Next of Kin Memorial Plaque. Die traurige Seite der Medaille

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Der Erste Weltkrieg im Medium der Medaille GOLD EISEN GAB ICH FüR

Transcript of Next of Kin Memorial Plaque. Die traurige Seite der Medaille

Der Erste Weltkrieg im Medium der Medaille

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Für das Münzkabinettherausgegeben von Bernd Kluge und Bernhard Weisser

Mit Beiträgen von Elke Bannicke · Angela Berthold · Karsten dahmen · Emma Harper · Wolfgang steguweit · Bernhard Weisser

staatliche Museen zu Berlin Münzkabinett · 2014

Der Erste Weltkrieg im Medium der Medaille

GoldEisEn

gab ichfür

Eine ausstellung des Münzkabinetts der Staatlichen Museen zu berlin im bode-Museum20. März 2014 bis 30. März 2015

Gedruckt mit Unterstützung der

Erivan und Helga Haub-stiftung des Münzkabinettsnumismatische Gesellschaft zu Berlin

die verwendete Papiersorte ist aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff hergestellt, frei von säurebildenden Bestandteilen und alterungsbeständig

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inhaltsverzeichnis

Gold gab ich für Eisen 7

Elke BannickeGold gab ich für Eisen. Erwerbungen des Berliner Münzkabinetts im Ersten Weltkrieg aus Metallspenden der Bevölkerung 9

Wolfgang Steguweitdie deutsche »Weltkriegsmedaille« im Mainstream des Zeitgeistes 15

Elke BannickeWeltkriegsmedaillen – Kunst und Kommerz 23

Angela BertholdBilder für den Krieg. die Verwendung von Tiermotiven auf Medaillen der Zeit des Ersten Weltkriegs 33

Elke BannickeZwischen not und Überzeugung. Propagandistinnen des Ersten Weltkrieges in der Medaillenkunst 45

Karsten Dahmen»The Glorious dead«. die Medaillen der deutschen Kriegsgegner im Ersten Weltkrieg 57

Emma Harpernext of Kin Memorial Plaque. die traurige seite der Medaille 67

Wolfgang SteguweitVon Gies bis Göbel. Medaillen als Friedensmahner 73

Bernhard Weisser 1914–2014 Gold gab ich für Eisen. Positionen der gegenwärtigen Medaillenkunst 81

Katalog

a deutsche Weltkriegsmedaillen 93b Weltkriegsmedaillen der Alliierten 196c Medaillenedition 1914–2014: Gold gab ich für Eisen 220

Verzeichnis der im interaktiven Katalog des Münzkabinetts erfassten Weltkriegsmedaillen 265

literatur 275

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gold gab ich für Eisen

Ein entseeltes, übermechanisiertes Europa, …wo jeder, Mensch und land, in tierischer Unbefangenheit nur genießen und leben wollte, wenn der andere sich quälte und starb, wo alle Politik zugestandenermaßen nur Wirtschaftspolitik war, … in diesem unglücklichen und nichtswürdigen Europa brach der Krieg nicht am 1. August 1914 aus.

Walther Rathenau, 1919

Aber welche Bedeutung hatte der Erste Weltkrieg für ihn?Weniger als der Peloponnesische Krieg.

Harry Mulisch, 1982

Gold gab ich für Eisen – dieses in den napoleonischen Befreiungskriegen kreierte Motto war auch im Ersten Weltkrieg gleichermaßen stolz und Belohnung der opferbereiten. Als Thema einer neuen, vom Münzkabinett ausgehenden Medaillenedition, sollte es der künstlerischen Auseinanderset-zung mit einem vor hundert Jahren von niemandem gewollten, aber von allen bejubelten Kriegs-ausbruch dienen und die Wirkung dieser »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts unter den bis heute gesammelten Erfahrungen im Medium der Medaille reflektieren. 1914 bis 2014 – in diesem Zeitfenster stellt sich die deutsche politische Medaille zum Thema Krieg in dieser Ausstellung vor.

Die ungeheuren Erlebnisse des Weltkrieges, in dem wir um unser Dasein kämpfen, in dauernden Gestalten festzuhalten und der spätesten Nachwelt zu überliefern, ist ein Wunsch, der weite Kreise unseres Volkes schon jetzt lebhaft bewegt. Die vaterländische Schaumünze, von Dürer und anderen Künstlern seiner Zeit gepflegt und seit einigen Jahrzehnten bei uns zu neuem Leben erweckt, bietet hierzu ein unvergleichlich wirksames Mittel. so beginnt der Aufruf von 44 »Freunden der deutschen schaumünze« an die Freunde vater-ländischer Kunst, sich ihrem Anliegen einer besonderen Weltkriegs-Medaillenedition anzuschließen. Kein Geringerer als James simon, der große Kunstsammler und Mäzen der staatlichen Museen zu Berlin, hat den Aufruf an vorderer stelle unterzeichnet. Wolfgang steguweit hat sich dieser vor hundert Jahren gleichfalls vom Münzkabinett ausgehenden Medaillen-Edition, die in dem Kabi-nettsdirektor Julius Menadier ihren spiritus rector besaß, ihrer Geschichte und der daran beteiligten Künstler ausführlich angenommen. seine Edition der Medaillen und der dazu zwischen den Künstlern und dem Münzkabinett geführten Korrespondenz bieten einen tiefen Einblick in die Weltkriegsjahre und die situation der Medaille als Erinnerungskunst. das muss heute an dieser stelle nicht wiederholt werden. die beiden Bände von 1998 sind zu dieser Ausstellung wieder verfügbar und in den Beiträgen dieses Bandes wird vielfach darauf Bezug genommen. der Fokus

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Vorwort

wird dabei auf spezielle Themen gelegt und um die sicht der deutschen Kriegsgegner erweitert. Anders als in deutschland ist dort die Medaille nur ausnahmsweise zu einem Mittel der Kriegspro-paganda geworden. die häufigste Medaille des Weltkriegs, die in hunderttausenden Exem plaren vergebene britische Next of Kin Memorial Plaque, zeigt eine ganz andere Memorialfunktion der Medaille als das deutsche schaumünzenmodell. sie feiert keine siege oder Heldentaten, verun-glimpft keinen Gegner, sondern hält schlicht fest, was das schicksal der meisten der aktiven Kriegs-teilnehmer war und was den Angehörigen blieb: die Erinnerung an einen Kriegstoten.

im August 1914 entschloss sich ein entseeltes, übermechanisiertes Europa (Walther Rathenau) das goldene Zeitalter der Sicherheit (stefan Zweig) zu verlassen und in kollektiver Kriegslaune nach Art der lemminge über die Klippe zu springen oder – wie Karl Goetz es auf einer seiner Medaillen 1917 dargestellt hat – sich mit lust in die gegnerischen Bajonette zu stürzen. Europas Selbstmord hat der Künstler dazu getitelt.

Wie tief der Fall und wie hart der Aufprall sein würde, konnte sich niemand vorstellen. Gold gab ich für Eisen wurde übrigens auch in anderer Weise für alle schicksalhaft – der Erste Weltkrieg beendete die Epoche der Goldwährung in Europa.

Bernd Kluge und Bernhard Weisser

Kat. nr. B 7

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Emma Harper

Next of Kin Memorial Plaque. die traurige seite der Medaille

Während in den schützengräben Belgiens und Frankreichs schon seit mehr als anderthalb Jahren blutige Kämpfe tobten, versammelten sich in den neutralen niederlanden Freunde der Medail-lenkunst anlässlich einer Auktion von über 1.500 Medaillen und Plaketten der verschiedenen Kriegsparteien zum ›Europäischen Krieg‹. so zeigte sich noch während des Krieges, den man erst eine Generation später den Ersten Weltkrieg nennen sollte, ein lebendiges interesse an den Zeug-nissen dieses Krieges in Form der Medaille, ganz so wie heute, ein Jahrhundert nach Beginn des ›großen Krieges‹, der Beitrag der Medaille zum Verständnis und als spiegel dieser ersten Katastro-phe des 20. Jahrhunderts Beachtung erfährt.

die von allen Kriegsparteien produzierten Medaillen sind vielseitige Belege für künstlerische Entwicklungen, die Formulierung und Verklärung historischer Ereignisse und Persönlichkeiten, aber auch für die von der Kriegspropaganda gesetzten Themenschwerpunkte, wie etwa den Unter-gang der lusitania und die Hinrichtung der englischen Krankenschwester Edith Cavell. die He-bung der eigenen Moral an der Front und in der Heimat stand hier auf allen seiten im Vordergrund, der schrecken des Krieges und seine Folgen für den Einzelnen sind dagegen kaum formuliert.

Während sich die Vielzahl der Arbeiten aller Parteien damit an vertrauten Themen orientiert, sticht eine ganz besondere Form der Medaille sowohl aufgrund des Umfangs ihrer Auflage als auch ihrer Funktion als individualisiertes Erinnerungsstück offiziellen Charakters heraus. dies ist die Next of Kin Memorial Plaque1 oder auch umgangssprachlich als ›dead man’s penny‹ bezeichne-te Bronzemedaille, welche in Großbritannien bald nach Ende des Krieges ausgegeben wurde.

Kriegsopfer – Joseph Edward Turner und leonard Ford

Am 1. Juli 1916 begann die schlacht an der somme in nordfrankreich als alliierter Versuch einer Entlastung der bei Verdun unter druck stehenden französischen Armee. Mit ihrem Ende im november desselben Jahres waren über eine Million englischer, französischer und deutscher sol-daten verwundet, vermisst oder gefallen. Fast die Hälfte dieser Verluste fiel auf die englische Ar-mee und ihr angeschlossene Einheiten des Commonwealth. Allein am ersten Tage starben rund

1 der name Next of Kin Memorial Plaque (wörtlich: »nächste-Angehörigen-Gedenktafel«) ist eigentlich unübersetzbar, so dass hier und im Katalog immer diese offizielle englische Bezeichnung benutzt wird. sie nimmt Bezug auf die Vergabe nur an die nächsten Angehörigen sowie auf die innerhalb der Medail-le angebrachte Tafel mit dem namen des Gefallenen.

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19.000 britische soldaten, rund 35.000 weitere wurden verwundet bzw. vermisst. die Ereignisse dieses blutigsten Tages der britischen Militärgeschichte trugen dazu bei, die lähmende Erkenntnis der Trauer in zahllose Haushalte Englands und des Empires zu befördern.2 Er trug die brutale Realität des leidens und sterbens auf dem schlachtfeld direkt und mit unvermittelter Härte in Millionen von Familien.

Zwei dieser Familien, die unvermittelt mit dem Verlust von Angehörigen während der som-me-schlacht umgehen mussten, waren die der Gefreiten (Privates) Joseph Edward Turner und leonard Ford. Turners Eltern, wohnhaft 6 lillyhill Terrace, Edinburgh, bleiben allein zurück, als ihr sohn nahe la Boisselle an jenem blutigen 1. Juli 1916 fiel, nur 21 Jahre alt. Joseph Edward Turner (Abb. 1) hatte noch in der schule zu den besten seiner Klasse gehört, Abschlüsse in Eng-lisch und Arithmetik und auch einen Platz an der Universität seiner Heimatstadt erlangt, obwohl ihn gesundheitliche Probleme häufig vom schulbesuch abhielten.3 diese Probleme verhinderten aber nicht seinen Eintritt kurz nach Ausbruch des Krieges im Alter von 19 Jahren in die C-Kom-panie des 15. Bataillons des Regiments der Royal scots. in vielerlei Hinsicht ist Turner damit ein charakteristisches Beispiel für eine ganze Generation englischer Kriegsfreiwilliger, die die neu mobilisierte sog. Kitchener’s Army (auch new Army) bildeten.

Über das leben von leonard Ford aus Horsham in sussex vor Kriegsausbruch liegen keine informationen vor. Er verpflichtete sich in doncaster zur King’s own (Yorkshire light infantry). Als Ford am 18. september 1916 fiel, war er 26 Jahre alt. Auch er ließ Angehörige zurück, die sehr wahrscheinlich seinen Tod, so wie viele andere Familien auch, nicht mehr als traurige Konsequenz einer zunächst begeistert begrüßten militärischen Bewährung empfanden, sondern immer mehr als zweck- und sinnlosen Tod in einem unbarmherzigen Krieg erfuhren, der mit den Worten sassoons sich als unverblümt mechanisch und inhuman darstellte.4

2 dutton 1996, s. 62.3 Wir danken dem George Watson’s College, Edinburgh, und seiner Bibliothekarin Fiona Hooper sowie

n. d. nicol, Pennsylvania, für ihre Hilfe bei der Recherche zu J. E. Turner.4 sassoon 1931, s. 143. so in dutton 1996, s. 62.

1 Joseph Edward Turner (1894–1916)

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Next of Kin Memorial Plaque

Ein Akt nationalen Gedenkens. die Entstehung der Next of Kin Memorial Plaque

Während die Familien Ford und Turner wie viele andere auch mit dem Verlust ihrer lieben um-zugehen lernten und der Krieg in Europa weiter tobte, sah sich der Kriegsstaatssekretär david lloyd George mit einer immer länger werdenden Verlustliste konfrontiert. das Jahr 1916 und für die britische seite die schlacht an der somme markierten einen traurigen vorläufigen Höhepunkt in der Zahl gefallener soldaten. dies ließ auch den Ruf der Öffentlichkeit nach einer offiziellen Reaktion und Anerkennung seitens des staates für die opfer von Millionen Männern (und Frau-en) immer stärker werden. daher berief lloyd George im oktober 1916 ein Komitee, welches die schaffung eines Erinnerungsstückes für die Angehörigen der Kriegstoten veranlassen und beraten sollte. das Aussehen und die Gestalt dieser Plakette waren Gegenstand zahlreicher strenger Vor-gaben: deren Ausmaße sollten z. B. rund 18 inch (je 2,54 cm) Grundfläche im Quadrat nicht überschreiten – groß genug um diese Medaille von regulären Militär- und Kampagnenmedaillen zu unterscheiden, aber klein genug, um nicht zuviel der kriegswichtigen Bronze zu verbrauchen. Zudem sollten die Worte ›Er starb für Freiheit und Ehre‹ darauf zu lesen sein.5 Zwar bedurfte der zu wählende Entwurf auch einer königlichen Genehmigung, doch wurde das eigentliche Aussehen mittels eines öffentlichen Wettbewerbes bestimmt. Grundlegend war hierbei der Gedanke, dass eine Gesellschaft, welche die opfer des Krieges trug, auch an der Gestaltung einer Erinnerungsga-be beteiligt sein sollte. dieser Philosophie folgte auch die im August in der Times annoncierte Ausschreibung, welche vorgab, dass alle eingereichten anonymisierten Vorschläge und Entwürfe einfach und verständlich in ihrer deutung sein müssten. Zudem sollte Platz ausgespart werden, auf dem der name des jeweiligen Toten individuell anzubringen sei. diese Anerkennung des einzelnen Toten ohne nennung des militärischen Ranges entsprach dem neuen Bedürfnis nach allgemeiner und gleicher Anerkennung aller erbrachten opfer ohne Rücksicht auf die soziale stellung in der Gesellschaft. Ganz identisch war auch das Vorgehen der 1917 gegründeten impe rial War Graves Commission (heute Commonwealth WGC), welche in den neu anzulegenden Fried-höfen die Gräber aller dort bestatteten soldaten mit dem gleichen Grabstein ausstatten ließ, der sich nur durch das Wappen der jeweiligen Einheit und die persönlichen daten inklusive des dienstranges unterschied (Abb. 2).6 Beide Entscheidungen zeigen deutlich den Willen, das per-sönliche leid und schicksal zu würdigen sowie gesellschaftliche Grenzen niederzureißen, so wie der Tod auf dem schlachtfeld auch keinen Unterschied machte.

im März 1918, also noch während des Krieges, wurde der erfolgreiche Entwurf vorgestellt. Eingereicht hatte ihn Edward Carter Preston (1885–1965) aus liverpool, der sich unter dem Pseu-donym Pyramus am Wettbewerb beteiligt hatte. das Bildrepertoire war wie angefordert einfach verständlich und eingängig (s. Kat. nr. B 6–7): Eine klassische Britannia steht im Zentrum des Bildes, ausgestattet mit einem dreizack, und bekränzt mit einem lorbeerkranz das rechteckige Feld mit dem namen des Toten. dieses ist ganz wie das übrige Bild der Medaille ebenfalls im Relief erhaben gearbeitet und nicht etwa nachträglich eingepunzt. delfine spielen auf die britische Vormacht zur see an, während ein schreitender löwe im Vordergrund ganz allgemein die stärke der nation personifiziert. Vor ihm erscheint ein Eichenzweig als Auszeichnung des gefallenen

5 Rund 600 Medaillen zum Gedenken an während des Krieges zu Tode gekommene Krankenschwestern ersetzen das He died mit She died.

6 Zudem waren konfessionelle Hinweise sowie Zusätze auf Wunsch der Familie möglich.

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soldaten. im Abschnitt ringt – ebenfalls in vertrauter Weise – der britische löwe den deutschen Adler nieder. die Rückseite ist glatt bis auf eine Herstellermarke.

Produktion und Verteilung der Next of Kin Memorial Plaque

schnell wurde den Beteiligten bewusst, dass die Entscheidung zur Produktion sehr viel einfacher war als deren Umsetzung. Zahlreiche technische Probleme der Herstellung, aber auch der künst-lerischen Umsetzung taten sich auf. Zwischen G. F. Hill und Carter Preston sind ausführliche Briefwechsel überliefert, in denen details der Bildmotive leidenschaftlich diskutiert wurden. selbst Vertreter des Zoos in Bristol meldeten sich in einem Brief an die Times vom 23. März 1918 zu Wort, um auf anatomische Unzulänglichkeiten der löwenfigur hinzuweisen.

die größte Herausforderung war aber, wie von Hill gefordert, die rund eine Million namen der Toten jeweils auf der Medaille aufzubringen. Für deren Herstellung in Acton (london) war zunächst ein Amerikaner namens Manning Pike verantwortlich, der dort ein erfahrenes weibliches Team arbeiten ließ, bis das Kriegsministerium intervenierte und sich die Produktion unterstellte. Eine neue Produktionsstätte wurde nun im Woolwich Arsenal eröffnet, wo jetzt ehemalige solda-ten die Arbeit übernahmen. schnell wurde klar, dass diese Entscheidung ein Fehler war, und das Ministerium musste widerstrebend Pike zu Hilfe rufen. Aber auch danach blieb die Qualität der Güsse hinter jenen der ersten Marge aus Acton zurück und Pike endete später am Bettelstab.

Trotz dieser Rückschläge gelang es aber, die beeindruckende Zahl von rund 1,15 Millionen Exemplaren herzustellen und an Angehörige der Toten im ganzen Empire zu verteilen. damit ist die Next of Kin Memorial Plaque auch zahlenmäßig eine der bedeutendsten militärischen Medail-len. Es würde aber zu kurz greifen, hier lediglich Zahlen zu bewerten, denn neben dem Aufwand in Produktion und bürokratischer Verwaltung ist gerade die Wirkung der nun zu verteilenden Medaillen einzigartig. Ab 1919 erhielten mehr als eine Million Familien eine Postsendung, welche die verpackte Medaille sowie eine Ehrenrolle und das faksimilierte Beileidsschreiben des Königs umfasste. Häufig genug wird der Empfang dieser sendung frische Wunden wieder aufgerissen haben, denn bedacht wurden alle zwischen dem 4. August 1914 und 10. Januar (bzw. 30. April)

2 das britische Thiepval Memorial in Frankreich für die Gefallenen ohne bekannte Grabstätte, darunter die Gefreiten Turner und Ford

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19207 zu Tode gekommenen Militärangehörigen, und die ersten Exemplare wurden im Januar 1919 produziert. Auch mussten Angehörige den Prozess der Beantragung durchaus als bürokratische und unpersönliche Prozedur empfunden haben: das Armeeformblatt W. 5080 musste penibel mit zahlreichen persönlichen daten aller Familienmitglieder ausgefüllt und sogar auf eine bestimmte Weise gefaltet werden, bevor es in seinem vorfrankierten Umschlag zurückgesendet werden konn-te. Häufig erhielten die Angehörigen dann auch die sog. War Medal sowie die englische Ausgabe der alliierten Victory Medal übersandt, welchen allen gefallenen und überlebenden soldaten zu-stand. somit ist die Next of Kin Memorial Plaque nicht nur ein direktes Zeugnis für die opfer des Krieges, sondern auch für den oft genug quälenden Prozess der millionenfachen Trauer, welchen die Angehörigen der Toten zu meistern hatten.

im Abstand von rund 100 Jahren werden wir heute kaum mehr in der lage sein, abzuschätzen, was die Angehörigen von John Edward Turner und leonard Ford empfanden, als sie diese Medail-len erst beantragten und dann empfingen.8 Anders als einige bekannte Exemplare sind diese zwei nicht von wohlmeinenden Händen wieder und wieder poliert worden bis name und Bild fast verschwanden. sie wurden wahrscheinlich an prominenter stelle im Haus aufgestellt – meist zu-sammen mit den militärischen Verdienstmedaillen –, häufig auch in den Fenstern zur straße hin, und bisweilen in Präsentationsrahmen und Postamenten montiert, welche findige Unternehmer schnell anboten. Ebenso anzutreffen war aber auch die Reaktion, diese materielle Manifestation des Verlustes eines geliebten Menschen nicht ertragen zu können, und die Medaille zusammen mit ihren zugehörigen schreiben und orden in der Verpackung zu belassen und tief in einem schrank zu vergraben.

Auch wenn uns heute der persönliche Bezug zu den Gefallenen nach mehr als drei Generati-onen fehlt – die letzten Veteranen des Krieges sind vor wenigen Jahren verstorben – so führen uns die erhaltenen Next of Kin Memorial Plaques das opfer dieser Männer und Frauen anschaulich vor Augen, einer Medaille, die niemand jemals zu erhalten hoffte.

7 Also seit dem Beginn des Weltkrieges und nach Abschluss verschiedener Militärinterventionen u. a. in Russland.

8 diese beiden Exemplare befinden sich heute im Münzkabinett (s. Kat. nr. B 6 und 7), ebenso wie die leonard Ford verliehenen Victory Medal und War Medal (s. Kat. B 8–9).