Kindsmord und Buße der kymrischen Flügelstute und die missglückte Pilgerfahrt einer...

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1 http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=2950 Sigmund Oehrl: Kindsmord und Buße der kymrischen Flügelstute und die missglückte Pilgerfahrt einer rätselfreudigen northumbrischen Taube: Ute Schwabs Deutung des Franks Casket Ute Schwab: Franks Casket. Fünf Studien zum Runenkästchen von Auzon. Hg. von Hasso C. Heiland. (Studia Septentrionalia Mediaevalia 15) Wien: Fassbaender 2008. EUR (D) 39,60. ISBN: 978-3-902575-05-0. Im vorliegenden Band sind fünf Beiträge von Ute Schwab zum elfenbeingeschnitzten Kästchen von Auzon (nach seinem Finder Franks Casket bezeichnet) gesammelt. Mit Ausnahme des vierten Artikels sind die Beiträge bereits in verschiedenen Fest- und Gedenkschriften erschienen. Die bebilderten und runenbeschrifteten Seiten der vieldiskutierten frühmittelalterlichen (um 700) Schatulle aus Northumbria zeigen Szenen aus verschiedenen Erzähltraditionen. Neben der germanischen Sage von Wieland dem Schmied sowie der Geburt und Anbetung Christi finden sich Bilder von den römischen Gründungsvätern Romulus und Remus und der Eroberung Jerusalems durch Titus. Die rätselhaften Darstellungen auf der im Bargello (Florenz) aufbewahrten rechten Seite konnten bisher nicht befriedigend zugeordnet werden. Gerade diese Bilder dienen Ute Schwab als Ausgangspunkt einer imposanten Gesamtdeutung.

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Sigmund Oehrl:

Kindsmord und Buße der kymrischen Flügelstute und die missglückte Pilgerfahrt

einer rätselfreudigen northumbrischen Taube: Ute Schwabs Deutung des

Franks Casket

Ute Schwab: Franks Casket. Fünf Studien zum Runenkästchen von Auzon. Hg. von Hasso C.

Heiland. (Studia Septentrionalia Mediaevalia 15) Wien: Fassbaender 2008. EUR (D) 39,60.

ISBN: 978-3-902575-05-0.

Im vorliegenden Band sind fünf Beiträge von Ute Schwab zum elfenbeingeschnitzten

Kästchen von Auzon (nach seinem Finder Franks Casket bezeichnet) gesammelt. Mit

Ausnahme des vierten Artikels sind die Beiträge bereits in verschiedenen Fest- und

Gedenkschriften erschienen. Die bebilderten und runenbeschrifteten Seiten der

vieldiskutierten frühmittelalterlichen (um 700) Schatulle aus Northumbria zeigen Szenen aus

verschiedenen Erzähltraditionen. Neben der germanischen Sage von Wieland dem Schmied

sowie der Geburt und Anbetung Christi finden sich Bilder von den römischen

Gründungsvätern Romulus und Remus und der Eroberung Jerusalems durch Titus. Die

rätselhaften Darstellungen auf der im Bargello (Florenz) aufbewahrten rechten Seite konnten

bisher nicht befriedigend zugeordnet werden. Gerade diese Bilder dienen Ute Schwab als

Ausgangspunkt einer imposanten Gesamtdeutung.

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Studie I Bekannte und unbekannte mythische Frauen im Bildprogramm des Franks

Casket

Die Edition beginnt mit einem Aufsatz, der bereits 2002 in der Gedenkschrift für Lotte Motz1

erschienen ist. In diesem Beitrag stellt Ute Schwab erstmals ihre Interpretation der Figuren

auf der ›Florentiner Platte‹ und ihre spektakuläre Gesamtdeutung des Runenkästchens von

Auzon vor. Immer wieder greift sie in den folgenden Kapiteln/Beiträgen auf die hier

gewonnenen Erkenntnisse zurück und ergänzt sie. Ihr Ausgangspunkt ist Heiner Eichners2

»bahnbrechende« (S. 20, Anm. 9) Deutung des ganz links auf der ›Florentiner Platte‹ auf

einem kleinen Hügel sitzenden Mischwesens.

Heiner Eichner interpretiert die Gestalt vor dem Hintergrund der kymrischen

Sagenüberlieferung und verweist auf die Erzählung von der Buße der Heroine Rhiannon, die

zu Unrecht des Mordes an ihrem neugeborenen Sohn Pryderi beschuldigt und dazu verurteilt

wird, sieben Jahre lang auf einem Trittstein zu sitzen, vorbeikommenden Reisenden ihre

Geschichte zu erzählen und sie nach Wunsch auf ihrem Rücken zu tragen, als sei sie ein

Pferd. Auf Franks Casket sei Rhiannon in Pferdegestalt auf dem Trittstein sitzend und einem

Krieger von ihren vermeintlichen Untaten berichtend dargestellt. Die Flügel seien als

ikonographisches Attribut aufzufassen, das die Schnelligkeit des Pferdes veranschauliche. Um

das Maul der Kreatur sei eine Schlinge gelegt, an der man sich ein Leitseil befestigt zu denken

habe. In ihren Händen halte Rhiannon zwei Gerten. Auch die verschlüsselte Runeninschrift

auf dem Rahmen beziehe sich auf diese in den walisischen Mabinogion3 überlieferte Episode:

»Hier sitzt Ho(*r)s / auf dem Harmhügel, sie leidet Unbill /, wie ihr Ertæ auferlegt hat – eine

schmerzliche Stätte (oder: Jammertal?) der Sorgen / und der Qualen des Gemüts.«4 Eichner

liest die Personenbezeichnung hos als ›Hors‹ (›Ross‹), bezieht sie auf das dargestellte

Mischwesen und sieht darin eine Germanisierung der keltischen Rhiannon, die ihrerseits eine

1 Rudolf Simek / Wilhelm Heizmann (Hg.): Mythological Women. Studies in Memory of Lotte Motz (1922-

1997). (Studia Medievalia Septentrionalia 7) Wien: Fassbaender 2002. 2 Heiner Eichner: Zu Franks Casket/RuneAuzon (Vortragskurzfassung). In: Alfred Bammesberger (Hg.): Old

English Runes and their Continental Background. (Anglistische Forschungen 217) Heidelberg: Carl Winter

Universitätsverlag 1991, S. 603-628, hier S. 615-618. 3 Ludwig Mühlhausen (Hg.): Die Vier Zweige des Mabinogi. Pedeir Ceinc Y Mabinogi. Mit Lesarten und

Glossar. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage von Stefan Zimmer. (Buchreihe der Zeitschrift für Celtische

Philologie, Band 7) Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1988; Ute Schwab verwendet folgende Übersetzung:

Bernhard Maier: Das Sagenbuch der walisischen Kelten. Die Vier Zweige des Mabinogi. Übersetzt, kommentiert

und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Maier. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1999; Als

weitere Übersetzung nenne ich: Martin Buber: Die vier Zweige des Mabinogi. Ein keltisches Sagenbuch.

Deutsch von Martin Buber. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1966. 4 Heiner Eichner (Anm. 2), S. 605.

3

kymrische Form der gallorömischen Pferdegöttin Epona darstelle. Es handele sich also um

eine »germanische Inkarnation der keltischen Pferdegöttin Epona«.5 Die in der Runeninschrift

als Urheberin des Leids genannte ›Ertæ‹ setzt Eichner mit der gallischen Bärengöttin ›Artio‹

gleich, obgleich diese in den walisischen Mabinogion keine Rolle spielt.

Ute Schwab greift Heiner Eichners Deutungsansatz auf und versucht, auch die übrigen

Figuren der Platte mit dem Ersten Zweig des Mabinogi (Pwyll pendevic Dyvet) in Einklang zu

bringen. Dort ist von Teyrnon Twryf Liant, dem Herrn über Gwent Is Coed die Rede, aus

dessen Haus alljährlich in der Nacht zum ersten Mai ein Fohlen geraubt wird. Endlich

beschließt Teyrnon, in der Nacht zum ersten Mai Wache zu halten, um den bevorstehenden

Raub zu verhindern. Im Laufe der Nacht greift schließlich die gewaltige Klaue eines

Ungeheuers durch das Fenster und versucht, das Fohlen zu packen. Teyrnon schlägt den Arm

des Unholds mit seinem Schwert ab, verjagt den Räuber und rettet so das Fohlen. Daraufhin

findet er ein gewindeltes Kind, das in Seidentuch gewickelt ist und plötzlich vor der Haustür

liegt. Teyrnon und seine Frau nehmen das geheimnisvolle Findelkind bei sich auf. Später

erfahren sie aber von Rhiannons Schicksal und begreifen, dass es sich bei ihrem Adoptivkind

um deren tot geglaubten Sohn Pryderi handelt und bringen ihn zurück zu seiner Mutter.

Ute Schwab spricht das in der Mitte der ›Florentiner Seite‹ dargestellte Pferd als Teyrnons

Fohlen an. Rechts daneben sei Teyrnon selbst mit seinem Schwert zu sehen. Das über dem

vermeintlichen Schwert (tatsächlich handelt es sich um einen Stab) positionierte Runenwort

bita sei lediglich als Glosse überliefert, bezeichne als Substantiv das in Psalm 79 genannte

›ferus‹ und verweise somit auf das unsichtbare Ungeheuer, das von Teyrnon erfolgreich

abgewehrt wird. Auch die beiden ober- und unterhalb des Pferdes eingefügten Runentituli

seien als Hinweise auf den räuberischen Unhold zu verstehen. Die Substantive wudu (Wald)

und risci (Rohr-Dickicht bzw. Schilf-Binsen-Gestrüpp des Moorlandes) vergegenwärtigten

den unheimlichen Sumpfwaldbereich, in dem das Ungeheuer beheimatet sei. Zwischen

Teyrnon und seinem Fohlen sei Rhiannons und Pwylls Sohn Pryderi als Wickelkind

dargestellt. Christlichen ikonographischen Vorlagen entsprechend sei das Wickelkind mit

einem Becher (Amphora des ersten Bades) versehen. Aus der Darstellung von der Bestrafung

Rhiannons leitet Ute Schwab das zentrale Thema des Bildprogramms von Franks Casket ab:

5 Heiner Eichner (Anm. 2), S. 616.

4

Der hier dargestellte Akt des Märchens beinhaltet […] die ›Buße durch

Satteltragen und Reiten‹ […], also die ›Fahrt‹ einer weiblichen ›Büßerin‹. Dieses

Thema prägt und pointiert mit seiner eigenen Bedeutsamkeit das durch die

übrigen Exempla des Kästchens zusammengesetzte Bildprogramm. Die

dargestellten Gesta und Sagen aus Mythologie, Profan- und Heilsgeschichte

beziehen sich alle auf das Thema der ›Reise‹ […], und zwar, wie wir meinen, in

jeweils verschiedener Nuance als Anspielung auf die verschiedenen Stationen

eines gewünschten Unternehmens, bei dessen Anlass der kostbare Behälter

angefertigt wurde: zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land nämlich, welche (u. E.)

einer hohen Dame als ›Bußfahrt‹ geraten worden war. (S. 20)

Die Bußfahrt müsse wohl bereits in Frankreich ein jähes Ende gefunden haben, wo die

Schatulle samt dem kostbaren Inhalt bei einem Raubüberfall abhanden gekommen sei. Der

Becher über dem Wickelkind der ›Florentiner Platte‹, die Erzeugnisse Wielands, die Gaben der

drei Magier, die Kriegsbeute des Titus (die Tempelschätze) und die Goldstücke in den Händen

der Hirten vergegenwärtigen laut Schwab das in der Schatulle der northumbrischen Pilgerin

enthaltene Gold, das für die Ausführung des Unternehmens und ein Opfer in der Heiligen Stadt

vorgesehen war. Das Thema ›Reise‹ sei durch Wielands Flugvorbereitung, die Ankunft der

drei Magier, den Auszug bzw. die Abführung der Juden aus Jerusalem sowie Romwalus und

Reumwalus oþlæ unneg (fern der angestammten Heimat) vergegenwärtigt. Der Vers vom

Walfisch auf der Vorderseite verweise auf eine Meeresreise. Mit Rom und Jerusalem seien

zwei zentrale Stationen der Wallfahrt namentlich aufgeführt.

Ferner sei auch eine Reihe von Vögeln als verknüpfendes Motiv und Hinweis auf das Thema

der Reise zu werten. Vögel tauchen unter dem Pferd auf der ›Florentiner Platte‹, in der

Wielandszene, vor den drei Magiern und in der Architektur der Ægili-Platte sowie der

Jerusalem-Platte (Rückseite) auf. Auch das Motiv der außergewöhnlichen und sorgenreichen

Mutterschaft (Rhiannon und Pryderi, Beaduhild und Widia, die Wölfin und die römischen

Gründungsväter, Maria und Jesus) stelle ein wichtiges und verbindendes Thema im

Bildprogramm des Runenkästchens dar. Schwab geht davon aus, dass die Schmuckschatulle im

Auftrag des northumbrischen Mäzenatenkönigs und hochgebildeten Aldhelm-Schülers Aldfrith

(685-705) entstanden sei. Er, der illegitime Sohn einer irischen Mutter, habe das Motiv der

(Pilger-/Buß-)Reise mit dem Motiv der problembehafteten Mutterschaft verbunden und in

5

Bildern jener Erzähltraditionen vermittelt, die in seinem geschulten Umfeld wohlbekannt

waren (christlich – römisch – germanisch – keltisch).

Ute Schwabs beeindruckende Deutung der ›Florentiner Platte‹ und ihre Interpretation der

Runenschatulle als Pilgerkästchen mit persönlichen Anspielungen basiert im Wesentlichen auf

der Identifizierung des unheimlichen Mischwesens nach Heiner Eichner. Diese scheint mir

jedoch keineswegs gesichert zu sein. Die Unklarheiten beginnen bereits bei der durchaus

umstrittenen Lesung und Interpretation der Runen. Eine Reihe von alternativen

konkurrierenden Lesungen ist zu berücksichtigen.6 So lesen beispielsweise Wolfgang Krause

und Alfred Becker nicht her hos, sondern herhos. Ein Worttrenner ist nicht vorhanden. Krause

übersetzt mit ›Waldgottheit‹. Krause und Becker gehen ferner davon aus, dass Herhos Unheil

bewirkt und nicht erduldet. Dies wäre mit der Erzählung von Rhiannon nicht zu vereinbaren.

Die Probleme der Lesung werden jedoch nicht diskutiert.

Mir fehlt auch eine Erörterung der Probleme, welche die Überlieferungslage mit sich bringt.

Die vier Zweige des Mabinogi sind erst im 14. Jahrhundert schriftlich (walisisch) überliefert,

dürften aber im 11. bis 13. Jahrhundert entstanden sein.7 Die einzelnen Stoffe sind z. T. sicher

älter. Doch wie alt sind die Erzählungen von Rhiannon und Pryderi? Ist es wahrscheinlich, dass

sie um 700 in Nordengland in Umlauf waren und inwieweit dürfen wir davon ausgehen, dass

die mittelkymrischen Handschriften ursprüngliche Formen bewahren? Die in den Vier Zweigen

des Mabinogi enthaltenen Stoffe speisen sich nicht ausschließlich aus der vorchristlichen

keltischen Überlieferung. Was die Verleumdung Rhiannons anbelangt, so scheint ein

verbreitetes Märchenmotiv Einfluss zu nehmen.8 In den Mabinogion wurden alte Stoffe

aufgegriffen, umgebildet und mit Neuem vermischt.9 Die Form der Pferde-Buße etwa ist mit

dem ›Satteltragen‹ (mittelhochdeutsch ›harmschar‹) des deutschen Strafrechts zu vergleichen

und dürfte ein Abbild hochmittelalterlicher Lebenswirklichkeit darstellen.10

Ob derartige

Strafformen bereits um 700 in Wales üblich waren, bleibt offen. Diese und andere Fragen

hätten meiner Auffassung nach geprüft werden müssen, um die Deutung Eichners auf sichere

Füße zu stellen. Die Sage von Wieland dem Schmied hingegen ist relativ früh durch Deors

6 Zusammengetragen von Alfred Becker: Franks Casket. Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von

Auzon. (Sprache und Literatur. Regensburger Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik, Band 5) Regensburg:

Verlag Hans Carl Regensburg 1973, S. 39 ff. 7 Bernhard Maier (Anm. 3), S. 101; Martin Buber (Anm. 3), S. 8.

8 Bernhard Maier (Anm. 3), S. 109.

9 Martin Buber (Anm. 3), S. 8-11.

10 Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Wien: Verlag der Österreichischen

Akademie der Wissenschaften 1997, S. 525, Anm. 6.

6

Klage, außerhalb Englands etwa durch den Bildstein Ardre VIII auf Gotland belegt. Was den

kymrischen Stoff anbelangt, hätte es weiterer Ausführungen bedurft.

Eindrucksvoll, doch letztlich nicht überzeugend erscheinen mir Ute Schwabs Erklärungen des

Mischwesencharakters der Rhiannon. Die Figur vereint Mensch, Pferd und Vogel. Von einer

theriomorphen Erscheinung Rhiannons ist im Mabinogi jedoch keine Rede. Auch handelt es

sich bei der Rhiannon des Mabinogi keineswegs um eine Pferdegöttin. Die vermeintliche

Nähe zur gallorömischen Pferdegöttin Epona ist rekonstruiert und umstritten.11

Schwab

verweist auf Rhiannons »ganz besondere magische Affinität zu diesen Tieren« (S. 45). Hier

wäre eine Sammlung und kritische Bewertung entsprechender Belege zu erwarten gewesen.

Folgende Punkte sind zu nennen: Im Ersten Zweig des Mabinogi reitet Rhiannon auf einem

außergewöhnlich schnellen Pferd, so dass Pwyll und seine Männer sie nicht einholen

können.12

Im Dritten Zweig des Mabinogi muss Rhiannon im Zuge ihrer Gefangenschaft

einen Eselkummet tragen.13

Im Zweiten Zweig des Mabinogi werden auch Rhiannons Vögel

kurz erwähnt, von denen es andernorts (Culhwch ac Olwen) heißt, sie könnten durch ihren

Gesang die Toten erwecken.14

Sind diese Hinweise ausreichend, um Rhiannon in der vorliegenden Hybridform kenntlich zu

machen? Gibt es Parallelen in der keltischen (Bild-)Überlieferung? Dem in der Keltologie

ungeschulten Leser ist ein Urteil hierüber nicht möglich. Im folgenden Abschnitt bietet Ute

Schwab eine abweichende Erklärung und meint, Rhiannon werde als Pferd dargestellt, weil

sie im Zuge ihrer Bestrafung »als Pferd handeln muss« (S. 73). Die Flügel seien aber »auf

ihre enge ornithologische Bindung« (S. 73, Anm. 19) zurückzuführen. Das Pferdemaul

Rhiannons sei zugebunden, während eine Schlange hinter ihrem Haupt hervorschaue. Das

Pferd selbst sei ehrlich und schweige, während die Schlange – als Personifikation der Lüge –

vom vermeintlichen Kindsmord berichte. Auf diese Weise sei der komplizierte Umstand, dass

Rhiannon widerwillig die Unwahrheit verbreiten muss, bildlich umgesetzt.

Bedenklich oder eher befremdlich erscheint mir ein außergewöhnliches Experiment der

Autorin, von dem ich nicht recht weiß, ob es ernsthaft zum wissenschaftlichen

Erkenntnisgewinn beitragen oder eher eine scherzhafte Spielerei darstellen soll. Auf Seite 33 f.

11

Helmut Birkhan (Anm. 10), S. 525, 714; einschlägig etwa: William John Gruffydd: Rhiannon. An Inquiry into

the Origins of the First and Third Branches of the Mabinogi. Cardiff: University of Wales Press 1953, S. 90-108. 12

Bernhard Maier (Anm. 3), S. 17 ff. 13

Bernhard Maier (Anm. 3), S. 71. 14

Bernhard Maier (Anm. 3), S. 51 f., 137.

7

zitiert Ute Schwab eine längere Passage aus der sehr freien Mabinogi-Nacherzählung der

amerikanischen Fantasy-Autorin Evangeline Walton15

und überlässt es dem Leser bzw.

Betrachter, »die Identifikation mit Objekten von Rhiannons Feenwelt zu vollziehen« (S. 34). In

diesem phantasievoll ausgeschmückten Text, der sich nur in Grundzügen nach der walisischen

Quelle richtet, ist auch von der Pferdegestalt Rhiannons die Rede, die in den Mabinogion nicht

erwähnt wird. Sollte sich Ute Schwab tatsächlich von einem Fantasy-Roman beeinflusst haben

lassen oder bezieht sie sich stillschweigend auf andere keltische Quellen? Der Leser ist

verunsichert. Unwahr ist zumindest Schwabs Behauptung, Rhiannon sei »[…] im Mabinogi

überall von ihren Wundervögeln umgeben […]« (S. 19). Rhiannons Vögel erscheinen in den

Mabinogion nur ein einziges Mal, und zwar ohne ihre Herrin.16

Im zitierten Roman von

Evangeline Walton heißt es jedoch: »Drei verschiedenfarbige Vögel umfliegen sie [Rhiannon]

mit süßem Gesang […]« (S. 33). All dies bedarf der Erklärung.

Da die Interpretation der übrigen Figuren auf der ›Florentiner Platte‹ auf einer ungesicherten

Deutung des Mischwesens beruht, bleiben Schwabs Aussagen hypothetisch. Die als Teyrnon

identifizierte Gestalt muss nicht zwingend einen Mann darstellen. Sehr ähnlich – mit Kapuze,

Mantel und Stab – ist beachtenswerterweise die auf dem Kastendeckel erscheinende thronende

Figur gestaltet. Unklar ist mir auch, warum das Pferde raubende Ungeheuer nicht darstellbar

gewesen sei. Die Darstellung einer klauenbewehrten Hand samt Arm, wie sie im Text

geschildert wird, hätte die Fähigkeiten des Schnitzers sicher nicht überfordert. Zu betonen ist

ferner, dass von einem »unheimlichen wilden Sumpfwaldbereich« (S. 35) als Wohnstätte des

Unholds im Mabinogi gar keine Rede ist. Es heißt schlicht, er sei aus der Dunkelheit

gekommen. Ute Schwab rekonstruiert dieses Detail mit Hilfe des Beowulf, da man annimmt,

der kymrische Stoff habe auf die Grendelepisode Einfluss genommen. Was zu dieser Annahme

berechtigt und ob die darauf basierende Schlussfolgerung bezüglich des Lebensraums des

keltischen Klauenungeheurs zulässig ist, wird nicht erörtert. Die Deutung der Tituli wudu und

risci kann aus diesem Grund nicht restlos überzeugen.

Da auf den Platten von Franks Casket Szenen dargestellt seien, die mit einer Fahrt oder Reise

zu tun haben (Wielands Flucht, Magier, Pferdebuße, Romulus und Remus, Jerusalem), geht

Ute Schwab davon aus, dass die Schatulle anlässlich einer Reise angefertigt und überreicht

wurde. Von einer Omnipräsenz der Reisethematik kann jedoch nur bedingt die Rede sein. Die

15

Evangeline Walton: Die Vier Zweige des Mabinogi. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Schweier.

Zweite revidierte Auflage. Stuttgart: Hobbit Presse/Klett-Cotta 1983. 16

Bernhard Maier (Anm. 3), S. 51 f., 137.

8

Autorin stellt selbst fest, dass die Vogelfangszene der Wielanddarstellung nicht zwingend als

Vorbereitung zur Flucht gedeutet werden muss. Wie häufig angemerkt wurde, könnte es sich

auch um die beiden Königssöhne handeln, die laut Þiðreks saga ohne Pfeile Vögel fangen.17

Wenn der Meisterschütze Egil Vögel für Wielands Flugapparat beschafft, wäre zu erwarten,

dass er mit Pfeil und Bogen unterwegs ist. Doch auch wenn wir – wie die Autorin später auf

Seite 133 f. (vgl. S. 186) vorschlägt – davon ausgehen sollten, dass Egil die Vögel mit Leim

fängt, stellt sich die Frage, warum lediglich die Vorbereitung und nicht der spektakuläre Flug

selbst zur Darstellung gekommen ist. Warum ich die Rhiannon-Deutung für ungesichert halte,

habe ich bereits begründet. Dieser Umstand wirkt sich schließlich auch für Schwabs

Überlegungen zur Pilgerfahrt und somit auf das Gesamtkonzept relativierend aus: »Den Zweck

der Reise als ›Bußfahrt‹ haben wir aus der Deutung des Märchenrosses (nach Eichner) auf der

rechten Seite herausgelesen« (S. 41).

Auch unabhängig von Schwabs bzw. Eichners Deutung des Mischwesens birgt die Pilgerfahrt-

Theorie erwähnenswerte Schwachstellen. So meint die Autorin beispielsweise auf der linken

Seite des Schmuckkästchens Goldstücke bzw. Nuggets in den Händen der Hirten erkennen zu

können, die den königlichen Zwillingen dargeboten werden. Dies veranschauliche den Wunsch

des Schenkers. »Denn: ›Fern der Heimat‹ soll sich die büßende Pilgerin in Rom befinden und

sie soll in der Ewigen Stadt einiges Gold aus ihrem Kästchen opfern« (S. 48). Allerdings

handelt es sich um eine Fehllesung. Die Hirten umfassen mit der einen Hand einen Speer, mit

der anderen aber jeweils einen Baumstamm. Wie ein Vergleich mit der Wielandszene und

anderen Figuren des Kästchens deutlich macht, handelt es sich nicht um einen Nugget, sondern

um die zugreifenden Finger der Figuren, die nicht einzeln (nur der Daumen erscheint separat),

sondern als Fläche (ähnlich einem Fäustling) dargestellt werden. Um das Motiv der Gabe

sowie das Motiv der sorgenreichen Mutterschaft auch für die Titus-Platte zu erschließen, greift

die Autorin zu Spekulationen: Der Tempelschatz und ein bei Hegesippus überlieferter Fall von

Kindsmord (und Kannibalismus) im Zuge der Belagerung Jerusalems sind zwar auf der Titus-

Platte nicht dargestellt, seien aber beim gebildeten Betrachter durch den Kontext

vergegenwärtigt.

Ich möchte darauf hinweisen, dass sich durchaus auch vor dem Hintergrund germanischer

Überlieferung mögliche Deutungsansätze für die Figuren der ›Florentiner Platte‹ ergeben, die

zumindest nicht weniger plausibel sind, als der von Heiner Eichner und Ute Schwab.

17

Robert Nedoma: Die bildlichen und schriftlichen Denkmäler der Wielandsage. (Göppinger Arbeiten zur

Germanistik, Nr. 490) Göppingen: Kümmerle Verlag 1988, S. 10-20; Alfred Becker (Anm. 6), S. 79 f.

9

Auffallend ist nach meinem Dafürhalten, dass sich zwischen den Extremitäten des Pferdes

zwei Dreipass-Symbole befinden. An gleicher Stelle begleiten sie zuweilen auch das

Totenpferd auf den gotländischen Bildsteinen des 8. Jahrhunderts.18

Neben dem Pferd tritt

auch ein Vogel im Bildprogramm der gotländischen Bildsteine als Seelengeleiter in

Erscheinung.19

Auf der ›Florentiner Platte‹ ist ein Vogel unterhalb des Pferdes abgebildet.

Möglicherweise wendet sich das Pferd einem Grabhügel zu? Der Kelch darüber könnte als

Willkommenstrunk für den Toten interpretiert werden, der auf den Steindenkmälern als

Trinkhorn, Trinkschale oder Becher wiedergegeben20

wird. Bemerkenswerterweise stellt das

(auf einem Grabhügel?) sitzende Mischwesen eine Verbindung der Epiphanien des

gotländischen Psychopompos dar: Walküre (anthropomorph), Pferd, Vogel. Die Schlange, die

sich um das Pferdemaul der Kreatur windet, unterstreicht deren Zugehörigkeit zur Unterwelt.

Vor dieser archaischen ›Super-Walküre‹ erscheint ein gerüsteter Krieger mit Helm, Schild

und Speer. Vielleicht hängt die Komposition mit der – ebenfalls im Bildprogramm der

Bildsteine überlieferten – Speerübergabe zusammen, durch die der Gefallene in die

Gefolgschaft des Kriegs- und Totengottes aufgenommen wird.21

Laut Alfred Becker22

ist auch

die vermummte Gestalt neben dem ›Grabhügel‹ mit einem Speer bewaffnet. Die ↑-Rune im

Runenwort bita sei gleichzeitig eine Verlängerung des Stabs in der Hand der Figur. Es

handele sich also um einen Speer mit dem Waffenheiti ›bita‹.23

Auch die Bedeutung eines weiteren Bilddetails, das in Ute Schwabs Abhandlung

vernachlässigt wird, könnte im Lichte germanischer Vorstellungen zu erhellen sein. Der

Stängel in der Hand des sitzenden Mischwesens hat oben einige abstehende Blätter und unten

eine knollenartige Verdickung. Sehr ähnliche Darstellungen finden sich auf skandinavischen

Goldfolien der Vendelzeit und den wikingerzeitlichen Kummets von Mammen.24

Es könnte

18

Sune Lindqvist: Gotlands Bildsteine I. Stockholm: Wahlström & Widstrand 1941, Fig. 85, 86, 103, 110.

Ferner begleitet der Dreipass das Totenschiff (z. B. Fig. 79) und das Menschenopfer von Lärbro St. Hammars I

(Fig. 81). Auf Stenkyrka Lillbjärs III besteht er aus drei Trinkhörnern und demonstriert somit eindrücklich seine

Verbindung zum Adventusthema (Fig. 112). 19

Sigmund Oehrl: Theriomorphe Psychopompoi im Bildprogramm der gotländischen Bildsteine (in

Vorbereitung); vorerst Hugo Jungner: Den gotländska runbildsten från Sanda. Om Valhallstro och hednisk

begravningsritual. In: Fornvännen 25 (1930), S. 65-82, hier S. 78-81, Fig. 17. 20

Gustaf Trotzig: Ett bildstensmotiv i arkeologisk belysning. In: Gotländskt Arkiv 53 (1981), S. 31-38, Bild 5-6. 21

Hugo Jungner (Anm. 19), S. 76 f., Fig. 17 (Hier kehrt auch der Dreipass wieder). 22

Alfred Becker (Anm. 6), S. 53. 23

Bildergänzende Funktion einzelner Runen ist bisweilen auch auf den wikingerzeitlichen Runensteinen

feststellbar. 24

Karl Hauck: Die religionsgeographische Zweiteilung des frühmittelalterlichen Europas im Spiegel der Bilder

seiner Gottheiten. In: Fornvännen 82 (1987), Abb. 14; Jutta Schmidt-Lornsen: Bilddarstellungen auf

wikingerzeitlichen Mähnenstuhlpaaren. Ein Diskussionsbeitrag. In: Helmuth Roth (Hg.): Zum Problem der

Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte. Akten des 1. Internationalen Kolloquiums in Marburg a. d. Lahn, 15.

10

sich um Lauchgewächse (Allium) handeln. Die Bedeutung dieser Heilpflanzen ist nicht erst

durch die altnordische Schriftüberlieferung, sondern bereits durch die laukaR-Inschriften auf

den nordischen Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit belegt, wo ihnen bisweilen ein

religiöser Gehalt im Rahmen der Regenerationsthematik zukommt.25

Verweist die

Lauchpflanze in der Hand des Seelengeleiters auf die Erweckung des toten Kriegers? Ich

begnüge mich mit diesen unverbindlichen Überlegungen und verweise auf die Interpretationen

Alfred Beckers und Wolfgang Krauses, die in eine ähnliche Richtung zielen.26

Studie II Runentituli, narrative Bildzeichen und biblisch-änigmatische Gelehrsamkeit auf

der Bargello-Seite des Franks Casket

In der zweiten Studie, welche 2003 als Beitrag in der Festschrift für Klaus Düwel27

erschienen

ist, versucht Ute Schwab Doppeldeutigkeiten, verborgene Anspielungen und Rätselstrukturen

auf der vermeintlich keltischen ›Florentiner Platte‹ aufzudecken. Dass auf Franks Casket

durchaus mit solchen zu rechnen ist, zeigen einige Befunde. So ist die Runeninschrift auf dem

Rahmen der ›Florentiner Seite‹ (›Bargello-Seite‹) verschlüsselt, indem für die meisten Vokale

anstatt der üblichen Runen kryptische Sonderzeichen verwendet werden. Auch sprachliche

Sonderformen wie ›Reumwalus‹ (anstatt ›Remus‹) könnten als »Rätselspiele

schulmeisterlicher Art« (S. 71) zu verstehen sein. Ähnlich sei die Mischung von Runen und

römischer Schrift sowie altenglischer und lateinischer Sprache auf der Rückseite (Titus-

Platte) zu bewerten. Für fraglich halte ich jedoch die Auffassung, die stabenden Langzeilen

vom Fisch auf der Vorderseite (Wieland-/Magierplatte) seien ebenfalls als Rätsel konzipiert.

Dieses Fisch-Rätsel frage nach der Identität des gestrandeten Fisches (fisc). Die Lösung

hronæsban (›Walbein‹) befinde sich erst am Ende der Inschrift. Aus welchem Grund sollte

dem Rätsel eine Lösung beigegeben sein, die – praktisch unmittelbar an die Fragestellung

anknüpfend – keine Möglichkeit zum Raten bietet? Da bereits zu Anfang von einem

gestrandeten Fisch die Rede ist, liegt die Lösung ohnehin auf der Hand. Auch hos, womit die

bis 19. Februar 1983. Veröffentlichungen des Vorgeschichtlichen Seminars der Philipps-Universität Marburg a.

d. Lahn, Sonderband 4. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag Sigmaringen 1986, S. 297-302, hier S. 302, Abb. 4. 25

Wilhelm Heizmann: Bildformel und Formelwort. Zu den LaukaR-Inschriften auf Goldbrakteaten der

Völkerwanderungszeit. In: Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien, Konferenser 15 (1987), S.

145-153; Wilhelm Heizmann: Fenriswolf. In: Ulrich Müller / Werner Wunderlich (Hg.): Dämonen, Monster,

Fabelwesen. Mittelalter Mythen, Band 2. St. Gallen: UVK Fachverlag für Wissenschaft und Studium 1999, S.

229-255, hier S. 244-246, Abb. 7. 26

Alfred Becker (Anm. 6), S. 48-54; Wolfgang Krause: Erta, ein anglischer Gott. In: Die Sprache 5. Festschrift

für W. Havers (1959), S. 46-54. 27

Wilhelm Heizmann / Astrid van Nahl (Hg.): Runica – Germanica – Mediaevalia. (Ergänzungsbände zum

Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 37) Berlin, New York: De Gruyter 2003, S. 759-803.

11

Büßerin Rhiannon bezeichnet werde, sei als Teil des gelehrten Rätselspiels aufzufassen (hos

= ›Hors‹?).

Da es sich bei der Empfängerin des Kästchens und den übrigen Betrachtern im unmittelbaren

Umfeld des Schenkers »[…] um Northumbrer mit engen Beziehungen zur irischen

Klostergelehrsamkeit einerseits und andererseits zu den gelehrten Rätselspielereien eines

Aldhelm etwa handelt […]« (S. 70), ist auf Franks Casket durchaus mit verborgenen

Botschaften und Rätselstrukturen dieses und höheren Niveaus zu rechnen. In der Tat eröffnet

diese Grundlage einen neuen Blick auf das Denkmal, der von der Verfasserin intensiv

fruchtbar gemacht, aber bisweilen über Gebühr strapaziert wird.28

Ein mehrfacher Sinn ist laut Schwab etwa dem Runentitulus bita auf der ›Florentiner Seite‹

zuzurechnen. Es bezeichne das aus dem Dunkeln heraus agierende und daher nicht bildlich

dargestellte Ungeheuer der kymrischen Erzählung, das in der Nacht zum ersten Mai das

Fohlen des Teyrnon zu rauben versucht. Das Substantiv ›bita‹ gibt in der angelsächsischen

Übersetzung von Psalm 79 ›ferus‹ wieder und bezeichnet den Eber aus dem Wald, der den

Weinstock des Herrn zerstört (›exterminavit eam aper de silva et singularis ferus depastus est

eam‹). Diese zweite, biblische Sinnebene sei bewusst angedeutet und durch die bildliche

Darstellung und runische Nennung des Waldes (wudu = ›silva‹) unterstrichen. Damit sei

jedoch nicht genug. Die allegorische Auslegung des durch Doppeldeutigkeit

vergegenwärtigten Psalms sei zudem mit dem Thema der Schatullenrückseite verbunden.

Autoritäten wie Cassiodor und Beda, deren Werke am Hof von König Aldfrith wohlbekannt

waren (später auf dem Kontinent auch Hrabanus Maurus und Notker der Deutsche) deuten

den Eber (›ferus‹/bita) aus dem Wald (›silva‹/wudu) als Titus, den Besieger und Zerstörer

Jerusalems (›vineam‹). Bei Cassiodor heißt es zudem, Titus habe die Stadt und ihre Bewohner

wie Gras zermalmt (›quasi herbarum‹). Ute Schwab vermutet, dass diese Formulierung durch

das Runenwort risci (›Sumpfgras‹) in Erinnerung gerufen werden soll.

Ferner meint Ute Schwab mit Anagrammen rechnen zu können. Der Titulus wudu auf der

›Florentiner Platte‹ könne zu duwu (›Taube‹) umgestellt werden und verweise somit auf den

daneben und vor den drei Magiern dargestellten Vogel. Ferner stellt Schwab die enigmatische

Personenbezeichnung ERTA um zu ATER und ergänzt sie durch den Anfangsbuchstaben des

Namens ›Pwyll‹, der laut Mabinogi hier eigentlich zu erwarten sei. Pwyll ist der Gatte der

28

Die Verfasserin ist auch jenen Interpretationen des Runenkästchens zugeneigt, die auf mitunter recht

spekulative Weise mit Zahlenmagie operieren (vgl. S. 152 und 196).

12

Rhiannon. Er habe ihr wegen der vermeintlichen Tötung des gemeinsamen Sohnes die Pferde-

Strafe auferlegt (wovon im Text nicht expressiv verbis die Rede ist – Pwyll scheint die

verhängte Strafe lediglich zu billigen29

). In der Runeninschrift laute es hingegen, Ertæ/Erta

habe hos (= Rhiannon) Unheil auferlegt. Durch Umstellung und Ergänzung ergibt sich laut

Schwab aus ERTA jedoch PATER, was nun auf Pwyll, den Vater des verschwundenen

Kindes hindeute.

Die Inschrift nennt also weder Rhiannon noch Pwyll. Rhiannon werde vielmehr als ›Hors‹,

Pwyll hingegen als ›PATER‹ bezeichnet. Doch auch diese ›Pseudonyme‹ werden gar nicht

aufgeführt, sondern auf komplizierte Weise chiffriert oder verstümmelt wiedergegeben.

Zudem wird ›Hors‹/Rhiannon nicht als Frau, sondern als Hybrid, also ebenfalls chiffriert

dargestellt. Der über dem Pferd positionierte Runentitulus risci sei zu ris ic (›ich

reiße/raube/verschlinge‹) umzustellen und vergegenwärtige die Absicht des (gar nicht

dargestellten) ›grendelartigen‹ Unholds, Teyrnons Fohlen zu rauben. Sind derart komplex

verrätselte Mitteilungen tatsächlich noch auflösbar? Das zum Vergleich angeführte

Namensrätsel des Cynewulf spielt sich auf ungleichem Niveau und unter anderen

Voraussetzungen ab. Überschreitet die Autorin hier nicht die Grenzen der Nachweisbarkeit?

Oder anders: Dürfen Belesenheit, Einfallsreichtum und Scharfsinn in diesem Maß auch bei

den northumbrischen Betrachtern um 700 vorausgesetzt werden? Grundsätzlich gilt: Je

komplexer die Verrätselungen sind, mit denen man in den Bildern und Inschriften des Franks

Casket meint rechnen zu können, desto unsicherer wird der Boden, auf dem man sich bewegt.

Auch die Darstellung des Wickelkindes Pryderi berge christlich-gelehrte Bezüge und

Deutungsmöglichkeiten, die das gebildete Publikum im Umfeld von König Aldfrith zu

entschlüsseln vermochte. Die Form des Wickelkindes und seiner hügelartigen ›Behausung‹

leite sich von der Korbkrippe Christi ab, der Kelch ginge auf die Amphora des ersten Bades

zurück (Abb. 2-9). Das dem Kinde mit gesenktem Haupt zugewandte Pferd sei an Ochs und

Esel im Stall von Bethlehem angelehnt. Desgleichen seien die Bäume und Pryderis

Pflegevater Teyrnon, der statt eines Schwertes einen (Hirten-)Stab in der Hand hält, auf die

christliche Weihnachtsikonographie zurückzuführen. Bildformeln aus der christlichen

Überlieferung sind offenbar übernommen und mit neuem Sinngehalt gefüllt worden. Diese

überraschende Beobachtung ist durchaus einleuchtend und belangreich. Auffälligerweise ist

das Bethlehemthema somit zweimal auf dem Kästchen gegenwärtig. Dies sei auf Aldfriths

29

Bernhard Maier (Anm. 3), S. 28 f.

13

»besondere Vorliebe für die heilig-historischen Stätten« (S. 84) zurückzuführen und verweise

auf eine weitere Pilgerstation auf der Reise der Besitzerin. Schwabs Versuch, die Figuren mit

dem Bericht des Mabinogi zu harmonisieren, wird durch diese Erkenntnisse nicht gestützt. Im

Gegenteil: Der Kelch lässt sich nicht in den Handlungsablauf einfügen. Die Erklärung, der

Kelch verweise auf das nach der Entdeckung des Wickelkindes nachgeholte »›erste Bad des

Helden‹« (S. 84), ist unzulässig, da in der kymrischen Quelle keine Rede davon ist.

Schwab spricht von Bausteinen aus der christlichen Kunst, die so eingesetzt werden, »dass die

narrative Bedeutung durch die bildliche Kommunikation […] auch aus dem Rückprojizieren

in ihren ursprünglichen biblischen Zusammenhang verständlich wird und weiter aus ihrem zu

erschließenden exegetischen Sinn resultieren kann« (S. 76). Das In-Bezug-Setzen von

Christus und Pryderi eröffne dem gebildeten northumbrischen Betrachter typologische

Perspektiven. Windeln und Grablinnen gehören in der christlichen Überlieferung präfigurativ

zusammen. Das mit Laken umwickelte Jesuskind nimmt in inter-neotestamentarischer

Typologie die Einbalsamierung des Corpus Christi voraus. Sowohl bei Rhiannons und Pwylls

Sohn Pryderi als auch bei Christus ist der Tod jedoch nur scheinbar: Es folgt die Rückkehr

des Totgesagten.

Die Schnitzerei auf dem Deckel der Schmuckschatulle stellt nach Schwab Wielands Bruder,

den Bogenschützen Egil (runisch gekennzeichnet als Ægili) dar, der seine Festung gegen

angreifende Feinde verteidigt. Innerhalb der Festung sei Egils Schwanenfrau ®lrun, die aus der

Vǫlundarkviða und der Þiðreks saga bekannt ist, auf einer Art Vogelpodest oder -thron zu

sehen. Schwab geht von einer verlorenen Sage über Egil und Ǫlrun aus, von der auch die

Runeninschrift auf der Schnalle von Pforzen (letztes Drittel 6. Jahrhundert) zu künden scheine.

Die Inschrift laute: aigil andi aïl(u)run und in einer zweiten Zeile ltahu gasokun. Hinter den

beiden Anthroponymen der ersten Zeile verbergen sich laut Schwab die Sagencharaktere Egil

und Ǫlrun. Die zweite Zeile übersetzt Schwab sehr frei mit »sie bedrohten erfolgreich,

überwanden die Schlangendämonen des Gewässers« (S. 68). Allerdings ist die Lesung der

zweiten Zeile problematisch und wird heftig diskutiert.30

Auf diese Diskussion geht die

Autorin an dieser Stelle nicht weiter ein.31

Die Funktion der Abwehrszene auf dem Deckel von

30

Klaus Düwel: Runenkunde. (Sammlung Metzler, Band 72) Weimar: Verlag J.B. Metzler Stuttgart 2008, S. 19

f., 22. 31

Siehe jedoch: Ute Schwab: Die Runenschnalle von Pforzen (Allgäu) – Aspekte der Deutung: 4. Diskussion.

In: Alfred Bammesberger (Hg.): Pforzen und Bergakker. Neue Untersuchungen zu Runeninschriften. Historische

Sprachwissenschaft, Ergänzungsheft 41. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999, S. 55-79.

14

Franks Casket bestehe (wohl im Sinne eines apotropäischen Analogiebildzaubers) im Schutz

des Kästchens vor Dieben.

Studie III Über die Taube und die Goldäpfel der Magier und Wielands Wundervögel auf

dem Franks Casket

Das dritte ›Kapitel‹ des Buches ist der 2003 erschienenen Gedenkschrift für Maria Teresa

Morreale entnommen.32

Hier befasst sich Ute Schwab mit der Vorderseite des

Runenkästchens, auf der sowohl die Wielandsage als auch die Anbetung der Magier

dargestellt sind. Die Autorin fragt nach der Herkunft des Vogels, der den drei Magiern nach

Bethlehem vorauseilt. Ein derartiger Führer ist in der Bildtradition der Epiphanie einmalig

und bedarf der Erklärung. Ute Schwab bietet zwei an:

Zum einen könne der Vogel Darstellungen von der ›Darbringung im Tempel‹ (›Hypapante‹)

entlehnt sein. Am Altar des Symeon wird zuweilen Joseph mit zwei Turteltauben im Arm

gezeigt, die er als Reinigungsopfer darbringt (Abb. 5-6). Schwab führt ein Beinrelief aus der

ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts an, auf dem die Anbetung der Könige dargestellt ist (Abb.

3). Neben zwei Könige, die sich links und rechts von der thronenden Gottesmutter befinden

und ihre Gaben überreichen, hat sich auch Joseph mit einer Taube ›verirrt‹. Scheinbar haben

Vorlagen aus zwei unterschiedlichen Bildkomplexen auf das Beinrelief eingewirkt. Ähnliches

könne auch bei der Vorderseite von Franks Casket der Fall sein. Ferner kann Ute Schwab

Darstellungen auf spätantiken Sarkophagen anführen, bei denen einer der Magier zwei

Tauben mit sich führt (Abb. 8-9).

Laut Schwab ist der Vogel, der die Magier auf Franks Casket führt, ebenfalls als Taube

(›Columba Spiritus Sancti‹) anzusprechen. Sie sei dem Bild hinzugefügt worden, da die

northumbrische Besitzerin der Schatulle »eine ›Reise unter Führung und Schutz des Heiligen

Geistes‹ unternehmen« (S. 122) sollte. Es handele sich also um eine persönliche Anspielung

des Schenkers (Aldfrith) auf die Bestimmung des Objektes. Interessant ist der Hinweis auf die

Ampulle von Monza, auf der ebenfalls ein geflügelter Führer der drei Magier – ein Engel – in

Erscheinung tritt. Ich erlaube mir, den Runenstein von Dynna in Norwegen (N 68) zu

ergänzen, auf dem ein nimbierter Engel (oder Christus?) neben dem Stern als Führer der

32

Ute Schwab / Giuseppe Dolei (Hg.): Viaggio nel tempo. Studi dedicati alla memoria di Maria Teresa

Morreale. (Scripta Germanica 8) Catania: Cuecm 2003, S. 20-51.

15

berittenen Magier auftritt.33

Ute Schwabs zoologische Zuordnung des northumbrischen

Führer-Vogels erscheint jedoch zweifelhaft. Der Vogel des Magierbildes, der mit den Vögeln

der Wielandszene identisch ist, hat einen langen Hals und Schnabel. Es dürfte sich eher um

einen Wasservogel, eine Ente oder besser eine Gans handeln. Um derartige Zweifel

auszuräumen, verweist Ute Schwab auf die unnaturalistischen Darstellungen der Taube in

illuminierten Physiologi und Bestiarien sowie die außergewöhnliche Beschreibung der

›Columba Spiritus Sancti‹ im Heliand.

Das im dargereichten Becher des vordersten Magiers kugelartig dargestellte Gold bringt die

Autorin mit dem ›æpplede gold‹ der altenglischen Literatur in Verbindung. Dieses ›geäpfelte

Gold‹ (›Goldäpfel‹ oder ›Goldkugeln‹) stellt eine Art angelsächsisches Pendant der

altnordischen (rauðir) ›hringar‹ oder ›baugar‹ dar. Es repräsentiert Macht und Ansehen des

adligen Kriegers und wird vom Gefolgschaftsherrn großzügig an seine Männer verteilt. Diese

repräsentative Bedeutung sei den Betrachtern des Kästchens deutlich gewesen. Derartiges

›geäpfeltes Gold‹ dürfte sich – so die Autorin – einst auch in der northumbrischen

›Pilgerschatulle‹ befunden haben.

Interessant sind die Verbindungen, die Ute Schwab zwischen der Wielandszene und der

Anbetungsszene vermutet. Der vermeintlichen Fluchtvorbereitung stehe der Führer-Vogel der

Magierszene gegenüber, Wielands »schreckliches Rachegeschirr« (S. 114) und die

Vergewaltigung der Königstochter haben ihr positives Gegenstück in den Gaben der Könige

und der jungfräulichen Geburt. Dem zerbrochenen Goldring, den Wieland für die

Königstocher repariert und ihr mit der Zange überreicht (so Schwab auf den Seiten 42 und

135), komme eine besondere Rolle zu. Dieser Ring-Gabe, die auf Beaduhilds Schändung

verweise, stehe die Gabe der ›Goldäpfel‹ für den jungfräulich empfangenen Gottessohn

gegenüber. Allerdings basiert diese Interpretation auf einer Fehllesung: In Wielands Zange

befindet sich kein Ring, sondern der Kopf des enthaupteten Königssohns! Das Gesicht ist mit

Nase und Kinn im Profil zu sehen, das Haupthaar ist wie bei allen anderen männlichen

Charakteren des Kästchens gekennzeichnet. Dennoch deutet Ute Schwab die vermeintlich

»gegensätzlich-parallelen Kostbarkeiten« (S. 135) wie folgt:

Sein [Wielands] Gold führt zum Unglück, doch daraus erwächst ein Heldenspross

(Widia/Witege) – das ›geäpfelte‹ Gold des Magiers wird dem göttlichen Kind

33

Dag Strömbäck: The Epiphany in Runic Art. The Dynna and Sika Stones. London: T. & A. Constable LTD

Edingburgh 1970, S. 10-16, Pl. 1-3.

16

nach Bethlehem gebracht, wohin Stern und Taube weisen: der mit den

Kostbarkeiten des Kästchens beschenkten Pilgerin zum Geleit. Goldbecher und

Goldring in den Händen Wielands sind spiritualiter verwendbar und zum Guten

zu verwandeln – die Richtung dieser Wandlung zeigt die Taube. (S. 137)

Studie IV Zu den römischen Themen der Pilger-Schatulle von Auzon

Der vierte Abschnitt des Bandes war für eine bisher unveröffentlichte Gedenkschrift für

Salvatore Calderone vorgesehen und wird hier erstmals vorgelegt. An dieser Stelle widmet

sich Ute Schwab der Frage nach den möglichen Vorbildern für die Darstellungen der linken

Seite (Romulus und Remus) und der Vorderseite (Titus erobert Jerusalem) von Franks Casket.

Was die Titus-Platte anbelangt, so setzt sich die Autorin kritisch mit den bisher

vorgeschlagenen Vorlagen – der römischen Triumphalkunst und dem berühmten Reliquiar

von Brescia (Abb. 4) – auseinander. Sie selbst plädiert für eine illustrierte Handschrift der

Geschichte des Judäischen Krieges des Flavius Josephus. Das Werk sei in northumbrischen

Klöstern in lateinischer Übersetzung bekannt gewesen und habe auch Beda vorgelegen. Die

oben rechts dargestellte Auswanderung der Jerusalemer, die durch den Runentitulus gisl

gekennzeichnete Abführung der Geiseln und der mit dom (Urteil) verdeutlichte Beschluss,

die Stadt zu plündern und die Überlebenden zu töten, werden im Werk des Flavius Josephus

eingehend geschildert. Selbst das im Text dramatisch beschriebene Ersteigen der Stadtmauer

scheint auf der Runenschatulle (oben links) wiederzukehren. Die besondere und z. T.

fehlerhafte Form der Runenumschrift sei möglicherweise auf Beischriften zu den

Illustrationen des Original-Josephus zurückzuführen. Ein illustriertes Exemplar des Jüdischen

Krieges, das direkt oder indirekt als Vorlage für die Bilder und Inschriften des

Runenkästchens hätte dienen können, ist jedoch nicht überliefert.

Die Darstellung von der Wolfsmutter und den römischen Zwillingen auf der linken Seite des

Kästchens geht laut Schwab auf die Schilderung Vergils im VIII. Buch der Aeneis zurück.

Dort finde man die liegende Wölfin, die gerade ›geworfen‹ (›feta‹) hatte, das ›Hängen‹

(›pendentes‹) der Knaben an den Wolfszitzen und das zärtlich säubernde ›Lecken‹ (›fingere‹

und ›mulcere‹), wie es auch auf Franks Casket zu sehen sei. Die Verdopplung der

Wolfsmutter erklärt Schwab wie folgt: Die Bildvorlage müsse – ähnlich wie der

Marmorsockel ›Ara Casali‹ (Tafel 7) aus der Zeit um 300 – eine Registereinteilung gehabt

17

haben, welche die Geschichte der römischen Gründungsväter chronologisch von oben nach

unten gliederte. Auffindung und Ablecken der Zwillinge durch die Wölfin seien auf jener

Vorlage in einem Register dargestellt gewesen. Die Säugung der Jungen müsse im folgenden

Register zu sehen gewesen sein. Auf Franks Casket habe man beide Register, die ursprünglich

untereinander standen, zusammengerückt. »Wir sehen hier also dieselbe Lupa Romana in

Bezug auf ihre verschiedenen, aufeinander folgenden Handlungen zweimal abgebildet […]«

(S. 174).

Ute Schwab vergleicht diese Art der Verdopplung mit der vermeintlich zweifachen

Darstellung der Königstochter Beaduhild in der Wielandszene auf der Vorderseite. Auch hier

repräsentiere die doppelte Ausführung zwei unterschiedliche Handlungsmomente. Dies ist

durchaus einleuchtend und bereits andernorts formuliert worden. Ich erlaube mir jedoch, die

Autorin zu korrigieren. Ihrer Auffassung nach sind folgende Momente abgebildet: Die

Übergabe des reparaturbedürftigen Rings und Beaduhild mit jenem Rauschgetränk, unter

dessen Einfluss sie dem Schmied anheim fallen wird. Schwabs Beschreibung der Handlung

basiert jedoch auf einer Fehllesung. Die weibliche Figur, die sich unmittelbar vor Wieland

befindet, reicht diesem die offene Hand hin. Ein Ring ist nicht zu erkennen. Vielmehr scheint

Wieland der Prinzessin einen Becher zu reichen, den diese bereitwillig entgegennimmt.

Wie Ute Schwab zeigen kann, stellen die mehrfache Ausführung der Hirten sowie ihre

Bewaffnung keine Innovation des northumbrischen Schnitzers bzw. Auftraggebers dar.

Erstere dürfte auf den Bericht des Dionysios von Halikarnassos, letztere jedoch auf bildliche

Darstellungen wie die auf dem Spiegel von Præneste (Taf. 6) zurückgehen.

Studie V Zu den vielen fragwürdigen Tieren und dann zur letzten Szene auf dem

kymrischen Teil des Bilderkästchens von Auzon (Bargello): Ein Versuch der

Weiterentdeckung von Bild und Schriftsinn

Der letzte und zugleich kürzeste Abschnitt des Buches ist 2005 als Beitrag in der Festschrift

für Dietrich Schmidtke erschienen.34

Hier kommt Ute Schwab zu dem Ergebnis, dass die auf

dem Runenkästchen dargestellten Vögel die Besitzerin der Schatulle auf ihrer geplanten

Pilgerreise repräsentieren.

34

Freimut Löser / Ralf G. Päsler (Hg.): Vom vielfachen Schriftsinn im Mittelalter. Festschrift für Dietrich

Schmidtke. (Schriften zur Mediävistik 4) Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2005, S. 487-520.

18

In der Wielandszene fliege eine Taube oberhalb der drei Vögel, die gerade von Egil bzw. den

Königssöhnen erbeutet werden. Ute Schwab spricht sie als Reiher an. Die Taube sei mit der

schweren Mutterschaft der geschändeten Königstochter verbunden. Dann fliege die Taube

hinüber in die Magierszene, wo sie zur Anbetung der Gottesmutter (der Pilgerstation

Bethlehem) vorauseile. Warum Schwab hier von unterschiedlichen Vogelarten ausgeht, ist

meines Erachtens nicht nachvollziehbar. Die beiden ›Tauben‹ ähneln Enten oder Gänsen und

sind mit den drei Vögeln des Wielandbildes fast identisch. Auf der ›Florentiner Platte‹ flattere

die ›Taube‹ unter dem geretteten Fohlen herum und verweise auf die schwere Mutterschaft

der Rhiannon. Durch die Flügel der hippomorphen Rhiannon ganz links im Bild sei die

Besitzerin der Pilgerschatulle unmittelbar mit der keltischen Heroine und ihrem Schicksal in

Verbindung gesetzt. Vermutlich sei auch die Besitzerin des Kästchens Mutter gewesen und

man habe ihr (eines Söhnchens wegen) eine Buße (eine Pilgerfahrt) auferlegt ›wie es der

Vater befahl‹. Nicht bloß die etwaige Existenz, sondern die ganze traurige Geschichte dieser

Frau sei also in Grundzügen aus den verrätselten Schnitzereien des Franks Casket

herauszulesen! Schließlich berge das vermeintliche Anagramm wudu sogar den Kosenamen

der northumbrischen Dame, deren Mutter-Schicksal im Bildprogramm des Kästchens auf

verschiedene Weise gespiegelt sei. Ihr Name sei demnach ›Duwu‹ bzw. ›Duwa‹ (›Taube‹).

Die drei anthropomorphen Figuren mit Kapuzenumhängen, die ganz rechts auf der

›Florentiner Platte‹ zu sehen sind, wurden im ersten Beitrag des Bandes noch mit den ›genii

cucullati‹ in Verbindung gebracht. Es handelt sich um keltische Nothelfergottheiten, die

bereits früh auf kontinentalen und britischen Weihesteinen erscheinen.35

Ferner zog Schwab

eine Darstellung von Pwyll, Rhiannons zweitem Gatten Manawyddan und dem Anderwelt-

Herrscher Arawn in Erwägung. Im zweiten Artikel hingegen schienen ihr die »druidenhaften

Kapuzenmänner« (S. 101) wie eine Art Schicksalsmacht über das Geschehen um den Unhold

›bita‹ bzw. ›ferus‹ oder Titus zu beratschlagen.

In der abschließenden Studie schlägt die Verfasserin eine ganz andere Deutung vor: Ute

Schwab hält die mittlere Figur für die Besitzerin des Franks Casket, die – erfolgreich von

ihrer Pilgerreise zurückgekehrt – mit einem Reliquienbehälter am Hals dargestellt werde.

Zwei irische Mönche von der Klosterinsel Iona (der Name der Insel bedeute im Hebräischen

›Taube‹ und sei somit als weitere Anspielung zu verstehen) seien links und rechts der Frau zu

sehen und bestaunten das Objekt, das ›Duwa‹ von ihrer Reise zu den heiligen Stätten

35

Helmut Birkhan (Anm. 10), S. 747 f.

19

mitgebracht habe. Ob hiermit eine befriedigende Lösung der Dreiergruppe gefunden wurde,

ist fraglich. Mir stellt sich insbesondere die Frage, weshalb die Mönche so unsanft am

Gewand der Dame zerren. Unklar ist an dieser Interpretation ferner, warum die heimgekehrte

Pilgerin ihre Schätze unter ihrem Umhang verbirgt. Die Autorin fragt selbst: »[…] hatte sie

nicht ihr Kästchen für solche Zwecke« (S. 196)?

Fazit

Ute Schwabs gesammelte Beiträge zur Deutung des Runenkästchens von Auzon stellen eine

beeindruckende Studie voller innovativer Ansätze und spannender Hypothesen dar.

Bedenklich ist jedoch, dass letztere z. T. argumentativ aufeinander getürmt werden. Im letzten

Beitrag des Bandes erreicht dieser Turm seinen höchsten Punkt. Das Bauwerk ist imposant,

wirkt auf mich jedoch instabil. Ob und welche Bausteine des Turms Stabilisierung erfordern

oder gar entfernt werden müssen und inwiefern dieser infolgedessen zusammenstürzen

könnte, sei dem Urteil des Lesers überlassen. Ich habe versucht, einige der Schwachstellen

deutlich zu machen. Erschwerend wirkt sich zuweilen eine unklare Methodik der Autorin aus.

Bedauerlicherweise ist für den Leser häufig nicht genau ersichtlich, ob die Autorin nur

Vermutungen und Assoziationen ausspricht oder ob man sie beim Wort nehmen soll.

Gelegentlich folgt sie unterschiedlichen Argumentationslinien ohne deutlich zu machen,

welche Argumente für den Fortlauf ihrer Beweisführung ausschlaggebend sind.

Bei aller ehrlichen Bewunderung von Ute Schwabs Gelehrsamkeit und Imaginationsvermögen

drängt sich mir als Resumee doch auf, daß die vorliegenden Studien letzten Endes mehr zu

aufregenden, im Detail sicherlich gewinnbringenden Hypothesen als zu gesicherten

Ergebnissen führen. Dennoch handelt es sich zweifellos um eine der innovativsten und

bemerkenswertesten Arbeiten, die bisher zum Thema ›Franks Casket‹ vorgelegt wurden.

Neben der Monographie von Alfred Becker36

und dem Artikel von Karl Hauck37

im

Reallexikon der Germanischen Altertumskunde werden die gesammelten Beiträge von Ute

Schwab vermutlich bald zu den einschlägigen Werken zählen.

36

Alfred Becker (Anm. 6). 37

Karl Hauck: Auzon, das Bilder- und Runenkästchen. In: Heinrich Beck u. a. (Hg.): Reallexikon der

Germanischen Altertumskunde, Band I. Berlin, New York: De Gruyter 1973, S. 514-23.