epoche konsti-tutiv wurde für den deutschen Nationalismus und dieser als Ideologie einer gewissen ‚Mythologisierung’1 bedarf. Andererseits ist es erstaunlich zu sehen, wie lange sich Vorurteile, Bewertungen und Einschätzungen in der Forschung als implizite Prämissen oder gar als vermeintliches ‚Wissen’ haben halten kön-nen.

So gilt bis heute der allgemeine Topos, dass Protestanten per se Unterstützer revolutionärer Ideen gewesen seien. Selbst neuere Darstellungen gehen immer noch von einer ideengeschichtlich bedingten Zwangsläufigkeit zwischen Protes-tantismus und Aufklärung aus. Beispielsweise begründet der französische Historiker André Encrevé die politische Unterstützung der revolutionären Sache durch Protestanten damit, dass zum Kern protestantischen Denkens unter ande-rem die reformatorischen Prinzipien sola scriptura und das Priestertum aller Gläubigen gehörten.2 Damit war nach Encrevé der Wunsch nach einer schriftlich fixierten Staatsverfassung, wie sie ab 1791 tatsächlich realisiert wurde, zusam-men mit der Vorstellung einer prinzipiellen Gleichheit aller Menschen ausge-sprochen. Beides schuf die Revolution und erst durch diese hatten die französi-schen Protestanten das volle Bürgerrecht erlangt. Über das Toleranzedikt König Ludwigs XVI. vom November 1787, das zwar Rechtsfähigkeit, nicht jedoch Re-ligionsfreiheit gewährte, urteilte Timothy Blanning treffend: „The ‚Edict of To-lerance’ of 1787 gave them [i.e. the Protestants] much too little far too late“3. 1 Siehe hierzu die neueste Studie von Ute Planert, Der Mythos vom Befreiungskrieg. Der deutsche

Süden und die französischen Kriege. Paderborn 2007. Von der Richt ähnlich Ilja Miech, Die Rettung Preußens? Napoleon und Alexander I. in Tilsit. In: Ders. (Hg.), Deutschland, Frank-reich, Rußland: Begegnungen und Konfrontationen. München 2000, S. 15-35.

2 André Encrevé, Protestantisme et bonapartisme. In: Revue d’Histoire du XIXe siècle 28 (2004), 1, S. 111-131, hier: S. 112 ff.

3 Timothy C.W. Blanning, The French Revolution in Germany. Occupation and Resistance in the Rhineland, 1792-1802. Oxford 1983, S. 240 – Der Schärfe dieser These hat Anna Bernard, Die Revokation des Edikts von Nantes und die Protestanten in Südostfrankreich 1685-1730. Mün-

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Blanning geht davon aus, dass es die Ausgangsbedingungen beim Erstkontakt mit der Revolution waren, die darüber entschieden, ob Protestanten zu Befürwor-tern oder Gegnern der Revolution, aber auch Napoleons wurden. Die politische Ordnung kannte verschiedenste Kombinationen konfessioneller Machtverhält-nisse. Nahezu folgerichtig begrüßten Protestanten in der Kurpfalz und in Pfalz-Zweibrücken die Franzosen als Befreier, während ihnen Katholiken Vaterlandsverrat vorwarfen. Auf den ersten Blick unterstützt dies die These, dass Protestanten per se Revolutionsbefürworter gewesen seien. Doch an anderen Orten sahen die Loyalitäten erheblich anders aus. Speyer, beispielsweise, war eine lutherische Reichsstadt und zugleich eine der exponiertesten Gegnerinnen der Revolutionäre. Im benachbarten Worms hingegen gab es zwar eine lutheri-sche Mehrheit von 73%, eine bemerkenswerte katholische Minderheit von 13%, dazu 6% Reformierte und 8% Juden. Blanning folgert in diesem Fall: „Most Lutherans rejected the new regime, most Calvinists supported it, while the Ca-tholics were divided“4.

Ein weiterer Mythos ist der des katholischen Rheinlandes, den Heinz Finger ausgemacht hat.5 Der Mythos geht davon aus, dass die rheinische „Pfaffengasse“ im Grunde genommen erst im 19. Jahrhundert zu einem nennenswerten protes-tantischen Bevölkerungsanteil gekommen sei. Finger vermutet dahinter die Aus-einandersetzung zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche. Das allein würde jedoch nicht die Hartnäckigkeit erklären, mit der diese Legende sich hält. Finger geht daher weiterhin davon aus, dass der Mythos beiden Seiten Nutzen brachte. Katholiken konnten behaupten, alle Protestanten seien Eindringlinge, die nichts zum eigentlichen „rheinischen Wesen“, begriffen als Antithese zu Preußen, passe. Hingegen sei es für Protestanten ehrenwert gewesen, in einem hauptsächlich katholischen Umfeld den eigenen Glauben hochgehalten zu haben. Finger verweist auf das Fürstentum Moers mit seinen zu über 80% reformierten Einwohnern, auf das Herzogtum Berg, wo einige Gebiete, wie im Raum Elber-feld oder Solingen, ähnlich hohe protestantische Bevölkerungsanteile hatten. Abgesehen davon war im südlichen Rheinland, zwischen Birkenfeld, Trarbach und Simmern, ebenfalls die Bevölkerungsmehrheit, wie überhaupt in Kurpfalz und Pfalz-Zweibrücken, protestantisch.

Auf einen letzten Mythos sei an dieser Stelle noch verwiesen, da er mit der Gleichsetzung von Protestantismus und Revolutionsbereitschaft eng zusammen-hängt. Bis heute findet sich immer noch das Vorurteil, die Säkularisation habe

chen 2003, S. 156 widersprochen, indem sie darauf hinwies, dass an einigen Orten Protestanten unter Bezug auf das Toleranzedikt von einer Opposition gegen den König ab 1789 absahen.

4 Blanning, The French Revolution (wie Anm. 3), S. 246. 5 Ausführlich zum Mythos eines katholischen Rheinlandes siehe Heinz Finger, Reformation und

katholische Reform im Rheinland. Begleitheft zur Ausstellung der Universitäts- und Landesbi-bliothek zum 500. Geburtstag Konrad Heresbachs und zum 450. Todestag Martin Luthers; 7. Mai bis 22. Juni 1996. Düsseldorf 1996 (Schriften der Universitäts- und Landesbibliothek Düs-seldorf 26) – Vgl. auch Blanning, The French Revolution (wie Anm. 3), S. 240.

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eine Besitzverschiebung zugunsten der konfessionellen Minderheiten Protestan-ten und Juden bewirkt. Die katholischen Bauern hingegen hätten aus Pietät kein ehemaliges Kirchengut erworben. So schrieb Jörg Engelbrecht in der jüngst erschienen Krefelder Stadtgeschichte: „Nicht zu vergessen ist in diesem Zusam-menhang auch, dass die Protestanten zu den Hauptnutznießern des Nationalgü-terverkaufs, also der Veräußerung konfiszierten Klosterbesitzes zählten und auch von daher allen Grund hatten, dem französischen System gegenüber besonders loyal zu sein“.6 Tatsächlich sagt jede Studie über die Säkularisation aus, dass sich auch Katholiken in großem Umfang an den Versteigerungen beteiligten. Wilma Klomp konnte für eine Besitzverschiebung im konfessionellen Sinne keine Belege finden.7 In ihrem Standardwerk über die Immobilienspekulanten in französischer Zeit stellte Gabriele B. Clemens unter den etwa 130 bedeutendsten Großkäufern lediglich zwei Protestanten fest, nämlich den Textilfabrikanten Johann Friedrich Jacobi und den aus Stolberg stammenden Textilunternehmer Wilhelm Peltzer.8 Als Gründe für die geringe Beteiligung an der Immobilienspe-kulation sieht Clemens zum einen die geringe Anzahl von Protestanten im Unter-suchungsgebiet (dazu weiter unten mehr). Andererseits engagierten sich betuchte Protestanten im Rurdepartement „vornehmlich in der großgewerblichen Fabrika-tion, also in einem Gewerbezweig, der wenig Interesse am Großhandel mit Na-tionalgütern hatte“.9

Ausgehend von dieser Entmythisierung unternimmt der folgende Artikel den Versuch, die Ausgangsbedingungen in der Zeit vor der Einführung der Organi-schen Artikel, des neuen Kultusgesetzes vom 8./18. April 1802, zu skizzieren. Dabei wird zunächst das Kirchenwesen in Augenschein genommen und zwar auf der Ebene der Institutionen und der Theologie. Im nächsten Schritt werden die Erfahrungen der Geistlichen mit der französischen Invasion und ihre Reaktionen auf die neue Situation dargestellt. Zum Schluss sollen die Vorstellungen von Kirche und Staat, wie sie auf Seiten der Geistlichen existierten, thematisiert werden. Ziel ist es, die Motive herauszuarbeiten, warum protestantische Pfarrer sich in welchem Umfang der Revolution und vor allem Napoleon Bonaparte zuwandten. Schließlich stellte schon Paul Ernst Lucius fest: „Ein volles Jahr-zehnt hindurch hat Kaiser Napoleon I. im ganzen Umfange seines Reiches keine 6 Jörg Engelbrecht, Die Franzosenzeit. In: Reinhard Feinendegen u. Hans Vogt (Hg.), Krefeld. Die

Geschichte einer Stadt. Bd. 4: Kirchen-, Kultur-, Baugeschichte (1600-1900). Krefeld 2003, S. 157-182, hier: S. 170.

7 Wilma Klompen, Die Säkularisation im Arrondissement Krefeld 1794-1814. Kempen 1964, S. 206.

8 Gabriele B. Clemens, Immobilienhändler und Spekulanten. Die sozial- und wirtschaftsgeschicht-liche Bedeutung der Großkäufer bei den Nationalgüterversteigerungen in den rheinischen De-partements (1803-1813). Boppard 1995 (Forschungen zur deutschen Sozialgeschichte 8), S. 76 – Sie bekräftigte ihre These nochmals dies., Besitzumschichtungen im Rheinland aufgrund der Nationalgüterauktionen (1803-1813). In: Georg Mölich, Joachim Oepen u. Wolfgang Rosen (Hg.), Klosterkultur und Säkularisation im Rheinland. Essen 2002, S. 331-349.

9 Clemens, Immobilienhändler (wie Anm. 8), S. 76.

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aufrichtigeren Bewunderer und Verehrer seiner Person gefunden, als die protes-tantischen Pfarrer“10.

KIRCHENWESEN

a) Institutionen

In dem Gebiet, das ab 1798 das Roerdepartement bildete, also das linke Rhein-ufer zwischen Kleve, Köln und Aachen,11 lebten um 1800 mehr als 600.000 Menschen. Von diesen waren etwa 40.000 reformierten und ungefähr 4.000 lutherischen Glaubens, somit also 7-8% der Bevölkerung.12 Im Jahr 1801 gab es 63 reformierte und 17 lutherische Pfarreien in diesem Gebiet. Darunter fallen bereits einzelne neue Gemeinden wie Kelzenberg, das sich 1798 von Jüchen getrennt und damit die revolutionäre Situation zur Erreichung eigener Ziele ge-nutzt hatte.13

Das niederrheinische Kirchenwesen war eine Ausnahme im ganzen Heiligen Römischen Reich und das aus mehreren Gründen. Mit dem Aussterben der kle-vischen Herzöge im Mannesstamm 1609 beanspruchten mehrere Fürsten das Erbe, das in dem umfangreichen Territorialkomplex von Jülich, Kleve, Berg, der Grafschaften Mark und Ravensberg bestand.14 Am entschiedensten setzten Jo-hann Sigismund, Kurfürst von Brandenburg, und Wolfgang Wilhelm, Herzog von Pfalz-Neuburg, ihre Ansprüche durch. Beide lutherischen Fürsten einigten sich im Dortmunder Rezess 1609 auf eine gemeinschaftliche Verwaltung der Erblande. Aus der provisorischen wurde durch den klevischen Erbvergleich von 1666 eine dauerhafte Teilung. Ein Religionsvergleich von 1672 setzte Art und Umfang der Religionsausübung in den verschiedenen Territorien fest.15

10 Paul Ernst Lucius, Bonaparte und die protestantischen Kirchen Frankreichs. Tübingen 1903,

S. 1. 11 Anschauliches Kartenmaterial bietet Irmgard Hantsche, Atlas zur Geschichte des Niederrheins.

5. überarb. Aufl., Bottrop 2004. 12 Zu den Zahlen siehe Brigitte Duda, Die Organisation der evangelischen Kirchen des linken

Rheinufers nach den Organischen Artikeln von 1802. Düsseldorf 1971 (SVRKG 40), S. 120 ff. 13 Johannes Grashof, Geschichte des Evangelischen Kirchenkreises Gladbach (1817-2000). Rödin-

gen, 2003, S. 12 f. 14 Zur Ereignisgeschichte vgl. Heinz Ollmann-Kösling, Der Erbfolgestreit um Jülich-Kleve (1609-

1614). Ein Vorspiel zum Dreißigjährigen Krieg. Regensburg 1996 (Theorie und Forschung 442 – Theorie und Forschung/Geschichte 5) – Olaf R. Richter, Der Übertritt des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm zum katholischen Glauben in Düsseldorf im Jahr 1614. In: Jörg Engelbrecht u. Stephan Laux (Hg.), Landes- und Reichsgeschichte: Festschrift für Hansgeorg Molitor zum 65. Geburts-tag. Bielefeld 2004, S. 117-145.

15 Text bei Johann Josef Scotti (Bearb.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in den ehemaligen Herzogthümern Jülich, Cleve und Berg und in dem vormaligen Großherzogthum Berg über Gegenstände der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, Düsseldorf. 1821-1822, Bd. 1, S. 141, 145-151, 172-173. Online unter: http://www.lwl.org/ westfaelische-geschichte/portal/Internet/ku.php?tab=pro&ID=49, zuletzt eingesehen am 15.10. 2008.

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Für sich genommen wäre die Errichtung eines Kondominats nichts besonde-res gewesen, solche Fälle kamen in der frühen Neuzeit immer wieder vor.16 Fol-genschwer wurde jedoch die fast zeitgleiche Konversion der Prätendenten weg vom Luthertum und hin zum Katholizismus und Calvinismus.17 Die Vorstellung einer gemeinschaftlichen Herrschaft manifestierte sich darin, dass beide Fürsten im jeweils anderen Landesteil die Rolle als konfessionelle Schutzmacht übernah-men. Diese Entwicklung fasste Brigitte Duda pointiert zusammen: „In Gegensatz zu den übrigen deutschen Territorien bestand am Niederrhein kein landesherrli-ches Kirchenregiment, sondern nur ein zwischen den beiden Regierungen vertraglich festgelegter Schutz, unter dem die evangelischen Kirchen ihre Ver-fassung im großen und ganzen ungestört durch obrigkeitliche Eingriffe entwi-ckeln konnten“18.

Die Organisation sei kurz geschildert: Auf der Duisburger Synode von 1610 beschlossen die reformierten Geistlichen der Herzogtümer Jülich, Kleve, Berg und der Grafschaft Mark den institutionellen Zusammenschluss in Form einer überterritorialen Generalsynode.19 Ähnlich wie die katholische Organisation griff also auch die reformierte über die Grenzen eines Territoriums hinaus. Das war im Heiligen Römischen Reich eine seltene Ausnahme, üblich war die an den Landesgrenzen haltmachende, obrigkeitlich ausgerichtete Landeskirche mit einem Konsistorium an der Spitze. Ähnlich wie Gemeinden der klevischen Erb-lande handelten noch die Gemeinden in Issum, Rheinberg und im Raum Aachen, die sich der niederländischen Kirche anschlossen und damit Herrschaftsgrenzen überschritten.

Diese reformierte Generalsynode gliederte ihren Geschäftsbereich auf Basis der einzelnen Herrschaftsgebiete und bildete daher Provinzialsynoden. Vorsitz 16 Das wohl berühmteste Kondominium bildete die Hintere Grafschaft Sponheim im südlichen

Rheinland. Vgl. Winfried Dotzauer, Geschichte des Nahe-Hunsrück-Raumes von den Anfängen bis zur Französischen Revolution. Stuttgart 2001.

17 Martin Lackner geht davon aus, dass ein rheinischer Reformierter, Otto Heinrich von Bylandt, maßgeblich zur Entscheidung Johann Sigismunds zum Calvinismus zu konvertieren, beigetragen hat. Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfürsten. Witten 1973 (UKG 8), S. 42-43 – Zur Konversion Wolfgang Wilhelms siehe Eric-Oliver Mader, „… wegen unserer conversion Irr und Perplex gemacht“: Wahrnehmungen, Darstellungen und Vorbedingungen der Konversion des Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm von der Pfalz-Neuburg zum Katholizismus. In: Düsseldorfer Jahrbuch 75 (2005), S. 109-141 – Ders., Die Konversion Wolfgang Wilhelms von Pfalz-Neu-burg: Zur Rolle von politischem und religiös-theologischem Denken für seinen Übertritt zum Katholizismus. In: Ute Lotz-Heumann, Jan-Friedrich Mißfelder u. Matthias Pohlig (Hg.), Kon-version und Konfession in der Frühen Neuzeit. Gütersloh 2007 (SVRG 205). Dort auch: Dies., Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit: Systematische Fragestellungen, S. 11-32.

18 Duda, Organisation (wie Anm. 12), S. 4. 19 Zur Generalsynode siehe Dietrich Meyer, Die Generalsynode von 1610 in Duisburg. In: Werner

Pöhling (Red.), Die Macht der Schrift: 5000 Jahre Medien und ihre Wirkung. Begleitband zur Ausstellung Die Macht der Schrift – 5000 Jahre Medien und Ihre Wirkung. Kultur- und Stadthis-torisches Museum Duisburg, 13. Mai bis 30. September 2001. Duisburg 2001, S. 66-67 – Auch: Peter Bockmühl, Gedenkbuch zur 300jährigen Gedächtnisfeier der ersten, in Duisburg am 7. bis 10. September 1610 gehaltenen Generalsynode der reformierten Gemeinden in den Herzogtü-mern Jülich, Cleve und Berg: 1610-1910. Duisburg 1910.

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führte ein regelmäßig gewähltes, Moderamen genanntes vierköpfiges Leitungs-gremium. Jede dieser Provinzialsynoden untergliederte sich in mehrere Klassen, die sich wiederum aus den Einzelgemeinden zusammensetzten. Bei ihnen führte ein jährlich alternierender Inspektor den Vorsitz. Jede Einzelgemeinde wurde von einem Konsistorium genannten Presbyterium, eigenständig geleitet. Auf lutherischer Seite fehlte das einigende Band der Generalsynode, doch ansonsten war die Organisation sehr ähnlich. Ein Unterschied bestand etwa darin, dass die Inspektoren in der Regel für längere Zeit amtierten und teilweise von der bran-denburgischen Obrigkeit ernannt wurden. Im übrigen aber verwalteten die Kir-chen ihre Angelegenheiten weitgehend selbst.

Hier tritt sie uns deutlich entgegen, die Vorstellung einer „Freikirche“, wie sie Victor Bredt und Reinhold Brämik in ihren grundlegenden Werken zur Rechtsgeschichte der niederrheinischen Kirchen darlegten:20 Der Landesherr verfügt nur über geringe Einflussrechte, die Kirchen sind weitgehend autonom. Dieser Blickwinkel bestätigt sich durchaus durch zeitgenössische Urteile, vor allem für die Herzogtümer Jülich und Berg, die unter die katholische Dynastie der Wittelsbacher gelangten. In einem anonymen Artikel im ‚Neuen Westphäli-schen Magazin zur Geographie’ hieß es 1791: „Die kirchliche Verfassung der Evangelischreformirten Gemeinen dieser Länder ist gänzlich nach dem Muster der presbyterianischen Kirchen in den vereinigten Niederlanden und Schottland, wie auch der ehemals in Frankreich geblüht habenden reformirten Gemeinen, gebildet.“21 Der reformierte Pfarrer Johann Wilhelm Engels schrieb 1816: „In den zum Herzogthum Jülich gehörenden Pfarrern war der Landesherr nicht Pa-tron, und die Verfassung der Gemeinden war fast durchaus republikanisch“22. Mehr noch: „Die Regierung des Jülichschen in Düsseldorf musste [den] Urteilen und Aussprüchen [der Synoden] sogar Krafft geben, ohne sich darum beküm-mern zu dürfen, ob recht oder unrecht geurtheilt war“23.

Gegen diese Bewertung des frühneuzeitlichen Protestantismus am Nieder-rhein als „Freikirche“ verwahrte sich Martin Lackner auf der Suche nach einem absolutistischen Machtstaat.24 Nicht nur bestand im Fürstentum Moers auch nach 20 Johann Victor Bredt, Die Verfassung der reformierten Kirche in Cleve-Jülich-Berg-Mark.

Neukirchen-Vluyn 1938 (BGLRK 2) – Reinhold Brämik, Die Verfassung der lutherischen Kir-che in Jülich-Berg, Cleve-Mark-Ravensberg in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Düsseldorf 1964 (SVRKG 18).

21 Anonym, Einige Nachrichten von der kirchlichen Verfassung der Evangelischreformirten Gemeinen in den vier vereinigten Ländern Jülich, Cleve, Berg und Mark, wie auch im Fürs-tenthum Mörs und in der Grafschaft Limburg, vom Jahre 1791. In: Neues Westphälisches Maga-zin zur Geographie, Historie und Statistik 2 (1791), H. 8, S. 289-296, hier: S. 289.

22 Albert Rosenkranz, Kirchenverhältnisse der Konsistorialkirche vor 1816. In: MEKGR 36 (1942), S. 122-128, hier: S. 124.

23 Ebd. 24 Martin Lackner, Preußische Kirchenpolitik am Niederrhein im 17. und 18. Jahrhundert. In:

MEKGR 31 (1982), S. 133-142, hier: S. 137-139 – Zur Debatte um den Begriff Absolutismus siehe die Zusammenfassungen bei Anna Bernard, Die Revokation des Edikts von Nantes und die Protestanten in Südostfrankreich (Provence und Dauphiné), 1685-1730. München 2003 (Pariser

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der Übernahme durch Preußen 1702 die Oranische Kirchenordnung und damit eine stärker auf den Landesherren ausgerichtete Organisation, gleichwohl das Fürstentum zugleich eine reformierte Klasse bildete. Während die Generalsyn-ode in Jülich-Berg 1654 die Anerkennung einer Kirchenordnung erreichte, dau-erte es in Kleve-Mark noch einige Jahre, bis endlich 1662 eine zugunsten landes-herrlicher Rechte abgeänderte Kirchenordnung durch den Kurfürsten erlassen wurde. Auf lutherischer Seite zogen sich parallele Entwicklungen bis in die 1680er Jahre hin. Zudem richtete der brandenburgische Kurfürst einen Aerarium ecclesiasticum ein, der Gehaltszuschüsse für den reformierten Klerus zahlte.25 Ferner übernahm Brandenburg die Kosten für die Tagung der reformierten Gene-ralsynode. In materiellen Fragen bestand damit eine erhebliche Abhängigkeit der kleve-märkischen Kirchen vom brandenburgischen Landesherrn. Die reformierte Kirche in Kleve-Mark sei damit zu einem bloßen Instrument für die Regierung geworden, das nicht einmal über eigene Rechtsfähigkeit verfügte, weil es sich keine eigene Ordnung habe geben können. Diese Lage hat Martin Lackner da-hingehend interpretiert, dass die Kirche eher nach konsistorialen Prinzipien ge-leitet worden sei.26 Er zeichnete das Bild einer reformierten Kirche, die unter einem „ständigen Abbau der synodalen Einflussrechte“27 zu leiden hatte, weil hier ein starker „Druck in Richtung Absolutismus“28 bestanden habe. Somit lag im niederrheinischen Protestantismus eine Scheidung im Detail entlang der Grenzen zwischen hohenzollernschen und wittelsbachischen Territorien vor, wenngleich die Organisationsform als Synoden Konsens war.

Gewiss mag die größere materielle Abhängigkeit für Kleve-Mark zutreffen, in gewisser Weise auch für das Fürstentum Moers, das sich an die Provinzialsyn-oden anlehnte. Mindestens aber für Jülich und Berg muss man bei Pfarrern das Bewusstsein konstatieren, in einer Kirche zu wirken, die ihre Angelegenheiten autonom erledigte. Auch die Pfarrer aus Kleve und Mark sahen die „freiere“ jülich-bergische Kirchenordnung insofern als bindend an, als sie auf der General-synode keine Schwierigkeit damit hatten, diese „gemeine Ordnung“ alle drei Jahre neu zu unterzeichnen und damit anzuerkennen.

Historische Studien 59), S. 3-8 und Heinz Duchhardt, Barock und Aufklärung. München 2007 (Grundriss der Geschichte 11), S. 169-176.

25 Heinrich Engelbert, Das Aerarium ecclesiasticum der reformierten Kirchen in Kleve, Mark, Jülich und Berg. Düsseldorf 1966 (SVRKG 21).

26 Lackner, Preußische Kirchenpolitik (wie Anm. 24), S. 139. 27 Ebd. 28 Ebd. S. 137.

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b) Theologiegeschichtlich

1775 kam es in Moers zu einem Eklat.29 Der reformierte Prediger Jonas Heil-mann setzte sich in einer Predigt mit der Frage auseinander, ob ein Mensch, der eine Sünde begangen hatte, den Zorn Gottes erregt habe und ob reuige Einsicht eine Aussöhnung zwischen Gott und Mensch ermöglichen könne. Er bestritt die erste Frage durch die Analogie mit dem weltlichen, absoluten Landesherrn. We-der Gott noch Landesherr seien Tyrannen, die willkürlich straften, um Ordnung und Gerechtigkeit zu erzielen, sondern aus Liebe eingriffen zum Wohl des Men-schen. Durch seine Fähigkeit, Einsicht in Sünden und Fehlverhalten zu haben, sei zudem die Sünde eines Menschen eine vom fehlgeleiteten Willen verur-sachte, mithin akzidentielle Eigenschaft und eben keine anthropologische Kon-stante.

Die Pfarrer der Moerser Klasse warfen daraufhin Jonas Heilmann vor, Gott zu vermenschlichen. Sie wollten den alttestamentarisch-strafenden und rächen-den Charakter Gottes betont wissen, weil eine Sünde die Heiligkeit und Liebe Gottes beleidige. Die in den Aufklärungstheologien30 unterstrichene Besserungs-fähigkeit des Menschen, seine Perfektibilität, bestritten die orthodoxen refor-mierten Prediger vehement. Die Klasse Moers erkannte sie nur für die nach der Prädestinationslehre Auserwählten an. Die Mehrheit der Pfarrer der reformierten Synode Moers stand für das bewusste Festhalten an konfessionellen Grundsät-zen, die Einflüssen aufgeklärter Theologien ebenso distanziert gegenüberstanden wie pietistischen Strömungen.31 Vertreter einer solchen Anschauung bezeichnete der Kirchenhistoriker Friedrich-Wilhelm Krummacher als „gemäßigte Ortho-doxe“ im Gegensatz zu Aufgeklärten, Pietisten oder Erweckten.32 Bredt ergänzt: „Vom Geiste der Aufklärung war bei den dortigen Predigern so gut wie nichts zu spüren“.33 Tatsächlich untersagte die Klasse den Druck der Predigt, der jedoch 29 Der Predigttext bei Engelbert vom Bruck, Etwas von dem Werth der Symbolen, zur Beförderung

der Toleranz. Krefeld 1777. Siehe auch die Rezension in: Allgemeine deutsche Bibliothek 33 (1778), 2, S. 600-602.

30 Jan Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. 1: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert. Tübingen 1997, S. 210-218 – Allgemein Wolfgang Gericke, Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 1989 (KGE 3/2) – Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutsch-land. Göttingen 2006 (Die Kirche in ihrer Geschichte, Lieferung O2/4).

31 1787 beschwerte sich Pfarrer Mische aus Kapellen vor der Klasse Moers über Pietisten in seiner Gemeinde, doch lehnte die Mehrheit der Klasse ein Verbot oder eine Bestrafung der „Stillen im Lande“ ab, vgl. Klaus Müller, Moers in preußischer und französischer Zeit (1702-1815). In: Margret Wensky (Hg.), Moers. Die Geschichte der Stadt von der Frühzeit bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von der preußischen Zeit bis zur Gegenwart (ab 1702). Köln/Weimar/Wien 2000. S. 1-143, hier: S. 123.

32 Friedrich-Wilhelm Krummacher, Gottfried Daniel Krummacher und die niederrheinische Erwe-ckungsbewegung zu Anfang des 19. Jahrhunderts. Berlin/Leipzig 1935 (AKG 24).

33 Bredt, Verfassung (wie Anm. 20), S. 309 – Dass diese Einschätzung eine retrospektive Wertung ist, zeigt die grobe Polemik bei Pfarrer Karl Krafft, Kritischer Ueberblick über die auf die Ge-schichte der evang. Kirche, ihrer Gemeinden und hervorragenden Persönlichkeiten im Gebiete des Niederrheins sich beziehende Literatur der letzten Jahrzehnte. In: Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Prediger-Verein 3 (1877), S. 66-148, hier: S. 75.

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auf Insistieren Engelberts vom Bruck, eines aufgeklärten Krefelders, dennoch besorgt wurde.

Eine ähnliche Situation herrschte im Herzogtum Jülich. Dort durfte 1777 der Vikar der lutherischen Gemeinde in Stolberg, Magister Steinmetz aus Straßburg, sich nicht zur Pfarrerwahl stellen, weil er radikal-aufklärerische Auffassungen vertrat. Gewählt wurde schließlich Johannes Reisig aus Amsterdam, der eben-falls über höhere akademische Weihen verfügte und daher durchaus als adäqua-ter Ersatz für Magister Steinmetz dienten konnte.34

Die Generation der in den 1790er und 1800er Jahren aktiven Pfarrer imma-trikulierte sich gerade in den späten 1770er Jahren an der Universität Duisburg, die die Landesuniversität de jure für Kleve-Mark-Moers und de facto auch für Jülich-Berg war.35 Die Prediger Johann Arnold von Recklinghausen (immatriku-liert 1775), Johann Heinrich Höfer (imm. 1778), Friedrich Carl Grimm (imm. 1778), Arnold König (imm. 1779) und Heinrich Simon van Alpen (imm. 1779) standen unter dem prägenden Einfluss der beiden rationalistischen Professoren Peter Berg und Heinrich Adolph Grimm.36 In den frühen 1790er Jahren arbeitete ein Kreis um den angesehenen Frechener Pfarrer Johann Andreas Gottfried Charlier, bestehend aus Höfer, von Recklinghausen und van Alpen gemeinsam mit dem in Heidelberg ausgebildeten Johann Heinrich Diergardt einen rationalis-tisch geprägten „Anhang zur Kirchen-Agende“ aus und publizierten ihn 1794.37 Später machten die frühen evangelischen Kirchenhistoriker wie Karl Krafft ih-nen das zum Vorwurf.38

Generell dominierte am Niederrhein bis ins ausgehende 18. Jahrhundert hin-ein ein betont konfessionelles Christentum. Während der Pietismus weitgehend eine Laienbewegung war,39 stellte die aufgeklärte Theologie eine intellektualisie-rende Spielart des Glaubens dar, die ebenfalls nicht recht Anklang zu finden schien. Erst in den 1780er Jahren änderte sich die Situation.

Die erwähnten Männer fanden ihre ersten Anstellungen, zugleich wandelten sich aber auch die äußeren Verhältnisse. Mit Macht drang nun auch auf katholi-scher Seite die Aufklärung vor: Protestanten wurden in Kurmainz faktisch an der

34 Hermann Kelm, Die Lutherische Kirche von Jülich-Berg: Synoden und Konvente 1701 bis 1812.

Köln 2001 (SVRKG 151), S. 286, Anm. 5. 35 Stefan Flesch, Die Ausbildung rheinischer Pfarrer an der Universität Duisburg. In: Duisburger

Forschungen 53 (2007), S. 125-141, hier: S. 127 ff. 36 Etwa Leo Peters, Heinrich Simon van Alpen (1761-1830). In: Rheinische Lebensbilder 13

(1993), S. 73-96, hier: S. 92. 37 Anhang zur Kirchen-Agende der Evangelisch-Reformirten Gemeinen in den vier vereinigten

Ländern Jülich, Kleve, Berg und Mark, gesammelt von der Jülichschen Synode und herausgege-ben mit Genehmhaltung einer Hochehrwürdigen General-Synode der obgedachten vereinigten Länder. Mülheim a. Rhein 1794.

38 Krafft, Kritischer Ueberblick (wie Anm. 33), S. 75. 39 J.F. Gerhard Goeters, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhun-

dert. In: Martin Brecht (Hg.), Geschichte des Pietismus. Bd. 2, Göttingen 1995, S. 372-427, hier: S. 373.

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Universität toleriert. 1781 ordnete Kaiser Joseph II. in einem Toleranzpatent die konfessionelle Freiheit seiner Untertanen an – für die Rheinlande hieß das vor allem in Eupen, Kirschseiffen, Monschau und anderen Eifelgemeinden. Im Okto-ber 1783 erfolgte ein begrenztes Toleranzedikt in Kurtrier.40 Selbst in den Reichsstädten Aachen und Köln sah es kurzzeitig so aus, als könne auf evoluti-vem Wege die Religionsfreiheit erreicht werden.41

Als der französische Einmarsch erfolgte, befanden sich an mehreren Orten Theologen in Führungspositionen, die Aufklärung grundsätzlich positiv bewerte-ten und auch für ihre Verbreitung eintraten. Dies gilt etwa für Jonas Heilmann als Inspektor der Klasse Krefeld oder Johann Andreas Gottfried Charlier42 als Inspektor der ersten Klasse im Herzogtum Jülich.

INVASIONSERFAHRUNGEN

Die eigentlichen Kampfhandlungen erlebte das nördliche Rheinland insgesamt nur sehr kurz und heftig. Nach dem französischen Sieg bei Fleurus am 26. Juni 1794 eröffnete General Jean-Baptiste Jourdan mit der Sambre-Maas-Armee die Offensive. Bereits Ende September nahm er Aachen ein. Die letzten schweren Gefechte in der Region fanden am 2. und 3. Oktober zwischen Jülich und Lin-nich statt. In deren Umfeld zerstörten die österreichischen Verteidiger den Rurü-bergang, wobei die gesamte reformierte Infrastruktur des Ortes vernichtet wur-de.43 Am 6. Oktober nahmen die Franzosen Köln ein, es folgten binnen weniger Tage Bonn, Krefeld, Moers und zuletzt am 19. Oktober Kleve. Damit befand sich das gesamte nördliche linke Rheinufer unter ihrer Kontrolle.

Die ersten Einwirkungen auf das kirchliche Leben hatte es bereits 1792 ge-geben, als hannoveranische Truppen die reformierte Kirche in Goch zum Laza-rett umfunktionierten.44 Ähnlich rigorose Maßnahmen trafen auch die Revoluti-

40 Abdruck bei Joseph Hansen (Hg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der

Französischen Revolution 1780-1801. 4 Bde., Bonn 1931-1938 (ND Düsseldorf 2004) (PGRGK), Bd. 1, S. 27-29.

41 Horst Carl, Die Aachener Mäkelei 1786-1792. Konfliktregelungsmechanismen im alten Reich. In: ZAGV 92 (1985), S. 103-187 – Zu Köln siehe Brigitte Becker-Jákli, Die Protestanten in Köln. Die Entwicklung einer religiösen Minderheit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Köln 1983 (SVRKG 75) – Klaus Müller, Köln von der französischen zur preußi-schen Herrschaft 1794-1815. Köln 2005 (Geschichte der Stadt Köln 8) – Zusammenfassend bei J.F. Gerhard Goeters, Neubegründung evangelischer Gemeinden in der Rheinprovinz während der Franzosenzeit. In: MEKGR 39 (1990), S. 19-35.

42 Zu Charlier s. Johann Andreas Gottfried Charlier, Geschichte und Nachrichten der Evangelisch-Reformirten Gemeine zu Frechen – Geschichte und Nachrichten der Evangelisch-Reformierten Gemeine zu Kölln am Rhein von 1545 bis 19. May 1805. Mit einer Auswahl von Briefen und Aufzeichnungen hg. v. Ferdinand Magen. Bonn 2005 (SVRKG 167)

43 Hansen, Quellen (wie Anm. 40), Bd. 3, S. 254-256 – Hans Kramp, Kantonshauptstadt Linnich, ein Höhepunkt in der Stadtgeschichte. In: Leo Dolfen (Hg.), Linnich im Wandel der Zeiten. Lin-nich 1992, S. 80-123, bes. S. 82-83.

44 AEKR Düsseldorf 4KG 055 (Kirchengemeinde Goch) Nr. 51, fol. 3-6 – Vgl. hierzu Peter Oet-ken, 300 Jahre Evangelische Kirche am Markt zu Goch. Goch 2000, S. 47.

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onstruppen, als sie Kirchen zu Lagerräumen, Magazinen, Exerzierplätzen oder Bäckereien umwandelten, wie dies aus Goch,45 Kleve,46 Moers,47 Kalkar,48 Gel-dern49 und Krefeld50 berichtet wird. Alle diese Gemeinden befanden sich in den preußischen Besitzungen, was der Idee Raum gibt, es könne sich dabei um eine gezielte Kriegsmaßnahme gehandelt haben. Diese muss allerdings abgelehnt werden, denn zahlreiche andere protestantische Gemeinden in den eroberten Landen zwischen Maas und Rhein verfügten über gar keine eigene Kirche. In Jülich, Linnich und Mörmter51 waren die Gebäude kriegsbedingt zerstört wor-den, in Hünshoven war die 1790 niedergebrannte Kirche noch nicht wieder aufgebaut worden. Die Gemeinden in Aachen und Köln besaßen überhaupt keine eigenen Gebäude, sondern wurden von auswärtigen Predigern betreut. So stellte sich an vielen Orten schlichtweg gar nicht erst die Frage, ob protestantische Kirchen zweckentfremdet werden sollten.

Zwei Folgen sollen allerdings näher erläutert werden. Mit dem Heranrücken der französischen Soldaten verlegte die preußische Regierung die klevische Lan-desverwaltung auf das rechte Rheinufer. Hinter dieser schlichten Formulierung verbirgt sich eine Migrationsbewegung, die den evangelischen Gemeinden schwer zu schaffen machte, gleichwohl es sich in absoluten Zahlen nur um eini-ge hundert Personen gehandelt haben dürfte. Damals verließen preußische Be-amte, die mit ihren Familien oftmals Glieder der reformierten französischen oder deutschen Gemeinden waren, die Region. Das demographische Problem, das sich daraus ergab, führte beispielsweise in Kleve zur Selbstauflösung der franzö-sisch-reformierten Gemeinde im Jahr 1803.52 In Moers konnte die lutherische Gemeinde keinen Pfarrer mehr unterhalten,53 auch in Geldern sah dies ähnlich aus. Dort waren sowohl die reformierte als auch die lutherische Gemeinde so stark von Mitgliederschwund betroffen, dass sie nur noch gemeinschaftlich einen Pfarrer anstellen konnten, wie sie dies 1808 vereinbarten.54

45 Oetken, 300 Jahre (wie Anm. 44), S. 48. 46 Gustav von Velsen, Die Stadt Kleve, ihre nächste und entferntere Umgegend, vormals und jetzt:

Mit besonderer Berücksichtigung des Alterthümlichen nebst der Mineralquelle im Thiergarten. Kleve/Leipzig 1846, S. 117 f.

47 Otto Ottsen, Die Geschichte der Stadt Moers. 3 Bde., Moers 1950 (ND 1977), S. 181-182. 48 Albert Rosenkranz, Das evangelische Rheinland. 2 Bde., Düsseldorf 1956-1958 (SVRK 3 und

7), hier: Bd. 1, S. 313. 49 Ebd. S. 308. 50 Werner Mohn, Die Geschichte der lutherischen Gemeinde in Krefeld (1729-1821). Köln 1998

(SVRKG 133 – Krefelder Studien 10), S. 145 ff. 51 Paul Mast, Geschichte der Kreissynode Moers. Moers 1955-1965, hier: Moers 1963, Bd. 1, H. 8,

S. 608. 52 Walther Bösken, Die französische Gemeinde zu Cleve. In: MRKG 4 (1910), S. 161-191, hier:

S. 185 ff. 53 Müller, Moers (wie Anm. 31), S. 125. 54 Siehe dazu Goeters, Neubegründung (wie Anm. 41), S. 32 ff.

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Diese Notsituation trug mit dazu bei, interkonfessionelle Hilfe aufleben zu lassen. So bot Jonas Heilmann seinem lutherischen Kollegen Johann Heinrich Nesselrath in Krefeld an, die reformierte Kirche zu benutzen, da die eigene be-schlagnahmt war. Allerdings zeigte er sogleich die Grenzen auf: Das Abendmahl durfte nicht nach nichtreformiertem Ritus ausgeteilt werden.55 Dieses wech-selseitige Angebot schloss auch die dortige Mennonitengemeinde mit ein.56 Nicht abgeschwächtes konfessionelles Bewusstsein näherte die Konfessionen einander an, sondern äußerer Druck.

Die Besatzungszeit erlebten Pfarrer auch als schmerzliche Einbuße an ihrem eigenen Geldbeutel. Im Bereich der späteren Konsistorialkirche Moers lagen die Gehaltsverluste einer Statistik aus dem Jahr 1809 zufolge durchschnittlich bei 70% des Einkommens. Der Moerser Pfarrer Johann Heinrich Diergardt verlor 88% seiner Emolumente, während der Budberger Prediger Wilhelm Gottfried Roß lediglich rund 18% einbüßte. Als seinem Kollegen Peter Gisbert Faber nach dessen altersbedingter Amtsniederlegung die Gemeinde nur eine Art Taschen-geld zahlen wollte, äußerte sich Roß verärgert darüber, Faber „mit einer solchen Nachtwächterpension abzuspeisen“. Aber: „Aber so sind die Bauern. Kyrie elei-son!“57

Prediger Hermann Gempt verlor sein Einkommen vollständig und musste bis 1805 auf Kredit leben. Das lag allerdings weniger an den nicht mehr gezahlten Leistungen seiner kleinen und armen Gemeinde Rheinberg. Vielmehr bezog er bislang sein Gehalt aus einem Fonds niederländischer Gemeinden, denen Rhein-berg assoziiert war. Nach 1798 war jeglicher Kontakt in dieser Hinsicht unter-sagt.58

Auch verloren Pfarrer weiterhin Einkünfte, als die kirchliche Registratur nicht mehr obligatorisch, sondern dem Zivilstand zugewiesen war. Damit ent-fielen partiell auch die Kasualgebühren, die teilweise einen wichtigen Beitrag zum Pfarrgehalt ausmachten. Zugleich verloren Pfarrer mit dieser faktisch hoheitlichen Aufgabe auch an Ansehen in der Bevölkerung, denn man war ja nun nicht mehr gezwungen, die Trauung durch einen Geistlichen vollziehen zu las-sen.

Die Invasion und die Besatzungszeit erlebten Pfarrer als eine Zeit, in der ihr Sozialprestige und ihr eigenes Vermögen angetastet und in Frage gestellt wurde. Pfarrer Maximilian Friedrich Scheibler aus Monschau fasste es rückblickend so 55 Mohn, Krefeld (wie Anm. 50), S. 145. 56 Ebd. S. 148 – Speziell zur Geschichte der Krefelder Mennonitengemeinde vgl. den Tagungsband

400 Jahre Mennoniten in Krefeld. Referate vom 26.-28. Oktober 2007 (Mennonitische Ge-schichtsblätter 65 (2008)). Zu allgemeinen Tendenzen in der französischen Zeit siehe Andreas Becker, Die rheinischen Mennoniten und die Französische Revolution. In: MEKR 55 (2006) S. 253-263.

57 Alle Zitate bei Hans-Wilhelm Rahe, Bischof Ross. Vermittler zwischen Rheinland-Westfalen und Preußen im 19 Jahrhundert. Köln 1984 (SVRKG 77), hier: S. 95.

58 Mast, Kreissynode (wie Anm. 51), Moers 1965, Bd. 2, H. 2, S. 66.

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zusammen: „Abgeschafft, das lässt sich nicht läugnen, abgeschafft war das Chri-stenthum in unserm Vaterlande“59.

REAKTIONEN AUF DIE NEUE SITUATION

Wie reagierten nun Pfarrer und kirchliche Institutionen auf die neue Situation? Sie reagierten erstaunlich flexibel. Im Gegensatz etwa zu den oberrheinischen Territorien existierte am Niederrhein kein Oberkonsistorium, dessen Funktionsfähigkeit durch die Invasion beeinträchtigt worden wäre. Nach der Aufhebung des Zweibrücker Oberkonsistoriums und dem Kontaktverbot mit dem Heidelberger Kirchenrat entwickelte sich ein Kirchenwesen, das auf einer Konventsbewegung basierte.60 Dort erreichten die protestantischen Kirchen erst mit der Revolution einen „gesetzlich fundierten, teilautonomen Status“61. Dieser Zustand hatte im nördlichen Rheinland bereits vor der Revolution existiert und sollte bewahrt werden. Allein diese Ausgangslage erklärt die grundsätzlich un-terschiedliche Haltung der Geistlichen der beiden verschiedenen Regionen be-züglich des Liberalismus im Vormärz.62

Es lässt sich im Untersuchungsgebiet eine Autoritarisierung des Kirchenwe-sens feststellen. Jonas Heilmann befand: „Die Gemeinden werden gesetzlose Horden und die Lehrer und sogenannten Prediger des Evangeliums zu feilen Waren einiger stolzpharisäischer Unruhestifter“63. Da jedermann „glaubte, den Predigern alles zumuten zu dürfen“, wie Matthias Daubenspeck aus Homberg bei Moers konstatierte,64 war es nur folgerichtig, wenn Wilhelm Gottfried Ross forderte, das Mitspracherecht der Laien einzuschränken.65

Ohnehin traten seit Beginn der französischen Besetzung keine Synoden, we-der auf Ebene der Klassen noch der Provinzen, mehr zusammen. Die Inspektoren der Klassen amtierten permanent. Sie hielten die kirchliche Organisation auf-recht, indem sie wie etwa der Frechener Inspektor Charlier weiterhin Examina von Kandidaten abnahmen.66 Ähnliches galt für den Krefelder Inspektor Jonas

59 Maximilian Friedrich Scheibler, Zweite Predigt bei erlangter freier Religionsübung der beiden

protestantischen Gemeinen in Cöln. Köln 1802, S. 5. 60 Erich Schunk, Französische Revolution und pfälzischer Protestantismus. St. Ingbert 1992 (Saar-

brücker Hochschulschriften 19), S. 289-307. 61 Ebd. S. 369. 62 So zumindest die grundsätzliche These bei Schunk. 63 Abdruck eines Briefes bei Mast, Kreissynode (wie Anm. 51), Moers 1964, Bd. 2, H. 1, S. 17. 64 Wilhelm Rotscheidt, „Wie kann die Verbeßerung des Gottesdienstes am zweckmäßigsten erwirkt

werden?“ Eine Antwort aus der Zeit der Fremdherrschaft (1801). In: MRKG 4 (1910), S. 301-313, hier: S. 305.

65 Rahe, Bischof Ross (wie Anm. 57), S. 247 ff. 66 Ferdinand Magen, Die Erste Klasse der Jülicher Provinzialsynode am Ende des Alten Reichs. In:

MEKR 55 (2005), S. 232-252, hier: S. 248-249.

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Heilmann.67 Die Spitzenpositionen in dieser kritischen Phase waren von Män-nern ausgefüllt, die Vertreter aufgeklärter Vorstellungen waren.

Alle Inspektoren bemühten sich darum, dass Pfarrerwahlen nach dem Herkommen durchzuführen seien. Das hieß, dass der Inspektor oder ein von ihm bestimmter Nachbarpfarrer die Wahlen zu leiten hatte.68 Damit versuchten die Inspektoren der seit 1795 gültigen Regelung einer freien Gemeindewahl die traditionellen Formen aufzuprägen und damit weiterhin den Einfluss auf die Vergabe von Pfarrstellen und damit von Einkünften zu haben. Da nur der In-spektor bzw. der wahlleitende Pfarrer und maximal zwei Kirchenvorsteher die Wahlergebnisse kannten, bot sich durch die herkömmliche Durchführung der Wahl die Möglichkeit, die Wahlen zu beeinflussen. Der damit verbundene Aspekt der Patronage ist nichts verwerfliches, sondern typisches Merkmal früh-neuzeitlicher Lebenswelt. Eine konsequente Interpretation in diesem Sinne böte auch eine Erklärung dafür, dass trotz Gemeindewahlrecht, wie auch immer die-ses im Detail ausgestaltet war, zahlreiche Pfarreien über Generationen hinweg in den Händen ein und derselben Pfarrerfamilie waren. Beispielsweise waren Frie-mersheim, Baerl, Homberg, Vluyn und Krefeld gerade im späten 18. Jahrhundert faktisch im „Besitz“ einer Pfarrerdynastie. Für präzise Aussagen fehlen jedoch Studien aus verflechtungstheoretischer Sicht.

Pfarrer reagierten allerdings nicht nur strikt bewahrend, sondern arbeiteten auch aktiv am Aufbau einer neuen Gesellschaft mit. In Moers saß Heinrich Dier-gardt im Stadtrat,69 in Linnich war sein Freund Heinrich Höfer sogar Munizipial-präsident. Beide hatten mit Charlier und anderen am schon erwähnten „Anhang zur Kirchen-Agende“ von 1794 gearbeitet. In Schwanenberg amtierte ihr ge-meinsamer Freund Johannes Lauffs als Pfarrer und Gemeinderat.70 Hingegen war der Stolberger Lutheraner Johannes Reisig Mitglied des Konsistutionellen Zirkels in Aachen, der für den Anschluss an Frankreich eintrat.71 Das sind nur einzelne Beispiele für die Mitarbeit im neuen Staatswesen. Obgleich die Mehr-heit der Pfarrer abwartete, war eine Minderheit bereit dazu, sowohl geistliche als auch weltliche Verantwortung zu übernehmen.

KIRCHE UND STAAT

Im letzten Abschnitt soll nun ein Blick geworfen werden auf die Einschätzung von Staat und Kirche aus geistlicher Sicht. Als Beispiel wird die 1801 von Mat-thias Daubenspeck im Namen der reformierten Pfarrer der Kantone Moers und 67 Mast, Kreissynode (wie Anm. 51), hier: Moers 1963, Bd. 1, H. 8, S. 606 f, 633. 68 Zum Pfarrerwahlrecht Bredt, Verfassung (wie Anm. 20), S. 118-121 – Brämik, Verfassung (wie

Anm. 20), S. 169-170. 69 Mast, Kreissynode (wie Anm. 51), hier: Moers 1963, Bd. 1, H. 8, S. 620 – Ottsen, Moers (wie

Anm. 47), S. 215. 70 Gustav Voss, Schwanenberg 1558-1958. Schwanenberg 1958, S. 13. 71 Hansen, Quellen (wie Anm. 40), Bd. 4, S. 539.

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Rheinberg, also in etwa des ehemaligen Fürstentums Moers, verfasste Denk-schrift dienen.

Bereits in der Frühphase der Französischen Revolution erlangten Protestanten die Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger mit freier Religionsaus-übung. Im Dezember 1789 erreichten protestantische Lobbyisten von der Natio-nalversammlung die Anerkennung evangelischen Kirchenvermögens als Privat-vermögen. Damit entzogen sie dem Staat die Zugriffsmöglichkeit, die er auf die Besitztümer der stark mit dem spätabsolutistischen französischen Staat ver-flochtenen katholischen Kirche hatte.72

Auch die protestantischen Kirchen gerieten in der Zeit der Jakobinerherr-schaft 1793/94 mit dem revolutionären Staat in Konflikt. Als Resultat erfolgte im Februar 1795 ein Gesetz zur Trennung von Staat und Kirche. Es besagte unter anderem, dass die Regierung keine Pfarrer besoldete, keine Gebäude für religiöse Zeremonien vermietete und religiöse Feierlichkeiten nicht in der Öffentlichkeit stattfinden dürften. Auch wenn der Nutzen für die Kirchen eher mager war, so waren doch mit diesem Gesetz die Verhältnisse einigermaßen geklärt: Es setzte eine Phase der Stabilisierung im Bereich der Kirchenpolitik ein.

In den Rheinlanden wurden diese Regelungen erst nach der Einführung der Departements als Verwaltungseinheit ab dem Sommer 1798 implementiert. Da-mit entstand ein System, das den vorrevolutionären Zuständen gar nicht so fremd war. Auch im Ancien Régime existierten Landesherr und protestantische Kir-chen, namentlich in Jülich-Berg, nebeneinander her. Hier wie dort waren die Einflussmöglichkeiten des Landesherrn relativ begrenzt. Nur bot das französi-sche Gesetz von 1795 keine materielle Absicherung, wie sie etwa die preußische Regierung oder die niederländischen Gemeinden boten. Im Grunde genommen handelte es sich um die weltliche Interpretation der Zwei-Regimenten-Lehre. Und als solche verstanden Pfarrer sie auch.

Im Frühjahr 1801 nutzte Matthias Daubenspeck eine Umfrage des Unterprä-fekten Johannes Jakobus Bouget in Krefeld, um ihm seine Vorstellungen über Staat und Kirche auseinanderzusetzen. Bouget hatte lediglich einen Auftrag Napoleons ausgeführt, indem er fragte, wie die Verhältnisse vor der Revolution gewesen seien.73 Daubenspeck verlangte die Wiederherstellung der vorrevolutionären Zustände, er verlangte unbedingten Schutz durch den Staat.74 Der Pfarrer sprach sich für eine „anständige Besoldung“ und für eine „Anerken-nung der Geistlichen als Staatsdiener“ aus. Im Übrigen forderte er jedoch „evan-gelische Freiheit“ und verbat sich jegliche religiösen Edikte seitens des Staates. Nur mit Religionsfreiheit, begriffen auch als Freiheit der Kirche vom Staat, und 72 Eine Darstellung bei Andreas Metzing, Der linksrheinische Protestantismus und die französische

Säkularisationspolitik. In: Mölich, Oepen u. Wolfgang Rosen, Klosterkultur (wie Anm. 8)), S. 197-204.

73 Duda, Organisation (wie Anm. 12), S. 45. 74 Zitate bei Rotscheidt, Verbeßerung (wie Anm. 64).

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ohne Glaubenszwang oder kirchliche Hierarchien versprach Daubenspeck sich „Nutzen für den Staat“, worunter er etwa die Anrufung göttlichen Beistands und die Einflussnahme auf die öffentliche Meinung durch Pfarrer verstand. Unter solchen Voraussetzungen komme die staatsbürgerliche Gesinnung von selbst. Seine eigenen Hoffnungen schätzte er gering ein: „Doch sind solche Behörden selten“75.

Tatsächlich war erst Napoleon bereit, den Wünschen der Geistlichen aus ganz Frankreich entgegenzukommen und ihnen ein Staatsgehalt zu gewähren, denn er benötigte Pfarrer als Funktionselite, die Einfluss auf die öffentliche Mei-nung nehmen konnte.76

AUSBLICK

Ausgangspunkt der Untersuchung war dieFeststellung, dass die Neigung, warum ein Protestant für die revolutionäre Änderung der Verhältnisse war, eng damit zusammenhing, wie die Situation beim erstmaligen Kontakt mit der Revolution aussah. Die Fortführung dieser These in dem Sinne, dass nach den Gründen für eine pronapoleonische Haltung gefragt wurde, war Gegenstand dieser Studie.

Zum Zeitpunkt des französischen Einmarsches befanden sich gerade die Theologen, die als Aufklärer eingeschätzt wurden, in den leitenden Ämtern des niederrheinischen Protestantismus. Sie hatten damit die Situation der 1770er Jahre umgekehrt, als zu offen aufklärerische Predigten noch für gefährlich gehal-ten wurden. Basis der „Aufklärer“ war das Theologiestudium an der Universität Duisburg gewesen, wobei die Professoren Peter Berg und Heinrich Adolph Grimm maßgeblichen Einfluss hatten.

Die Besatzungszeit erlebten Pfarrer als Phase der Anomie. Die Gläubigen zeigten deviantes Verhalten und forderten von den Geistlichen mehr, als sie aus deren Sicht zu geben bereit waren. Pfarrer verloren Sozialprestige und büßten erheblich an Einkommen ein. Möglicherweise war die Tätigkeit in den Gremien der öffentlichen Verwaltungen auch ein Versuch, Einfluss auf öffentliche Ent-scheidungen zu wahren oder, wie im ehemals kurpfälzischen Linnich, zu gewin-nen. Von einer zwangsläufigen Unterstützung der revolutionären Sache durch protestantische Pfarrer ist im nördlichen Rheinland nichts zu spüren.

In dieser Zeit lässt sich eine Autoritarisierung feststellen, die die Pfarrer er-griff. Zwar war ein verlängertes Inspektorat sicherlich als Provisorium gedacht, aber einzelne Äußerungen deuten doch darauf hin, dass Geistliche bereit waren,

75 Heinrich Storkebaum, Die französische Fremdherrschaft und die Kirchenverfassung der

Protestanten auf dem linken Rheinufer (1789-1814). (Ein Beitrag zur Geschichte des Verhältnis-ses von Staat und Kirche). In: TARWPV N.F. 20 (1924), S. 57-95, hier: S. 69 – Rotscheidt, Ver-beßerung (wie Anm. 64), S. 303 ff.

76 Diese Thematik behandelt die Dissertation des Verfassers an der Universität zu Köln unter dem Titel: ‚Napoleonische Elitenpolitik im Rheinland. Dargestellt am Beispiel der protestantischen Geistlichkeit des Rurdepartements (1802-1814)’.

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auf die Mitarbeit von Laien, die „den Predigern alles zumuten zu dürfen“ glaub-ten, zu verzichten. Zugleich strebten sie danach, das herkömmliche Kirchenwe-sen zu bewahren und damit die Einflussmöglichkeiten auf die Stellenbesetzung zu wahren.

Das presbyterial-synodale Kirchenwesen der Frühen Neuzeit erachteten protestantische Pfarrer als grundsätzlich erhaltenswert. Dieser Vorstellung schien das französische Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat aus dem Jahr 1795 entgegenzukommen. Diesen Aspekt sahen Pfarrer als gemeinschaftlichen Kon-sens für das Handeln der weltlichen und geistlichen Sphäre an. Worin sie jedoch eine Schwäche sahen, war, dass die Besoldung von den Gemeinden erfolgen sollte: Diese würde sie abhängig machen. Stattdessen sprachen Pfarrer sich dafür aus, als „Staatsdiener“ anerkannt zu werden und damit einen Teil ihres Sozial-prestiges restituiert zu sehen. Zugleich wäre damit ihr Status auch rechtlich ein-deutig und dauerhaft abgesichert gewesen. Diese Forderung war das Ergebnis der Entwicklung der 1790er Jahre, in denen Pfarrer ihren Status einbüßten. Was ihnen die französische Republik nicht zu geben bereit war, offerierte ihnen der General und Erste Konsul. Die Wiederherstellung ihres öffentlichen Ansehens und Vermögens erklärt die Nähe, die Protestanten Napoleon Bonaparte anfäng-lich entgegenbrachten.