Normative Ordnungen im Konflikt? Die Genese von Staatlichkeit und Administration in Frankreich und...

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Die Vielfalt normativer Ordnungen

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Normative Orders

Schriften des Exzellenzclusters »Die Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität, Frankfurt am Main

Herausgegeben von Rainer Forst und Klaus Günther

Band 8

Andreas Fahrmeir ist Professor für Neuere Geschichte unter besonderer Berück-sichtigung des 19. Jahrhunderts an der Universität Frankfurt. Annette Imhausen ist Professorin für Wissenschaftsgeschichte der vormodernen Welt an der Uni-versität Frankfurt.

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Peter Niesen (Hg.)

Die Vielfalt normativer OrdnungenKonflikte und Dynamik in historischer und ethnologischer Perspektive

Campus VerlagFrankfurt/New York

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.ISBN 978-3-593-39868-6

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Copyright © 2013 Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainUmschlaggestaltung: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainSatz: Campus Verlag GmbH, Frankfurt am MainDruck und Bindung: Beltz Druckpartner, HemsbachPrinted in Germany

Dieses Buch ist auch als E-Book erschienen.www.campus.de

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Inhalt

Einleitung: Dynamik normativer Ordnungen – Ethnologische und historische PerspektivenAndreas Fahrmeir und Annette Imhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Interne Dynamik normativer Ordnung(en)

Auf dem Weg zu einer Revolution des Geistes? Jean d’Alembert als TestfallDagmar Comtesse und Moritz Epple . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Experten und die Umsetzung normativer Ordnungen im Alten Ägypten: Theorie und historisch fassbare PraxisAnnette Imhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Bilderhorizonte: Wege zu einer Ikonologie nationaler RechtfertigungsnarrativeBernhard Jussen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Was ist Wandel normativer Ordnungen im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts?Luise Schorn-Schütte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Kontakt und Konflikte normativer Ordnungen

Normenwandel und die Macht der Medien im subsaharischen AfrikaMamadou Diawara und Ute Röschenthaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

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6 Inhalt

Wirtschaftstheorie, Normsetzung und Herrschaft: Freihandel, »Rule of Law« und das Recht des KanonenbootsAndreas Fahrmeir und Verena Steller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

Kaisertum und Christentum in der SpätantikeHartmut Leppin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

Kosmopolitische Dynamik im Völkerrecht? Ein Beitrag zur Entwicklung des Völkerrechts und der Stellung der Rechtslehre von Francisco SuárezMatthias Lutz-Bachmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Schutzherrschaft revisitedStefanie Michels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Herausbildungen moderner Geschlechter ordnungen in der islamischen WeltSusanne Schröter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

Normative Ordnungen im Konflikt? Die Genese von Staatlichkeit und Administration in Frankreich und Begegnungen in Afrika während der Frühen Neuzeit*

Benjamin Steiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Normative Ordnungen im Konflikt? Die Genese von Staatlichkeit und Administration in Frankreich und Begegnungen in Afrika während der Frühen Neuzeit*1

Benjamin Steiner

Die geteilte Geschichte Europas und Afrikas der letzten zweihundert Jah-re ist von Brüchen und Entzweiungen geprägt. Schon der in der Frühen Neuzeit einsetzende transatlantische Sklavenhandel scheint die fundamen-tale Ungleichheit in der Entwicklungsgeschichte beider Kontinente im 19. und 20. Jahrhundert präfiguriert zu haben. Die Ausbeutung der Bewoh-ner Afrikas sowohl durch europäische als auch einheimische Sklavenhändler und die dem Ende des Sklavenhandels folgende Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter den europäischen Mächten führten in der Wahrnehmung der letzten Jahrzehnte zu einem stark vereinfachten und geradezu manichä-ischen Geschichtsbild. Die Rollen von Tätern und Opfern schienen klar an bestimmte historische Akteure verteilt und mit dem Sklavenhandel und der Kolonisierung wurden eindeutige Ursachen einer gescheiterten Modernisie-rung Afrikas festgemacht. Während in Afrika die Beispiele der failed states zahlreich waren, schien die historische Entwicklung Europas im Gegensatz zu der Afrikas als Erfolgsgeschichte.

Erklärungen dieser Art sind meistens so allgemein gehalten, dass sie in ihrer Gesamtaussage auch nicht von der Hand zu weisen sind. Allerdings scheint die Debatte, die von einer solch gegensätzlichen und ungleichen Ent-wicklung der Geschichte beider Kontinente ausgeht, die Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten der geteilten Geschichte oder, um einen besseren Aus-druck zu wählen: der Begegnungsgeschichte zwischen Afrika und Europa aus dem Blick verloren zu haben. Im Folgenden soll daher auf die Konstella-tion und Stationen einer Begegnungsgeschichte in der Zeit vor dem Beginn

* Benutzte Abkürzungen: AAE = Archives des Affaires étrangères in La Courneuve; BNF = Bibliothèque nationale française in Paris; CAOM = Centre des Archives nationales d’outre-mer in Aix-en-Provence; CARAN = Centre d’accueil et de recherche des Archives nationales in Paris.

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des im großen Stil betriebenen transatlantischen Sklavenhandels und der flä-chendeckenden europäischen Kolonisierung in Afrika eingegangen werden. Denn in den ersten Beziehungen, die Europäer und Afrikaner untereinander aufbauten und über lange Zeiträume aufrechterhielten, liegt keineswegs der Ursprung einer notwendig ungleich verlaufenden Entwicklungsgeschichte. Vielmehr wiesen die Konstellationen der sich herausbildenden Institutionen und Gesellschaftsformen in Europa und Afrika erstaunlich viele Parallelitä-ten auf, die die gleichwohl bestehenden Unterschiede in den Hintergrund geraten ließen.

Der Aufsatz stellt zum einen mit der Genese von Staatlichkeit und Ad-ministration im Frankreich des Ancien Régime eine Konstellation vor, die eine herausragende Rolle bei der Herausbildung einer normativen Ordnung spielte und die sich als für die Herrschafts- und Gesellschaftsform in Europa als typisch erweisen sollte.1 Ein besonderes Gewicht wird dabei auf Praktiken der Informationsgewinnung und -vermittlung gelegt, die sich als Schlüssel-bedingung für die Formation der Herrschaftskonstellation des Absolutismus und für die Expansion in die Welt erweisen.2 Zum anderen wird zwar nicht der Versuch unternommen, der Darstellung einer europäischen normativen Ordnung die Rekonstruktion einer normativen Ordnung wie sie typisch für Afrika gewesen sein könnte gegenüberzustellen. Ein solches Unterfangen verbietet sich allein aufgrund der ungleichen Quellenlage, die es nicht er-laubt, im gleichen Maße das Bild eines afrikanischen Gesellschaftssystems wie im Fall Frankreichs zu zeichnen. Gleichwohl werden in einer Beschrei-bung von Begegnungssituationen zwischen Franzosen und Bewohnern an der Küste Westafrikas, die Spuren einer solchen afrikanischen normativen Ordnung aufgezeigt. Bei dieser Beschreibung sollen die europäischen Quel-len in der Hinsicht zur Sprache kommen, dass eben nicht Unterschiede bei der Wahrnehmung der eigenen und der anderen Kultur, sondern die Ähn-

1 Im Folgenden wird dann von einer normativen Ordnung gesprochen, wenn in der sozi-alen, politischen und epistemischen Praxis solcherlei Regeln und Regelmäßigkeiten er-kennbar sind, die auf eine innere Homogenität und Kohärenz innerhalb eines bestimmten Gesellschaftssystems schließen lassen.

2 Vgl. dazu Brendecke, Imperium und Empirie; Seifert, »Staatenkunde«; Burke, »Reflections on the Information State«; Bayly, Empire and Information. Die Autoren der zitierten Wer-ke stellen jeder auf seine Weise den engen Bezug zwischen einer Regierungs- bzw. Herr-schaftspraxis und den Formen der Informationssammlung, -archivierung und –verteilung als Bedingungen der Möglichkeit für imperiale bzw. koloniale Verwaltungsapparate her.

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lichkeiten herausgestellt werden und damit eine Begegnung auf Augenhöhe der Akteure zum Ausdruck kommt.3

Der inhaltliche Aufbau sieht zunächst die Darstellung der normativen Ordnung wie sie sich im Frankreich Ludwigs XIV. herausbildete vor. Im Ancien Régime fungierte die zeremonielle Verbreitung von Information als Rechtfertigungsritual für die normative Ordnung, in der sich neben einem zentralisierten Staatssystem auch eine gut informierte Öffentlichkeit etab-lierte (1). Auch innerhalb der staatlichen Herrschaft wurde Information zur Bedingung regierender Tätigkeit und fand seinen Niederschlag in einer for-malisierten Verwaltungssprache (2) und einer stark reglementierten Verwal-tungspraxis unter den Ministern des Marine- und Kolonialministeriums (3). Diesen deutlichen Anzeichen einer normativen Ordnung des frühneuzeitli-chen Staats in Frankreich stehen Spuren von afrikanischen normativen Ord-nungen gegenüber. Anhand von zwei Begegnungssituationen wird gezeigt, wie Ruhm, Neugier, Ehre, Begrüßungsrituale und proto-diplomatische Beziehungen Elemente der Selbst- und Fremdbeschreibung von Franzosen und Afrikanern darstellen (4 und 5). Am Ende erweist sich so, dass die Be-gegnungsgeschichte weniger als Konfrontation zweier sich widersetzender normativer Ordnungen, sondern vielmehr als Aushandlungs- und Akkom-modationsprozess von europäischen und afrikanischen Interessengruppen innerhalb einer neuen euroafrikanischen normativen Ordnung zu verstehen ist (6).4

3 Vgl. dazu Thornton, Africa and the Africans; Northrup, Africa’s Discovery of Europe. Beide weisen auf die Möglichkeit einer Geschichte der afrikanischen Akteure innerhalb der at-lantischen Welt hin, die durchaus auf einer europäischen Quellenbasis rekonstruierbar ist.

4 Vgl. hierzu den Beitrag von Mamadou Diawara und Ute Röschenthaler in diesem Band. Auch hier wird auf die Herausbildung einer neuen normativen Ordnung in Afrika hinge-wiesen, die jedoch nicht wie im vorliegenden Aufsatz auf die Dynamiken und Beziehun-gen zwischen verschiedenen Interessengruppen zurückgeführt, sondern im Zusammen-hang der Auseinandersetzung mit neuen (europäischen) Medienformen nachvollzogen wird.

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1. Rechtfertigungsrituale für die normative Ordnung des Ancien Régime im Frankreich des 17. Jahrhunderts

Ein Hauptmerkmal der normativen Ordnung, die sich seit den 1660er Jah-ren in Frankreich unter Ludwig XIV. herausbildete, war ein Informationssys-tem, das maßgeblich dazu beitrug, dass sich die Idee eines kontrollierenden und verwaltenden Staates in der Praxis realisieren konnte. Was ist nun genau mit einem solchen Informationssystem gemeint? Was bedeutete Informati-on für den frühneuzeitlichen Staat? Auf welche Weise, das heißt mit Hilfe welcher Quellen, kann man sich der Darstellung eines solches Systems an-nähern? Und es muss gefragt werden, welcher Zusammenhang zwischen der staatlichen Verwaltungspraxis und einer normativen Ordnung bestand, die sich nicht nur auf den engen Kreis von Regierungsmitgliedern, sondern auf eine ganze Gesellschaft auswirkte.5

Gerade die zuletzt genannte Frage hat die Forschung zum Ancien Ré-gime in Frankreich in den letzten Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Nach staatlicher Information wurde dann gefragt, wenn es um die Herausbildung einer Öffentlichkeit unter dem absolutistischen Regime in Frankreich ging. In Bezugnahme auf die berühmte Studie von Jürgen Habermas über den Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) folgen eine Reihe von Arbeiten der Annahme, dass eine öffentliche Sphäre erst dann in Erscheinung trat, als der absolutistische Staat sich vornahm, seine Taten, Entscheidungen und Erlasse an seine Untertanen zu kommunizieren.6 Michèle Fogel begreift so nicht nur Zeitungen, Gazetten, Berichte, avisi, Adress- oder Intelligenzcomptoirs, son-dern auch regelrechte Informationszeremonielle (cérémonies de l’information), von Trompetern (juré-trompettes) begleitete Prozessionen durch die Stadt, die offizielle Ausrufer (juré-crieurs) im Auftrag des Königs auf bestimmten festgelegten Routen durch Paris organisierten, als Instrumente einer staatli-chen Öffentlichkeitsarbeit, durch die sich das Königtum im Bewusstsein der Gesellschaft verankerte (La Royauté familière).7 Dabei weist Fogel gerade für

5 Hier wäre auch auf jene gemeinschaftsstiftenden invented tradtions zu verweisen, die Dia-wara/Röschenthaler in ihrem Beitrag im Zusammenhang mit dem Prozess der Nationsbil-dung in Afrika geltend machen.

6 Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, insbes. S. 80. Nicht nur auf Habermas wird hier Bezug genommen, sondern auch auf Robert Darnton oder Roger Chartier. Vgl. auch Farge, Dire et Male Dire; Gersmann, Im Schatten der Bastille.

7 Vgl. Fogel, Cérémonies de l’information, S. 16: »L’État ne s’ancre pas dans la société d’abord par ses discours, verbaux ou visuels, mais par une action pratique qui assure son double

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solche volksnahen Kommunikationsbemühungen des Staates auch das von Habermas diagnostizierte Kritikpotential8 – nur deutlich früher als dieser – nach, in dem auf öffentlich ausgehängten Plakaten (affiches) sowohl frei-willige als auch unfreiwillige beziehungsweise unintendierte Informationen enthalten sein konnten, die nicht nur affirmative Ansichten, sondern auch kritische Überlegungen, ein vages orales Gedächtnis und Gerüchte über ei-gentlich staatsgeheime Ereignisse im Volk ermöglichten.9

Selbst das Schweigen des Staates konnte einen Informationseffekt haben, da man eine gewisse Vorstellung, einen sens global, so Fogel, von der Macht-

mouvement primordial: prélèvement des richesses et des hommes, maintien de l’ordre intérieur et extérieur.«; ein Beispiel (vgl. ebd., 91–97), wo durch einen öffentlichen Aus-hang für einen aus Saint-Germain-en-Lait entflohenen exotischen Vogel ein Stück des inneren Alltagslebens des Hofes im Volk bekannt wird: »Il y a donc lieu de maintenir l’analyse classique qui voit dans l’éloignement spatial un des modes d’expression achevés de la transformation des rapports entre le souverain et ses sujets. Que cette transformation se retrouve aussi dans les formes de la publication ne saurait surprendre: le silence sur les aspects quotidiens de la vie royale qui se fait à Paris à partir de 1662 prend valeur d’indice, mais le même silence s’étend progressivement aux autres domaines de la vie politique et met en cause le rituel de la publication.«

8 Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 83: »Weil die dem Staat gegenüber-getretene Gesellschaft einerseits von öffentlicher Gewalt einen privaten Bereich deutlich abgrenzt, andererseits aber die Reproduktion des Lebens über die Schranken privater Hausgewalt hinaus zu einer Angelegenheit öffentlichen Interesses erhebt, wird jene Zone des kontinuierlichen Verwaltungskontraktes zu einer ›kritischen‹ auch in dem Sinne, daß sie die Kritik eines räsonierenden Publikums herausfordert.«

9 Vgl. Fogel, Cérémonies de l’information, S.  17: »rapports complémentaires et contradic-toires entre la communication des ordres royaux, l’information volontaire ou involon-taire qu’ils contenaient, leur justification éventuellement ressentie comme inévitable, le tout pris dans le réseau des gestes et des paroles régulièrement accomplis sans lesquels ils n’avaient pas d’existence publique. A cela s’ajoutait que le rituel de la publication, héritage du temps de l’écrit rare, se trouvait soumis à la concurrence d’une forme peut-être plus vaste, en tout cas plus imprécise de circulation, l’impression des mêmes textes et leur vente à des particuliers curieux, acte anonyme, sans relief, mais non sans signification. Cette curiosité pour les décisions et pour les affaires du roi, le florissant commerce des nouvelles en témoigne depuis du XVe siècle.«; ein Beispiel für solche unintendierte Information die Berichterstattung über den Krieg mit Spanien (1635–1659): »La nécessité d’obtenir l’obéissance entraîne donc le pouvoir royal à mettre en circulation de façon subreptice des fragments d’information à partir desquels, suivant les différents cercles d’appréhension, depuis la familiarité entretenue par les correspondances privées et la lecture de la Gazette, qui permet de situer exactement les théâtres d’opérations et de comprendre que la France est encerclée [im Jahre 1658, B.S.], jusqu’au vague de la mémoire orale, où les noms des contrées ont pénétré de façon plus ou moin espacées mais répétitive au cours de ces vingt années, portés par la rumeur ou relayés suivant l’usage parallèlement affermi de la célébra-tion des Te Deum de victoire.« (ebd., S. 76).

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losigkeit der Regierung hatte, so dass es für denjenigen, der genauere Infor-mation haben wollte, zwar nicht einfach, aber auch nicht unmöglich war, diese zu erlangen.10 So war schon lange vor der von Habermas um 1750 ver-muteten Genese einer bürgerlichen Öffentlichkeit das Volk, und zwar glei-chermaßen einfache Frauen und Männer, sowohl lesekundige als auch lese-unkundige Bürger und Bürgerinnen, speziell diejenigen, die in Paris lebten, mindestens seit dem 16. Jahrhundert »außerordentlich gut informiert«.11

Historiker, die über die Entstehung einer öffentlichen Sphäre im vorre-volutionären Frankreich arbeiten, sprechen von einem Informationssystem im Zusammenhang mit dem Kommunikationssystem zwischen Herrscher und Beherrschten, das, bevor wir zu einer eigenen Definition von Informa-tionssystem kommen, kurz zu erklären ist. Mit Berufung auf Marc Bloch und seine Studie zu den thaumaturgischen Zeremonien der französischen Könige verbindet Fogel mit dem Informationssystem (système d’information) ein rituelles Mittel des absolutistischen Staates, durch den der grundlegende Zusammenhang der Monarchie, der zwischen König und Gott besteht, im-mer wieder über die großen Akte des politischen Lebens wie der Krönung und Salbung (sacre), den Begräbnissen, Entrées und Lits de justices, erneuert und bestätigt werden soll.12 Auch wenn diese von Marc Bloch, Michèle Fo-gel, Sarah Hanley und Ralph Giesey herausgearbeiteten Erkenntnisse weiter-hin Bestand haben und für sich möglicherweise noch heute hochinteressante Forschungsgegenstände darstellen, soll hier jedoch nicht weiter der Funktion

10 Vgl. Fogel, Cérémonies de l’information, S. 78: »Éparpillées parmi les autres publications, ces annonces peuvent attirer une attention nourrie de la proche expérience frondeuse : elles prennent ainsi un relief, et un sens global, celui de l’effort du gouvernment pour imposer le silence, et de son impuissance. Par leur existence cependant, elles produisent un effet d’information, diffus comme un halo : pour qui veut obtenir plus de précisions, la recher-che doit s’avérer difficile, elle n’est cependant pas impossible.«

11 So Hanley, »Rez. von Fogel, Cérémonies de l’information«, S. 1530. 12 Vgl. Fogel, Cérémonies de l’information, S. 18f.: »Je retrouvais Marc Bloch. Obligée de voir

mes propres recherches avec un regard agrandi, j’ai dû accepter l’évidence que si l’État absolutiste a construit son propre système d’information, avec ce que le terme suppose de continuité et d’homogénéité des moyens, de répétitivité dans le temps et d’extension spatiale, il l’a fait dans la forme organisatrice et tous les grands actes de la vie politique, sacres, et funérailles, Entrées et Lits de justices. Dire cela, c’est réconnaître sans doute que l’absolutisme n’a pu se soustraire à la pression des ombres qu’il voulait rejeter dans le néant, mais n’implique pas forcément la primauté de ce souci : les éléments immédiats de son système d’information sont pris d’un matériel qui le dépasse largement puisqu’ils tiennent aux rapports fondateurs de la monarchie, ceux du Roi et de Dieu. Bien plus, ce matériel se retrouve à l’oeuvre dans la société tout entière où les relations de domination empruntent elles aussi des formes visibles, démonstratives, indiscutables et codifiées.«

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von Informationssystemen als Rechtfertigungsrituale des Ancien Régime nach-gegangen werden.13 Nachdem die Frage nach der Relevanz der staatlichen Information für die normativen Ordnungen in der Gesellschaft somit wei-testgehend beantwortet zu sein scheint, sei nun auf die verbleibenden ande-ren Fragen zurückzukommen.

2. Information in der administrativen Sprache der Marine- und Kolonialminister Colbert, Seignelay und Pontchartrain

Fraglich und kaum erforscht scheint nämlich das Informationssystem im Staat selbst.14 Bevor man die Funktionen dieses Systems betrachtet, bietet es sich zunächst an, ein genaues Verständnis vom Begriff der Information in diesem historischen administrativen Zusammenhang zu gewinnen. Der Quellenkorpus, auf den sich zur Beantwortung dieser begriffsgeschichtli-chen Frage bezogen wird, sind in diesem Fall Akten des Kolonial- und Ma-rineministeriums, vor allem aus der Zeit der Regierung Ludwigs XIV. Diese Dokumente bestehen meistens aus Briefen des Ministers, zunächst ab 1669 Jean-Baptiste Colbert und ab 1683 sein Sohn Jean-Baptiste Colbert de Seig-nelay, meist einfach nur Seignelay genannt, die an Untergebene in den Ha-fenstädten und Admiralitäten, an Vizeadmiräle, Schwadronskommandanten und Schiffskapitäne gerichtet waren und Instruktionen, Befehle oder Auf-forderungen des Königs selbst oder des Ministers enthielten. In der Amtszeit Colberts bildeten sich in der Administration wiederkehrende Formeln aus, die den Bedarf des Zentrums an Wissen und Information markierten. Ver-wendet wurden dabei nicht nur Begriffe wie informer bzw. information, son-dern auch Formulierungen wie rendre compte, donner advis, reconnaissance oder vérification.

Einerseits verlangten die Minister in der ausgehenden Korrespondenz von ihren Untergebenen über die Vorgänge in Afrika informiert zu werden.

13 Vgl. dazu Bloch, Les rois thaumaturges; Fogel nimmt weiterhin Bezug auf Hanley, Lit de justice und Giesey, Royal Funeral Ceremony.

14 Vgl. jedoch die jüngst erschienene Studie Sarmant/Stoll, Régner et gouverner hier insbes. die Kapitel V »Le travail du roi« (177–205), VIII »Les ministres dans leurs bureaux« und X »Un royaume de papier«.

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So heißt es in einer Depesche vom 4. Dezember 1670 vom Finanz- und Marineminister Colbert an François d’Argouges, premier président des bre-tonischen Parlements in Rennes, über eine Besoldungsangelegenheit in der wichtigen Handels- und Hafenstadt Saint-Malo, dass dieser sich über das Verhalten der in dieser Sache verantwortlichen Kommissare »im Detail und unter Geheimhaltung informieren« solle.15 Und in einem anderen Brief an den Seneschall von Saint-Malo, Sieur Richome, vom 26. Dezember dessel-ben Jahres, verweist Colbert ausdrücklich auf die Information über den in-volvierten Kommissar de Narp: »Ich habe die Informationen gesehen, die gegen den Kommissar de Narp durch den Lieutenant de jurisdiction von Saint-Malo gemacht wurden«.16 Hier handelte es sich um interne Probleme der gegenseitigen Beschuldigung unter Marineangehörigen, über die Col-bert einen Überblick behalten wollte, indem er jeweils von verschiedenen Seiten Darstellungsversionen der Vorgänge einholte.

Doch nicht nur innere Angelegenheiten im Vorfeld und in der Organi-sation von Reisen nach Afrika bestimmten Colberts Interesse, sondern auch Berichte über Expeditionen, wie die des Chevaliers d’Hally und seines In-genieurs, Louis Ancelin de Gémozac, der im Auftrag des Vizeadmirals Jean d’Estrées 1670 unter eigenem Kommando eine Reise an der westafrikanischen Küste durchführte und zahlreiche Begegnungen mit afrikanischen Stämmen und Lokalfürsten erlebte.17 Colbert erwähnt in einem Brief an d’Estrées die Berichte der beiden über die Küste von Guinea: »Ich bin sehr froh, die Plätze an der Küste von Guinea [auf den Plänen, BS] zu sehen, die der Sieur de Gi-mosac aufgetan hat und ebenso über den Bericht, den der Chevalier d’Hally von seiner Reise angefertigt hat.«18 Dabei handelte es sich bei Gémozacs In-formation um Pläne und Zeichnungen von geeigneten Standorten für fran-zösische Niederlassungen sowie von den Forts und Stützpunkten anderer

15 Vgl. CARAN Paris, Mar B2 12, fol. 618v: »de vous faire informer secretement du détail de leur conduite«. In der vorangehenden Korrespondenz geht es dabei um Colberts Ansicht, dass der Handel mit Guinea, insbesondere der Sklavenhandel eine äußerst lohnenswerte Angelegnheit sei, der sich die Kaufleute von Saint-Malo zu widmen hätten. Vgl. Colbert an d’Argouges, 6. November 1670 und 13. Dezember 1670, in: Jean-Baptiste Colbert, Lettres, instructions et mémoires de Colbert, ed. Pierre Clément, 7 Bde., Paris 1861–1873, Bd. II/1, 577.

16 CARAN Paris, Mar B2 12, fol. 662r: »J’ay veu les informations faites contre le Commissaire de Narp, par le Lieutenant de la jurisdiction de Saint-Malo«.

17 Vgl. dazu ausführlich Chouin, »Minor Sources?«. 18 CARAN Paris, Mar B2 14, Colbert an d’Estrées, 4. Juni 1671, fol. 235v°: »Je seray bien aisé

de voir les places de la coste de Guinée, que le Sieur de Gimosac a levez, et la relation que le Chevalier d’Hailly a faite de son voyage.«

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europäischer Mächte, zum Beispiel der Niederländer. Außerdem erkundigt er sich direkt in einem Schreiben an d’Hally nach dessen Tagebuch, das die-ser von seiner Reise angefertigt habe: »Ich bin sehr froh gewesen, von Ihrer Ankunft an den Gestaden der Charente zu hören, und ebenso, dass Sie eine geglückte Seereise hinter sich gebracht haben. Ich erwarte das Tagebuch und die Beobachtungen, die Sie an der Küste Guineas gemacht haben, um dem König darüber Bericht zu erstatten (pour en rendre compte au Roy)«.19 Denn Colbert hatte jeden Freitag dem König in einer eigens dafür vorgesehenen Audienz über solche Angelegenheiten Rechenschaft zu geben – eine bemer-kenswerte Regelmäßigkeit interner Informationspraxis, die von allen Betei-ligten die Einhaltung einer strengen Routine abverlangte.

Um diese Routine zu gewährleisten, verfuhr Colbert nach von ihm selbst auferlegten Regeln – wohlgemerkt keine strikt von oben, durch den Kö-nig auferlegte Regeln, weshalb sich diese Informationspraxis keineswegs als moderne Bürokratie avant la lettre verstehen lässt, sondern eher als ein per-sönliches Wissensmanagement, das den eigenen Erfordernissen und Leis-tungsvermögen angepasst war. Wir erfahren Details über diese Praxis aus den Anweisungen Colberts in einem testamentarischen Ratgeber an seinen Sohn Seignelay, in denen es wie folgt heißt: Nachdem man alle eingegangen Depeschen gelesen habe, solle man sie an den Margen annotieren, die Ant-worten korrigieren und kurze Exzerpte für den freitäglichen Vortrag beim König vorbereiten. Durch diese wiederholte Beschäftigung mit dem Mate-rial würde sich, so Colbert weiter, die Information immer tiefer im Geiste einprägen.20 Der Minister beschreibt sich so – und das erscheint mir eine wichtige Erkenntnis über den Wissensstand der Entscheider dieser Epoche – nicht nur über Details informiert, sondern verfügt über eine generelle, an die Person gebundene Erinnerung der Vorgänge.

So ist in der Korrespondenz der Minister immer wieder die Rede nicht nur von »exakter Information«, sondern auch von der Aufforderung, bei Antworten sinnvoll mitzudenken. Derart wird beispielsweise in einem Brief des Nachfolgers von Seignelay, Louis Phélypeaux de Pontchartrain, an den

19 CARAN Paris, Mar B2 14, Colbert an d’Hailly, 3. Juni 1671, fol. 235v°: »J’ay esté bien aise d’apprendre votre arrivée aux rades de Charente, et que vous ayez fait une heureux naviga-tion, j’en attends le journal et les observations que vous avez faite, sur la coste de Guinée, pour en rendre compte au Roy«.

20 Vgl. Jean-Baptiste Colbert, Mémoire pour mon fils [1673], in: Lettres, ed. P. Clément, t. III/2, 138–140, hier 138 (Archivnachweis: Cabinet de M. le duc de Luynes, Mss. n° 93, carton 1.). Vgl. auch La Roncière, Histoire de la Marine, V, 339.

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Sieur de la Cour, der eine Expedition zur Erkundung der Île Bourbon un-ternehmen sollte, höflich bestimmend gefordert: »Ich empfehle Ihnen nur, mich exakt über alle Angelegenheiten zu informieren, von denen sie glauben, dass ich sie wissen sollte, und auch über all jene Neuigkeiten, die Sie über diese Insel in Erfahrung bringen.«21 Und auch dessen Sohn und Nachfolger Jérôme Phélypeaux de Pontchartrain hielt die ministeriale Informationspo-litik bei und verlangte den selbstständigen Erwerb von Wissen von seinen Untergebenen, wie hier ein Brief an den Genealogen Pierre Clairambault zeigt: Dieser habe Recherchen nach Verträgen angestellt, die der ehemalige Direktor der Compagnie du Sénégal und später Gouverneur von Saint-Do-mingue Jean-Baptiste du Casse mit afrikanischen Königen an der Küste des Senegals abgeschlossen hatte: »Ich bin damit zufrieden«, so Pontchartrain über Clairambaults Nachforschungen, »und ich bitte Sie, diese Recherchen weiterzuführen bis Sie die Verträge gefunden haben und mir von dem, was sie gemacht haben, Bericht zu erstatten (rendre compte).«22

Die eingehende Korrespondenz im Ministerium richtet sich eindeutig nach diesem Bedürfnis sowohl an harter Detailinformation als auch an wei-chem Hintergrundwissen über Afrika. Auch hier seien aus der Fülle des Ma-terials der Ministerialarchive der Marine- und Kolonialverwaltung nur ei-nige Beispiele genannt, bei denen der sprachliche Gebrauch innerhalb des staatlichen Informationssystems zur Geltung kommt. Auf die Hervorhe-bung von »Einzelheiten« (particularités) kommt es dem späteren Gouverneur Madagaskars (Île de Dauphin) an, der in einem Brief vom 6. Oktober 1666 an Colbert de Terron, zu der Zeit intendant de la Marine, von einer Reise zur »großen Insel« als Escorte eines Schiffes der Compagnie des Indes orientales ausführlich berichtet.23 Und auch über die Tätigkeiten der Senegalkompanie wird eine Rhetorik des dauernden Informationsflusses gepflegt. So heißt es in den Präambeln der Schreiben des Direktoriums oder der Mitglieder des-

21 CARAN Paris, Mar B2 131, Pontchartrain an de la Cour, Versailles, 6. März 1698, fol. 304r°: »[…] et je vous recommande seulement de m’informer exactement par toutes ce que vous estimerez qu’il sera necessaire que je scache et de toutes les nouvelles que vous aprendez qui toucheront en cette isle.«

22 CARAN Paris, Mar B2 141, Jérôme Phélypeaux de Pontchartrain an Clairambault, Fon-tainebleau, 22. September 1699, fol. 351v°: »J’ay veu que vous me marquez sur la recherche que vous avez fait des traites faits par M.r du Casse avec les Roys de la Coste du Senegal. J’en suis satisfait et je vous prie de continüer vostre recherche jusqu’a ce que vous les ayiez trouvé et de me rendre compte de ce que vous ferez.«

23 CARAN Paris, Mar B4 3, Mondevergue an Colbert de Terron, Reçif de Fernanbourg, 6. Oktober 1666, fol. 81r°-82r°

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selben an den Minister etwa: »Monseigneur«, so übrigens die dem höheren Amt des secrétaire d’Etat zugedachte Anrede, »ich habe die Ehre Euer Hoheit Bericht zu erstatten (de rendre compte), dass gestern hier in den Büroräu-men der Senegal[kompanie] eine Generalversammlung stattgefunden hat.«24 Oder in komplizierteren Formeln: »Ich habe, Monseigneur, die Direkto-ren der neuen Senegalkompanie wissen lassen (J’ay fait sçavoir Monseigneur aux directeur), dass sie ihnen die Genehmigung für die Reise des Schiffes L’Apollon in die besagte Konzession [des Senegals] erteilt haben.«25

Von den men on the spot wird dieser Stil der Metropole in einer kaum merklichen Änderung beibehalten, auch wenn mitunter auf die Besonder-heit der Entfernung und die schwierige Lage vor Ort aufmerksam gemacht wird. Der im Senegal sehr tätige Direktor der Compagnie du Sénégal Michel Jajolet de la Courbe berichtet dem Minister 1709 von der sehr mühsamen und schließlich gescheiterten Wiedererrichtung eines 1698 errichteten Forts im Königreich Galam am oberen Senegalfluss, weit im Landesinnern, nicht ohne auf ein gewisses Gefühl der vernachlässigten Aufmerksamkeit seitens der Zentrale anzuspielen: »Monsieur, um mich an die Geflogenheiten des Briefes, den Eure Hoheit die Gnade hatten mir zu schreiben, anzupassen, fahre ich fort damit, Sie darüber zu informieren, was sich in diesem Land zugetragen hat.«26 Die Wiederherstellung des Forts Saint-Joseph in Galam am Zusammenfluss des Falémé mit dem Senegal-Fluss gelang erst 1714 unter dem Direktor André Brüe.27 Brüe hatte selbst den Senegal schon zuvor weit ins Landesinnere bereist und mehrere Verträge mit afrikanischen Fürsten abgeschlossen und dabei sowohl Erfolge als auch Rückschläge für den fran-zösischen Handel in dieser Region, zu denen auch seine Gefangennahme durch den Damel von Cayor zählt, erlebt. Über Brüe ist die spätere Histo-riographie in erster Linie durch die viel rezipierte Geschichte Westafrikas des Père Jean-Baptiste Labat unterrichtet, der darin jedoch Brüe als seinem Hauptprotagonisten auch Taten zuschreibt, die nicht dieser, sondern andere

24 CAOM Aix-en-Provence, Col C6 3, de Farcy an Pontchartrain, Paris, 21. Juli 1706: »Mon-seigneur, j’ai l’honneur de rendre compte à vôtre Grandeur quil eut hier une assemblée generalle au bureau de Senegal.«

25 CAOM Aix-en-Provence, Col C6 4, de Fontaniere an Pontchartrain, Paris, 10. Juli 1711: »J’ay fait sçavoir Monseigneur aux directeurs de la nouvelle compagnie du Senegal que vous leurs accorderiez le navire l’Apollon pour aller dans led. Concession.«

26 CAOM Aix-en-Provence, Col C6 3, de la Courbe an Pontchartrain, Gorée, 30. August 1709: »Monsieur, pour me conformer à la lettre que Votre Grandeur m’a fait la grace de m’ecrire, je continuieray à l’informer ce ce qui se passe en ce pays.«

27 Vgl. Berlioux, André Brue; Priestley, France Overseas, S. 161–166.

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Offiziere der Senegalkompanie (unter anderem auch der erwähnte Jajolet de la Courbe) vollbracht haben.28 Doch hat Brüe seine Vorgesetzen nicht nur mittels ausführlicher Memoranden und wohl auch sein Tagebuch über seine Tätigkeiten und die Zustände im Senegal in Kenntnis gesetzt, sondern auch mit Hilfe zahlreicher an den Minister gerichteter Briefe, die das Geschehene vor Ort regelmäßig weiterberichten. Damit folgt Brüe nicht eigenem An-trieb, sondern der direkten Aufforderung des Ministers: »Monseigneur, ich gehorche unterwürfig Euren Befehlen, die mir Eure Hoheit in einem Brief vom vergangenen 22. November zu geben die Ehre hatte, indem ich Euch von dem, was an Bemerkenswertem in der Konzession der Senegalkompanie vorgefallen ist, Bericht erstatte.«29

3. »Cette grande machine de la Marine«: Administration und die Kontrolle der Kolonien als Informationspraxis

Soviel zur begriffsgeschichtlichen Einblicknahme in die normative Sprache der französischen Kolonialverwaltung unter Ludwig XIV. Der Beginn der Archivierung solcher Informationskorrespondenz lässt sich unter Kardinal Richelieu verorten, unter dessen Regierung die Sorge um die Konservierung und die Klassifizierung aller Papiere sich abzeichnete: »Die Exzerpte sollen gewissenhaft aufbewahrt werden«, schrieb der Premierminister, »sowie alle Briefe und Depeschen, wenn möglich in Reihenfolge, in Bündeln, Monat für Monat. Das dient dazu, die Memoranden und Urkunden all dessen, was bearbeitet wurde, immer dem zukommen zu lassen, der sie braucht – lange nach der eigentlichen Bearbeitung soll ein Schriftstück aufbewahrt werden,

28 Vgl. Père Jean-Baptiste Labat, Nouvelle Relation de l’Afrique Occidentale contenant une de-scription exacte du Senegal & des Pais situés entre le Cap Blanc & la Rivière de Serreleone, jusqu’à plus de 300. lieues en avant dans les Terres. L’Histoire naturelle de ces Pais, les differen-tes Nations qui y sont répandues, leurs Religions & leurs moeurs. Avec l’etat ancien et present des Compagnies qui y font le Commerce. Ouvrage enrichi de Quantité de cartes, de Plans, & de Figures en taille-douce. 5 Bde., Paris 1728. Zum Hintergrund vgl. Hair, »Falls of Félou«.

29 CAOM Aix-en-Provence, Col C6 5, Brüe an Pontchartrain, Senegal, 18. Juli 1715: »Mon-seigneur, j’obeis avec soumission aux ordres que Votre Grandeur me fait l’honneur de me donner par sa lettre du 21 Novembre dernier, pour luy rendre compte de ce qui se passe de remarquable dans la Concession de la Compagnie du Senegal.«

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das zuvor für nutzlos gehalten wurde.«30 Unter Ludwig XIV. wurde die Pa-pierordnung dann zu einer Grundbedingung der ministerialen Arbeit. So erklärt Colbert seinem Sohn Seignelay 1676: »Sie müssen immer darauf Acht geben, Ihre Papiere gut aufzubewahren, besonders die wichtigen Dokumen-te, die Sie unter Verschluss behalten sollen, wie alle Verträge und Memoran-den, die ich gemacht habe und die ich immer noch jeden Tag für Sie machen werde und die ich gegenwärtig auf einem Schreibtisch (bureau) in der letzten Unordnung herumliegend vorfinde […]. Tragen Sie dafür Sorge, dass alle Ihre Memoranden und Briefe gut katalogisiert sind (bien cotés).«31 Wie Sar-mant und Stoll betonen, hat Colbert damit eine enge Verknüpfung zwischen den Papieren und einer schnellen Bearbeitung der Vorgänge etabliert: Wenn man seine Papiere in Unordnung ließ, riskierte man, eine Antwort zu verges-sen oder die Ankunft einer Information oder den Ausgang einer Instruktion zu verzögern.32

Das »Königreich aus Papier« (Sarmant/Stoll, Régner et gouverner) garan-tierte Kontinuität und Effizienz der Regierungsarbeit. Dem Vorbild der no-tariellen Praxis der Aufschreibetechnik und Archivierung folgend, entwickel-te sich die Arbeitsweise der Minister unter Ludwig XIV. zu einer Bedingung für die Herausbildung einer normativen staatlich-administrativen Ordnung. Dazu wurde von den Ministern und Sekretären eine Disziplin abverlangt, wie zum Beispiel eine »saubere Handschrift« (une belle main) beizubehal-ten, jedes Mal eigenhändig zu unterschreiben, wobei man gar für seine Un-terschrift oder Paraphe ein Raster (grille) zu verwenden hätte, so dass sie leicht wiederzuerkennen sei.33 Die Minister hätten außerdem über ihre ei-genen Vorgänge Buch zu halten, für jedes Jahr ein »Vorgangsheft« (cahier des expéditions) anzulegen, in dem alle Aktenstücke chronologisch aufgelis-tet wurden. Die moderne Unterscheidung zwischen privaten und offiziellen

30 Zit. n. Sarmant/Stoll, Régner et gouverner, S. 381: »les extrait doivent être soigneusement gardés, ainsi que toutes les lettres et dépêches, pour peu qu’elles soient de conséquence, par liasses, de mois en mois. Il est à propos de retenir mémoire et minute de tout ce qui s’expédie, arrivant souvent que l’on a besoin, longtemps après l’expédition, d’un papier qui a été jugé alors inutile.«

31 Zit. n. Sarmant/Stoll, Régner et gouverner, S. 381f.: »Vous devez encore prendre garde à bien conserver vos papier, particulièrement les importants, que vous devez garder sous votre clef, comme tous les traités et les mémoires que j’ai fait faire et que je fais faire encore tous les jours pour vous, que je trouve à présent roulés dans un bureau étant dans la derni-ère saleté […]. Prendre soin qu tous vos mémoires et lettres soient bien cotés.«

32 Vgl. ebd., S. 382. 33 Vgl. ebd., S. 356.

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Dokumenten greift hier kaum, denn in diesen Listen tauchen sowohl Briefe als auch Anordnungen des Staatsrats (Conseil d’État), Ordonnanzen und Be-fehle des Königs auf.34 Stilistisch war man bei der Abfassung der Schriftstü-cke immer mehr an die Regeln des Formulars gebunden, welche von den Gehilfen für die jeweiligen Vorgangssorten (ordre du roi, brevet, lettres paten-tes und andere) auswendig gelernt, immer wieder zur wiederholten und ein-prägsamen Anwendung kamen: »Es ist eine ›Wissenschaft des Büros‹ (science de bureau)«, so heißt es bei Sarmant und Stoll, »geboren aus einer Praxis, die von den Sekretären des Kanzlers, den Gehilfen der Minister (secrétaires d’État) sowie vom Generalkontrolleur der Finanzen beherrscht wurde«.

Hintergrund der gemeinsam gepflegten Praxis der schriftlichen Verwal-tung war jedoch ein ausgeprägtes Konkurrenzverhältnis unter den Minis-tern, das sich weit durch die Hierarchien nach unten fortsetzte. Schnelligkeit der Informationsübertragung war entscheidend, wenn es zum Beispiel dar-um ging, welcher Staatssekretär dem König zuerst eine bestimmte Nachricht darbringen konnte, was zu einer enormen Verkürzung der Verwaltungswe-ge innerhalb der Regierung Ludwigs XIV. führte.35 Die gesamte Korrespon-denzkette des staatlichen Informationssystems war so hierarchisch geprägt: Information wurde immer vom jeweils nächst Untergebenen gefordert. Eine Typologie der Korrespondenzstile ist so erkennbar, in der Typen eines rein höflich-sozialen, eines auf bloßen Informationsaustausch abzielenden und eines Information einfordernden Schriftverkehrs unterschieden wer-den können.36 Daran schließen sich auch die feinen Unterschiede diverser Ausdrucksformen an, die sich beispielsweise an den verschiedenen Anreden »Monseigneur«, »Monsieur« oder gar ein einfaches »Sieur« sowie den Gruß-formeln wie »très humble et très obéissant serviteur« (die Formel Colberts und Pontchartrains) erkennen lassen.37

Das Ergebnis dieser von sozialen Faktoren maßgeblich bedingten Auf-schreibe- und Ordnungspraxis war eine vorbildliche Regierungsarbeit, »le gouvernement par excellence« wie Sarmant und Stoll zusammenfassen. Die

34 Vgl. ebd., S. 358f. 35 Sarmant und Stoll sprechen gar von einer höheren Reaktionsfähigkeit der Regierung unter

Ludwig XIV. als einer Verwaltung des 20. und 21. Jahrhunderts: »La rapidité du traitement des affaires à Versailles comme dans les provinces doit compenser les lenteurs des transmis-sions administratives. Et de fait, le gouvernement de Louis XIV est infiniment plus réactif qu’une administration du XXe ou du XXIe siècle : du haut au bas de l’édifice, aucune correspondance officielle ne reste en souffrance plus de quelques jours.« (ebd., S. 363).

36 Vgl. ebd., S. 365–369. 37 Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 372–376.

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»Schreibmaschine« (machine à écrire) funktionierte mit einer perfekten Re-gelmäßigkeit: »Der König und seine Minister verfügten über reichlich Infor-mation, wenngleich diese nicht immer gesichert und präzise war.«38 Aller-dings sind die Autoren von Régner et gouverner ebenfalls nicht der Meinung, dass sich dieses Regierungssystem ausreichend als »Bürokratie« bezeichnen ließe. Im Wortsinne verstanden ist allein die damit zum Ausdruck kom-mende Herrschaft aus dem Büro nur teilweise zutreffend, da die Minister an jeweils unterschiedlichen Orten arbeiteten und so selten ein Kabinett bilde-ten, das zur ständigen Verfügung der Staatslenkung durch den König bereit stand. Und auch die Bürokratiedefinition nach Max Weber kann lediglich als Ausgangspunkt für eine Beschreibung der Regierungsarbeit unter Ludwig XIV. gelten, da diese keineswegs die Gesamtheit der von Weber genann-ten Kriterien (zum Beispiel positives Recht) erfüllt. Die Organisation des Systems war noch zu sehr von Gewohnheiten der traditionalen Herrschaft (Feudalprinzip, Klientelismus, Nepotismus) bestimmt, als dass seine Spezia-lisierung auf Verwaltung mit der »rationale[n] Pflege von, durch Verbands-ordnungen vorgesehenen, Interessen, innerhalb von Rechtsregeln und: nach allgemein angebaren Prinzipien«39 konform ging. Gleichwohl sei die »Rou-tine des Büros«, so geben Sarmant und Stoll zu bedenken, nicht, wie von manchen modernen Organisationstheoretikern, als problematische Neben-folge seiner Entwicklung zu bezeichnen, sondern begleitet die Verwaltungs-tätigkeit seit ihren Anfängen.40

Geeigneter, so zeigen schließlich Sarmant und Stoll, sei die Metapher der Maschine. Dieses Bild findet sich schon in den erwähnten Instruktionen Colberts an Seignelay, wo es heißt: »Er sollte sich daran gewöhnen, ein Me-morandum aller Befehle, die wöchentlich zu erteilen sein werden, anzuferti-gen, und das in einem besonders reflektierten Ton abgefasst sein soll; es wird diese Methode sein, die einen nach und nach in den Geist (esprit) versetzt, nach dem all das zu tun ist, was diese große Maschine der Marine in Gang hält.«41 Und auch der Autor einer Mémoire sur le nouveau département de

38 Ebd., S. 395. 39 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 125. 40 Vgl. Sarmant/Stoll, Régner et gouverner, S. 397. 41 Colbert an Seignelay, o.D., zit. n. Sarmant/Stoll, Régner et gouverner, S. 398: »Il faut qu’il

s’accoutume à faire un mémoire de tous les ordres qu’il y aura à donner chacune semaine, et cela en son particulier, avec réflexion; et ce sera cette méthode qui lui mettra insensible-ment dans l’esprit tout ce qu’il y a à faire pour faire mouvoir cette grande machine de la Ma-rine.« (kursiv durch Sarmant/Stoll). Vgl. auch Colbert an Seignelay, Instruction pour mon fils, pour bien faire la première commission de ma charge, [nach 1. Januar 1671], in: Lettres,

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Monseigneur an Pontchartrain zum Zeitpunkt seiner Ernennung als Staatsse-kretär der Marine rät diesem zwanzig Jahre nach Colbert, sich mit den ersten Gehilfen und ihren Funktionen und Aufgaben vertraut zu machen, um die einzelnen und allgemeinen Dinge dieser »großen Maschine« zu kennen.42 Der Minister begibt sich also zu diesem Zeitpunkt in ein running system, in dem nicht in erster Linie er derjenige ist, der diesem System seinen Stempel aufdrückt, sondern in dem umgekehrt die bestehenden Verwaltungsfunktio-nen die Handlungen des Nachfolgers bestimmen.

Wenngleich der maschinelle Vergleich auch zu einer irrtümlichen Gleichsetzung mit modern-industriellen Funktionsabläufen, etwa im Sinne einer Weberschen Rationalisierung, führen kann, so ist er hier doch in seiner antik-frühneuzeitlichen Bedeutung als mnemotechnische Regelmäßigkeit durchaus zutreffend.43 Sicherlich sind in der Regierungspraxis, wie sie sich in Frankreich während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickel-te, aber doch mehr als nur Aspekte antiker Mnemotechnik zu entdecken. Gerade im Zusammenhang mit den Kolonien in Afrika und den dortigen Vorgängen, über die das Verwaltungssystem in Frankreich durch eine ste-tige Korrespondenz informiert wird, erscheint doch so etwas wie eine epi-stemische Herrschaftspraxis, die sich über normative Sprache, formalisier-te Aufschreibeprozesse und soziale Distinktionsbemühungen äußert. Dass überhaupt genau und vollständig berichtet werden soll, ist unmittelbar an die Sicherung einer Herrschaftsordnung geknüpft. Im Falle der Information über Afrika haben die Minister an der Spitze des Systems Interesse daran, diese einzufordern, um damit innerhalb ihres Konkurrenzgefüges einen Wis-sensvorsprung gegenüber ihren Kollegen und Prestigegewinn beim König zu erlangen. Ebenso liegt es aus mindestens zwei Gründen im Interesse der Kompaniedirektoren, Marineoffiziere, Ingenieure und Berichterstatter vor Ort, dass der Informationsfluss zum Zentrum und das Hin und Her der Informationsnachfrage und des -angebots funktionieren. Erstens gehören

ed. P. Clément, t. III/2, S. 46–64, hier S. 58: »Les intendans, commissaires généraux et particuliers estant les principaux officiers qui doivent faire agir cette grande machine, il faut avoir continuellement l’œil sur leur conduite, les redresser quand ils manquent, leur donner des ordres bien clairs, et leur fair bien exécuter; en un mot il faut travailler, par tous moyens possibles, à remplir cette place de gens habiles, sages et d’une fidélité éprouvée.« (Archivnachweis: BNF, Mss. 3.012, Colbert et Seignelay, V, cote 16, pièce 17 et 18).

42 Vgl. ebd. 43 Vgl. Berns/Neuber, Seelenmaschinen. Auch Krämer, Symbolische Maschinen; Siegert, »Ana-

lysis als Staatsmaschine«; Stafford, Kunstvolle Wissenschaft, S. 211, verwenden den Begriff der Maschine in der Nähe dieses Zusammenhangs.

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die in den Kolonien und Niederlassungen tätigen Personen weiterhin zum sozial-administrativen Gefüge in Frankreich, wo sie sich wie andere Akteure zu Hause, nur eben mit dem Nachteil der größeren Distanz zum Zentrum und der damit einhergehenden deutlich längeren Kommunikationsdauer weiterhin gegen andere Konkurrenten durchsetzen müssen. Und zweitens sind nun mit den Berichterstattungen ans Zentrum auch immer wieder ma-terielle Forderungen verknüpft, wie zum Beispiel Nahrungsmittelversorgung oder militärische Unterstützung für die Kolonien, die gerade im Falle der Kolonien in Afrika und Madagaskar die Korrespondenz mit den Vorgesetz-ten prägten.

In dieser gegenseitigen Einhaltung der Regeln des global ausgedehnten Informationsnetzes der französischen Verwaltungspraxis lässt sich so das Symptom einer europäischen normativen Ordnung ausmachen. Der Zu-sammenfall von Interessen der Informationsnachfrage aus dem Zentrum und der Berichterstattung aus der Peripherie macht die gemeinsame Bin-dung und Regelhaftigkeit aus, die der Entstehungsphase einer normativen Ordnung zugrunde liegt. Dass diese Ordnung, die sich so sehr auf soziale Hierarchien, disziplinierte Sprache und formale Aufschreibepraxis stützte, eine starke Einheit gegenüber der Wissens- und Informationskultur in Afri-ka bildete, dürfte angesichts der komplexen Inklusionsbedingungen auf eu-ropäischer Seite offensichtlich sein. Doch sollte man bei all dieser ausführ-lichen Beschreibung der europäischen Ordnung nicht vergessen, dass auch Afrikaner über eine ähnlich komplexe, wenngleich nicht so ohne weiteres zu erschließende normative Ordnung verfügten. Von dieser Ordnung fühlten sich Europäer im Verlauf ihrer Erkundungsreisen meistens ausgeschlossen – ein Gefühl, was sie anfänglich wohl mehr als die Afrikaner gegenüber den ausländischen Europäern verspürten. Dazugehören konnten die Europäer nicht ohne Weiteres, dennoch versuchten es einige von ihnen. Im Folgenden soll daher ein Versuch der Rekonstruktion einer solchen Ordnung geliefert werden, wie sie den Reisenden im 17. Jahrhundert begegnete und über die sie in ihren Berichten die Adressaten zu Hause zu informieren versuchten.

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4. Begegnungen I: Der Ruhm des Königs von Frankreich und die Neugier des Königs von Callior

Im Jahre 1670 landete ein Flottengeschwader unter dem Befehl des Vize-admirals Jean d’Estrées (1624–1707) an der Küste des heutigen Senegals in Westafrika.44 Ursprünglich war die Expedition dafür gedacht, die Piraten von Salé im heutigen Marokko zu bekämpfen. Doch nachdem sich die Ab-fahrt d’Estrées‹ und seiner Flotte aus La Rochelle verzögerte, hielten sich die Piraten für die Wintermonate im geschützten Hafen auf, so dass die Kampf-handlungen ausblieben. Stattdessen ergingen an d’Estrées neue Instruktio-nen direkt vom König. Er solle nun, da sein Aufenthalt dort nutzlos gewor-den sei, zwei oder drei Schiffe aus dem Flottenverband lösen, die das Meer zur Sicherung des Handels kreuzen sollten, und mit dem Rest der Schiffe nach Guinea fahren, um dort »alle Meere, Reeden und Küsten dieser Län-der zu erkunden« und außerdem »die Fürsten dieses Landes mit der Macht meiner Seestreitkräfte bekannt zu machen«, damit man mit diesen für den französischen Handel vorteilhaftere Konditionen aushandele; außerdem sei-en des Weiteren Niederlassungen und Forts an der Küste auszukundschaf-ten.45 Daraufhin schickte d’Estrées eine Gruppe Offiziere und Matrosen in der Nähe der Küstensiedlung Rufisque bei Kap Verde an Land. Eine weitere Befehlsänderung wurde aufgrund von Versorgungsproblemen nötig, so dass man dem Vorschlag d’Estrées’ folgte, nur ein Schiff unter dem Komman-do des Chevaliers Louis d’Hally (1634–1678) auf die Erkundungsmission

44 Vgl. zum folgenden Thilmans/de Moraes, »Le passage à la Petite Côte«; vgl. auch Chouin, »Minor Sources«.

45 CARAN Paris, Mar B2 10, Louis XIV an d’Estrées, 24. August 1670, fol. 172–173: »Monsr. le Comte d’Estrées. Quoyque par mes ordres et instructions que je vous ay envoyez pour l’employ de l’escadre de mes vaisseaux que vous commandez, je vous aye seulement ordon-né de faire la guerre aux corsaires de Salé et de croiser les mers pour asseurer le commerce de mes sujets, néantmoins si vous trouvez que lesdits corsaires ne sortent point de leurs ports pendant l’hyver et que vostre séjours y fust inutil, je désire que vous détachiez deux ou trois vaisseaux pour croiser les mers et asseurer ledit commerce et qu’avec le reste vous vous en alliez jusques en Guinée, pour reconnoistre toutes les mers, rades et costes de ce pays-là, et mesmes que vous y fassiez tout ce que vous estimerez à propos, tant pour faire connoistre mes forces maritimes aux princes de ce pays-là, que pour y affermir le commer-ce que mes sujets y on introduit depuis quelques temps, leur faire accorer les conditions les plus advantageuses qu’il se pourra pour leur dit commerce et reconnoistre les places et forts qui sont construits sur lesdites coses et m’asseurant que vous satisfiez à ce qui est en cela du bien de mon service avec vostre zèle ordinaire, je prie Dieu […]«.

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entlang der guineischen Küste bis nach Elmina im heutigen Ghana zu schi-cken.46 Zu dieser zweiten Mission später mehr.

Widmen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit der Unternehmung, die der Vizeadmiral selbst im Auftrag des Königs unternahm. D’Estrées schrieb einen Bericht von der Expedition an der kapverdischen Küste, der unter dem Titel Mémoire tant sur l’arrivée des vaisseaux du Roy au Cap-Vert et leur sesjour à ces rades, que sur le commerce, qu’on peut faire à ces costes, jusques à la rivière de Gambie heute innerhalb der Mélanges Colbert in der Bibliothèque natio-nale, die einen Großteil der offiziellen Berichterstattung an den Finanz- und Marineminister enthalten, aufbewahrt wird.47 Hier wird nicht nur das Enga-gement der Franzosen innerhalb eines afrikanisch-europäischen politischen Spannungsfelds am Vorabend des Niederländisch-Französischen Kriegs (1672–1679) dokumentiert, sondern auch eine Begegnung zwischen zwei Kulturen mit jeweils unterschiedlichen, wenn auch mit auffälligen Ähnlich-keiten versehenen Kontaktritualen auf beispielhafte Weise dargestellt.

Ziel der Landgänger solle laut der Mémoire sein, erstens den König, der über Rufisque herrscht, aufzusuchen und einige Geschenke zu machen, ihn zweitens davon zu überzeugen, immer mit den Franzosen Handel zu treiben sowie, drittens, das Land kennenzulernen und – damit nimmt er die Formu-lierung aus dem Brief des Königs wieder auf – die militärische Überlegenheit der französischen Marine zu demonstrieren; wörtlich heißt es da: »das Ge-braus der Seestreitkraft Seiner Majestät zu verbreiten«.48 Eine Mischung von Freundlichkeitsbekundungen und ein wenig Zurschaustellung der eigenen Macht sollten also zu gewünschten Vereinbarungen führen. Der Verlauf der Begegnungen, der nun im Folgenden dargestellt wird, offenbart aber nicht die reibungslose Umsetzung dieses Vorhabens, sondern vielmehr, dass hier mehrere Machtinteressen, auch und gerade auf afrikanischer Seite, am Wer-ke sind.

Die Wahl für die Leitung der französischen Gesandtschaft fällt auf ei-nen gewissen Cédirac, ein Offizier vom Range eines Garde de la Marine, der

46 CARAN Paris, Mar B2 10, Louis an d’Estrées, Saint-Germain, 28. September 1670, fol. 182–183.

47 BNF Paris, Mélanges Colbert (MC) 176, fol. 224–232; auch abgedruckt in: Thilmans/de Moraes, »Le passage à la Petite Côte«, S. 57–65, Document I: Le texte du mémoire envoyé du cap Vert par d’Estrées. Ich zitiere jedoch aus der Handschrift, die wie Thilmans/de Moraes, »Le passage à la Petite Côte« zeigt, nicht von d’Estrées selbst, sondern wohl von seinem Sekretär geschrieben wurde (vgl. S. 78, Fn. 131). Die Edition wurde jedoch bei Leseschwierigkeiten des Originals konsultiert.

48 Ebd., fol. 225r: »respandre le bruit des forces de mer de sa Majesté«.

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hier ausdrücklich als »kluger Junge« (garçon sage) bezeichnet und als geeignet empfunden wird, da er bereits eine Reise nach Guinea zusammen mit dem berühmten holländischen Admiral Ruyter unternommen und so Erfahrung im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung gesammelt hatte. Der Vize-admiral d’Estrées als Autor der Mémoire bemerkt außerdem, dass der Bericht Cédiracs seiner Erzählung zugrunde liege und er nur dessen Erfahrungen wiedergebe.49

Cédirac begegnet nun dem afrikanischen Machthaber direkt an seinem Haus, an dem ihm nichts Prächtiges auffällt außer dem Schilf und dem Hir-sestroh, aus dem es gemacht sei. Der König von Callior, so sein ihm hier zugewiesener Name, wird auf nüchtern feststellende Weise als einflussrei-cher und mächtiger regionaler Interessenvertreter dargestellt. Mit ihm ver-suchen die Franzosen durch Darbietung von Geschenken, zum Beispiel einem goldornierten Hut, einem Schwert und einem Gewehr (ansonsten verschenkt man alte, aus Nantes mitgebrachte Lumpen), die guten Handels-beziehungen mit dessen Königreich, die mit seinem Vorgänger stets gut ge-wesen seien, zu verlängern.50

Im folgenden Gespräch zwischen Cédirac und dem König von Callior zeigt sich der Berichterstatter geradezu erstaunt über das Interesse und die Nachfragen, die der König in einer, wie der Autor der Mémoire es ausdrückt, »conversation sérieuse« an den französischen Gesandten richtet: über Frank-reich, den König, dessen Alter, seine Macht und seine Absichten an seiner Küste, die er mit einem so großen Schiff aufgesucht habe. Die Antworten des Gesandten betonen die große Macht und die Qualitäten des französischen Monarchen. Der König von Callior will dann wissen, ob Frankreich viel grö-ßer als Holland sei. Der Gesandte illustriert die größere Macht Frankreichs qua Anschauung: er zeichnet vor den Augen des Königs eine kleine Fläche für Holland und eine zweite, zwanzigmal so große Fläche für Frankreich in den Sand. Der König war darauf hin, »sehr froh, das zu wissen«.51

49 Vgl. ebd., fol. 225v. 50 Vgl. ebd., fol. 226r. 51 Vgl. ebd., fol. 226v: »Ce Roy negre se prit à rire et dit je suis fort bien ayse de sçavoir cela.«

Die Gegenpropaganda der Holländer bleibt nicht aus: Pierre Hoppesack, der holländi-sche Gouverneur von Gorée (der d’Estrées 1677 die Kapitulation übereicht) erklärt den Afrikaner gegenüber, dass die Franzosen »estoient gens trop Tyrans, et que les Hollandois estoient plus faciles et que l’on commceroit plus librement et avec plus de gain avec eux« (AAE La Courneuve, Mémoires et documents, Afrique 12, fols. 72–85: Extrait a êté des Registres et du Greffe de l’Amirauté de France au siège de la ville françoise du Havre de Grace, hier fol. 78v); vgl. auch Thilmans/de Moraes, »Le passage à la Petite Côte«, S. 57.

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Nun folgt ein Wandel der Gesprächssituation, die bislang als eine auf Augenhöhe zwischen dem Europäer und dem Afrikaner zu bezeichnen war. Der offenbar gelöst auftretende König bittet den Gesandten, ihm sein Ju-steaucorps, die Marineuniform, die dem afrikanischen König gut gefalle, zu schenken. Er bekommt das Kleidungsstück denn auch und verhält sich da-raufhin »äußerst ungewöhnlich« (»plus extraordinaire«), als er daran geht, die Taschen des Mantels auszuschütten um nach anderen Kuriositäten aus Frankreich zu suchen.52 Nachdem der König seine Dankbarkeit bei Palm-wein bekundet, versucht er die Schieflage, die durch die ungleichmäßige Beschenkung entstanden ist auszugleichen. Doch die zur Entschädigung ge-dachten Gegengaben, »ein äußerst bösartiges kleines Pferd und zehn sehr magere Rinder für den Vizeadmiral«, richten dahingehend wenig aus.53 Der afrikanische Fürst muss sich den Trost des Gesandten anhören, dass es eben nicht die Art der Franzosen sei, wie andere Nationen wenig zu geben und dafür viel zu bekommen. Freunde bedächte man eben deswegen freigiebig, um die Freundschaft ganz ohne Interessen zu bekunden.54

Es wäre zu kurz gegriffen, würde man Cédirac oder d’Estrées hier nur Verachtung und Arroganz gegenüber den Gebräuchen der Afrikaner unter-stellen. Wenngleich das Verhalten des Königs von Callior anekdotenhaft als »extraordinäre« Kuriosität dargestellt wird, so empfindet der Berichterstatter gegenüber der hierarchischen Herrschaftsordnung des Königs und dem lo-kalen Adel Respekt und betont, dass Soldaten und Untertanen auf Befehle des Königs zuverlässig gehorchten. Und das, obwohl die Bewohner, unter Berücksichtigung der Ausnahme der arabischen Marabus, keine Schrift ken-nen und sich nur auf die mündlichen Befehle der königlichen Boten verlas-sen würden.55 Die Behauptung des Gesandten gegenüber dem König, dass man sich so überaus freigiebig nur im Interesse der Freundschaft gäbe, steht indes im Gegensatz zum klaren Ziel d’Estrées und dessen Auftraggeber Col-berts, den Handel der Holländer im Senegambiagebiet an sich zu reißen. Der Finanzminister, an den dieser Bericht gerichtet war, notiert selbst in die

52 Vgl. ebd., fol. 226v. 53 Ebd., fol. 226v f.: »un fort meschant petit cheval et dix beufs fort maigres pour le vice-

amiral«. 54 Vgl ebd., fol. 227r: »mais que nous donions libérallement à nos amis pour tesmoigner

nostre amittié sans intérest.« 55 Vgl. ebd.

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Margina lie auf der ersten Seite der Mémoire den Wert der Handelskonzessi-on an dieser Küste mit einer Summe von 400.000 Livres tournois.56

5. Begegnungen II: Höfisches Zeremoniell und diplomatische Bemühungen an der guineischen Küste

Wenden wir uns nun der zweiten Mission des Chevaliers d’Hally zu. Wäh-rend der Vizeadmiral mit der Flotte an der senegalesischen Küste bei Go-rée vor Anker ging, brach d’Hally am 15. November 1670 zusammen mit dem Offizier Louis Ancelin de Gémozac (gest. 1695), der als Ingenieur den Auftrag hatte, Zeichungen von Forts und Niederlassungen anzufertigen, auf dem mit 28 Kanonen bewaffneten Kriegsschiff Tourbillon in Richtung der südlich gelegenen Handelskonzessionen an der westafrikanischen Küste auf. Wie oben schon kurz erwähnt, sind von dieser Reise mehrere Berichte, Brie-fe, Karten und Zeichnungen, die für das Marineministerium von d’Hally und Gémozac erstellt wurden, erhalten.57 Der ausführliche Bericht d’Hallys mit dem Titel Mémoires du voyage de Guinée fait par le chevalier d’Hally com-mandant le vaisseau du Roy le Tourbillon befindet sich ebenfalls in den Mé-langes Colbert.58 Auch der Ingenieur Gémozac, später stellvertretender Gou-verneur von Martinique,59 schrieb einen Bericht, der nicht direkt an Colbert ging, sondern später, 1674, in der Reiseberichtssammlung Henri Justels ano-nym veröffentlicht wurde.60

56 Ebd., fol. 224r, aus der Marginalanmerkung Colberts: »Commerce raporte tous les ans, à la Compagnie, qui le fait, près de 400000 livres.«

57 Vgl. die Karten und Pläne von Gémozac im CAOM Aix-en-Provence, Dépôt des Fortifi-cations des Colonies, Côtes d’Afrique XIII.

58 BNF Paris, MC 156, fol. 28–40; der Anfang des Berichts abgedr. in Thilmans/de Moraes, »Le passage à la Petite Côte«, S. 67–68, Document III: »Le texte du passage qui, dans le rapport du chevalier, concerne la Petite Côte«.

59 Vgl. CAOM Aix-en-Provence, Dépôt des Fortifications des Colonies, Col E 201, dossier individuel de Gémozac 1677–1682.

60 Anonym [Louis Ancelin de Gémozac], »Relation du voyage fait sur les costes d’Afrique aux mois de novembre & décembre de l’année 1670, janvier & février 1671, commençant au Cap-Vert«, in: Henri Justel, Receuil de divers voyages faites en Afrique et en l’Amérique, qui n’ont point esté encore publiez, contenant l’origine, les moeurs, les coûtumes & le commerce des habitans de ces deux parties du Monde. Avec des traitez curieux touchant la Haute Ethyopie, le débordement du Nil, la mer Rouge & le Prête-Jean. Le tout enrichi de figure, & de cartes

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Konzentrieren wir uns an dieser Stelle jedoch nur auf den Reisebericht des Chevaliers. Nach der Abreise aus der Bucht von Gorée ankert die Tour-billon am 5. Dezember vor der Küste des Kaps Dumont und feuert Kano-nenschüsse ab, um die Bewohner auf ihre Ankunft aufmerksam zu machen. D’Hally begegnet dem »grand Capitaine«, dem Anführer der dortigen Be-wohner, einem etwa 60 Jahre alten »fort bon homme«, der sich sehr über die Ankunft der Franzosen gefreut habe. Er verfügt über einige Portugiesisch-kenntnisse und auch wisse er, wer die Franzosen seien. Der Chevalier hebt die besondere Macht des Königs und auch die Überlegenheit gegenüber dem Afrikaner hervor und betont seine Sympathien zu den »Schwarzen« (»tous les noirs me parurent fort bonne gens«). Deshalb habe er, d’Hally, auch gro-ßes Interesse daran, sich am Handel mit Elfenbein, sowie Reis, Brot, Geflü-gel, Ziegen und Fischen zu beteiligen. Der Bericht vergisst auch nicht an dieser Stelle, wie auch immer wieder an anderen Orten darauf hinzuweisen, dass das Land schön und mit vielen Bäumen bewachsen sei, und schließlich welcher Platz für den Bau eines Forts geeignet sei.61

Eine ähnliche Begegnung findet dann am nächsten Zwischenhalt statt, wo sie wiederum einem König einer Bevölkerung am Cap Mesurado im heu-tigen Liberia begegnen, der sie außerdem zum Abendessen einlädt, dem die Delegation um d’Hally und Gémozac auch nachkommt. Am 27. Dezember geht die Tourbillon vor Axim vor Anker, wo die Besatzung das erste hollän-dische Fort sieht. D’Hally besucht den Gouverneur und pflegt höflichen Austausch mit dem Niederländer, vernachlässigt aber auch nicht, seinem Bericht genaue Angaben über die Lage des Forts, seine Bauweise und Besat-zung hinzuzufügen. Für weitere Erkundungen wird Gémozac beauftragt, der außerdem in seiner Eigenschaft als Ingenieur heimlich Pläne von den Forts abzeichnet.62

Am 2. Januar 1671 erreichen sie schließlich das Cap de Commendo und Komenda (Eguafo im heutigen Ghana), wo der Blick zuerst auf die auffälli-gen Häuser der Angestellten der englischen und holländischen Handelskom-panien fällt. Sogleich werden sie von einem schwarzen Afrikaner begrüßt, der ihnen als Geschenk einen Hammel und Palmwein überreicht. Auch

cartographiques, qui servent à l’intelligence des choses contenues en ce volume, Paris 1674. Zur Autorschaft Gémozacs und Justels protestantischem Hintergrund vgl. Chouin, »Minor Sources«, S. 141–144.

61 Vgl. Mémoires du voyage de Guinée fait par le chevalier d’Hally commandant le vaisseau du Roy le Tourbillon, in: MC 156, fol. 28r-29r.

62 Vgl. ebd., fol. 29r-30r.

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kommt ihnen viel Lob über die Franzosen entgegen und Gémozac, einmal mehr der von d’Hally zum Landgang Ausgesandte, wird äußerst höflich von allen Afrikanern empfangen. Nachdem d’Hally selbst von sieben oder acht Schwarzen ersucht wird, selbst an Land zu gehen, kommt er dieser Einla-dung am nächsten Morgen auch nach und wird von zahlreichen Bewohnern an Land begrüßt und unter den Salutschüssen von etwa 30 bis 40 Muske-tenträgern schreitet er unter dem Beifall und Gesang der Afrikaner zum Hof des Kommandanten. Diesen begrüßt er nach der Art des Landes, indem er ihm die Hand gibt und mit den Daumen geräuschvoll zusammenschnippt.63

Daraufhin wird d’Hally ein Vertrag mit dem König von Komenda ge-zeigt, den bereits zwei Franzosen, Gérard Ventety und Villaut de Bellefond, die vor einigen Jahren in Elmina waren, unterzeichnet haben und man ver-langt von ihm ebenfalls eine Unterschrift. Der Vertrag, den d’Hally auch in Abschrift aufführt, besagt, dass er, wie schon seine beiden Vorgänger, »ewige Freundschaft zwischen dem besagten König beider Komenda [dem kleinen und großen Komenda] und den Untertanen des Allerchristlichsten Königs« beschließt (»establir amitié perpetuelle entre led. Roy des deux commando, et le sujets du tres Chrestien Roy de France«). Außerdem solle er ein Fort bauen dürfen, wo die Franzosen Anbaufläche für Hirse und andere Dinge zur Verfügung bekommen, um sich selbst ernähren zu können. Ebenso dürf-ten sie Gold in den Minen und Flüssen suchen und Handel mit den ver-schiedenen umliegenden Ländern treiben. Dafür garantiere der König sei-ne Unterstützung unter der Voraussetzung, dass die französischen Kapitäne reziproke Freundschaft gegenüber dem König und seinen Untertanen ver-sprechen würden. Unterzeichnet ist der Vertrag von den Offizieren d’Hallys, Gémozac sowie dem Sieur de Saint-Hermine und dem Sieur Legac.64

63 Vgl. ebd., fol. 30r. 64 Vgl. ebd., fol. 30v: der Vertrag im Wortlaut: »Nous Chevalier D’Hally Cap.ne comman-

dant le vaisseau du Roy très Chrestien, nommé le Tourbillon ratifions les en[?] faits au nom du roy, de grand, et petit commando, avec Girard Ventety, et ratisfié en suitte par le S.r de Bellefonds, pour establir amitié perpetuelle Entre led. Roy des deux commando, et le sujets du tres Chrestien Roy de France, bastir un fort sur les terres dud. Roy de commando, au lieu ou les dits sujets le trouveront apropos des fricher les terre pour y semer du mil, y faire les autres choses qu’ils jugeront necessaire pour les subsistance, prendre de l’or dens les mines, et rivieres dud. et faire tous le commerce qui se peut faire dens les divers terres, en quoy led. roy promet toutte assistance, en considerer de quoy nous Capitaines promet-tons toutes sortes d’amitiez reciproque aud. Roy et a ses sujets, en foy de quoy nous avoins signé cet escrit avec le S.r de Gimosac, le S.r de St. Hermine, et le sieur Legac, fait au petit Commando le 2. de janvier 1671.«

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Auf die Vertragsunterzeichnung folgen weitere Festlichkeiten, bei denen d’Hally sehr genau beschreibt, wer ihn wann, auf welche Weise und wie lan-ge begleitet – meist beschreibt er seine Begleiter als bewaffnet, »an meiner Seite marschierend, unablässig schießende Musketiere und mehrere, ohne Unterlass auf ihren Instrumenten spielende Musikanten folgen mir«.65 Der Gouverneur von Klein-Komenda, ein enger Vertrauter des Königs beider Komenda, empfängt d’Hally nochmals zum Diner, wo dieser seiner Freund-schaft mit den Franzosen versichert, um dann auf das Problem zu sprechen zu kommen, das die Holländer für ihn darstellen. Er sähe es daher gerne, wenn die Franzosen die Holländer angreifen und verjagen würden. D’Hally kann darauf nur antworten, dass man sich mit den Holländern nicht im Krieg befände und diese mit dem König von Frankreich befreundet seien. Der Gouverneur schlägt darauf vor, er könne etwas Portugiesisch und wolle daher einen Brief an den König von Frankreich schreiben, worin er ihm die Herrschaft über den reichen Handel dieser Küste anbiete. Nachdem er mit dieser Bitte mehrmals auf d’Hally eingedrungen war, lässt der Gouverneur sich den Brief diktieren, auf den er dann das Siegel des Königs von Komen-da mit seinem Ring prägt. Daraufhin verschwindet er aber mit dem Brief aus dem Zimmer und keiner wusste nachher, so berichtet der verwunderte d’Hally, wo das Schreiben abgeblieben war. Es war verschwunden und eine Kopie des Inhalts existierte auch nicht. Zudem sei auch der Schreiber des Briefes mittlerweile gestorben, so dass eine Rekonstruktion nicht möglich ist. Die Begegnung endete mit der innigen Umarmung durch den Gouver-neur, der außerdem noch darum bat, dass man die Kanonen für ihn abfeure, denn »an dieser Küste lieben die Fürsten Ehre und Zärtlichkeit (l’Honneur et la Caresse)«.66

65 Ebd., fol. 30v: »marchent a mes costez, de mousqueteres me suivirent tirent incessament et plusieurs joueurs d’instruments jouent sans sesse«.

66 Ebd., fol. 31r: »dens cette coste les principaux ayme fort l’Honneur et la Caresse, j’en tirer trois«.

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6. Normative Ordnungen im Konflikt oder Begegnungen von Interessengruppen auf Augenhöhe?

Soviel nun zu den Berichten der Franzosen über ihre Begegnungen mit den Afrikanern. Inwieweit lassen sich hier also nun neben dem Ausdruck der oben beschriebenen europäischen normativen Ordnung auch Spuren ei-ner afrikanischen normativen Ordnung erkennen? Lassen sich überhaupt anhand der hier vorgestellten Quellenbeispiele zwei voneinander distinkte Ordnungen wahrnehmen? Oder handelt es sich vielmehr noch um eine Su-che beider Gruppen nach Distinktion voneinander, bei der erst nach und nach Unterschiede normativer Art hervortreten? Um diese Fragen zu beant-worten, scheint es sinnvoll, die Motivationen und Interessen der durch die Berichte zum Vorschein kommenden Akteure zu untersuchen, um so mehr Licht in diese Begegnungssituation zu bringen. Betrachten wir also am Bei-spiel der hier vorgestellten Quellen, das komplexe Gefüge der Akteursinter-essen etwas genauer. Zählt man die beteiligten Protagonisten der Guineaex-pedition der Jahre 1670/71 auf, so begegnet einem zunächst,

1. der Auftraggeber der Expedition, der sécretaire d’État de la marine und contrôleur général des finances, Jean-Baptiste Colbert. Sein vornehmliches Interesse als Minister ist die Sicherung von Handelsmöglichkeiten in Af-rika, um die von ihm 1664 gegründete Compagnie des Indes orientales et occidentales vor allem gegen die Konkurrenz der niederländischen Ost-indienkompanie zu schützen. Die beiden Berichte sprechen vornehm-lich von holländischen Schiffen und Forts, die hier untersucht werden und über deren Handelsvertreter und Gouverneur wie über afrikanische Bewohner genaue Charakter- und Verhaltensbeschreibungen dokumen-tiert werden. Dass der Ingenieur Gémozac im Geheimen Pläne zeichnet, dürfte Colbert nicht nur aus militärischen Gründen interessiert haben, sondern einfach auch, um zu lernen, wie die Bedingungen sind, wenn man selbst solche Stützpunkte errichten möchte. Ein Ergebnis der Un-tersuchungen Gémozacs war, dass die Bedingungen relativ schlecht und die Forts von sehr schlechter Qualität seien.

2. Der Vizeadmiral Jean d’Estrées. Er war der Hauptverantwortliche dieser guineischen Expedition und übt in diesem Fall eine gewissen Machtbe-fugnis aus, indem er sowohl einem jungen Offizier, als auch dem Kapi-tän d’Hally den Auftrag für eine weiter ausgedehnte Mission erteilte. Bei dieser Reise wurden nicht nur Erkundungen angestellt, sondern auch

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Verträge im Namen des Königs abgeschlossen. D’Estrées aber ist Col-bert nicht nur freundschaftlich verbunden, sondern ist auch als Klient des Herzogs von Beaufort, einem illegitimen Sohn Heinrichs IV., an die höchsten Adelszirkel angeschlossen. Er besaß nicht nur das Vertrauen Colberts, sondern auch das des Königs und wurde selbst nachdem er 1678 bei Las Aves in der Karibik die Hälfte seine Flotte gegen die Hol-länder aufgrund eines Navigationsfehlers verloren hatte von Ludwig XIV. in den Rang eines maréchal de France erhoben.67 Die 1670er-Mission der Erkundung der westafrikanischen Küste war für d’Estrées wahrscheinlich schon selbst eine wichtige Voraussetzung dafür, dass er während des Hol-ländischen Krieges das Fort auf der Insel Gorée von den Niederländern 1677 erobern konnte und somit den Grundstein für die fast 300-jährige Präsenz der Franzosen im Senegal legte.

3. Die Interessen des Chevalier d’Hally sind weniger eindeutig zu umschrei-ben, finden aber auf einem viel niedrigeren Ambitionslevel statt. Selbst einer Familie entstammend, in der er der einzige von sieben Brüdern war, der eine militärische Laufbahn einschlug, ist seine Persönlichkeit wahrscheinlich durch eine Vorliebe für Risiko und Abenteuer gekenn-zeichnet.68 Dieser Charakterzug wie auch zahlreiche militärische Erfah-rungen veranlassten d’Estrées wohl, diesem auch ein solch selbstständiges Kommando zu übertragen. Die Art wie d’Hally berichtet, zeugt jedoch auch von genauer Beobachtungsgabe und von einem diplomatischen Ge-spür, das ihm bei den afrikanischen Empfängen zugute kommt. Auch wenn ein wenig Eigenlob in seinem Bericht mitschwingt, so scheint sein Auftreten meistens eine gute Stimmung hinterlassen zu haben. Definitiv hat er bei Verhandlungen mit den indigenen Machthabern Erfolge für das diplomatische Standing der Franzosen in der Region erringen kön-nen. Gerade die Begegnung mit dem Machthaber in Klein-Komenda brachte die Afrikaner gegen den Handel mit den Holländern in Stellung und brachte auch einen Vertrag mit dem König beider Komenda her-vor, der eindeutig die Interessen der Franzosen bediente. Die dargestellte

67 Dieses Ansehen, v.a. zu erklären durch seine hohe Herkunft, äußert sich mitunter in ei-nem fast herablassenden Tonfall gegenüber seinen Adressaten in Briefen und Berichten. Manche seiner Aussagen sind sogar peinlich, wie sein Kapitän des Pavillon, Nicolas Le Fèvre de Méricourt sagt: »il dit des choses si piquantes que l’on en meurt presque de cha-grin«, Rapport écrit par de Méricourt le 2 juin 1677, à la suite du naufrage de l’escadre, CARAN Paris, Mar B4 8, fol. 263). Vgl. Thilmans/de Moraes, »Le passage à la Petite Côte«, S. 55.

68 Vgl. Chouin, »Minor Sources«, S. 140f.

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Weise wie die Afrikaner dieses Ansinnen selbst aus Tapet bringen, lenkt womöglich von der Initiative der beiden genannten Franzosen ab, von denen der eine, Nicolas Villaut de Bellefond, womöglich einen Konkur-renten in der Informationserhebung über Afrika für d’Hally dargestellt haben mag. Dessen Reise fand 1666/1667 statt und Bellefond publizierte 1669 den Bericht dieser Reise, welcher damit den ersten französischen Reisebericht von der westafrikanischen Küste darstellt.69

4. Über die nur indirekt in beiden Berichten vorkommenden subalternen Landgänger vor Ort, den garde de la marine Cédirac und den Ingenieur Louis Ancelin de Gémozac, kann aus der bestehenden Quellenlage nicht ganz so viel gefolgert werden. Allgemein darf vermutet werden, dass die Reise für beide Offiziere eine günstige Gelegenheit darstellte, sich gegen-über den direkten Vorgesetzten wie auch dem Minister selbst zu bewei-sen. Gerade Gémozac, mit einem höheren Rang als Cédirac, scheint die-se Gelegenheit besonders erfolgreich genutzt zu haben. Seine Pläne der Forts fanden Anerkennung und sein Reisebericht gelangte, anders als der d’Hallys, in Justels Konvolut zur Publikation und erreichte so ein größe-res Publikum. Relativ erfolgreich konnte er seine Karriere als Lieutenant de Roi des Gouverneurs auf Martinique und schließlich als Gouverneur auf Granada beenden.

5. Die letzte und gleichwohl am prominentesten erwähnte Interessengrup-pe, stellen sicherlich die lokalen afrikanischen Fürsten und Machthaber dar. Auch wenn sie hier direkt thematisiert werden, so ist der Eindruck ihrer Interessen nur ein indirekter. Der im ersten Bericht erwähnte König von Callior wird in einer Konstellation dargestellt, in der seine Position gleichzeitig auf der einen Seite als einflussreich und selbstbewusst ge-zeichnet wird, auf der anderen Seite aber wird sie auch exotisch verfrem-det und in ein nachteiliges Licht gestellt. Gerade der Bericht d’Estrées‹ kehrt die ersten Eindrücke bei der Begegnung hervor: die einfachen Strohhütten und die manchmal kindlich oder ungestüm-emotionale Verhaltensweise des Königs. Demgegenüber der abgeklärte junge Offi-zier, der den Forderungen des Afrikaners besonnen entgegenkommt. Die Szene der Geschenkübergabe offenbart wohlbekannte koloniale Muster:

69 Vgl. Nicolas Villaut de Bellefond: Relation Des Costes D’Afrique, Appellées Guinée : Avec La Description du Pays, mœrs & façons de vivre des Habitans, des productions de la terre, & des marchandises qu’on en apporte, avec les Remarques Historiques sur ces Costes ; Le Tovt Remar-qvé Par Le Sievr Villault, Escuyer sieur de Bellefond, dans le voyage qu’il y a fait en 1666. & 1667, Paris 1669.

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Die europäischen Geschenke sind trotz der eigens so eingeschätzten min-deren Qualität (»Lumpen aus Nantes«, goldornierte Hüte, das einfache rote Marine-Justaucorps) Objekte großer Begierde beim König, während die Gegengaben bei den Europäern kaum verborgene Abschätzigkeit her-vorrufen (»bösartiges Pferd«, »magere Rinder«). Dennoch zeigt sich un-ter diesen Abwertungsbestrebungen der Berichterstatter doch auch das eigentliche Interesse des Fürsten. Wie den anderen Afrikanern der an-deren Begegnungen ist ihm die Konkurrenz der europäischen Mächte wohlbekannt. Daher ist es ihm auch ein Anliegen über die Verhältnisse in Europa informiert zu werden – eine Information, die auf dem Schauplatz binnenafrikanischer Politik sicher ebenso wertvoll war, wie jene über Af-rika für Colbert in Frankreich. Die Frage nach der Größe der Macht Frankreichs und seines Königs scheint denn auch für den Gesandten eine gewisse Bedeutsamkeit zu besitzen, sonst würde er sie nicht propagandis-tisch mittels der Zeichnung im Sand zuungunsten einer Darstellung der tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen Frankreich und Holland ver-zerren. Gleichwohl kann auch das dezidierte Eigeninteresse des Königs von Callior als von den Franzosen bedient bezeichnet werden: Er ver-fügt nach der Begegnung nun gegenüber den Holländern über wichtige Information über deren Konkurrenten, wodurch es ihm möglich wird, beide Gruppen gegeneinander auszuspielen. Außerdem bedeutet die Be-gegnung mit den Fremden auch einen Machtzuwachs für seine eigene Position, innerhalb der eigenen Gesellschaft besitzt er nun exklusive Zei-chen der Macht. Darüber hinaus verfügt er nun über potenzielle Allianz-partner im Krieg gegen andere lokale Machthaber.

Dieses und mehr trifft auch auf die Fürsten und Anführer zu, denen d’Hally und Gémozac auf ihrer Reise an der Goldküste entlang begegnen. Insbe-sondere sei das letzte Treffen mit dem Gouverneur von Klein-Komenda er-wähnt, wo unter der Darstellung kurioser Ereignisse, wie der aufgrund eines Missverständnis gescheiterten Versendung eines Briefes an den König von Frankreich, die Strukturen afrikanischer Herrschaftspraxis und der damit verbundenen Interessen in der Verhandlungssituation deutlich zutage tre-ten. Die Geschichte des verlorenen Briefes offenbart – das mag nun nicht überraschen – dass der Gouverneur von der Funktionsweise der schriftlich geführten Kommunikation keine Kenntnis besitzt. Er glaubt den Kommu-nikationsakt schon durch das Diktat beendet und somit den König als Emp-fänger seiner Botschaft instantan informiert. Die Versendungspraxis setzt er im Akt des Sprechens bereits voraus. Darin besteht das Kommunikations-

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missverständnis der Franzosen. Es zeigt aber auch wie sehr sich der Gouver-neur auf die orale Herrschaftspraxis verlässt – die er im Übrigen mit jener von d’Estrées löblich beschriebenen des Königs von Callior gemeinsam hat.

Demgegenüber kann man es als Zeichen der diplomatischen Rücksicht seitens des Afrikaners deuten, dass den Franzosen eine ihrer politischen Kommunikations- und Treuevereinbarungen in Form des schriftlichen Ver-trages präsentiert wird. Doch scheinen auch hier orale und schriftliche Ver-mittlungstechniken funktional zu Missverständnissen zu führen. Die bin-dende Wirkung des Vertrages ist nicht eindeutig, da die Unterzeichner auf französischer Seite nicht mal den Namen des Kapitäns, sondern nur den seiner untergebenen Offiziere aufweisen. Und andererseits hat der Gouver-neur zwar angeblich volle Kredit- und Glaubwürdigkeit beim König von Komenda, doch auch hier scheint diese Vereinbarung nicht unbedingt die von den Europäern damit verbundene Ewigkeit zu haben. Das Problem be-steht bei diesem Grenzmissverständnis in der unterschiedlichen Auffassung von Verlässlichkeit und Verbindlichkeit. Die orale Versicherung von Loyali-tät oder dass man zu einer gemachten Vereinbarung weiterhin steht, ist den Franzosen sicherlich nicht unbekannt. Sie selbst müssen ständig in ihren Gesellschaftshierarchien auf bestehende Loyalitätsverhältnisse und Patrona-ge-Klientel-Bindungen Rücksicht nehmen, die nicht nur parallel zu einem rationalen Staatsapparat stehen, sondern in der Frühen Neuzeit letztlich notwendige Bedingung für jeden Akteur auf sozialem und politischem Feld waren. Doch war der Grad der Bedeutung von Schriftlichkeit und somit auch schriftlich festgehaltener Verträge auf der Ebene der Außenpolitik – im Völkerrecht – ungleich stärker bei den Europäern als bei den Afrikanern aus-geprägt. D’Hally ist sich dessen bewusst, wenn er direkt an die Beschreibung des Vertragsabschlusses und das Verfassen des offiziellen Briefes, fast schon widerstandslos das Ritual der emotionalen Umarmung eingeht und jenes der Ehrenbezeichnung mit Kanonenschüssen bedient.

7. Fazit

L’Honneur und la Caresse – Ehre und Zärtlichkeit. Die Bedeutung dieser Ka-tegorien der Begegnung zwischen Europäern und Afrikanern hat meistens eher lächelnde Aufmerksamkeit erfahren. Doch sei zu bedenken, dass selbst der Hofstaat unter Ludwig XIV. genau durch die überritualisierte Formalität

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dieser beiden Anerkennungsformeln charakterisiert war. Den französischen Historiker Afrikas Paul Cultru haben schon die ausgeschmückten Beschrei-bungen der Fürsten und der Königshöfe Westafrikas durch den Domini-kaner Labat an die Hofhaltung in Versailles erinnert.70 Für die Autoren der Reiseberichte scheinen jedoch Herrschaft und Diplomatie von mehr als die-sen Verhaltensweisen bestimmt zu sein. Oder kann es nicht auch sein, dass nach dieser Begegnung mit einer mit den Prinzipien Ehre und Zärtlichkeit vollendeten Hofhaltung nach diesem Mehr erst begonnen wird zu suchen?

Zwischen dem zunächst rein funktionalen Interesse Colberts über Vor-gänge in Afrika informiert zu werden, tauchen eher unter der Oberfläche an-dere Akteure und Gruppen auf, die durch diese Informationserhebung nicht nur für uns Historiker, die diese Berichte als Quellen lesen, sondern auch füreinander in Erscheinung traten. Aufgrund der Tatsache, dass Information überhaupt erlangt werden muss, wird das Auge der Beobachter jeweils auf den Anderen eingestellt. Alle betrachten sich gegenseitig nun auf eine Weise, die einem potenziellen Zwecke zu dienen hat. Nicht nur Europäer treten dabei in Erscheinung, sondern auch Nicht-Europäer partizipieren innerhalb eines Informations- und Interessengeflechts miteinander. Im Prozess der In-formationserhebung hat jeder Akteur eine gewisse Chance, seine Interessen zu bedienen und das Ergebnis nach seinen Bedingungen manipulierend zu gestalten.

Was bedeutet das nun in Bezug auf die Frage nach normativen Ordnun-gen? Am Ende dieser Betrachtungen erscheint es wenig sinnvoll, bereits für das 17. Jahrhundert von einer Konfrontation zweier voll ausgebildeter nor-mativer Ordnungen zu sprechen. Zwar gibt es ein starkes Informationsbe-dürfnis der Europäer, was sich aus dem sozial-administrativen Herrschafts-zusammenhang in Frankreich ergibt, den wir oben als eine sich in dieser Zeit der globalen Expansion in Frankreich herausbildende normative Ordnung bezeichnet haben. Doch scheint das Bedürfnis, gut informiert zu sein über die Tätigkeiten der Anderen, auch bei afrikanischen Akteuren vorhanden gewesen zu sein. Sowohl Afrikaner als auch Europäer partizipierten am gro-ßen Konkurrenzkampf, über- und voneinander Bescheid zu wissen. Dass die Afrikaner mit Information kein bürokratisches System, das das Wissen über die Anderen verwaltet, fütterten, sondern dass sie mit Information ihre Kli-entel- und Patronagebeziehungen pflegen, unterscheidet sie nicht von den Franzosen, sondern stellt vielmehr eine Gemeinsamkeit mit ihnen dar. Um

70 Vgl. Cultru, »Les faux d’un historien du Sénégal«, S. 401.

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1670 scheinen sich die beiden Kultursphären auf einer Ebene zu begegnen, auf der man sich gegenseitig eher ähnlich denn als anders betrachtet. Wis-sen und Information übereinander sind somit stets von den typischen früh-neuzeitlichen Herrschaftszeichen auf beiden Seiten begleitet: Höfische Re-präsentationen und Zeremonielle, Ehrbekundungen und Höflichkeit, sowie die Praxis der Geschenkerweisungen und das damit verbundene ritualisierte Machtinteresse, das Gleichgewicht der Geschenkgaben zu bewahren.

Insofern kann die Beschreibung der vollständigen Herausbildung von normativen Ordnungen in Europa und Afrika mit den hier näher betrachte-ten Quellen nur zum Teil gelingen. Schaut man auf die frühen Begegnungs-situationen zwischen Europäern und Afrikanern, so zeigen sich neben den Miss- und Unverständnissen, die diesen Prozess begleiten, gleichwohl noch grundlegende Gemeinsamkeiten. Ein Diskurs der Entzweiung, der normati-ve Ordnungen wie im 19. und 20. Jahrhundert prinzipiell separiert, ist noch nicht zu erkennen. Sieht man von diesem historischen Zeitpunkt in die Zu-kunft, so war eine Trennung zwischen einer europäischen und afrikanischen Ordnung nicht notwendigerweise zu erwarten gewesen.

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Normative Ordnungen im Konflikt? 341

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