Komsomol, “Naši” und Informelle. Jugendmobilisierung in Russland. In: Osteuropa, 63:11-12...

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63. JAHRGANG I HEFf 11- 12 I NOVEMBER-DEZEMBER 2013 Auf einen Zug Anpassung und Ausbruch: Jugend in Osteuropa Editorial Blackbox Jugend 3 Catriona Kelly Die Entdeckung des Tinejdzer Sowjetische und postsowjetische Adoleszenz 5 Matthias Genera ti on Nichts Schwartz Jugendbilder osteuropäischer Frustrationsprosa 23 Hilary Punk im Pe rmafrost Pilkington Subkultur und Alltag in der Provinz 41 Ken Ro berts Gemischte Bil anz Ju gend und Politik in Osteuropa 53 Mikrokosmen der Jugend Rain.er Me nde Ode an die Freude? Polnische Migration und die Dlusion Europa 61 Alfrun Kliems Underground und Generation Jacek Podsiadlos Reise nach Bratislava 71 Melani Ba rlai Jung, un gari sch, schlecht gelaunt Rechtsextremi smus in der Generation Facebook 87 Jovana Papovic "Dizel"-Revival in Ser bi en Astrea Pejovic Wiederkehr einer Subkultur der 1 990er Jahre 97

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®~lieuropa 63. JAHRGANG I HEFf 11- 12 I NOVEMBER-DEZEMBER 2013

Auf einen Zug Anpassung und Ausbruch: Jugend in Osteuropa

Editorial Blackbox Jugend 3

Catriona Kelly Die Entdeckung des Tinejdzer Sowjetische und postsowjetische Adoleszenz 5

Matthias Generation Nichts Schwartz Jugendbilder osteuropäischer Frustrationsprosa 23

Hilary Punk im Permafrost Pilkington Subkultur und Alltag in der Provinz 41

Ken Roberts Gemischte Bilanz Jugend und Politik in Osteuropa 53

Mikrokosmen der Jugend

Rain.er Mende Ode an die Freude? Polnische Migration und die Dlusion Europa 61

Alfrun Kliems Underground und Generation Jacek Podsiadlos Reise nach Bratislava 71

Melani Barlai Jung, ungarisch, schlecht gelaunt Rechtsextremismus in der Generation Facebook 87

Jovana Papovic "Dizel"-Revival in Serbien Astrea Pejovic Wiederkehr einer Subkultur der 1 990er Jahre 97

Beschleunigte Jugend Herwig Reiter Christine Steiner Adoleszenz in Ostdeutschland und Litauen

Ingo Petz Ohnmacht und Anpassung Die heiarussische Jugend am Scheideweg

Felix Krawatzek Komsomol, Nasi und Informelle Jugendmobilisierung in Russland

Heike Winkel "Ich bin eine düstere Missgeburt" Jugendextremismus als literarisches Phänomen

Gleb Tsipursky Le flic, c' est moi Junge Freiwilligenmilizen in Russland

Anna Zelnina Polit-Tusovka Jugend und Gegenöffentlichkeit in St. Petersburg

Stefan Kirmse Am Rande mittendrin Globalisierte Jugend in Zentralasien

Bücher und Zeitschriften

Olena Nikolayenko: Citizens in the Making in Post-Soviet States

lvo Mijnssen: The Quest for an Ideal Youth in Putin's Russia I: Back to Our Future! History, Modernity and Patriotism according to Nashi, 2005-2012

Jussi Lassila: The Quest for an Ideal Youth in Putin's Russia Il. The Search for Distinctive Conformism in the Political Cornmunication of Nashi, 2005-2009

Abstracts

Ulla Pape

Martin Müller

Nele Quecke

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Felix Krawatzek

Komsomol, Nasi und Informelle

Jugendmobilisierung in Russland

"Jugend" ist eine wichtige Chiffre für politischen Aufbruch in Krisen. Wäh­rend der Perestrojka versuchte die Führung der KPdSU, Jugendliche für die Unterstützung der Reformen zu gewinnen. Doch sie verlor jede Kon­trolle über die Jugend. Während der Ora~gen Revolution in der Ukraine ging es dem Kreml gerade darum, ein Uberspringen der Reformforde­rungen auf Russland zu verhindern. Dazu baute die Präsidialadministra­tion die Jugendorganisation Nasi auf, die sie finanziert und kontrolliert. Gleichzeitig gibt es ein heterogenes Milieu von Jugendlichen, die sich politisch engagieren und jeder offiziellen Kontrolle entziehen.

In Zeiten politischer Unsicherheit und gesellschaftlichen Wandels steigt der symboli­sche Marktwelt von "Jugend". Verlierenjunge Europäer ilu· Vertrauen in die EU, so gilt dies als ein Zeichen der wirtschaftlichen und politischen Krise. Analog ist es in Russ­land. Auf die mit dieser symbolischen Aufladung des Begriffs verbundenen Appelle reagieren junge Menschen. Sie entwickeln politische Wertvorstellungen und suchen nach Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren; erst dadurch bilden sie eine kohärent wirkende Kohorte. ,Jugend" ist genau in jenen krisenhaften Momenten gefragt, in de­nen sich das Verhältnis von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont neu konstituiert und die schlichte Fortschreibung der Vergangenheit nicht reicht, um sich die Zukunft vorzustellen. 1

Jugend ist keine durch Altersgrenzen klar definierbare Gruppe. Zur Jugend gehö1t, wer sich dazu zählt oder von anderen dazu gezählt wird. Sie definiert sich politisch, je nach­dem, wie sie sich gegenüber politischen Entwicklungen positioniert und welche eigenen Antworten sie auf die im Raum stehenden Fragen formuliert. Wenn man solchen Fragen jenseits idealisierter Jugendbilder unvoreingenommen nachgeht, ermöglicht dies einen differenzie1ten Blick auf die Heterogenität politisch aktiver Jugendlicher. Gleichzeitig erlauben ihre Aktivitäten Rückschlüsse auf den Zustand des politischen Regimes. Die beiden hier zu behandelnden Zeiträume- die Perestrojka in der späten Sowjetunion sowie die Jahre während und nach den sogenannten farbigen Revolutionen (2004--2010) .- waren Phasen des Umbruchs, die von der Hoffnung auf und der Sorge um gesell­schaftspolitischen Wandel geprägt waren, ohne dass dieser in der erhofften Form unbe­dingt auch eintrat. Diese widersprüchlichen Erwartungen sind als Reaktion auf die ge-

Felix Krawatzek (1984 ), Doktorand, Nuffield College, University of Oxford 1 Reinhart Koselleck: "Erfahrungsraum'' und "Erwartungshorizont" - zwei historische Kate­

gorien, in: Ders.: V ergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frank:furt/Main '1995, s. 349-376.

0STEUROPA, 63. Jg.,ll-12/2013, S. 137~149

''1!

138 FC!ix Kruwatzek

sellschaftliche Öffnung während der Zeil der Glasnost und die Reformen der Perestroj­ka beziehungsweise die Reformen irrfolge der Regimewechsel in der Ukraine und in Georgien zu verstehen.

Ursprünge und Rahmenbedingungen politischer Jugendmobilisierung

Während der Perestrojka sowie irrfolge der ukrainischen Orangen Revolution traute die politische Führung in Russland insbesondere Jugendlichen ein Aufbrechen der vorherr­schenden autoritären Strukturen zu. Die Frühphase der Perestrojka war ganz von Appel­len gekennzeichnet, sich auf die Wurzeln des Leninismus zu besinnen, die Deformatio­nen der nachfolgenden Jahrzehnte zu überwinden und einen neuen Anlauf zum Aufbau eines authentischen Sozialismus zu nehmen. 1987 unterstrich der neue Generalsekretär Michail S. GorbaCev, dass die Jugend hierbei eine besondere RoHe spiele:

Auf den Schultern der Jugend liegt eine enorme Verantwortung - für das Land, die Zukunft des Sozialismus und die lried! iche Zukunft der Mensch­heit.1

Ein Jahr später variierte er dieses Motiv:

Ein Wald ohne Unterholz wächst nicht, er stirbt. Auch die Partei stirbt, wenn sie nicht eine kämpferische politische Jugendorganisation hat, die ihre Ziele teilt.3

Diese Jugend ist bei GorbaCev nicht nur Garant für die Zukunft, sondern sie trägt auch für den Tod der Pmtei Verantwmtung, wenn sie versagt. 25 Jahre später, als in Russland das Putin-Regime sorgenvoll auf die Orange Revolution in der Ukraine blickte, wo sich Hundeittausende gegen die vom Kreml gedeckten Fälschung der Präsidentenwahl wehr­ten, rückte die symbolische Bedeutung der Jugend erneut ins Zentrum der Überlegun­gen. So unterstrich der damalige Polittechnologe des Kreml Gleb Pavlovskij, dass nun die Kraft der russischen Jugend ausschlaggebend sei, um die "orangen Revolutionäre" in ihre Schranken zu weisen.4 Indem Politiker oder ihre Satrapen die Jugend zum Sym­bol erhoben, um unerwünschten gesellschaftlichen Wandel zu unterbinden, bemühten sie sich darum, sie stärker gesellschaftlich einzubinden und betonten deren politische Loyalität. In beiden Phasen engagierten sich Jugendliche nun stärker politisch, wobei sie damit unterschiedliche Erwartungen verbanden. Auch wurde der Jugend jeweils eine gesell­schaftsverändemde Rolle zugetraut. Während die politische Führung unter Gorbatev versuchte, die Jugendlichen zu laitischem Engagement zu ermutigen, schaffte es Putins Apparat, diesen jugendlichen Elan für eigene Interessen zu kanalisieren.

2 M.S. GorbaCev: MolodeZ' - tvorCeskaja sila revoljucionnogo obnovlenija, in: Pravda, 17.4.1987.

3 Perestrojka i molodeZ': vremja dejstvij, in: Izvestija, 31.1.1988. '1 U poslednej Certy, in: Sovetskaja Rossija, 12.4.2005.

Komsomol, NaSi und Informelle 139

PerestrcJjka: Befreiung von innen

Sowjetische Jugendliche suchten nicht erst w~end der Perestrojka jenseits des Kom­somol Olientierung und Gemeinschaft. Als 1957 in Moskau die groß gefeierten Welt­festspiele der Jugend ausgetragen wurden, beförderte das die Populmisierung und Verbreitung alternativer, häufig am Westen orientierter Jugendstile. 5 Dass dies Spuren hinterließ, zeigen die zeitgleichen Debatten über den Umgang mit nonkonformistischen Jugendlichen. Die bereits in der Stalinzeit schmf angegriffenen sogenannten stiljagi gerieten erneut in den Fokus öffentlicher Kritik.6 Angesichts eines expandierenden Han­dels mit Kleidung und Musik aus dem Westen und der allgemeinen Populatität westli­cher Moden und Stile verschärfte das Regime die Rechtslage.7 Auch in den Jahren der Perestrojka war es nicht in erster Linie politisches Engagement, das viele Jugendliche in Konflikt mit dem Komsomol brachte, vielmehr standen ihre persönlichen Interessen im Vordergrund: Fußball, Musik, die ersten Computer.M Doch auch solches Verhalten wur­de von reaktionären Mitgliedern der Konununislischen Partei als politisch motiviert und somit als illegitime Konkunenz zum Komsomol gedeutet. 9

Am Vorabend der Perestrojka war die Stellung des Komsomol seit längerem umstritten. Der Komsomol war zwar eine der größten, zugleich aber aufgnmd seines bürokrati­schen Charakters auch eine der unbeliebtesten sowjetischen lnstitutionen. 1u Wie stark seine moralische Autorität geschwunden war, zeigte der allgegenwärtige Spott, die Stilparodien auf offizielle Texte (der sogenannte steb ), welche die politische Führung lächerlich machten. Die 1986 gegründete Leningrader Rockband A VIA begeisterte sich für Versatzstücke sowjetischer Ideologie und mischte sie mit Elementen von Punk und erotischem Kabarett, so dass die ideologischen Aussagen ihrer Autorität subtil beraubt wurden. 11 Im Spätsozialismus schwanden die Möglichkeiten und der Wille zur zentralen

-' Juliane Fürst: Stalin's Last Generation: Soviet post-War Youth and the Emergence ofMature Socialism. Oxford 2010, S. 347.

6 Hilary Pilkin.srton bezeichnet die stiljagi als alternative Avantgarde, die an der Front ideologischer Subversion standen: H. Pilkington: Russia's Youth <md its Culture: A Nation's Constmctors and Constructcd. London 1994, S. 47.- Mark Edele: Stnmge Young Mcn in Stalin's Moscow. Thc Birth and Life of the Stiliagi, in: Jahrbücher für die Geschichte Ostcuropas, 112002, S. S. 37-61.

7 Sheila Fitzpatrick: Social Parasites: How Tramps, Idle Youth, and Busy Entrepreneurs lm­peded the Soviet March to Cmmnunism, in: Cahiers du monde russe, 1/2006, S. 377-408, hier S. 378-389. - Alexei Yurchak: Everything Was Forever, Until It Was No More: The Last Soviet Generation. Princeton 2005. Daneben finden sich zahlreiche Beiträge in der sow­jetischen Presse, u.a. I. Prelovskaja, A. Skrypnik: Pozor tynejadcam! RaboCie "Krasnogo -vyborZca", in: Komsomol'skaja Pravda, 4.9.1960.- A. Sukoncev, I. Satunovskij: Frenk sol­datkin- mcstnyj Cu:Zezemec, in: Komsomol'skaja Pravda, 25.8.1960.

8 Jim Riordan: Soviet Youth: Pioncers of Change, in: Soviet Studies, 4/1988, S. 556-72.­A.P. Fain: Specific Features of Informal Youth. Associations in Large Cities, in: Soviet So­ciology, 111990, S. 19-42.

9 S. KuSnerev: A vy kto takie, in: Pravda, 30.3.1987. Hier deutete sich an, dass der Komsomol den Bedürfnissen junger Menschen nicht mehr entsprach. Explizit formuliert dies: V. Li­sovskij: PoCemy timur utopil p01tfel? In: Pravda, 14.12.1987.- Bol'Sc prav- vySe otvetst­vennost', in: Argumenty i fakty, 9.12.1986.

10 L. Byzorov, G. GureviC: SociologiCeskoe issledovanie. Peremeny v politiCeskom soznanii, in: Argumenty i fakty, 17.2.1990.- Molodym idti dal'Se, in: Izvestija, 8.7.1984.

11 Alexei Yurchak: Gagc:u·in and the Rave Kids: Transforming Power, Identity, and Aesthetics in the Post-Soviet Night Life, in: Adele Barker (Hg.): Consuming Russia: Popular Culture, Sex, and Society since Gorbachev. Durham, N.C.: Duke University Press, S. 76-109.

140 Filix Knrwatzek

Kontrolle des Komsomol weiter. Selbst GorbaCev verhehlte nicht die Entfremdung zwischen den Jugendlichen und der Jugendorganisation:

Die Masse der Jugendlichen läuft auf einer Seite der Straße, der Komsomol auf der anderen - aber viel schlitmner noch, beide laufen in entgegengesetzte Richtungen. 12

Kein Wunder, dass seit den frühen 1980er Jahren die neformaly, jugendliche Subkultu­ren, florierten.u Tm Sommer 1986 wurden dann neue ,,Bestinunungen für freiwillige Vereinigungen" erlassen. Das ermöglichte den Medien nun, über die nefonnaly ausgie­big zu berichten. Der Begriff wurde zum Synonym für Verändenmgen in der sowjeti­schen Gesellschaft. Die meisten dieser informellen Gruppen setzten sich mit Themen wie der Wohnungssituation oder der Bildungsreform auseinander, die Jugendliche di­rekt betrafen, aber die der Komsomol weitgehend ignorierte. 14 Diese ftühe Phase, in der sich Jugendliche mit unmittelbaren Alltagsproblemen auseinandersetzten, endete im SollllUer 1987. Motiviert von den ersten Erfolgen der nefonnaly schlossen sich ihnen bereits seit länge­rem aktive Dissidenten wie Boiis Kagarlickij, Pavel Kudjukin oder Gleb Pavlovskij an. Sie trugen zur Politisierung der nejbnnaly bei, die nun selbstbewusster auftraten und explizit eine andere Politik forderten. 15 Die meisten Jugendlichen waren zwar nach wie vor Mitglieder des Komsomol. Vor GorbaCevs Amtsantritt hatte der Komsomol angeb­lich 42 Millionen Mitglieder.'" Doch gleichzeitig stieg die Zahl der neformaly rasant. Die Pravda sprach im Dezember 1987 bereits von über 30 000, im Febmar 1989 gar von 60 000 Gruppen. 17 Engagement in mehreren Gruppen gleichzeitig war nicht ausge­schlossen und neben einer Unmenge relativ kleiner Gruppierungen gab es auch solche, die ein substantielles Medienecho hervorriefen, 13 wie etwa die anarchistische Studenten­vereinigung ObSCina (Gemeinschaft) oder die nationalistische Bewegung Pamjat' (Ge­denken), an der viele Jugendliche teilnahmen. Nachdem die Zeitung Sovetskaja Rossija im März 1988 einen kommunistisch­reaktionären Altikel von Nina Andreeva abgedruckt hatte, in dem sie unter anderem

12 GorbaCev, MolodeZ' [Fn. 2]. 13 Der Begriff nefonnaly bezieht sich auf die Abgrenzung vom Formalismus der offiziellen

Jugendgruppen sowie auf das Fehlen eines offiziellen Status; KuSnerev, A vy kto takie [Fn. 9]. Als Synonyme wurden die Begriffe "neformal'noe obSCestvennoe ob"edinenija" und "samodejatel'nye ob"edinenija" verwendet. Als Überblick Aleksandr Subin: Predannaja de~ mokratija: SSSR i neformaly: 1986~1989. Moskva 2006.

I~ Igor' Sudiev: Neformal'nye molodeZnye ob"edinenija: Opyt ekspozicii, in: SociologiCeskie Issledovanija, 5/1987, S. 56-62.

15 VjaCeslav Igrunov: 0 neformal'nych politiCeskich klubach Moskvy, in: Problemy vostoCnoi evropy, 27-28/1989.

16 Junost' rodiny- Komsomol, in: Izvestija, 29.5.1984. 17 Demokratija i iniciativa, in: Pravda, 27.12.1987. ~ Demokratija ne terpit dcmagogii, in:

Pravda, 10.2.1989.- Nicolai Petro: Perestroika from Below: Voluntary Sociopolitical Asso~ ciations in the RSFSR, in: Alfred J. Rieber, Alvin Z. Rubinstein (Hg.): Perestroika at the Crossroads. Armonk, N.Y., London 1991, S. 102-135, S. 103.

1 ~ Vladimir Jakovlev: ProSCanie s Bazarovym, in: Ogonek, 5.9.1987, S. 4-5.

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Stalin rehabilitierte, erhielt die Debatte iiber die Perestrojka weiteren Auftrieb. 1Y Andre­

eva beschuldigte die Reformer, insbesondere unter der .Jugend Verwinung zu stiften. Die nejOrmaly hatten mittlerweile einen gewiss'en Handlungsspielraum gewonnen. Vom 7. bis 9. Mai 1988 fand ein überregionales Koordinationstreffen in Moskau statt, auf dem die Demokratische Vereinigung gegründet wurde. Dieser Zusammenschluss be­stand aus Führungspersonen der von Valerija Novodvorskaja geleiteten Seminaneibe Demokratija i Gumanizm (Demokratie und Humanismus), Julij Skubko und Viktor Kuzin von Perestrojka (Umbau) sowie unabhängigen nefonnaly wie Lev UboZ.ko (spä­terer Führer der LDP) oder Vladimir Zhinovskij. Während des sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffens Anfang Mai 1988 in Moskau nutzten Tausende neformaly den Schutz der internationalen Medien zu Demonstratio­nen. Die Miliz ließ die Demonstranten vom Bol'Soj-Theater zum PuSkin-Platz ziehen. Dort gingen öffentliche Diskussionen nun nach dem Vorbild des Londoner Hydeparks weiter. 20 Die 19. Parteikonferenz der KPdSU vom Juni 1988, auf der GorbaCev zur weiteren Demokratisierung die Einrichtung des Volksdeputiertenkongresses ankündigte, fand unter diesem wachsenden öffentlichen Druck statt. Jugendliche nutzten die entstehenden Freiheiten in der Sowjetunion. Seit GorbaCevs Machtantritt erschien gesellschaftspolitischer Wandel möglich. Sich öffentlich zu enga­gieren, versprach Hoffnung auf Erfolg. Dies zeigte sich zunächst "im Kleinen" etwa bei Problemen auf kommunaler Ebene wie bei Aktionen zum Schutz von Kulturgütern.21

Zunehmend glaubten die Aktivisten daran, die verhärteten autoritären Strukturen auf­brechen zu können, der Erwartungshorizont der Zeitgenossen weitete sich. Westliche Medien unterstrichen die nach wie vor bestehenden Einschränkungen politischen Enga­gements.21 Doch Jugendliche nalunen das mit ihren Aktivitäten einhergehende Risiko in Kauf. 23 Sie verließen die ausgetretenen Pfade des Komsomol frühzeitig und entzogen sich stärker und frühzeitiger als andere Gesellschaftsgruppen dem staatlichen und par­teipolitischen Zugriff.

Russland: Der Ruf von außen

Bevor es in Georgien, der Ukraine und in Kirgisistan zu den "Farbrevolutionen" kam, spielten politisch aktive Jugendliche in Russland eine marginale Rolle. Die Organisation Idu.fCie Vmeste (Die gemeinsam Gehenden) war bereits im Jahr 2000 nach Vladimir Putins Amtsantritt als Präsident Russlands gegründet worden. Erster Vorsitzender war Vladimir Jakemenko. Doch der Versuch, eine Organisation zu schaffen, die das Regime öffentlich unterstützen sollte, scheitette. Sehr schnell entzog die Präsidialverwaltung

19 Nina Amlreeva: Ne mogy postupat'sja principami, in: Sovetskaja Rossija, !3.3.1988. -Kritische Reaktionen erschienen erst drei Wochen später: Principy perestrojki: revoljucion­nost' mySlenija i dejstvij, in: Pravda, 5.4.1988.

2n Vladimir Brovkin: Revolution from below: Informal Political Associations in Russia 1988-1989, in: Soviet Studies, 2/1990, S. 233-257, S. 235. Die sowjetische Presse erwähnte diese Demo nicht.- Gorbachev greats up for his make-or-break test, in: The Times, 25.6.1988

21 In Irkutsk setzten sich die "SCerbakovcy" für den Schutz des gleichnamigen Palastes ein; Jakovlev, ProSCanie [Fn. 18]. In Leningrad engagierte sich "Spasenie" (Rettung) für den Er­halt des "Hotel Angleterre"; Boris Kagarlicky: The lntelligentsia and the Changes, in: New Left Review, 164/1987, S. 5-26, S. 20-21.

22 Political Groups Emergc Despite Official Repression, in: Thc Timcs, 21.8.1989. 23 Jakovlev, ProSCanie [Fn. 18].

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diesem Projekt die Rückendeckung. Ausschlaggebend waren finanzielle Unregelmäßig­keiten und Aktionen wie die Diffamierung des postmodemen Autors Vladimir Sorokin, die sich für Putins internationales Image' als kontraproduktiv erwiesen. 24 Ebenfalls 2000 entstanden kommunistische Jugendgruppen wie die Avangard krasnoj molodeZi (AKM

1

Avantgarde der roten Jugend), die ideologisch radikalere und gewalttätigere Bewegung um Sergej Udal 'cov oder die gemäßigtere Revoljucionnyj kommunistiCesk(j so}uz molo­deii (bol'sevikov) (RKSM(b), Revolutionäre kommunistische Jugendunion der Bol­schewiki).2'; Sie blieben randständig. Seit 2002 gibt es die nationalistische DviZenie protiv nelegal'noj immigracii (DPNI, Bewegung gegen illegale Immigration). Zwar versteht sich die antisemitische und fremdenfeindliche DPNI nicht explizit als Jugend~ bewegung, dennoch stellen Jugendliche ihre Hauptzielgmppe dar." Bis zum Jahr 2005 wuchs die DPNI rasch und baute über 30 Regionalbüros auf. 27

Wechselseitige Indifferenz zwischen Jugendlichen und politischer Führung charakteri­sierte die Situation vor 2005. Dies änderte sich grundlegend mit der Orangen Revoluti­on in der Ukraine. Medien diskutierten intensiv, welche Auswirkungen der Aufbruch auf Russland haben werde·. 28 Die Niederlage von Viktor JanukoviC, auf den der Kreml gesetzt hatte, ließ das Regime nervös werden. Es versuchte, zivilgesellschaftliche Orga­nisationen zu kontrollieren. So wurde ein neues NGO-Gesetz verabschiedet und die Gesellschaftskammer (Obscestvermaja Palata) als ot1izielles zivilgesellschaftliches Forum gegriindet. Gleichzeitig kristallisierte sich in der Präsidialadministration die Überzeugung heraus, mit einer eigenen Jugendbewegung derartigen Entwicklungen in Russland entgegenwirken zu müssen. 29

Das Regime sah in der Gründung der von Michail Obozov gegtiindeten Studentenorga­nisation IduSeie hez Putina (Die ohne Putin Gehenden) ein Anzeichen dafür, dass die Orange Revolution auf Russland übergt·eifen könne. Russische Zeitungen berichteten, im Januar 2005 habe die Gruppe bereits aus "metu:eren hunde1t Personen" bestanden und verstehe sich als Ableger der ukrainischen Jugendorganisation Parelf (Es ist Zeit1). 30

IduSeie hez Putina zielte auf jene Teile der Gesellschaft, die des Systems Putin über­drüssig waren. Mitglieder machten die Gruppe durch medienwirksame Auftritte be-

24 Ulrich Schmid: NaSi- Die Putin-Jugend. Sowjettradition und Konzeptkunst, in: ÜSTEUROPA, 5/2006, s. 3-t9, s. 5.

25 Programmnoe zajavlenie AKM, http://akm1917.su/Program sowie die Charter: Ustav AKM, http://akm1917.su/Ustav im Vergleich zur Charter von RKSM(b) http://rksmb.org/ustav.php

26 Galina KoZevnikova: Radikal'nyj nacionalizm v Rossii i protivodejstvie emu v 2006 godu, <www .sova-center.ru/racism-xenophobia/publications/2007/04/d 10516/>. - Der Anführer der Gruppe, Aleksandr Belov (Potkin), war führendes Mitglied von Pamjat'.

27 Mikhail MoSkin: Segodnja. C'ja Moskva? In: Moskovskij Komsomolec, 7.11.2005.- Ma.r­~~~ne Laruelle: In the Name of the Nation: Nationalism and Politics in Contemporary Russia. Basingstoke 2009, S. 74.

28 Tatjana IvZenko: "NaSi idei naSli podderZku v sosednej strane". Lidery ukrainskogo molodeZnogo dviZenija zaduma.lis' ob eksporte "oranZevoj revoljucii'', in: Neza.visimaja ga­zeta., 28.12.2004. Jeanne Wilson weist darauf hin, dass Polittechnologen wie Pavlovskij und Politiker die Farbrevolutionen als Versuch des Westens interpretierten, Russland zu isolie­ren: Colour Revolutions: The View frorn Moscow and Beijing, in: Journal of Communist Studiesand Transition Politics, 2-3/2009, S. 369-395, S. 370.

29 So der damalige Generalsekretär der Partei der Macht Edinaja Rossija, Valerij Bogomolov. Marija-Luiza Tirmaste: Partijnaja Zizn'. Edinorossy bojatsja ,,oranZevoj revoljucii'' i sozda­dut d1ja ee predotvraSCenija "massovoe dviZenie", in: Kommersant", 24.12.2004.

30 lgor' Slin 'kov: PolitiCeskaja sreda. ",IduS:Cie' bez Putina", in: Rossijskie Vesti, 19.1.2005.

Komsomol, Nai'ii und b~formelle 143

kannt. Bei regierungsnahen Veranstaltungen oder Umzügen zeigten sie kritische Poster oder skandierten sarkastische Sprüche wie "Ja, wir wollen die Tyrannei des Kreml". Einzelne Journalisten sahen sich durch diese Happenings an das Erwachen der Jugend im hanzösischen Mai 1968 erinnert. 31 Tatsächlich handelte es sich dabei um die Über­nahme von Formen des politischen Protestes aus der Ukraine. Das zeigt, wie schnell und problemlos Ideen dank digitaler Kornmunikation über Ländergrenzen zu transferie­ren sind . .1 2

Die Idee der "Revolution in Orange" verbreitete sich jedoch nicht nur unter ihren Be­fürwortern, sondern auch unter ihren Gegnern: Der Kreml lernte aus der "orangen Ge­fahr", dass die Straße für die Politik eine Rolle spielt" und die Unterstützung der Jugend zur Bewahrung der politischen Stabilität und der eigenen Macht hilfreich ist. Im März 2005 wurde die kremlnahe Organisation Jdu§Cie Vmeste aufgelöst und stattdessen Nali (Die Unsrigen) gegründet. Dieser Schritt stellte mehr als nur die Namensänderung dar. Er war eine Zäsur. Die neue Bewegung zeichnete sich durch Schlagkraft und Unterstüt­zung von oberster staatlicher Ebene aus. Federführend war der damalige Chefideologe des Kreml, Vladislav Surkov. Bei dieser Entscheidung spielte auch die Lehre aus der Perestrojka eine Rolle, als das Regime binnen Kurzern jede Kontrolle über die Jugend verlor. Nun wollte die Präsidialverwaltung ein solches Szenario unbedingt vermeiden und die Jugend an das bestehende System binden. Die NaSi traten von Anfang an als Gegner der "Revolution in Orange" und der oppositi­onellen Kräfte in Russland an: "NaSi muss eine Altemative zu den destruktiven Kräften im Land sein, bereit für einen gewaltsamen Kampf', so der Anführer der Bewegung, Jakemenko.34 Programmatisch vertraten sie die von Surkov geprägte Formel der "souve­ränen Demokratie", um sich so gegen die Idee der Demokratie als politische Ordnung zu immunisieren, die auf der Achtung der Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit und Ge­waltenteilung gtündet. Insbesondere zu Beginn nahmen ranghohe Politiker wie Vladi­mir Putin und Dmitrij Medvedev sowie die Polittechnologen Surkov, Pavlovskij und Sergej Markov an Veranstaltungen der Na§i teil. Zur Identitätsbildung der NaSi­

Mitglieder war die Konfrontation mit den vermeintlichen "Faschisten" und einer "fa­schistischen Bedrohung" von außen wichtig. Dieses Bild wurde permanent bemüht: Pavlovsk~j unterstrich, dass die Mitglieder der NaSi in der Lage sein müssen, "faschisti­sche Demonstrationen gewaltsam aufzulösen". 35 Dieses Bild knüpft natürlich an die sowjetpatriotische Heroisienmg des Sieges im "Großen Vaterländischen Krieg" über den Faschismus an, der erinnerungspolitisch sakralisiert wurde. Jeder Aktion der NaSi konnte so ein "höherer" Sinn verliehen werden. 36

Doch auch die jugendlichen Oppositionsgruppen strukturie1ien sich neu. Aus Jdu§Cie bez Putina ging die Organisation My! (Wir!) unter Leitung von Roman Dobrochotov

Jl Michail MoSkin: Politika: OpriCniki protiv d:i.edaev, in: Moskovskij Komsomolec, 1.3.2005. 32 Mark Beissinger: Structure and Example in Modular Political Phenomena: Diffusion of the

Bulldozer/Rose/Orangeffulip Revolutions, in: Perspectives on Politics, 2/2007, S. 259-276. -'3 Sagen Ogand:lanjan, Dmitrij Taratorin: SveZaja Krov', in: Novye Izvestija, 28.2.2005.

34 Tat'jana Stanovaja: Rossijskaja molodeZ': ugroza ili resurs? In: Indeks, 23/2006, <www.index.org.ru(joumal/23/stan23.html>.

35 Ajdar Buribaev: GostL "NaSi'' dlja putina svoi, in: Gazeta, 27.7.2005. 36 Manifest molode.inogo dviZenija NASI, <www.nashi.su/manifest>.

144 Filix Krawatzek

hervor. Die Bewegung blieb zwar klein, konnte aber durch innovative Aktivitäten die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen. 37

Dieses Wechselspiel von äußeren Einflüssen und gesellschaftspolitischen Veränderun­gen führte zur Politisierung. Der veränderte Erwartungshorizont, der Glaube an die Möglichkeit einer "Birkenrevolution", ließ mehr junge Menschen politisch aktiv werden - fi.ir oder gegen das Regime. Während die Mobilisierung in der Perestrojka durch eine Öffnung im Inneren etiülgt war, entstand sie inPutins Russland durch einen Ideentrans­fer von außen.

Jugend in Aktion, Teil I: die Opposition

Das politische Engagement Jugendlicher außerhalb der offiziellen Strukturen ist hetero­gen. Von dem jugendlichen Engagement lässt sichangesichtsder vieltliltigen Aktivitä­ten in einem breiten politischen Spektmm ohnehin kaum sprechen. Während der Perestrojka engagierten sich Jugendliche als neforma!y in Subkulturen. Zeitungen wie Argumenty i fakty oder Literaturnaja gazeta schenkten Fragen wie der Wohnungsnot, der überfaltigen Bildungsreform und "Subkulturen" besondere Aufmerk­samkeil.-'N Diese Entwicklungen wurden nicht nur von sowjetischen Experten in der Zeitschrift SociologiCeskie issledovanija diskutiert, sondern fanden auch dadurch weite publizistische Verbreitung, dass populäre Medien wie das Satiremagazin Krokodil das Thema 1984 auf die Titelseite hievten_\9 oder mutige Regisseure wie der Lette Juris Podnieks (1950--1992) sich dieses Problems annahmen. In seinem Dokumentarfilm Legko li hyt' molodym? (Ist es leicht, jung zu sein?) ließ er erstmals ausführlich pessi­mistisch bis oppositionell gestimmte Jugendliche zu Wort kommen und zeigte so die Perspektivlosigkeit und Ttistesse des spätsowjetischen Alltags. Die scharfe Kritik des Films, geäußert in den Worten junger Menschen, traf den Puls der Zeit und verbreitete sich in Windeseile in der gesamten UdSSR. Für jeden war nun ersichtlich, wie stark sich die Jugend von der Elterngeneration entfremdet hatte. Die Wochenzeitschrift Ogonek, die damals Rekordauflagen erzielte, m1ei1te:

Der Film ist eine Entdeckung. Eine Entdeckung fürs Kino, eine Entdeckung für die Soziologie, eine Entdeckung für die Psychologie.40

Die gesellschaftliche Einbindung der Jugend stand auf der Tagesordnung. Insbesondere vermeintlich abweichende oder extremistische politische Einstellungen Jugendlicher etwa aus der Gruppe Pamjat' wurden diskutiert. Diese Atmosphäre und die Vorwürfe, dass die samodejatel'nye oh"edinenija (selbstständige Vereinigungen) die neuen Frei­heiten für extremistische Ziele missbrauchten, brachte Gleb Pavlovskij auf den Punkt, als er von einem "extremen Kampf gegen Extremisten" sprach.41 Die antisemitischen

37 "My!" steht exemplarisch für die vielen jugendlichen Oppositionsgruppen. 38 Argumenty i fakty (30/1985) widmete sich fast vollständig den Problemen Jugendlicher. In

der Literaturnaja gazetabehandelte vor allem Jurij SCekoCichin diese Themen. 39 Die Ausgabe vom Oktober 1984 illustriert den generationeilen Bruch durch das Konsum­

verhalten und die Respektlosigkeit einer jungen Russin ihrer Großmutter gegenüber. 40 Vladimir SachidZanjan: Razbitye stekla Jurisa Podnieksa, in: Ogonek, 4.4.1987, S. 6-7. 41 Neformal'no o nefonnalach, in: Moskovskie novosti, 13.9.1987.

Komsomol, NaSi und lr{/Ormelle 145

und ultranationalistischen Einstellungen von Pamjat'-Gtünder Dmitrij Vasil'ev wurden genutzt, um alle informellen politischen Gruppen zu diffamieren oder unter Generalver­dacht zu stellen. Vladimir Petrov behauptete irl der Pravda, dass allerOits

offen extremistische Reden gehalten werden und nationaler Hass geschürt wird. All das geschieht unter dem Mantel von Demokratie und Glasnost.42

Unter ihnen gab es den eher links eingestellten Klub social'nych iniciativ (KSI, Klub sozialer Initiativen) unter der Leitung von Bolis Kagarlickij, Gleb Pavlovskij und Mi­chail Maljutin4

_j oder eher liberaldemokratisch otientierte Gruppen wie Al)ans (Allianz) oder die bereits erwähnten Demokratija i Gumanizm und Perestrojka, die eine grundle­gende Änderung des politischen Systems, Pluralismus, Versammlungs- und Pressefrei­heit fordetten . .J4

Die Aktivitäten dieser Gruppen bestanden primär aus Versammlungen, politischen Debatten sowie Protestmärschen. Im Mittelpunkt stand die inhaltliche Auseinanderset­zung mit politischen Optionen. Nicht die schlichte Existenz dieser Gruppen stellte das Novum dar, sondem die Tatsache, dass sie öffentlich wahrgenommen werden konnten und von Forschern gar angenommen wurde, dass ihre Rolle in der künftigen Gestaltung der sowjetischen Gesellschaft mit fortschreitender Demokratisierung wachse. Denn hierdurch entstehe, so eine damalige These, die Möglichkeit für ihre Expansion und Konsolidierung.~5

Auch eineinhalb Jahrzehnte nach der Perestrojka engagierten sich Jugendliche in einem breiten politischen Spektrum. Insbesondere die erwähnte Bewegung gegen illegale Immigration (DPNI) rekrutierte in dieser Phase zahlreiche Jugendliche als Mitglieder.46

Gleichzeitig kam es zur punktuellen Kooperation zwischen an sich gegensätzlichen ideologischen Strömungen.47 Zur politischen Mobilisierung griffen Organisationen wie My! zum Mittel der Kunst. Im April 2005 planten My!~Mitglieder, den Roten Platz mit orangenen Luftballons zu bedecken. Der Kreml reagierte höchst nervös und ließ die Teilnehmer bereits vor ihrer Ankunft auf dem Roten Platz von der Polizei abfangen.48

Ein anderes Mal griffen Mitglieder von My! auf Protestformen sowjetischer Dissidenten zurück. Sie verteilten unter Passanten unbeschriebene weiße Blätter oder traten in der Nähe des Regierungssitzes ,,Weißes Haus" mit weißen Plakaten und zugeklebten Mün­dern auf.4

" Dadurch, dass alle "Demonstranten" vor dem Weißen Haus festgenommen

42 Vladimir Petrov: Pamjat' i drugie, in: Pravda, 27.12.1988. 4

_] VjaCeslav Igrunov: KSI i drugie, in: Russkij Zurnal, 6/1988, <www .igrunov .ru/cv/vchk -cv-chosenpubl/vchk-cv-chosenpubl-KSI.html>.

44 Subin, Prcdannaja demokratija lFn. 13]. 45 V1adimir OvCinskij: Netürrnal v Lakone, in: SociologiCeskie lssledovanija, 2/1989, S. 63-70, S. 68. ~6 Verlässliche Mitgliederzahlen gibt es nicht. Die Rede ist unbestimmt von mehreren Tausend;

ObSCestvennaja Palata. Doklad o sostojanii gra:Zdanskogo obSCestva v Rossijskoj Federacii 2007, <www.oprf.ru/files/final.pdf>, S. 53.

'17 Das SOV A-Zentrum behauptet, die DPNI habe im Mai 2006 gemeinsam mit linken Jugend­

gruppen wie SKM gegen die Gay Pride demonstriert; Ko:Zevnikova, Radikal'nyj nacionalizm [Fn. 26].

48 Andrej LoSak: Tcma nomera. Partii zelenych, in: Ogonek, 10.10.2005. 49 VjaCeslav FerapoSkin: Sobytija: Akcija dvi:Zenija ,,My" u belogo doma, in: Grani TV,

<http:/ /grani-t v .ru/entries/618> sowie <www. wefree.ru/?id=3&news_id= 192>.

146 Filix KraiYatzek

wurden, sahen sie sich in ihrer Warnung vor einer Rückkehr sowjetischer Verhältnisse unter Putin bestätigt. 5°

Diese Beispiele sind repräsentativ für viele ihrer Aktionen. Wie die Occupy-Bewegung wählen sie die theatralische Inszenierung politischen Widerstands. Auch Spott zur Dis­kreditierung autoritärer Henschaft ist für ihren Protest charakteristisch. In Russland geht damit ein subtiles Spiel einher, wo die Grenze des politisch Zulässigen verläuft. Mitun­ter scheint es allerdings, als wären die Kommunizierbarkeit spektakulärer Aktionen und das Medieninteresse den Protestierenden wichtiger als die politische Botschaft oder die Größe der Bewegung. Dem Regime fallt es dadurch aber ebenso schwer einzuschätzen, welche Mobilisierungsfahigkeit diese Bewegung im Krisenfall tatsächlich hat.

Jugend in Aktion, Teil II: die Systemjugendlichen Komsomol und Nasi

Die Ähnlichkeit der beiden offiziösen Jugendorganisationen verleitet Kommentatoren dazu, Na.fi als Wiederkehr des Komsomol darzustellen.51 Doch dieser Eindruck trügt. Zwar werden die NaSi wie früher der Komsomol vom Machtapparat finanziert. Und auch der privilegierte Zugang zu den Medien ist ähnlich. Doch die öffentliche Wahr­nehmung der NaSi und ihre Bedeutung für Jugendliche ist eine grundlegend andere, als es früher beim Komsomol der Fall war. Die Diskrepanz zwischen dem Jugendbild, das der Komsomol repräsentierte, und der Realität wurde immer deutlicher, je weiter die Perestrojka voranschritt Obwohl selbst die offiziellen Medien immer offener über die Probleme der riesigen Organisation spra­chen, 52 versuchte der Komsomol weiterhin, sich als das zentrale Sprachrohr der Jugend­lichen zu inszenieren. Funktionäre bestiitten jede Krise. 53 Betonten die einen damals die Untergangsstimmung, glorifizierten die anderen weit zurückliegende Heldentaten beim Aufbau des Sozialismus. Doch kam die Führung des Komsomol nicht umhin, sich der neuen Realität anzupassen. An die Stelle ideologischer VorlesUngen traten Discos. Ent­scheidungskompetenzen und Kontrollmechanismen wurden dezentralisiert, den Jugend­lichen größere Gestaltungsspielräume eingeräumt. 5 ~ Im Juli 1986 wurde der gerade mal 33-jährige Viktor Mironenko zum Ersten Generalsekretär des Komsomol emannt.55

Ganz im Sinne der emphatischen Appelle von GorbaCev sollte so die Jugend für die Perestrojka gewonnen werden. 56 Doch al1 das konnte den Niedergang der Organisation nicht autbalten. Je schwächer das machtpolitische Zentrum, desto stärker wurden die

50 Bis auf Roman Dobrochotov wurden alle Teilnehmer gegen Zahlung einer Geldstrafe am nächsten Tag freigelassen. Dobrochotov blieb wegen "Beleidigung eines Polizeibeamten" vier Tage in Haft; Ekaterina Savina, Maxim Cernigov, Aktivistov DviZenija "My" prigo­vorili za Cistye listy, in: Kommersant", 26.7.2009.

51 Sovetskij renessans, in: Ogonek, 1.1.2007. - Pionerija vozrodilas'. Teper' eto miSki, in: Komsomol'skaja Pravda, 7.12.2007. - Masha Lipman: Preempting Politics in Russia, in: The Washington Post, 25.7.2005.

52 Risk ostaetsja, ibo stru·oe nikogda ne uchodil bez boja, in: Izvestija, 3.1.1989. 53 V lauge i vne ego, in: Pravda, 16.2.1987. 5 ~ Bol' Se prav- vySe otvetstvennost', in: Argumenty i Fakty, 9.12.1986. - Bill Keller: Russia's

Restless Youth, in: The New York Times, 26.7.1987. 55 Jörg Mettke: "Ich hätte lieber eine geheime Wahl gehabt", in: Der Spiegel, 15.6.1987. 56 Michail GorbaCev: Energiju molodeZi - delu perestrojki. ReC' na vsesojusnom studen­

Ceskom forume, 15 nojabrja 1989. Moskva 1989.

Komsomol, NaSi und !t{{onnelle 147

zentrifugalen Tendenzen. Insbesondere in den Regionen nutzten Mitglieder den Ver­band zunehmend für rein persönliche Zwecke. 57 Dem letzten Generalsekretär, Vladimir ~jukin, blieb nur, das Konkursverfahren dUrchzuführen, das mit der Auflösung des Verbands im August 1991 endete. Die schriltweise Auflösung des Komsomol folgte dem Tempo, in dem die Sowjetunion auseinandelfieL Gerade in den Republiken wurde der Komsomol seiner Legitimität beraubt. Im Vergleich dazu agieren die vom Kreml geförderten Na.fi erfolgreich. Sie demonstrie­ren die Stärke des Regimes, indem sie 50 000-60 000 Jugendliche öffentlich mobilisie, ren.58 Primäres Ziel der Na.fi war, das Regime vor der "orangen Gefahr" zu schützen. Dazu bedienten sich die NaSi der Diffamierung westlicher We11e und einer Glorifizie­rung der sowjetischen Geschichte. 59 Zum 60. Jahrestag des sowjetischen Sieges über das nationalsozialistische Deutschland inszenierten die NaSi ilu·e patriotische Begeisterung mit symbolischen Akten wie der Übergabe von Stoffresten von angeblich authentischen Kriegsunifmmen mit der Auf<>chrift "Gedenke des Krieges, bewahre die Heimat!" Da­durch versuchte sich die Bewegung als legitime Nachfolgerinder sowjetischen Kämpfer gegen den Faschismus darzustellen.w 2005 ging es um die Verteidigung des heroischen sowjetischen Geschichtsbildes, das mit der Aufarbeitung des Stalinismus im In- und Ausland infrage gestellt wurde. Die Entschlossenheit der Nw,':i, die offizielle Lesart der Geschichte zu verteidigen, zeigte sich drei Jahre später, als die Na.fi gegen die Verset­zung des Kriegerdenkmals in Estland mobil machten.61 Beim nächsten großen Jubiläum 2010 war der Akzent leicht verschoben. Nach kritischen Debatten über Stalin und den Stalinismus62 richten sich die Versammlungen der Na§i nun gegen vermeintliche "Ge­schichtsfälschungen", womit Geschichtsinterpretationen aus dem Baltikum und OstnUt­teleuropa gemeint sind, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt Opferzweier Diktaturen gewe­sen waren und dem sowjetischen Narrativ, dass diese Länder "befreit" worden seien, kritisch bis ablehnend gegenüber stehen.~_] Doch der Streit um Geschichte und Eriime­rung an den "Großen Vaterländischen Krieg" ist kein spezifisches Phänomen der NaSi. Aber es gelingt ihnen, zu solchen Anlässen große Menschenmengen zu ;nobilisieren -und zwar sowjetisch sozialisierte Alte und in postkommunistischen Verhältnissen auf­gewachsene Jugendliche. Sicher spielen auch andere Faktoren eine Rolle dabei, dass so

57 Steven Solnick: Stealing the State: Control and Collapse in Soviet Institutions. Cambridgc, Mass. 1998, S. 118.- Subin, Predannaja demokratija rfn. 13}, S. 18.

58 Robert Horvath: Putin's ,,Preventive Counter-Revolution": Post-Soviet Authoritarianism and the Spcctre ofVelvet Revolution. Milton Park, Abingdon 2013.

59 Koncepcija izmenilas', in: Kommers<mt", 5.8.2007. 60 Sagen OgandZanjan: AntifaSistskoe naSestvie, in: Novye Izvcstija, 16.3.2005. ~~ Karsten Briiggemann: Denkmäler des Grolls. Estland und die Kriege des 20. Jahrhundeits,

in: Geschichtspolitik und Gegencrinnerung. Krieg, Gewalt und Trauma im Osten Europas. Ber!in 2008 [= ÜSTEUROPA, 6/2008], S. 129-146.

62 Repräsentativ ist der Streit vom Frühjahr 2010. Moskans Bürgermeister hatte angeregt, zum Tag des Sieges Stalin-Plakate in der Stadt aufzuhängen. Nicht nur "Memorial", sondern auch der damalige Duma-Vorsitzende Boris Gryzlov kritisierten diesen Plan; dazu systematisch: Arsenij Roginskij: Erinnerung und Freiheit. Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russland, in: ÜSTEUROPA, 4/2011, S. 55-69.

63 Ksenija Veretennikova: SimvoliCeskie patrony, in: Vremja novostej, 18.3.2010. Zur "Ge­schichtsfälschung": Russland kämpft. Gesetz und Kommission gegen Geschichtsfälscher, sowie: Zur neuen Kommission beim Präsidenten der Russländischen Föderation. Erklärung der Gesellschaft Memorial, in: Der Hitler-Stalin-Pakt. Der Krieg und die europäische Erin­nerung. Bcrlin 2009 [= ÜSTEUROPA, 7-9/2009], S. 273-278.

148 Fdix Kmwotzek

viele Teilnehmer kommen.64 Die nahezu unüberschaubare Zahl der Videoeinsendungen junger Menschen auf der speziell für Jugendliche konzipierten Webseite Na.fa ob§Caja

poheda zur Geschichte des Zweiten W'eltkriegs <www.41-45.su> zeigt, dass es ein echtes Interesse an dem Thema gibt.65 Wer darin lediglich eine Renaissance sowjeti­schen Denkens sieht, verkennt einen zentralen Unterschied zwischen den Na.fi und dem Komsomol. Bei den Nasi engagieren sich Jugendliche freiwillig für die aktuelle politi­sche Ordnung. Dagegen konnte der Komsomol in den letzten Jahren kaum noch poli­tisch mobilisieren.

Jugendmobilisierung in ihrem gesellschaftlichen Kontext

Die Analyse politischer Jugendmobilisierung stellt ein wichtiges Gegengewicht zur Erforschung politischer Eliten dar.66 Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Eliten auch in Krisen Einfluss haben, so betreffen Krisen vomehmlich doch die Bevölkerung. In bei­den hier behandelten Fällen war die politische Opposition von Jugendlichen als den Vettretern der "gewöhnlichen Menschen"67 ausschlaggebend, die das Interesse der Poli­tiker auf die Straße lenkte. "Wenn es um echte Konfrontation geht, ist die Straße aus­schlaggebend und sind es nicht politische Technokraten. "M

Das Duumvirat Putin und Medvedev bewies ab 2005 sein Gespür für diese politische Stimmungslage in der Bevölkemng. Während die Farbrevolutionen in den Nachbarlän­dern zumindest kurzfristig erfolgreich waren, woran maßgeblich Jugendliche beteiligt waren,69 entwickelte der Kreml rechtzeitig eigene Strategien, um Jugendliche unter der eigenen Fahne auf die Straßen zu schicken. Diese "Gegenrevolution" speiste sich aus der Sorge, dass die Mobilisiemng oppositioneller Jugendlicher die eigene Macht ge­fahrden könne. Ende 2005 hob die Regierungspartei Edinaja Rassija rrrit Molodaja Gvardija (Junge Garde) eine weitere kremltreue Jugendgruppe aus der Taufe um Jake­menkos wachsender Machtfülle ein Gegengewicht zur Seite zu stellen.70 2007 organi­sierte Molodaja Gvardija den Mar!l-: SoglasUa (Marsch der Zustimmung). Die Zahl von 15 000 Teilnehmem zeigt, wie sich Jugend im Dienste der Führung medienwirksam mobilisieren 1ässt.71 Aus den farbigen Revolutionen zog der Kreml die Lehre, dass ma-

6-1 Julie Hemment: Nashi, Youth Voluntarism, and Poternkin NGOs: Making Sense of Civil Society in Post-Soviet Russia, in: Slavic Review, 2/2012, S. 234--260, S. 255.

o_'i Die unter der Obhut verschiedener Ministerien und der Regierung stehende interaktive Web­site lädt Jugendliche ein, die Geschichte des Krieges selbst zu dokumentieren. Ziel ist die "patriotische Erziehung der Jugend".

66 Archie Brown: Perestroika as Revolution from Above, in: Stephen Fortescue (Hg.): Russian Politics from Lenin to Putin. New York 2010, S. 127-149.- Richard Sakwa: Gorbachev and His Reforms, 1985-1990. New York 1991.- Ders.: Putin: Russia's choice. London 2008.

67 Nancy Bermeo: Ordinary People in Extraordinary Times: The Citizenry and the Breakdown ofDemocracy. Princeton, N.J., Oxford 2003.

68 OgandZanjan, Taratorin, SveZaja Krov' [Fn. 33]. 69 David Lane: "Coloured Revolution" as a Political Phenomenon, in: Journal of Communist

Studies and Transition Politics, 2-3/2009, S. 113-135, S. 129. - Stephen White, Ian McAllister: Rethinking the "Orange Revolution", in: Journal of Communist Studies and Transition Politics, 2-3/2009, S. 227-254, S. 231.

70 "NaSi" i "Molodaja Gvardija" otkazalis' sotrudniCat', in: Gazeta, 16.12.2005. 71 Aleksandr Michajlov: UliCnaja Demokratija, in: Rossijskaja Gazeta, 16.4.2007.

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nipulierte Berichterstattung und Scheinparteien nicht ausreichten, um an der Macht zu bleiben. Der politische Wandel während der Perestroj'ka hatte eine andere Dimension. Der Nie­dergang des Komsomol und die Entfremdung der Jugend machten deutlich, wie drin~ gend politische Veränderungen waren. Das Aufkommen ungebundener neformaly wur~ de selbst zu einem zentralen Thema der Perestrojka, weil diese Jugendlichen als Spiegel der Gesellschaft gesehen wurden, 71

Erst nach den gefälschten Dumawahlen im Dezember 2011 kam es wieder zu nennens~ werten Protesten. Allerdings wurden Jugendliche mit ihnen kaum in Verbindung ge­bracht. Füluungsfiguren wie Roman Dobrochotov, Il'ja JaSin und Aleksej Naval'nyj werden kaum der Jugend zugerechnet. Der gesellschaftliche Unmut brach sich generati­onsübergreifend Bahn.

72 MolodeZ' kak zerkalo obSCestva, in: Argumenty i fakty, 16.7 .1988.