Kindsmord und Buße der kymrischen Flügelstute und die missglückte Pilgerfahrt einer...
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Sigmund Oehrl:
Kindsmord und Buße der kymrischen Flügelstute und die missglückte Pilgerfahrt
einer rätselfreudigen northumbrischen Taube: Ute Schwabs Deutung des
Franks Casket
Ute Schwab: Franks Casket. Fünf Studien zum Runenkästchen von Auzon. Hg. von Hasso C.
Heiland. (Studia Septentrionalia Mediaevalia 15) Wien: Fassbaender 2008. EUR (D) 39,60.
ISBN: 978-3-902575-05-0.
Im vorliegenden Band sind fünf Beiträge von Ute Schwab zum elfenbeingeschnitzten
Kästchen von Auzon (nach seinem Finder Franks Casket bezeichnet) gesammelt. Mit
Ausnahme des vierten Artikels sind die Beiträge bereits in verschiedenen Fest- und
Gedenkschriften erschienen. Die bebilderten und runenbeschrifteten Seiten der
vieldiskutierten frühmittelalterlichen (um 700) Schatulle aus Northumbria zeigen Szenen aus
verschiedenen Erzähltraditionen. Neben der germanischen Sage von Wieland dem Schmied
sowie der Geburt und Anbetung Christi finden sich Bilder von den römischen
Gründungsvätern Romulus und Remus und der Eroberung Jerusalems durch Titus. Die
rätselhaften Darstellungen auf der im Bargello (Florenz) aufbewahrten rechten Seite konnten
bisher nicht befriedigend zugeordnet werden. Gerade diese Bilder dienen Ute Schwab als
Ausgangspunkt einer imposanten Gesamtdeutung.
2
Studie I Bekannte und unbekannte mythische Frauen im Bildprogramm des Franks
Casket
Die Edition beginnt mit einem Aufsatz, der bereits 2002 in der Gedenkschrift für Lotte Motz1
erschienen ist. In diesem Beitrag stellt Ute Schwab erstmals ihre Interpretation der Figuren
auf der ›Florentiner Platte‹ und ihre spektakuläre Gesamtdeutung des Runenkästchens von
Auzon vor. Immer wieder greift sie in den folgenden Kapiteln/Beiträgen auf die hier
gewonnenen Erkenntnisse zurück und ergänzt sie. Ihr Ausgangspunkt ist Heiner Eichners2
»bahnbrechende« (S. 20, Anm. 9) Deutung des ganz links auf der ›Florentiner Platte‹ auf
einem kleinen Hügel sitzenden Mischwesens.
Heiner Eichner interpretiert die Gestalt vor dem Hintergrund der kymrischen
Sagenüberlieferung und verweist auf die Erzählung von der Buße der Heroine Rhiannon, die
zu Unrecht des Mordes an ihrem neugeborenen Sohn Pryderi beschuldigt und dazu verurteilt
wird, sieben Jahre lang auf einem Trittstein zu sitzen, vorbeikommenden Reisenden ihre
Geschichte zu erzählen und sie nach Wunsch auf ihrem Rücken zu tragen, als sei sie ein
Pferd. Auf Franks Casket sei Rhiannon in Pferdegestalt auf dem Trittstein sitzend und einem
Krieger von ihren vermeintlichen Untaten berichtend dargestellt. Die Flügel seien als
ikonographisches Attribut aufzufassen, das die Schnelligkeit des Pferdes veranschauliche. Um
das Maul der Kreatur sei eine Schlinge gelegt, an der man sich ein Leitseil befestigt zu denken
habe. In ihren Händen halte Rhiannon zwei Gerten. Auch die verschlüsselte Runeninschrift
auf dem Rahmen beziehe sich auf diese in den walisischen Mabinogion3 überlieferte Episode:
»Hier sitzt Ho(*r)s / auf dem Harmhügel, sie leidet Unbill /, wie ihr Ertæ auferlegt hat – eine
schmerzliche Stätte (oder: Jammertal?) der Sorgen / und der Qualen des Gemüts.«4 Eichner
liest die Personenbezeichnung hos als ›Hors‹ (›Ross‹), bezieht sie auf das dargestellte
Mischwesen und sieht darin eine Germanisierung der keltischen Rhiannon, die ihrerseits eine
1 Rudolf Simek / Wilhelm Heizmann (Hg.): Mythological Women. Studies in Memory of Lotte Motz (1922-
1997). (Studia Medievalia Septentrionalia 7) Wien: Fassbaender 2002. 2 Heiner Eichner: Zu Franks Casket/RuneAuzon (Vortragskurzfassung). In: Alfred Bammesberger (Hg.): Old
English Runes and their Continental Background. (Anglistische Forschungen 217) Heidelberg: Carl Winter
Universitätsverlag 1991, S. 603-628, hier S. 615-618. 3 Ludwig Mühlhausen (Hg.): Die Vier Zweige des Mabinogi. Pedeir Ceinc Y Mabinogi. Mit Lesarten und
Glossar. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage von Stefan Zimmer. (Buchreihe der Zeitschrift für Celtische
Philologie, Band 7) Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1988; Ute Schwab verwendet folgende Übersetzung:
Bernhard Maier: Das Sagenbuch der walisischen Kelten. Die Vier Zweige des Mabinogi. Übersetzt, kommentiert
und mit einem Nachwort versehen von Bernhard Maier. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1999; Als
weitere Übersetzung nenne ich: Martin Buber: Die vier Zweige des Mabinogi. Ein keltisches Sagenbuch.
Deutsch von Martin Buber. Frankfurt a. M.: Insel Verlag 1966. 4 Heiner Eichner (Anm. 2), S. 605.
3
kymrische Form der gallorömischen Pferdegöttin Epona darstelle. Es handele sich also um
eine »germanische Inkarnation der keltischen Pferdegöttin Epona«.5 Die in der Runeninschrift
als Urheberin des Leids genannte ›Ertæ‹ setzt Eichner mit der gallischen Bärengöttin ›Artio‹
gleich, obgleich diese in den walisischen Mabinogion keine Rolle spielt.
Ute Schwab greift Heiner Eichners Deutungsansatz auf und versucht, auch die übrigen
Figuren der Platte mit dem Ersten Zweig des Mabinogi (Pwyll pendevic Dyvet) in Einklang zu
bringen. Dort ist von Teyrnon Twryf Liant, dem Herrn über Gwent Is Coed die Rede, aus
dessen Haus alljährlich in der Nacht zum ersten Mai ein Fohlen geraubt wird. Endlich
beschließt Teyrnon, in der Nacht zum ersten Mai Wache zu halten, um den bevorstehenden
Raub zu verhindern. Im Laufe der Nacht greift schließlich die gewaltige Klaue eines
Ungeheuers durch das Fenster und versucht, das Fohlen zu packen. Teyrnon schlägt den Arm
des Unholds mit seinem Schwert ab, verjagt den Räuber und rettet so das Fohlen. Daraufhin
findet er ein gewindeltes Kind, das in Seidentuch gewickelt ist und plötzlich vor der Haustür
liegt. Teyrnon und seine Frau nehmen das geheimnisvolle Findelkind bei sich auf. Später
erfahren sie aber von Rhiannons Schicksal und begreifen, dass es sich bei ihrem Adoptivkind
um deren tot geglaubten Sohn Pryderi handelt und bringen ihn zurück zu seiner Mutter.
Ute Schwab spricht das in der Mitte der ›Florentiner Seite‹ dargestellte Pferd als Teyrnons
Fohlen an. Rechts daneben sei Teyrnon selbst mit seinem Schwert zu sehen. Das über dem
vermeintlichen Schwert (tatsächlich handelt es sich um einen Stab) positionierte Runenwort
bita sei lediglich als Glosse überliefert, bezeichne als Substantiv das in Psalm 79 genannte
›ferus‹ und verweise somit auf das unsichtbare Ungeheuer, das von Teyrnon erfolgreich
abgewehrt wird. Auch die beiden ober- und unterhalb des Pferdes eingefügten Runentituli
seien als Hinweise auf den räuberischen Unhold zu verstehen. Die Substantive wudu (Wald)
und risci (Rohr-Dickicht bzw. Schilf-Binsen-Gestrüpp des Moorlandes) vergegenwärtigten
den unheimlichen Sumpfwaldbereich, in dem das Ungeheuer beheimatet sei. Zwischen
Teyrnon und seinem Fohlen sei Rhiannons und Pwylls Sohn Pryderi als Wickelkind
dargestellt. Christlichen ikonographischen Vorlagen entsprechend sei das Wickelkind mit
einem Becher (Amphora des ersten Bades) versehen. Aus der Darstellung von der Bestrafung
Rhiannons leitet Ute Schwab das zentrale Thema des Bildprogramms von Franks Casket ab:
5 Heiner Eichner (Anm. 2), S. 616.
4
Der hier dargestellte Akt des Märchens beinhaltet […] die ›Buße durch
Satteltragen und Reiten‹ […], also die ›Fahrt‹ einer weiblichen ›Büßerin‹. Dieses
Thema prägt und pointiert mit seiner eigenen Bedeutsamkeit das durch die
übrigen Exempla des Kästchens zusammengesetzte Bildprogramm. Die
dargestellten Gesta und Sagen aus Mythologie, Profan- und Heilsgeschichte
beziehen sich alle auf das Thema der ›Reise‹ […], und zwar, wie wir meinen, in
jeweils verschiedener Nuance als Anspielung auf die verschiedenen Stationen
eines gewünschten Unternehmens, bei dessen Anlass der kostbare Behälter
angefertigt wurde: zu einer Pilgerfahrt ins Heilige Land nämlich, welche (u. E.)
einer hohen Dame als ›Bußfahrt‹ geraten worden war. (S. 20)
Die Bußfahrt müsse wohl bereits in Frankreich ein jähes Ende gefunden haben, wo die
Schatulle samt dem kostbaren Inhalt bei einem Raubüberfall abhanden gekommen sei. Der
Becher über dem Wickelkind der ›Florentiner Platte‹, die Erzeugnisse Wielands, die Gaben der
drei Magier, die Kriegsbeute des Titus (die Tempelschätze) und die Goldstücke in den Händen
der Hirten vergegenwärtigen laut Schwab das in der Schatulle der northumbrischen Pilgerin
enthaltene Gold, das für die Ausführung des Unternehmens und ein Opfer in der Heiligen Stadt
vorgesehen war. Das Thema ›Reise‹ sei durch Wielands Flugvorbereitung, die Ankunft der
drei Magier, den Auszug bzw. die Abführung der Juden aus Jerusalem sowie Romwalus und
Reumwalus oþlæ unneg (fern der angestammten Heimat) vergegenwärtigt. Der Vers vom
Walfisch auf der Vorderseite verweise auf eine Meeresreise. Mit Rom und Jerusalem seien
zwei zentrale Stationen der Wallfahrt namentlich aufgeführt.
Ferner sei auch eine Reihe von Vögeln als verknüpfendes Motiv und Hinweis auf das Thema
der Reise zu werten. Vögel tauchen unter dem Pferd auf der ›Florentiner Platte‹, in der
Wielandszene, vor den drei Magiern und in der Architektur der Ægili-Platte sowie der
Jerusalem-Platte (Rückseite) auf. Auch das Motiv der außergewöhnlichen und sorgenreichen
Mutterschaft (Rhiannon und Pryderi, Beaduhild und Widia, die Wölfin und die römischen
Gründungsväter, Maria und Jesus) stelle ein wichtiges und verbindendes Thema im
Bildprogramm des Runenkästchens dar. Schwab geht davon aus, dass die Schmuckschatulle im
Auftrag des northumbrischen Mäzenatenkönigs und hochgebildeten Aldhelm-Schülers Aldfrith
(685-705) entstanden sei. Er, der illegitime Sohn einer irischen Mutter, habe das Motiv der
(Pilger-/Buß-)Reise mit dem Motiv der problembehafteten Mutterschaft verbunden und in
5
Bildern jener Erzähltraditionen vermittelt, die in seinem geschulten Umfeld wohlbekannt
waren (christlich – römisch – germanisch – keltisch).
Ute Schwabs beeindruckende Deutung der ›Florentiner Platte‹ und ihre Interpretation der
Runenschatulle als Pilgerkästchen mit persönlichen Anspielungen basiert im Wesentlichen auf
der Identifizierung des unheimlichen Mischwesens nach Heiner Eichner. Diese scheint mir
jedoch keineswegs gesichert zu sein. Die Unklarheiten beginnen bereits bei der durchaus
umstrittenen Lesung und Interpretation der Runen. Eine Reihe von alternativen
konkurrierenden Lesungen ist zu berücksichtigen.6 So lesen beispielsweise Wolfgang Krause
und Alfred Becker nicht her hos, sondern herhos. Ein Worttrenner ist nicht vorhanden. Krause
übersetzt mit ›Waldgottheit‹. Krause und Becker gehen ferner davon aus, dass Herhos Unheil
bewirkt und nicht erduldet. Dies wäre mit der Erzählung von Rhiannon nicht zu vereinbaren.
Die Probleme der Lesung werden jedoch nicht diskutiert.
Mir fehlt auch eine Erörterung der Probleme, welche die Überlieferungslage mit sich bringt.
Die vier Zweige des Mabinogi sind erst im 14. Jahrhundert schriftlich (walisisch) überliefert,
dürften aber im 11. bis 13. Jahrhundert entstanden sein.7 Die einzelnen Stoffe sind z. T. sicher
älter. Doch wie alt sind die Erzählungen von Rhiannon und Pryderi? Ist es wahrscheinlich, dass
sie um 700 in Nordengland in Umlauf waren und inwieweit dürfen wir davon ausgehen, dass
die mittelkymrischen Handschriften ursprüngliche Formen bewahren? Die in den Vier Zweigen
des Mabinogi enthaltenen Stoffe speisen sich nicht ausschließlich aus der vorchristlichen
keltischen Überlieferung. Was die Verleumdung Rhiannons anbelangt, so scheint ein
verbreitetes Märchenmotiv Einfluss zu nehmen.8 In den Mabinogion wurden alte Stoffe
aufgegriffen, umgebildet und mit Neuem vermischt.9 Die Form der Pferde-Buße etwa ist mit
dem ›Satteltragen‹ (mittelhochdeutsch ›harmschar‹) des deutschen Strafrechts zu vergleichen
und dürfte ein Abbild hochmittelalterlicher Lebenswirklichkeit darstellen.10
Ob derartige
Strafformen bereits um 700 in Wales üblich waren, bleibt offen. Diese und andere Fragen
hätten meiner Auffassung nach geprüft werden müssen, um die Deutung Eichners auf sichere
Füße zu stellen. Die Sage von Wieland dem Schmied hingegen ist relativ früh durch Deors
6 Zusammengetragen von Alfred Becker: Franks Casket. Zu den Bildern und Inschriften des Runenkästchens von
Auzon. (Sprache und Literatur. Regensburger Arbeiten zur Anglistik und Amerikanistik, Band 5) Regensburg:
Verlag Hans Carl Regensburg 1973, S. 39 ff. 7 Bernhard Maier (Anm. 3), S. 101; Martin Buber (Anm. 3), S. 8.
8 Bernhard Maier (Anm. 3), S. 109.
9 Martin Buber (Anm. 3), S. 8-11.
10 Helmut Birkhan: Kelten. Versuch einer Gesamtdarstellung ihrer Kultur. Wien: Verlag der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften 1997, S. 525, Anm. 6.
6
Klage, außerhalb Englands etwa durch den Bildstein Ardre VIII auf Gotland belegt. Was den
kymrischen Stoff anbelangt, hätte es weiterer Ausführungen bedurft.
Eindrucksvoll, doch letztlich nicht überzeugend erscheinen mir Ute Schwabs Erklärungen des
Mischwesencharakters der Rhiannon. Die Figur vereint Mensch, Pferd und Vogel. Von einer
theriomorphen Erscheinung Rhiannons ist im Mabinogi jedoch keine Rede. Auch handelt es
sich bei der Rhiannon des Mabinogi keineswegs um eine Pferdegöttin. Die vermeintliche
Nähe zur gallorömischen Pferdegöttin Epona ist rekonstruiert und umstritten.11
Schwab
verweist auf Rhiannons »ganz besondere magische Affinität zu diesen Tieren« (S. 45). Hier
wäre eine Sammlung und kritische Bewertung entsprechender Belege zu erwarten gewesen.
Folgende Punkte sind zu nennen: Im Ersten Zweig des Mabinogi reitet Rhiannon auf einem
außergewöhnlich schnellen Pferd, so dass Pwyll und seine Männer sie nicht einholen
können.12
Im Dritten Zweig des Mabinogi muss Rhiannon im Zuge ihrer Gefangenschaft
einen Eselkummet tragen.13
Im Zweiten Zweig des Mabinogi werden auch Rhiannons Vögel
kurz erwähnt, von denen es andernorts (Culhwch ac Olwen) heißt, sie könnten durch ihren
Gesang die Toten erwecken.14
Sind diese Hinweise ausreichend, um Rhiannon in der vorliegenden Hybridform kenntlich zu
machen? Gibt es Parallelen in der keltischen (Bild-)Überlieferung? Dem in der Keltologie
ungeschulten Leser ist ein Urteil hierüber nicht möglich. Im folgenden Abschnitt bietet Ute
Schwab eine abweichende Erklärung und meint, Rhiannon werde als Pferd dargestellt, weil
sie im Zuge ihrer Bestrafung »als Pferd handeln muss« (S. 73). Die Flügel seien aber »auf
ihre enge ornithologische Bindung« (S. 73, Anm. 19) zurückzuführen. Das Pferdemaul
Rhiannons sei zugebunden, während eine Schlange hinter ihrem Haupt hervorschaue. Das
Pferd selbst sei ehrlich und schweige, während die Schlange – als Personifikation der Lüge –
vom vermeintlichen Kindsmord berichte. Auf diese Weise sei der komplizierte Umstand, dass
Rhiannon widerwillig die Unwahrheit verbreiten muss, bildlich umgesetzt.
Bedenklich oder eher befremdlich erscheint mir ein außergewöhnliches Experiment der
Autorin, von dem ich nicht recht weiß, ob es ernsthaft zum wissenschaftlichen
Erkenntnisgewinn beitragen oder eher eine scherzhafte Spielerei darstellen soll. Auf Seite 33 f.
11
Helmut Birkhan (Anm. 10), S. 525, 714; einschlägig etwa: William John Gruffydd: Rhiannon. An Inquiry into
the Origins of the First and Third Branches of the Mabinogi. Cardiff: University of Wales Press 1953, S. 90-108. 12
Bernhard Maier (Anm. 3), S. 17 ff. 13
Bernhard Maier (Anm. 3), S. 71. 14
Bernhard Maier (Anm. 3), S. 51 f., 137.
7
zitiert Ute Schwab eine längere Passage aus der sehr freien Mabinogi-Nacherzählung der
amerikanischen Fantasy-Autorin Evangeline Walton15
und überlässt es dem Leser bzw.
Betrachter, »die Identifikation mit Objekten von Rhiannons Feenwelt zu vollziehen« (S. 34). In
diesem phantasievoll ausgeschmückten Text, der sich nur in Grundzügen nach der walisischen
Quelle richtet, ist auch von der Pferdegestalt Rhiannons die Rede, die in den Mabinogion nicht
erwähnt wird. Sollte sich Ute Schwab tatsächlich von einem Fantasy-Roman beeinflusst haben
lassen oder bezieht sie sich stillschweigend auf andere keltische Quellen? Der Leser ist
verunsichert. Unwahr ist zumindest Schwabs Behauptung, Rhiannon sei »[…] im Mabinogi
überall von ihren Wundervögeln umgeben […]« (S. 19). Rhiannons Vögel erscheinen in den
Mabinogion nur ein einziges Mal, und zwar ohne ihre Herrin.16
Im zitierten Roman von
Evangeline Walton heißt es jedoch: »Drei verschiedenfarbige Vögel umfliegen sie [Rhiannon]
mit süßem Gesang […]« (S. 33). All dies bedarf der Erklärung.
Da die Interpretation der übrigen Figuren auf der ›Florentiner Platte‹ auf einer ungesicherten
Deutung des Mischwesens beruht, bleiben Schwabs Aussagen hypothetisch. Die als Teyrnon
identifizierte Gestalt muss nicht zwingend einen Mann darstellen. Sehr ähnlich – mit Kapuze,
Mantel und Stab – ist beachtenswerterweise die auf dem Kastendeckel erscheinende thronende
Figur gestaltet. Unklar ist mir auch, warum das Pferde raubende Ungeheuer nicht darstellbar
gewesen sei. Die Darstellung einer klauenbewehrten Hand samt Arm, wie sie im Text
geschildert wird, hätte die Fähigkeiten des Schnitzers sicher nicht überfordert. Zu betonen ist
ferner, dass von einem »unheimlichen wilden Sumpfwaldbereich« (S. 35) als Wohnstätte des
Unholds im Mabinogi gar keine Rede ist. Es heißt schlicht, er sei aus der Dunkelheit
gekommen. Ute Schwab rekonstruiert dieses Detail mit Hilfe des Beowulf, da man annimmt,
der kymrische Stoff habe auf die Grendelepisode Einfluss genommen. Was zu dieser Annahme
berechtigt und ob die darauf basierende Schlussfolgerung bezüglich des Lebensraums des
keltischen Klauenungeheurs zulässig ist, wird nicht erörtert. Die Deutung der Tituli wudu und
risci kann aus diesem Grund nicht restlos überzeugen.
Da auf den Platten von Franks Casket Szenen dargestellt seien, die mit einer Fahrt oder Reise
zu tun haben (Wielands Flucht, Magier, Pferdebuße, Romulus und Remus, Jerusalem), geht
Ute Schwab davon aus, dass die Schatulle anlässlich einer Reise angefertigt und überreicht
wurde. Von einer Omnipräsenz der Reisethematik kann jedoch nur bedingt die Rede sein. Die
15
Evangeline Walton: Die Vier Zweige des Mabinogi. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Jürgen Schweier.
Zweite revidierte Auflage. Stuttgart: Hobbit Presse/Klett-Cotta 1983. 16
Bernhard Maier (Anm. 3), S. 51 f., 137.
8
Autorin stellt selbst fest, dass die Vogelfangszene der Wielanddarstellung nicht zwingend als
Vorbereitung zur Flucht gedeutet werden muss. Wie häufig angemerkt wurde, könnte es sich
auch um die beiden Königssöhne handeln, die laut Þiðreks saga ohne Pfeile Vögel fangen.17
Wenn der Meisterschütze Egil Vögel für Wielands Flugapparat beschafft, wäre zu erwarten,
dass er mit Pfeil und Bogen unterwegs ist. Doch auch wenn wir – wie die Autorin später auf
Seite 133 f. (vgl. S. 186) vorschlägt – davon ausgehen sollten, dass Egil die Vögel mit Leim
fängt, stellt sich die Frage, warum lediglich die Vorbereitung und nicht der spektakuläre Flug
selbst zur Darstellung gekommen ist. Warum ich die Rhiannon-Deutung für ungesichert halte,
habe ich bereits begründet. Dieser Umstand wirkt sich schließlich auch für Schwabs
Überlegungen zur Pilgerfahrt und somit auf das Gesamtkonzept relativierend aus: »Den Zweck
der Reise als ›Bußfahrt‹ haben wir aus der Deutung des Märchenrosses (nach Eichner) auf der
rechten Seite herausgelesen« (S. 41).
Auch unabhängig von Schwabs bzw. Eichners Deutung des Mischwesens birgt die Pilgerfahrt-
Theorie erwähnenswerte Schwachstellen. So meint die Autorin beispielsweise auf der linken
Seite des Schmuckkästchens Goldstücke bzw. Nuggets in den Händen der Hirten erkennen zu
können, die den königlichen Zwillingen dargeboten werden. Dies veranschauliche den Wunsch
des Schenkers. »Denn: ›Fern der Heimat‹ soll sich die büßende Pilgerin in Rom befinden und
sie soll in der Ewigen Stadt einiges Gold aus ihrem Kästchen opfern« (S. 48). Allerdings
handelt es sich um eine Fehllesung. Die Hirten umfassen mit der einen Hand einen Speer, mit
der anderen aber jeweils einen Baumstamm. Wie ein Vergleich mit der Wielandszene und
anderen Figuren des Kästchens deutlich macht, handelt es sich nicht um einen Nugget, sondern
um die zugreifenden Finger der Figuren, die nicht einzeln (nur der Daumen erscheint separat),
sondern als Fläche (ähnlich einem Fäustling) dargestellt werden. Um das Motiv der Gabe
sowie das Motiv der sorgenreichen Mutterschaft auch für die Titus-Platte zu erschließen, greift
die Autorin zu Spekulationen: Der Tempelschatz und ein bei Hegesippus überlieferter Fall von
Kindsmord (und Kannibalismus) im Zuge der Belagerung Jerusalems sind zwar auf der Titus-
Platte nicht dargestellt, seien aber beim gebildeten Betrachter durch den Kontext
vergegenwärtigt.
Ich möchte darauf hinweisen, dass sich durchaus auch vor dem Hintergrund germanischer
Überlieferung mögliche Deutungsansätze für die Figuren der ›Florentiner Platte‹ ergeben, die
zumindest nicht weniger plausibel sind, als der von Heiner Eichner und Ute Schwab.
17
Robert Nedoma: Die bildlichen und schriftlichen Denkmäler der Wielandsage. (Göppinger Arbeiten zur
Germanistik, Nr. 490) Göppingen: Kümmerle Verlag 1988, S. 10-20; Alfred Becker (Anm. 6), S. 79 f.
9
Auffallend ist nach meinem Dafürhalten, dass sich zwischen den Extremitäten des Pferdes
zwei Dreipass-Symbole befinden. An gleicher Stelle begleiten sie zuweilen auch das
Totenpferd auf den gotländischen Bildsteinen des 8. Jahrhunderts.18
Neben dem Pferd tritt
auch ein Vogel im Bildprogramm der gotländischen Bildsteine als Seelengeleiter in
Erscheinung.19
Auf der ›Florentiner Platte‹ ist ein Vogel unterhalb des Pferdes abgebildet.
Möglicherweise wendet sich das Pferd einem Grabhügel zu? Der Kelch darüber könnte als
Willkommenstrunk für den Toten interpretiert werden, der auf den Steindenkmälern als
Trinkhorn, Trinkschale oder Becher wiedergegeben20
wird. Bemerkenswerterweise stellt das
(auf einem Grabhügel?) sitzende Mischwesen eine Verbindung der Epiphanien des
gotländischen Psychopompos dar: Walküre (anthropomorph), Pferd, Vogel. Die Schlange, die
sich um das Pferdemaul der Kreatur windet, unterstreicht deren Zugehörigkeit zur Unterwelt.
Vor dieser archaischen ›Super-Walküre‹ erscheint ein gerüsteter Krieger mit Helm, Schild
und Speer. Vielleicht hängt die Komposition mit der – ebenfalls im Bildprogramm der
Bildsteine überlieferten – Speerübergabe zusammen, durch die der Gefallene in die
Gefolgschaft des Kriegs- und Totengottes aufgenommen wird.21
Laut Alfred Becker22
ist auch
die vermummte Gestalt neben dem ›Grabhügel‹ mit einem Speer bewaffnet. Die ↑-Rune im
Runenwort bita sei gleichzeitig eine Verlängerung des Stabs in der Hand der Figur. Es
handele sich also um einen Speer mit dem Waffenheiti ›bita‹.23
Auch die Bedeutung eines weiteren Bilddetails, das in Ute Schwabs Abhandlung
vernachlässigt wird, könnte im Lichte germanischer Vorstellungen zu erhellen sein. Der
Stängel in der Hand des sitzenden Mischwesens hat oben einige abstehende Blätter und unten
eine knollenartige Verdickung. Sehr ähnliche Darstellungen finden sich auf skandinavischen
Goldfolien der Vendelzeit und den wikingerzeitlichen Kummets von Mammen.24
Es könnte
18
Sune Lindqvist: Gotlands Bildsteine I. Stockholm: Wahlström & Widstrand 1941, Fig. 85, 86, 103, 110.
Ferner begleitet der Dreipass das Totenschiff (z. B. Fig. 79) und das Menschenopfer von Lärbro St. Hammars I
(Fig. 81). Auf Stenkyrka Lillbjärs III besteht er aus drei Trinkhörnern und demonstriert somit eindrücklich seine
Verbindung zum Adventusthema (Fig. 112). 19
Sigmund Oehrl: Theriomorphe Psychopompoi im Bildprogramm der gotländischen Bildsteine (in
Vorbereitung); vorerst Hugo Jungner: Den gotländska runbildsten från Sanda. Om Valhallstro och hednisk
begravningsritual. In: Fornvännen 25 (1930), S. 65-82, hier S. 78-81, Fig. 17. 20
Gustaf Trotzig: Ett bildstensmotiv i arkeologisk belysning. In: Gotländskt Arkiv 53 (1981), S. 31-38, Bild 5-6. 21
Hugo Jungner (Anm. 19), S. 76 f., Fig. 17 (Hier kehrt auch der Dreipass wieder). 22
Alfred Becker (Anm. 6), S. 53. 23
Bildergänzende Funktion einzelner Runen ist bisweilen auch auf den wikingerzeitlichen Runensteinen
feststellbar. 24
Karl Hauck: Die religionsgeographische Zweiteilung des frühmittelalterlichen Europas im Spiegel der Bilder
seiner Gottheiten. In: Fornvännen 82 (1987), Abb. 14; Jutta Schmidt-Lornsen: Bilddarstellungen auf
wikingerzeitlichen Mähnenstuhlpaaren. Ein Diskussionsbeitrag. In: Helmuth Roth (Hg.): Zum Problem der
Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte. Akten des 1. Internationalen Kolloquiums in Marburg a. d. Lahn, 15.
10
sich um Lauchgewächse (Allium) handeln. Die Bedeutung dieser Heilpflanzen ist nicht erst
durch die altnordische Schriftüberlieferung, sondern bereits durch die laukaR-Inschriften auf
den nordischen Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit belegt, wo ihnen bisweilen ein
religiöser Gehalt im Rahmen der Regenerationsthematik zukommt.25
Verweist die
Lauchpflanze in der Hand des Seelengeleiters auf die Erweckung des toten Kriegers? Ich
begnüge mich mit diesen unverbindlichen Überlegungen und verweise auf die Interpretationen
Alfred Beckers und Wolfgang Krauses, die in eine ähnliche Richtung zielen.26
Studie II Runentituli, narrative Bildzeichen und biblisch-änigmatische Gelehrsamkeit auf
der Bargello-Seite des Franks Casket
In der zweiten Studie, welche 2003 als Beitrag in der Festschrift für Klaus Düwel27
erschienen
ist, versucht Ute Schwab Doppeldeutigkeiten, verborgene Anspielungen und Rätselstrukturen
auf der vermeintlich keltischen ›Florentiner Platte‹ aufzudecken. Dass auf Franks Casket
durchaus mit solchen zu rechnen ist, zeigen einige Befunde. So ist die Runeninschrift auf dem
Rahmen der ›Florentiner Seite‹ (›Bargello-Seite‹) verschlüsselt, indem für die meisten Vokale
anstatt der üblichen Runen kryptische Sonderzeichen verwendet werden. Auch sprachliche
Sonderformen wie ›Reumwalus‹ (anstatt ›Remus‹) könnten als »Rätselspiele
schulmeisterlicher Art« (S. 71) zu verstehen sein. Ähnlich sei die Mischung von Runen und
römischer Schrift sowie altenglischer und lateinischer Sprache auf der Rückseite (Titus-
Platte) zu bewerten. Für fraglich halte ich jedoch die Auffassung, die stabenden Langzeilen
vom Fisch auf der Vorderseite (Wieland-/Magierplatte) seien ebenfalls als Rätsel konzipiert.
Dieses Fisch-Rätsel frage nach der Identität des gestrandeten Fisches (fisc). Die Lösung
hronæsban (›Walbein‹) befinde sich erst am Ende der Inschrift. Aus welchem Grund sollte
dem Rätsel eine Lösung beigegeben sein, die – praktisch unmittelbar an die Fragestellung
anknüpfend – keine Möglichkeit zum Raten bietet? Da bereits zu Anfang von einem
gestrandeten Fisch die Rede ist, liegt die Lösung ohnehin auf der Hand. Auch hos, womit die
bis 19. Februar 1983. Veröffentlichungen des Vorgeschichtlichen Seminars der Philipps-Universität Marburg a.
d. Lahn, Sonderband 4. Sigmaringen: Jan Thorbecke Verlag Sigmaringen 1986, S. 297-302, hier S. 302, Abb. 4. 25
Wilhelm Heizmann: Bildformel und Formelwort. Zu den LaukaR-Inschriften auf Goldbrakteaten der
Völkerwanderungszeit. In: Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien, Konferenser 15 (1987), S.
145-153; Wilhelm Heizmann: Fenriswolf. In: Ulrich Müller / Werner Wunderlich (Hg.): Dämonen, Monster,
Fabelwesen. Mittelalter Mythen, Band 2. St. Gallen: UVK Fachverlag für Wissenschaft und Studium 1999, S.
229-255, hier S. 244-246, Abb. 7. 26
Alfred Becker (Anm. 6), S. 48-54; Wolfgang Krause: Erta, ein anglischer Gott. In: Die Sprache 5. Festschrift
für W. Havers (1959), S. 46-54. 27
Wilhelm Heizmann / Astrid van Nahl (Hg.): Runica – Germanica – Mediaevalia. (Ergänzungsbände zum
Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 37) Berlin, New York: De Gruyter 2003, S. 759-803.
11
Büßerin Rhiannon bezeichnet werde, sei als Teil des gelehrten Rätselspiels aufzufassen (hos
= ›Hors‹?).
Da es sich bei der Empfängerin des Kästchens und den übrigen Betrachtern im unmittelbaren
Umfeld des Schenkers »[…] um Northumbrer mit engen Beziehungen zur irischen
Klostergelehrsamkeit einerseits und andererseits zu den gelehrten Rätselspielereien eines
Aldhelm etwa handelt […]« (S. 70), ist auf Franks Casket durchaus mit verborgenen
Botschaften und Rätselstrukturen dieses und höheren Niveaus zu rechnen. In der Tat eröffnet
diese Grundlage einen neuen Blick auf das Denkmal, der von der Verfasserin intensiv
fruchtbar gemacht, aber bisweilen über Gebühr strapaziert wird.28
Ein mehrfacher Sinn ist laut Schwab etwa dem Runentitulus bita auf der ›Florentiner Seite‹
zuzurechnen. Es bezeichne das aus dem Dunkeln heraus agierende und daher nicht bildlich
dargestellte Ungeheuer der kymrischen Erzählung, das in der Nacht zum ersten Mai das
Fohlen des Teyrnon zu rauben versucht. Das Substantiv ›bita‹ gibt in der angelsächsischen
Übersetzung von Psalm 79 ›ferus‹ wieder und bezeichnet den Eber aus dem Wald, der den
Weinstock des Herrn zerstört (›exterminavit eam aper de silva et singularis ferus depastus est
eam‹). Diese zweite, biblische Sinnebene sei bewusst angedeutet und durch die bildliche
Darstellung und runische Nennung des Waldes (wudu = ›silva‹) unterstrichen. Damit sei
jedoch nicht genug. Die allegorische Auslegung des durch Doppeldeutigkeit
vergegenwärtigten Psalms sei zudem mit dem Thema der Schatullenrückseite verbunden.
Autoritäten wie Cassiodor und Beda, deren Werke am Hof von König Aldfrith wohlbekannt
waren (später auf dem Kontinent auch Hrabanus Maurus und Notker der Deutsche) deuten
den Eber (›ferus‹/bita) aus dem Wald (›silva‹/wudu) als Titus, den Besieger und Zerstörer
Jerusalems (›vineam‹). Bei Cassiodor heißt es zudem, Titus habe die Stadt und ihre Bewohner
wie Gras zermalmt (›quasi herbarum‹). Ute Schwab vermutet, dass diese Formulierung durch
das Runenwort risci (›Sumpfgras‹) in Erinnerung gerufen werden soll.
Ferner meint Ute Schwab mit Anagrammen rechnen zu können. Der Titulus wudu auf der
›Florentiner Platte‹ könne zu duwu (›Taube‹) umgestellt werden und verweise somit auf den
daneben und vor den drei Magiern dargestellten Vogel. Ferner stellt Schwab die enigmatische
Personenbezeichnung ERTA um zu ATER und ergänzt sie durch den Anfangsbuchstaben des
Namens ›Pwyll‹, der laut Mabinogi hier eigentlich zu erwarten sei. Pwyll ist der Gatte der
28
Die Verfasserin ist auch jenen Interpretationen des Runenkästchens zugeneigt, die auf mitunter recht
spekulative Weise mit Zahlenmagie operieren (vgl. S. 152 und 196).
12
Rhiannon. Er habe ihr wegen der vermeintlichen Tötung des gemeinsamen Sohnes die Pferde-
Strafe auferlegt (wovon im Text nicht expressiv verbis die Rede ist – Pwyll scheint die
verhängte Strafe lediglich zu billigen29
). In der Runeninschrift laute es hingegen, Ertæ/Erta
habe hos (= Rhiannon) Unheil auferlegt. Durch Umstellung und Ergänzung ergibt sich laut
Schwab aus ERTA jedoch PATER, was nun auf Pwyll, den Vater des verschwundenen
Kindes hindeute.
Die Inschrift nennt also weder Rhiannon noch Pwyll. Rhiannon werde vielmehr als ›Hors‹,
Pwyll hingegen als ›PATER‹ bezeichnet. Doch auch diese ›Pseudonyme‹ werden gar nicht
aufgeführt, sondern auf komplizierte Weise chiffriert oder verstümmelt wiedergegeben.
Zudem wird ›Hors‹/Rhiannon nicht als Frau, sondern als Hybrid, also ebenfalls chiffriert
dargestellt. Der über dem Pferd positionierte Runentitulus risci sei zu ris ic (›ich
reiße/raube/verschlinge‹) umzustellen und vergegenwärtige die Absicht des (gar nicht
dargestellten) ›grendelartigen‹ Unholds, Teyrnons Fohlen zu rauben. Sind derart komplex
verrätselte Mitteilungen tatsächlich noch auflösbar? Das zum Vergleich angeführte
Namensrätsel des Cynewulf spielt sich auf ungleichem Niveau und unter anderen
Voraussetzungen ab. Überschreitet die Autorin hier nicht die Grenzen der Nachweisbarkeit?
Oder anders: Dürfen Belesenheit, Einfallsreichtum und Scharfsinn in diesem Maß auch bei
den northumbrischen Betrachtern um 700 vorausgesetzt werden? Grundsätzlich gilt: Je
komplexer die Verrätselungen sind, mit denen man in den Bildern und Inschriften des Franks
Casket meint rechnen zu können, desto unsicherer wird der Boden, auf dem man sich bewegt.
Auch die Darstellung des Wickelkindes Pryderi berge christlich-gelehrte Bezüge und
Deutungsmöglichkeiten, die das gebildete Publikum im Umfeld von König Aldfrith zu
entschlüsseln vermochte. Die Form des Wickelkindes und seiner hügelartigen ›Behausung‹
leite sich von der Korbkrippe Christi ab, der Kelch ginge auf die Amphora des ersten Bades
zurück (Abb. 2-9). Das dem Kinde mit gesenktem Haupt zugewandte Pferd sei an Ochs und
Esel im Stall von Bethlehem angelehnt. Desgleichen seien die Bäume und Pryderis
Pflegevater Teyrnon, der statt eines Schwertes einen (Hirten-)Stab in der Hand hält, auf die
christliche Weihnachtsikonographie zurückzuführen. Bildformeln aus der christlichen
Überlieferung sind offenbar übernommen und mit neuem Sinngehalt gefüllt worden. Diese
überraschende Beobachtung ist durchaus einleuchtend und belangreich. Auffälligerweise ist
das Bethlehemthema somit zweimal auf dem Kästchen gegenwärtig. Dies sei auf Aldfriths
29
Bernhard Maier (Anm. 3), S. 28 f.
13
»besondere Vorliebe für die heilig-historischen Stätten« (S. 84) zurückzuführen und verweise
auf eine weitere Pilgerstation auf der Reise der Besitzerin. Schwabs Versuch, die Figuren mit
dem Bericht des Mabinogi zu harmonisieren, wird durch diese Erkenntnisse nicht gestützt. Im
Gegenteil: Der Kelch lässt sich nicht in den Handlungsablauf einfügen. Die Erklärung, der
Kelch verweise auf das nach der Entdeckung des Wickelkindes nachgeholte »›erste Bad des
Helden‹« (S. 84), ist unzulässig, da in der kymrischen Quelle keine Rede davon ist.
Schwab spricht von Bausteinen aus der christlichen Kunst, die so eingesetzt werden, »dass die
narrative Bedeutung durch die bildliche Kommunikation […] auch aus dem Rückprojizieren
in ihren ursprünglichen biblischen Zusammenhang verständlich wird und weiter aus ihrem zu
erschließenden exegetischen Sinn resultieren kann« (S. 76). Das In-Bezug-Setzen von
Christus und Pryderi eröffne dem gebildeten northumbrischen Betrachter typologische
Perspektiven. Windeln und Grablinnen gehören in der christlichen Überlieferung präfigurativ
zusammen. Das mit Laken umwickelte Jesuskind nimmt in inter-neotestamentarischer
Typologie die Einbalsamierung des Corpus Christi voraus. Sowohl bei Rhiannons und Pwylls
Sohn Pryderi als auch bei Christus ist der Tod jedoch nur scheinbar: Es folgt die Rückkehr
des Totgesagten.
Die Schnitzerei auf dem Deckel der Schmuckschatulle stellt nach Schwab Wielands Bruder,
den Bogenschützen Egil (runisch gekennzeichnet als Ægili) dar, der seine Festung gegen
angreifende Feinde verteidigt. Innerhalb der Festung sei Egils Schwanenfrau ®lrun, die aus der
Vǫlundarkviða und der Þiðreks saga bekannt ist, auf einer Art Vogelpodest oder -thron zu
sehen. Schwab geht von einer verlorenen Sage über Egil und Ǫlrun aus, von der auch die
Runeninschrift auf der Schnalle von Pforzen (letztes Drittel 6. Jahrhundert) zu künden scheine.
Die Inschrift laute: aigil andi aïl(u)run und in einer zweiten Zeile ltahu gasokun. Hinter den
beiden Anthroponymen der ersten Zeile verbergen sich laut Schwab die Sagencharaktere Egil
und Ǫlrun. Die zweite Zeile übersetzt Schwab sehr frei mit »sie bedrohten erfolgreich,
überwanden die Schlangendämonen des Gewässers« (S. 68). Allerdings ist die Lesung der
zweiten Zeile problematisch und wird heftig diskutiert.30
Auf diese Diskussion geht die
Autorin an dieser Stelle nicht weiter ein.31
Die Funktion der Abwehrszene auf dem Deckel von
30
Klaus Düwel: Runenkunde. (Sammlung Metzler, Band 72) Weimar: Verlag J.B. Metzler Stuttgart 2008, S. 19
f., 22. 31
Siehe jedoch: Ute Schwab: Die Runenschnalle von Pforzen (Allgäu) – Aspekte der Deutung: 4. Diskussion.
In: Alfred Bammesberger (Hg.): Pforzen und Bergakker. Neue Untersuchungen zu Runeninschriften. Historische
Sprachwissenschaft, Ergänzungsheft 41. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1999, S. 55-79.
14
Franks Casket bestehe (wohl im Sinne eines apotropäischen Analogiebildzaubers) im Schutz
des Kästchens vor Dieben.
Studie III Über die Taube und die Goldäpfel der Magier und Wielands Wundervögel auf
dem Franks Casket
Das dritte ›Kapitel‹ des Buches ist der 2003 erschienenen Gedenkschrift für Maria Teresa
Morreale entnommen.32
Hier befasst sich Ute Schwab mit der Vorderseite des
Runenkästchens, auf der sowohl die Wielandsage als auch die Anbetung der Magier
dargestellt sind. Die Autorin fragt nach der Herkunft des Vogels, der den drei Magiern nach
Bethlehem vorauseilt. Ein derartiger Führer ist in der Bildtradition der Epiphanie einmalig
und bedarf der Erklärung. Ute Schwab bietet zwei an:
Zum einen könne der Vogel Darstellungen von der ›Darbringung im Tempel‹ (›Hypapante‹)
entlehnt sein. Am Altar des Symeon wird zuweilen Joseph mit zwei Turteltauben im Arm
gezeigt, die er als Reinigungsopfer darbringt (Abb. 5-6). Schwab führt ein Beinrelief aus der
ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts an, auf dem die Anbetung der Könige dargestellt ist (Abb.
3). Neben zwei Könige, die sich links und rechts von der thronenden Gottesmutter befinden
und ihre Gaben überreichen, hat sich auch Joseph mit einer Taube ›verirrt‹. Scheinbar haben
Vorlagen aus zwei unterschiedlichen Bildkomplexen auf das Beinrelief eingewirkt. Ähnliches
könne auch bei der Vorderseite von Franks Casket der Fall sein. Ferner kann Ute Schwab
Darstellungen auf spätantiken Sarkophagen anführen, bei denen einer der Magier zwei
Tauben mit sich führt (Abb. 8-9).
Laut Schwab ist der Vogel, der die Magier auf Franks Casket führt, ebenfalls als Taube
(›Columba Spiritus Sancti‹) anzusprechen. Sie sei dem Bild hinzugefügt worden, da die
northumbrische Besitzerin der Schatulle »eine ›Reise unter Führung und Schutz des Heiligen
Geistes‹ unternehmen« (S. 122) sollte. Es handele sich also um eine persönliche Anspielung
des Schenkers (Aldfrith) auf die Bestimmung des Objektes. Interessant ist der Hinweis auf die
Ampulle von Monza, auf der ebenfalls ein geflügelter Führer der drei Magier – ein Engel – in
Erscheinung tritt. Ich erlaube mir, den Runenstein von Dynna in Norwegen (N 68) zu
ergänzen, auf dem ein nimbierter Engel (oder Christus?) neben dem Stern als Führer der
32
Ute Schwab / Giuseppe Dolei (Hg.): Viaggio nel tempo. Studi dedicati alla memoria di Maria Teresa
Morreale. (Scripta Germanica 8) Catania: Cuecm 2003, S. 20-51.
15
berittenen Magier auftritt.33
Ute Schwabs zoologische Zuordnung des northumbrischen
Führer-Vogels erscheint jedoch zweifelhaft. Der Vogel des Magierbildes, der mit den Vögeln
der Wielandszene identisch ist, hat einen langen Hals und Schnabel. Es dürfte sich eher um
einen Wasservogel, eine Ente oder besser eine Gans handeln. Um derartige Zweifel
auszuräumen, verweist Ute Schwab auf die unnaturalistischen Darstellungen der Taube in
illuminierten Physiologi und Bestiarien sowie die außergewöhnliche Beschreibung der
›Columba Spiritus Sancti‹ im Heliand.
Das im dargereichten Becher des vordersten Magiers kugelartig dargestellte Gold bringt die
Autorin mit dem ›æpplede gold‹ der altenglischen Literatur in Verbindung. Dieses ›geäpfelte
Gold‹ (›Goldäpfel‹ oder ›Goldkugeln‹) stellt eine Art angelsächsisches Pendant der
altnordischen (rauðir) ›hringar‹ oder ›baugar‹ dar. Es repräsentiert Macht und Ansehen des
adligen Kriegers und wird vom Gefolgschaftsherrn großzügig an seine Männer verteilt. Diese
repräsentative Bedeutung sei den Betrachtern des Kästchens deutlich gewesen. Derartiges
›geäpfeltes Gold‹ dürfte sich – so die Autorin – einst auch in der northumbrischen
›Pilgerschatulle‹ befunden haben.
Interessant sind die Verbindungen, die Ute Schwab zwischen der Wielandszene und der
Anbetungsszene vermutet. Der vermeintlichen Fluchtvorbereitung stehe der Führer-Vogel der
Magierszene gegenüber, Wielands »schreckliches Rachegeschirr« (S. 114) und die
Vergewaltigung der Königstochter haben ihr positives Gegenstück in den Gaben der Könige
und der jungfräulichen Geburt. Dem zerbrochenen Goldring, den Wieland für die
Königstocher repariert und ihr mit der Zange überreicht (so Schwab auf den Seiten 42 und
135), komme eine besondere Rolle zu. Dieser Ring-Gabe, die auf Beaduhilds Schändung
verweise, stehe die Gabe der ›Goldäpfel‹ für den jungfräulich empfangenen Gottessohn
gegenüber. Allerdings basiert diese Interpretation auf einer Fehllesung: In Wielands Zange
befindet sich kein Ring, sondern der Kopf des enthaupteten Königssohns! Das Gesicht ist mit
Nase und Kinn im Profil zu sehen, das Haupthaar ist wie bei allen anderen männlichen
Charakteren des Kästchens gekennzeichnet. Dennoch deutet Ute Schwab die vermeintlich
»gegensätzlich-parallelen Kostbarkeiten« (S. 135) wie folgt:
Sein [Wielands] Gold führt zum Unglück, doch daraus erwächst ein Heldenspross
(Widia/Witege) – das ›geäpfelte‹ Gold des Magiers wird dem göttlichen Kind
33
Dag Strömbäck: The Epiphany in Runic Art. The Dynna and Sika Stones. London: T. & A. Constable LTD
Edingburgh 1970, S. 10-16, Pl. 1-3.
16
nach Bethlehem gebracht, wohin Stern und Taube weisen: der mit den
Kostbarkeiten des Kästchens beschenkten Pilgerin zum Geleit. Goldbecher und
Goldring in den Händen Wielands sind spiritualiter verwendbar und zum Guten
zu verwandeln – die Richtung dieser Wandlung zeigt die Taube. (S. 137)
Studie IV Zu den römischen Themen der Pilger-Schatulle von Auzon
Der vierte Abschnitt des Bandes war für eine bisher unveröffentlichte Gedenkschrift für
Salvatore Calderone vorgesehen und wird hier erstmals vorgelegt. An dieser Stelle widmet
sich Ute Schwab der Frage nach den möglichen Vorbildern für die Darstellungen der linken
Seite (Romulus und Remus) und der Vorderseite (Titus erobert Jerusalem) von Franks Casket.
Was die Titus-Platte anbelangt, so setzt sich die Autorin kritisch mit den bisher
vorgeschlagenen Vorlagen – der römischen Triumphalkunst und dem berühmten Reliquiar
von Brescia (Abb. 4) – auseinander. Sie selbst plädiert für eine illustrierte Handschrift der
Geschichte des Judäischen Krieges des Flavius Josephus. Das Werk sei in northumbrischen
Klöstern in lateinischer Übersetzung bekannt gewesen und habe auch Beda vorgelegen. Die
oben rechts dargestellte Auswanderung der Jerusalemer, die durch den Runentitulus gisl
gekennzeichnete Abführung der Geiseln und der mit dom (Urteil) verdeutlichte Beschluss,
die Stadt zu plündern und die Überlebenden zu töten, werden im Werk des Flavius Josephus
eingehend geschildert. Selbst das im Text dramatisch beschriebene Ersteigen der Stadtmauer
scheint auf der Runenschatulle (oben links) wiederzukehren. Die besondere und z. T.
fehlerhafte Form der Runenumschrift sei möglicherweise auf Beischriften zu den
Illustrationen des Original-Josephus zurückzuführen. Ein illustriertes Exemplar des Jüdischen
Krieges, das direkt oder indirekt als Vorlage für die Bilder und Inschriften des
Runenkästchens hätte dienen können, ist jedoch nicht überliefert.
Die Darstellung von der Wolfsmutter und den römischen Zwillingen auf der linken Seite des
Kästchens geht laut Schwab auf die Schilderung Vergils im VIII. Buch der Aeneis zurück.
Dort finde man die liegende Wölfin, die gerade ›geworfen‹ (›feta‹) hatte, das ›Hängen‹
(›pendentes‹) der Knaben an den Wolfszitzen und das zärtlich säubernde ›Lecken‹ (›fingere‹
und ›mulcere‹), wie es auch auf Franks Casket zu sehen sei. Die Verdopplung der
Wolfsmutter erklärt Schwab wie folgt: Die Bildvorlage müsse – ähnlich wie der
Marmorsockel ›Ara Casali‹ (Tafel 7) aus der Zeit um 300 – eine Registereinteilung gehabt
17
haben, welche die Geschichte der römischen Gründungsväter chronologisch von oben nach
unten gliederte. Auffindung und Ablecken der Zwillinge durch die Wölfin seien auf jener
Vorlage in einem Register dargestellt gewesen. Die Säugung der Jungen müsse im folgenden
Register zu sehen gewesen sein. Auf Franks Casket habe man beide Register, die ursprünglich
untereinander standen, zusammengerückt. »Wir sehen hier also dieselbe Lupa Romana in
Bezug auf ihre verschiedenen, aufeinander folgenden Handlungen zweimal abgebildet […]«
(S. 174).
Ute Schwab vergleicht diese Art der Verdopplung mit der vermeintlich zweifachen
Darstellung der Königstochter Beaduhild in der Wielandszene auf der Vorderseite. Auch hier
repräsentiere die doppelte Ausführung zwei unterschiedliche Handlungsmomente. Dies ist
durchaus einleuchtend und bereits andernorts formuliert worden. Ich erlaube mir jedoch, die
Autorin zu korrigieren. Ihrer Auffassung nach sind folgende Momente abgebildet: Die
Übergabe des reparaturbedürftigen Rings und Beaduhild mit jenem Rauschgetränk, unter
dessen Einfluss sie dem Schmied anheim fallen wird. Schwabs Beschreibung der Handlung
basiert jedoch auf einer Fehllesung. Die weibliche Figur, die sich unmittelbar vor Wieland
befindet, reicht diesem die offene Hand hin. Ein Ring ist nicht zu erkennen. Vielmehr scheint
Wieland der Prinzessin einen Becher zu reichen, den diese bereitwillig entgegennimmt.
Wie Ute Schwab zeigen kann, stellen die mehrfache Ausführung der Hirten sowie ihre
Bewaffnung keine Innovation des northumbrischen Schnitzers bzw. Auftraggebers dar.
Erstere dürfte auf den Bericht des Dionysios von Halikarnassos, letztere jedoch auf bildliche
Darstellungen wie die auf dem Spiegel von Præneste (Taf. 6) zurückgehen.
Studie V Zu den vielen fragwürdigen Tieren und dann zur letzten Szene auf dem
kymrischen Teil des Bilderkästchens von Auzon (Bargello): Ein Versuch der
Weiterentdeckung von Bild und Schriftsinn
Der letzte und zugleich kürzeste Abschnitt des Buches ist 2005 als Beitrag in der Festschrift
für Dietrich Schmidtke erschienen.34
Hier kommt Ute Schwab zu dem Ergebnis, dass die auf
dem Runenkästchen dargestellten Vögel die Besitzerin der Schatulle auf ihrer geplanten
Pilgerreise repräsentieren.
34
Freimut Löser / Ralf G. Päsler (Hg.): Vom vielfachen Schriftsinn im Mittelalter. Festschrift für Dietrich
Schmidtke. (Schriften zur Mediävistik 4) Hamburg: Verlag Dr. Kovac 2005, S. 487-520.
18
In der Wielandszene fliege eine Taube oberhalb der drei Vögel, die gerade von Egil bzw. den
Königssöhnen erbeutet werden. Ute Schwab spricht sie als Reiher an. Die Taube sei mit der
schweren Mutterschaft der geschändeten Königstochter verbunden. Dann fliege die Taube
hinüber in die Magierszene, wo sie zur Anbetung der Gottesmutter (der Pilgerstation
Bethlehem) vorauseile. Warum Schwab hier von unterschiedlichen Vogelarten ausgeht, ist
meines Erachtens nicht nachvollziehbar. Die beiden ›Tauben‹ ähneln Enten oder Gänsen und
sind mit den drei Vögeln des Wielandbildes fast identisch. Auf der ›Florentiner Platte‹ flattere
die ›Taube‹ unter dem geretteten Fohlen herum und verweise auf die schwere Mutterschaft
der Rhiannon. Durch die Flügel der hippomorphen Rhiannon ganz links im Bild sei die
Besitzerin der Pilgerschatulle unmittelbar mit der keltischen Heroine und ihrem Schicksal in
Verbindung gesetzt. Vermutlich sei auch die Besitzerin des Kästchens Mutter gewesen und
man habe ihr (eines Söhnchens wegen) eine Buße (eine Pilgerfahrt) auferlegt ›wie es der
Vater befahl‹. Nicht bloß die etwaige Existenz, sondern die ganze traurige Geschichte dieser
Frau sei also in Grundzügen aus den verrätselten Schnitzereien des Franks Casket
herauszulesen! Schließlich berge das vermeintliche Anagramm wudu sogar den Kosenamen
der northumbrischen Dame, deren Mutter-Schicksal im Bildprogramm des Kästchens auf
verschiedene Weise gespiegelt sei. Ihr Name sei demnach ›Duwu‹ bzw. ›Duwa‹ (›Taube‹).
Die drei anthropomorphen Figuren mit Kapuzenumhängen, die ganz rechts auf der
›Florentiner Platte‹ zu sehen sind, wurden im ersten Beitrag des Bandes noch mit den ›genii
cucullati‹ in Verbindung gebracht. Es handelt sich um keltische Nothelfergottheiten, die
bereits früh auf kontinentalen und britischen Weihesteinen erscheinen.35
Ferner zog Schwab
eine Darstellung von Pwyll, Rhiannons zweitem Gatten Manawyddan und dem Anderwelt-
Herrscher Arawn in Erwägung. Im zweiten Artikel hingegen schienen ihr die »druidenhaften
Kapuzenmänner« (S. 101) wie eine Art Schicksalsmacht über das Geschehen um den Unhold
›bita‹ bzw. ›ferus‹ oder Titus zu beratschlagen.
In der abschließenden Studie schlägt die Verfasserin eine ganz andere Deutung vor: Ute
Schwab hält die mittlere Figur für die Besitzerin des Franks Casket, die – erfolgreich von
ihrer Pilgerreise zurückgekehrt – mit einem Reliquienbehälter am Hals dargestellt werde.
Zwei irische Mönche von der Klosterinsel Iona (der Name der Insel bedeute im Hebräischen
›Taube‹ und sei somit als weitere Anspielung zu verstehen) seien links und rechts der Frau zu
sehen und bestaunten das Objekt, das ›Duwa‹ von ihrer Reise zu den heiligen Stätten
35
Helmut Birkhan (Anm. 10), S. 747 f.
19
mitgebracht habe. Ob hiermit eine befriedigende Lösung der Dreiergruppe gefunden wurde,
ist fraglich. Mir stellt sich insbesondere die Frage, weshalb die Mönche so unsanft am
Gewand der Dame zerren. Unklar ist an dieser Interpretation ferner, warum die heimgekehrte
Pilgerin ihre Schätze unter ihrem Umhang verbirgt. Die Autorin fragt selbst: »[…] hatte sie
nicht ihr Kästchen für solche Zwecke« (S. 196)?
Fazit
Ute Schwabs gesammelte Beiträge zur Deutung des Runenkästchens von Auzon stellen eine
beeindruckende Studie voller innovativer Ansätze und spannender Hypothesen dar.
Bedenklich ist jedoch, dass letztere z. T. argumentativ aufeinander getürmt werden. Im letzten
Beitrag des Bandes erreicht dieser Turm seinen höchsten Punkt. Das Bauwerk ist imposant,
wirkt auf mich jedoch instabil. Ob und welche Bausteine des Turms Stabilisierung erfordern
oder gar entfernt werden müssen und inwiefern dieser infolgedessen zusammenstürzen
könnte, sei dem Urteil des Lesers überlassen. Ich habe versucht, einige der Schwachstellen
deutlich zu machen. Erschwerend wirkt sich zuweilen eine unklare Methodik der Autorin aus.
Bedauerlicherweise ist für den Leser häufig nicht genau ersichtlich, ob die Autorin nur
Vermutungen und Assoziationen ausspricht oder ob man sie beim Wort nehmen soll.
Gelegentlich folgt sie unterschiedlichen Argumentationslinien ohne deutlich zu machen,
welche Argumente für den Fortlauf ihrer Beweisführung ausschlaggebend sind.
Bei aller ehrlichen Bewunderung von Ute Schwabs Gelehrsamkeit und Imaginationsvermögen
drängt sich mir als Resumee doch auf, daß die vorliegenden Studien letzten Endes mehr zu
aufregenden, im Detail sicherlich gewinnbringenden Hypothesen als zu gesicherten
Ergebnissen führen. Dennoch handelt es sich zweifellos um eine der innovativsten und
bemerkenswertesten Arbeiten, die bisher zum Thema ›Franks Casket‹ vorgelegt wurden.
Neben der Monographie von Alfred Becker36
und dem Artikel von Karl Hauck37
im
Reallexikon der Germanischen Altertumskunde werden die gesammelten Beiträge von Ute
Schwab vermutlich bald zu den einschlägigen Werken zählen.
36
Alfred Becker (Anm. 6). 37
Karl Hauck: Auzon, das Bilder- und Runenkästchen. In: Heinrich Beck u. a. (Hg.): Reallexikon der
Germanischen Altertumskunde, Band I. Berlin, New York: De Gruyter 1973, S. 514-23.