Jähnichen, Gisa (2008). Musik Welt Bilder 1. Aachen, Shaker Media. [160 p.].

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Inhalt

Inhaltsverzeichnis 1

Räumliche Orientierung 2

Vorwort 3

Mondfisch im Tejo (Lissabon) 5

Kamele in Tusche (Urumqi) 21

Bären und Boote (Härjedalen) 36

Gedis Wunderkinder (Watamu) 50

Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin) 67

Fahrrad fahren durch Huaphan (Sam Neua) 83

Tadasuni beerdigt Johannes Paul (Sardinien) 100

Bänke und Zelte (Ciudad de México) 115

Nikolaus an Bord (Amsterdam) 132

Bildverzeichnis 147

Literaturverzeichnis 153

Musikverzeichnis 155

Ortsregister 159

Personenregister 161

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Vorwort

Auf der Suche nach Musik, die quasi vom Artensterben bedroht zu sein scheint, und Menschen an bisweilen weit voneinander entfernten Orten der Welt, die daran teilhaben, auf der Suche nach dem Ganzen im Detail des Bildes von dieser Welt und den unzähligen zeitlichen Zusammenhängen habe ich mich oft über-raschen lassen. Einige dieser Überraschungen möchte ich hier mit anderen teilen.

Der Zufall wollte es, dass mir beim Aufräumen meiner Regale immer wieder Erinnerungen ins Hirn fielen und mich vom Wege abbrachten, denn als Musikologin mit mittlerem Ehrgeiz versagte ich mir, in den meisten Berichten und Artikeln prinzipielle, erlebte, geträumte und assoziierte Dinge zu schildern, also all das, was mich eigentlich antreibt. Säuberlich suchte ich, klare Substanz von unklarer Position, Beweise von Gewissen, Produkte von ihren Umständen zu trennen. Je länger ich mich dieser Disziplin hingab, um so anfälliger wurde ich allerdings für verdrängte Perspektiven. Schließlich wollte ich mich von dieser völlig grundlosen Furcht vor subjektiven Seitenwegen therapieren und brachte meine Ausschweifungen zu Papier, setzte sie meinen Vorstellungen entsprechend zusammen und ließ sie in aller Ruhe reifen.

Die ersten neun Geschichten sind nun versammelt. Sie sind vor-wiegend persönlich, daher manchmal ein bisschen unfair, auch komisch und durchaus unprofessionell. Das Bemerkenswerte bleibt ihnen, so hoffe ich, und es kann durchaus sein, dass es wie einst mich auch andere antreibt, die dann mit weit aufgerissenen

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Ohren und gespitzten Blicken unerahnte Musikweltbilder wahr-nehmen, in denen alles irgendwie miteinander zusammenhängt.

Für diejenigen, die sich besonders für Musik und Schall interes-sieren, halte ich neben anschaulichen Transkriptionen und spekt-ralen Schnappschüssen ein Musikverzeichnis, das ihre Neugier anspornen soll. Im Orts- und Personenregister finden sich aufrei-zende Kontraste, die vielleicht zum Wiederlesen verleiten. Den artigen Gepflogenheiten ernster Akademiker zum Trotz verzichte ich auf eine über den formalen Rahmen hinausgehende, hem-mungslos lange, mit Empfehlungen angereicherte Literaturliste, die sich dank neuester medientechnischer Errungenschaften jeder selbst basteln kann.

Allen anderen möge es eine hörsinnliche Reise erlauben, die außer den phantastischen Orten vor allem philosophisch streit-bare und provozierende Überlegungen offenbart.

Mein Dank gilt denjenigen, die meine Ungeduld ertrugen und die mich stets ermunterten, besonders meiner Familie, meinen Freunden und Kollegen in Portugal, den Niederlanden, in Me-xiko, Laos, China, Schweden, Italien, Kenia und meiner ge-wachsenen Heimat Deutschland.

Berlin, September 2008

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Mondfisch im Tejo (Lissabon)

Mondfisch im Tejo (Lissabon)

Blick über die Mauer des Campus Campolide: keine Nostalgie

Rücklings lag ich auf der abschüssigen Campuswiese der Neuen Universität von Lissabon und sah mir die ordinären Bäuche von Flugzeugen an, die über mich hinwegdröhnten. Sie schienen mir so nah und so langsam, dass ich glaubte, jeden einzelnen Niet prüfend berühren zu können, wenn ich nur die Arme ausstreckte. Die ungewöhnliche Perspektive, die ohnmächtige Lautstärke der düsengetriebenen Vögel, die grelle Juniluft – ich hätte nicht glauben wollen, dass ich dennoch für einige Minuten eingschlafen war. In meinem kurzen Traum sah ich einen gewaltigen Mond-fisch wie einen senkrechten Riesendiskus halb über und halb unter Wasser durch den Tejo schwimmen. An der neuen Brücke angekommen, legte er sich vorsichtshalber ein wenig schräg, um

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nicht anzustoßen. Auf ihn zu dümpelte ein Segelboot mit geraff-ten Segeln, an Deck ein besinnungsloser Seemann. Als der Mond-fisch seinen kleinen Mund öffnete, fiel mir ein trockenes Blatt von den jungen Bäumen schräg gegenüber ins Gesicht und ich erwachte. In meinem Traum hatte ich mich an Saramagos Buch über das Steinerne Floß erinnert, an die auf den Atlantik hinaus-treibende Iberische Insel und den so gegen den Strom auf dem Tejo flußaufwärts einfahrenden fast verdursteten Segler, der sich längst aufgegeben hatte.

Den Mondfisch gab es jedoch wirklich. Er schwamm möglicher-weise in Tejowasser mit ganz viel Salz, nicht um zu garen, sondern um vielen Menschen im größten Ozeanarium Europas wunderliche Träume zu bescheren. Ich hatte ihm und seinen unzähligen Freunden am Tag zuvor stundenlang zugesehen, bis mich der Hunger wieder ans Tageslicht zwang. Man konnte sich dort drinnen ganz dicht an eine riesige gewölbte Scheibe setzen und den Fischen über mehrere Stockwerke nach oben und unten hin zuschauen, als würde man mit ihnen schwimmen und sie von Minute zu Minute besser kennenlernen.

Nach einer Weile wusste ich, vor welchem Kunstfelsen der Zackenbarsch eine Kehrtwendung nehmen muss, in welchen Wasserpflanzensträuchern sich eine Gruppe Zebrafische auf die Lauer legt, unter welchem Stein gleich ein grellroter Krebs hervorkriecht und in welchen Intervallen ein einsamer Kofferfisch vorbeizog. Diesen harmonsichen Rhythmus unterbrachen hin und wieder blitzende Heringsschwärme und sich jagende Riffhaie. Nach einer halben Stunde wurde mir komisch im Kopf. Anzeichen von Gleichgewichtsstörungen machten sich bemerkbar, als könne man vom Zuschauen

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seekrank werden. Und tatsächlich: durch das gedankliche Mitschwimmen und die oft wechselnde Lichtbrechung im Glas fehlten mir nach einiger Zeit feste Bezugspunkte. Ich schlenderte deshalb zur Erholung in die Antarktische Abteilung und besuchte ein paar muntere Pinguine, die trotz hochsommerlicher Tempe-raturen Schnee- und Eishügel ihr eigen nannten. Es war erfri-schend, löste aber nach wenigen Minuten schon wieder das Verlangen nach richtigem Wasser aus, also ging ich zurück zu meinen Mondfischen.

Erst als ein schwarzer Fisch mit zwei beflossten Beinen und einer gelben Sauerstoffflasche vorbeischaute, wurde mir klar, dass inzwischen längst Nachmittag sein musste und auch ich mich körperlich stärken sollte, bevor mir noch virtuelle Schwimmhäute zwischen den Fingern wachsen. Seitdem leide ich unter der Sehn-sucht nach dieser wunderbaren, wilden Eleganz der Ozeanwesen, denen ich ganz unbeschwert und anonym zuschauen durfte und die auf mich so beruhigend und tröstend gewirkt hatten. Das Ozeanarium steht ganz dicht am Fluss und ist umgeben von einem großzügigen, luftigen, sonnenüberfluteten, weitläufigen Park, angelegt aus Anlass der Weltausstellung 1998. Unweit davon blinkt eine gläserne Shopping Mall, die den gleichen Namen, „Vasco da Gama“, wie die sich eigenartig über den Tejo krümmende Brücke trägt. Wenn der großartige Seefahrer davon wüsste, könnte er sich gewiss nicht entscheiden, worauf er mehr stolz sein sollte.

Noch die Bilder silberner Fische und gleißender Sonne im Kopf dröhnte erneut ein riesiger bunter Blechvogel über den Campo-lide hinweg und hinterließ für einen Augenblick eine Taubheit im Kopf, die phantastische Klangkombinationen auslöste, wenn die

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Alltagsgeräusche langsam wieder zurückkehrten. Ich stellte mir einen riesigen Chor vor auf den originellen Treppen des Gelän-des, die wie die gefächerten Seitenränder eines großen aufge-schlagenen Buches aussehen sollten. Das Symbol des Wissens bot hier Platz zum Ausruhen, zu mystischen Vorstellungen und klanglichen Gedankenspielen.

Der imaginäre Chor sang ein Gebet für die Seelen im Fegefeuer1, ein „Encomendaçao das almas“, bestehend aus wenigen engschrittigen Intervallen in kurzen, gleichmäßig kraftvollen Zeilen, die einstimmig von einer großen Gemeinde vorgetragen werden. Männer und Frauen, die mitunter die Zeilenschlußtöne durch Verschleifungen ornamentierten, fassten sich bei den Händen und weihten mit ihrem festen Gesang, im ruhigen Atem-rhythmus dahinfließend, den Platz der Ahnen.

In diesem Sinne vom Aussterben bedroht, sollte der Brauch hier gar nicht so abwegig sein. Die Ahnen des besonderen Ortes, die nicht selten zu Unrecht ihres besseren Wissens wegen gefangen gehaltenen wurden, sind einer starken Erinnerung würdig.

1 Gemischter Chor im unisono, verbreitet in allen Teilen des Landes unter dem Namen „Encomendaçao das almas“. Diese Lieder sind nicht mit Beisetzungsfeierlichkeiten verbunden, sondern mit dem Kult der Seelen vom Fegefeuer (der alte Kult der Vorfahren), einer speziellen Eigenheit Portugiesischer Andacht. Sie werden nachts in ländlichen Gegenden gesungen, besonders während der Fastenzeit, und finden im Freien nahe wichtiger Naturschauplätze statt, die diesem Kult gewidmet sind. Quelle: Portuguese Traditional Music; Musique Tra / AUDIVIS D 8008 (Reissue), Music & Musicians of the World, Titel 7, 1’57

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Spektralbildausschnitt und Transkription des Gesangs „Encomendaçao das almas“

Die Vorstellung ging jedoch im Lärm des nächsten Düsenflug-zeugs unter. Inzwischen war ich richtig wach und setzte mich auf. Der Spanische Platz zu Füßen des Campolide, der einst ein Gefängnisberg war und dessen ältestes Gebäude eine kleine

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Kapelle neben dem auf der Anhöhe thronenden Justizpalast ist, schickte in den stummen Pausen ein entferntes wogendes Straßenrauschen herüber. Auf halbem Wege abwärts lag die neue Stadtmoschee und das Brechttheater, in dessen vornehmer Kantine Weißbier ausgeschenkt wurde, passend zum deutschen Flair, wohl aber nicht passend zu Brechtliebhabern.

Die skurile Vermischung von völlig verschiedenen Lebenswelten machte den Reiz des Ortes aus, der, im Rücken den alten Viadukt und vor Augen die moderne Stadtschnellbahn auf gewagt schmalen Betonbrücken, neugierige Rastlosigkeit ausstrahlt. Nur ein paar Metrostationen entfernt findet sich jenes viel strapazierte Postkarten-Lissabon mit seinen klassischen Straßenzügen, seinen winkligen, mitunter steilen Gassen, quietschenden Straßenbah-nen, Wäscheleinen und noblen Cafés, seiner raffinierten Allianz aus Gediegenheit und Buntheit, Hiphop und Fado. Wo ist er eigentlich geblieben, der ehrliche, reinherzige Fado? Wo ergeben sich die Schicksale, aus denen er schöpft? Ist er nicht längst gefangen in medialer Erstarrung? Ich erinnere mich an einen letzten, der zu diesem Bild passt, gesungen von der unvergleich-lichen Maria Teresa de Noronha, begleitet von den drei diskreten Meistern Raul Nery auf der Guitarra, Joaquim do Vale auf der Viola und Joel Pina auf der Viola Baixo2. Der schlichte, ergrei-fende Text stammt von José Antonio Sabrosa und die Idee zur Musik, denn Komponieren im mitteleurpäischen Sinne von exakter Klangvorschrift kann man einen Fado eigentlich nicht, wenn er praktisch funktionieren soll, von Antonio Callem.

2 Quelle : „A nossa rua“, Portuguese Traditional Music; Musique Tra / AUDIVIS D 8008 (Reissue), Music & Musicians of the World, Titel 10, 2’27

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„Unsere Straße“ ist sein Titel, der sehr nahe an das heranreichte, was ich mir in diesem Moment unter Fado vorstellen konnte:

Erinnerst du dich unserer Straße, meiner als auch deiner Straße? Sie war für uns beide gemacht. Zärtlichkeit hatte ihren Weg gefunden, Einsamkeit hat sie geöffnet. Liebe strömte in ihr. Eines Tages gingst du fort, und ein kalter trauriger Wind fegte den Frühling hinweg. Es ist jetzt Herbst, und die Blätter, vom Warten müde, fallen zu Boden. Manchmal ergießt der Mond sein Licht in weiten Wellen, als wolle er mir den Pfad zeigen, der zu dir führt. Aber die Reise würde zu lang sein. Du bist stets gegenwärtig in einem meiner Träume, der immer in meinem Kopf bleibt.

Fado zählt gewiss nicht zu den bedrohten Arten im Musikleben, wenn auch sein Sinn ständigen Wandlungen unterliegt. Er wird schon deshalb nicht wie ein Geliebter im „Herbstwind“ vergehen, weil die Welle beinahe irrationaler Traurigkeit zu stark ist, die er um sich verbreitet, eines der wenigen Gefühle von Weltbedeu-tung, die bewusst zu machen es ohne Musik nicht geht. So universal das Gefühl, so individuell ist jedoch auch die Klangvor-stellung. Die Traurigkeit des Fado, die anders als irgendwo nicht nur Gewesenes, sondern auch Zukünftiges mit einschließt, die weder Klage ist noch nach Linderung verlangt, ist nicht einmal für die wenigen Zuhörer eines seligen Sommerabends gleichartig. Zeitgeist und romantische Verklärung können ihn verändern, aber nicht auslöschen.

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Dem anstrengenden Stadtleben entfliehend besuchte ich Jahre zuvor die sogenannte Küste von Lissabon. Setúbal liegt auf dem Weg, der sich in die Küstenberge emporwindet und schwindeler-regende Ausblicke auf das Meer bietet. Hier oben in der Arrábida, dem klassischen Marmorlager der Lissaboner Prunkbauten, steht in der brütenden Mittagshitze die Zeit still, so schien es mir zumindest, als ein Esel gemächlich die Straße kreuzte und in Zeitlupe den Kopf zu mir herumdrehte.

Nach einigen sanften Biegungen tauchte die Straße in lockeren Baumbestand ab. Vereinzelte Tore am Wegesrand versprachen imposante Landhäuser, deren Dächer nur schwach in der Ferne durch das Laub schimmern. Eine zauberhafte Landschaft, gewürzt mit einer Meeresbrise und der angenehmen Gewissheit, stets Ruhe zu finden, öffnete sich. Sesimbra am Ende der Straße mit seinem kuriosen sichelförmigen Strand und seinem kleinen und doch so wichtigen Hafen, erwachte nur abends nach neun Uhr zum Leben. Außerhalb der Saison sind hier die Fischer, Steinmetze und Hafenarbeiter die Hauptakteure in den Kulissen des Bilderbuchstädchens. Anders als in Estoril, wo die Schönen und Reichen sich angestrengt zur Schau stellen und ein jeder die Hauptrolle in seinem eigenen Film zu spielen scheint, umgeben von Personal, auf das der Hauch von Prominenz ein wenig abfärbt und das sich daher auch in den Strandstuben von Sesimbra kaum wohlfühlen würde, ist dieser kleine traditions-schwere Ort ein wahrer Ruheplatz für die Seele.

Sesimbra und der oberhalb gelegene Ort Vila Nogueira de Azeitão erinnern mich an eine schwer vom Aussterben bedrohte Liedform, die kaum noch jemand vollendet beherrscht. Ein solches Lied, aufgenommen in der Nähe von Porto Anfang der

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siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in jener dunklen Epoche Portugals, die noch Jahrzehnte später durch jede geistige Regung in Wissenschaft und Kultur spukt, zeigte ich vor wenigen Wochen meinen Studenten. Sie sollten seine Struktur, seinen formalen Sinn studieren und versuchen, durch diese einen kleinen Blick in die Kultur der portugiesischen Steinbrecher zu werfen, die inzwischen einer technischen Kultur schwerer Kräne und Elektroschlagsägen zu weichen scheint. Doch es ist wie zur Weihnachtszeit: Es können noch so viele Süßigkeiten auf den Ladentischen aufgetürmt werden, die eigene Hausbäckerei, der schwere, würzige Ofenduft, die klebrigen Krümel an den Filzsohlen – all das ist nicht ersetzbar, denn das Ziel, Leckereien herzustellen, ist gar nicht die gemeinte Erfüllung.

Der Text des Liedes ist rational nicht wirklich entscheidend. Es erscheinen nur sehr kurze Redewendungen, die die Steinbrecher an die Steinblöcke adressieren, die einzigen Wesen, mit denen sie ihre Tageszeit zubringen. Der Stein leistet oft so erbarmungslosen Widerstand, wehrt sich standhaft gegen seine Trennung von der Natur, dass er von den durch schwere Arbeit erschöpften und müden Steinbrechern unweigerlich personifiziert wird:

"Steh auf, du Stein, raus aus dem Bett, rolle, rolle! Und du da drüben, lange genug hast du mich hingehalten! Mach mir heute eine kleine Freude!“

Angespornt und aufgemuntert vom eigenen Gesang, der sich vielfach an den hohen Steinblockkanten bricht, steigt das tonale Niveau immer höher. Das Spektralbild der Aufnahme zeigt wunderbar, wie dieses allmähliche Aufstreben, das zielsichere

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Fortschreiten, der Wunsch, alle Hindernisse zu überwinden, als Klangbild aussieht. Besonders interessant und abenteuerlich ist jedoch die relativ komplizierte harmonische Binnenstruktur des Liedes3, die komplett mit transferiert wird.

Spektralbild des gesamten Steinbrecherliedes

Einfach beschrieben, besteht die Melodie einer jeden Strophe, die unendlich eweitert werden können, aus 5 oder 6 Zeilen zu je zwei 6/8-Takten, wobei die letzte Zeile jeweils um einen weiteren Takt verlängert ist. Die Atempausen sind unterschiedlich lang und nicht abhängig vom Metrum, sondern von der realen Zeit, die der Sänger zum Erholen benötigt. Während einer jeden Strophe steigt das tonale Niveau um ungefährt einen halben Ton aufwärts.

Eine meiner Studentinnen hat versucht, das Einfache detailliert zu komplizieren und eigentlich hat sie damit recht, wenn es um ein rein akademisch-analytisches Konzept geht.

3 Quelle : „Stone-cutter’s song“, Portuguese Traditional Music; Musique Tra / AUDIVIS D 8008 (Reissue), Music & Musicians of the World, Titel 17, 2’06

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Transkriptionsschema des Steinbrecherliedes

Sie strukturiert etwas anders, recht so, sie notiert das Aufsteigen in absoluten Tonhöhen, notwendigerweise sprunghaft, auch rhythmische Schwankungen sind fast genau festgehalten.Mir stellt sich bei aller Bewunderung jedoch immer die Frage, ob die Steinbrecher beim Singen wirklich so denken? Ist nicht viel mehr ihre persönliche Verfassung in der Bewegung der Arbeit oder in der sie begleitenden periodisch wiederkehrenden Erho-lungsphase, die sicher nicht absoluter körperlicher Stillstand bedeutet, sondern den personifizierten Anrufen entsprechend zumindest gestische Bewegungen enthält, entscheidend für die metrische Beschaffenheit und die rhythmische Auffassung?

Schließlich beschleicht mich so eine Ahnung, dass das Verschwinden von bestimmten Musikformen ganz eng mit dem Verschwinden der körperlichen Beteiligung an der Lebenserhal-tung zu tun hat. Vielleicht ist dieses Kriterium ebenso schwer gewichtig wie die Ausrede mit der Ökonomie des Weltmarktes, der keinen Platz für solche bizarren Gebilde bietet und daher

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jedweden höheren Sinn, der außerhalb seiner selbst existiert, dekonstruiert. Diese Argumentation habe ich seit jeher für viel zu einfach gehalten, wahrscheinlich ist sie selbst ein erstes Produkt eben dieser Ökonomie.

Notation des Steinbrecherliedes 4

4 Notation von Claudia Thieße, 1. Fachsemester, Hauptfächer: Theater-, Film- und Medienwissenschaft, sowie Musikwissenschaft, Johann-Wolfang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Januar 2007. Geringe

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Dass nicht alles abstirbt, was bizarr ist, beweist ein geradezu klassisches Besipiel konservativer portugiesischer Identifikation: die mit Adufe begleiteten Gesänge der Frauen rund um Castelo Branco. Die Adufe, eine zweifellige Rahmentrommel mit quadra-tischem Rahmen, wird oft als Beleg für maurische Vorfahren ausgegeben, doch sie führt gerade hier ein außerordentlich bodenständiges portugiesisches Leben. Vor allem wäre wohl undenkbar, dass ausgerechnet zu religiösen Feiern Scharen von Frauen aus voller Kehle gemeinsam die gesamte Öffentlichkeit beglücken, wenn ein Vergleich zur heute praktizierten Musik in maurischem Gewand gestattet ist. Entgegen der konservativen Funktion solcher Gesänge, könnten die Textinhalte jedem Fado zur Ehre gereichen. Zur gleichen Zeit wie das Steinbrecherlied wurde das Lied „Rendez-vous“ aufgenommen5, eines der vielen Klangdokumente, das wie ein unaufhaltsamer Lichtstrahl die Jahre überdauert. In seinem Text heißt es:

Olé Ai Larilolela - Olé Ai Larilolé. Ich gehe zu einem Rendezvous mit meinem Geliebten, aber keiner soll es wissen. Ich habe so viel ertragen, dass mein Herz ertrunken ist. Ich habe genug Tränen geweint, um die Wiesen zu wässern. Die Sternschnuppen am Himmel sind langsamer und weniger genau als die Pfeile, mit denen die Liebe mein Herz verwundet hat.

Korrekturen betreffen lediglich die von mir eingefügten Pausen zum Luftholen. 5 Quelle : “The rendez-vous”, Portuguese Traditional Music; Musique Tra / AUDIVIS D 8008 (Reissue), Music & Musicians of the World, Titel 1, 2’05

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Anders als das Steinbrecherlied, zeichnet es sich durch hohe tonale Stabilität aus. Im Spekralbild zeichnen sich die ruhigen flachen Endtöne wie ein Geländer ab, an dem sich die trommelnden Frauen festhalten. Die Melodiezeilen sind kurz und rhythmisch klar konturiert.

Spektralbildausschnitt aus dem Lied „Rendez-vous“

Diese Art zu singen ist erst in jüngster Vergangenheit wieder sehr populär geworden, nicht nur, weil es möglicherweise einen Markt gibt, denn auch tiefreligiöse Menschen bieten in dieser Hinsicht ein gewisses Potenzial. Sehr wahrscheinlich entdeckten inzwi-schen die jüngeren, aber nicht mehr ganz jungen Frauen, dass es schlicht und einfach Spaß macht, in einer großen Gemeinschaft zu singen und ganz besonders zu trommeln. Der unnachgiebige ostinate Rhythmus treibt die Prozessionen voran, setzt das ganze Dorf in Bewegung, durchdringt alle Mauern, fordert Bewegung.

Der Gesang über diesem Trommeln teilt in Dreier- und Zweier-gliederungen forsche, tänzerische Schritte zu. Auch hier ist es ein 6/8-Takt, der seine Doppeldeutigkeit als gerader und zugleich ungerader Begleiter ausspielt. Zweifellos ist Spaß dabei ein Über-

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lebensfaktor, um so sicherer, als sich offensichtlich kein konser-vativer Verhaltenszwang mehr dahinter verbirgt.

Melodietranskription des Liedes „Rendez-vous“

Über Monsante, einen Ort in der einst Beira Baixa genannten Provinz, gibt es folgende Geschichte:

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Zu den Maifeiern, die sich stark an vorchristlichen Bräuchen orientieren, findet zu den mit Adufe begleiteten Gesängen der Frauen eine Prozession zum Burgberg statt. Das Dorf führt dabei riesige Lehmkrüge mit sich, die zum höchsten Punkt der Burg gebracht werden. Dort werden die Krüge weiß angestrichen und über und über mit Blumen bedeckt. Manche von diesen Krügen haben die Form eines Kalbes, das danach als Opfer den Hügel abwärts geworfen wird. Die jungen Mädchen des Dorfes tanzen zu den Klängen der Adufe mit Stoffpuppen, sogenannten Mara-fonas, und nehmen sie anschließend mit nach Hause. Dort werfen sie die Puppen auf ihre Schlafstatt und sollen dadurch ihr Haus vor Blitz und Donner schützen.

Diese Geschichte scheint mir nicht weniger phantastisch und nicht weniger bizarr als mein Traum vom Mondfisch im Tejo der dem entgegenkommenden, flußaufwärts treibenden, Segelboot ausweicht.

Mondfisch im Oceanarium „Vasco da Gama“ von Lissabon

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Kamele in Tusche (Urumqi)

Kamele in Tusche

(Urumqi)

Es roch nach gar nichts. Die Luft war so klar und trocken, dass die Lippen schon nach dem zweiten Atemzug im Freien brösel-ten. Alles Vorbeugen half nichts. Die Geruchlosigkeit war eine seltsame Erfahrung und sie erwies sich als durchaus nützlich. Während man in einem europäischen Zoo das Kamelgehege schon aus eingen hundert Metern Entfernung roch, musste man in Urumqi direkt vor einem solchen Wüstenschiff stehen und ihm in die Augen blicken, um es sinnlich bewusst wahrzunehmen. Die Kamelaugen, in die ich am Hauptmarkt von Urumqi blicken konnte, waren groß und nicht ganz schwarz. Sie machten einen ehrlichen Eindruck auf mich. Das Tier war schon alt, nicht sehr hoch und von erhabener Sanftheit. Täglich setzten sich unzählige Neugierige auf seinen Rücken und es ertrug auch die lebhaftesten Kinder und schwersten Touristen mit Gelassenheit. Sein Fell fühlte sich solide an. Es war, als fiel der Stress der letzten Jahre von mir ab, als ich in seinem natürlichen Sattel die Straße auf und ab flanierte. Wie wäre es wohl, lange Strecken unter weniger komfortablen Umständen auf einem Kamelrücken zu verbringen? Der Gedanke daran, welche Strapazen einige meiner Körpeteile erleiden müssten, ließ mich doch etwas von der Euphorie aufge-ben. Ich glitt langsam aus dem Sitz und kraulte das dicke Fell am Hals des Kamels. Es wendete mir seinen Kopf zu und ich flüsterte ihm ein ausführliches Dankeschön ins Ohr.

Die Uiguren lieben ihre Höckertiere über alles und wahrschein-lich auf gänzlich andere Weise als ich. Es sind ihnen elementar nahestehende Wesen wie ihresgleichen, mit schwierigen oder

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heiteren Charakteren, mit speziellen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, mit Gefühlen und deren eigensinnigen Offenbarun-gen. Kein Kamel ist wie das andere. Das Differenzierungsvermö-gen der hier lebenden Menschen zwischen den Feinheiten der Wüstenwelt und der sie bevölkernden Seinsformen entspringt dem Ernst des praktischen Lebens selbst.

Tuschemalerei „Kamel” von Anne Kerber6

Während für uns in der Ferne Kamele allenfalls mit wunderbar altomodischen Kamelhaarhausschuhen und antistatischen Ka-melhaarpinseln für optische Geräte in praktischer Verbindung standen, bedeuteten sie hier in dieser trockenen Weite der ewigen Schönwetterzone Innnerasiens für viele Jahrhunderte die Welt.

Lebensbestimmend waren aus Sicht der Uiguren außer den geliebten Trampeltieren, die inzwischen zu den seltenen Säugetie-ren gehören, vor allem Schafe und Pferde. Später wurde auch

6 Sehr treffend gemalt in der klassischen Tradition der japanischen Tusche-malerei sumi-e, die auch von in Xinjiang lebenden chinesischen Malern gern, mitunter in diversen lokalen Viarianten mit untersciedlicher Tusche und Farbtechnik, verwirklicht wird.

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Schweinezucht betrieben, wenn auch in nur langsam wachsendem Umfang, um die Bedürfnisse der nichtmuslimischen Nachbarn zu befriedigen, die es schon ebenso lange gab, wie die den Menschen nahestehenden Tiere.

Die Anderen unter den Zweibeinern waren nicht weniger wichtig, denn ohne sie und ihren steten wirtschaftlichen Stoffwechsel wäre die Seidenstraße wohl kaum von Bedeutung, die Uiguren selbst ein einsames Volk zwischen Weideland und Wüste und ihre kulturellen Errungenschaften ein ewiges Rätsel. Sicher wäre auch ich unter solchen Umständen niemals nach Urumqi gekommen und hätte keinen so folgenreichen Blick in die Augen eines Kamels geworfen.

Das Bild eines chinesischen Tuschemalers, der seinen schmalen Laden im Erdgeschoss eines älteren Neubaus entlang der Beijing-Allee hat, erinnerte mich lebhaft an eine noch junge Dokumenta-tion, die sich „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ nannte. Die Tuschemalerei zeigte einen Musiker mit einer Pferdekopf-geige, wie sie möglicherweise schon existierte seit der Westlichen Qin-Dynastie unter den Khitan und den Mongolen, die auf viel-fältige und zumeist kriegerische Weise, mit den westlichen Turk-völkern in Berührung kamen.

Die Khitan, ein heute eher vergessenes Volk von Nomaden, das kurioser Weise Pate stand für die allgemeine Bezeichnung „China“ 7, begrenzte das Reich der glorreichen Tangdynastie nach Norden. Obgleich die uigurischen Obrigkeiten im Westen sie bisweilen gegen die chinesische Expansion ausspielten, um sich dann im entscheidenden Moment doch auf die Seite der mächti-

7 hervorgegangen aus „Cathay“, abgeleitet aus Kitai, eine andere Bezeichnung für das Volk der Khitan

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gen Sieger zu schlagen8, waren sie den durch die Khitan verbreite-ten Kulturgütern nicht abgeneigt. So war es seit jeher schwer zu sagen, wessen Erfindung die zweisaitige in Quinten oder Quarten gestimmte Pferdekopfgeige war. Am ehesten sollte sie wohl dem gesamten bewohnten Kulturraum nördlich der Han, der eigentli-chen Chinesen, zugeschlagen werden.

Galeriefoto der Matouqin9

8 etwa im Zusammenhang mit der Li-Sun Rebellion (696-697), interessante Anmerkungen finden sich auch bei Weiers, Michael: Abriß zur Geschichte innerasiatischer Völker. Vorlesungsmanuskript. Online-Edition. http://www. zentralasienforschung.de. “Xianbi” und “Uiguren”. 9 „Matouqin“ ist die chinesische Bezeichnung der Pferdekopfgeige.

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In diesem Kulturraum trug es sich schon seit Menschengedenken häufig zu, dass Musik nicht nur eine dem Menschen zugeordnete Erscheinung ist, die allein seinem Geist entspringt und zu dessen Bereicherung existiert, sondern sie sollte sich sämtlichen Wesen der Steppe und Wüste mitteilen, und zwar zu all jenen Angele-genheiten, die Gesten und Gaben nicht ausdrücken konnten. Das zwei- bis vierbeinige Publikum, das symbiotisch diesen Lebens-raum miteinander teilt, verband vor allem die relative Leere ringsum. Auf Instrumenten hervorgebrachter Klang mochte um ein vielfaches herausgehobener wirken aus dem Rauschen des Windes und den Rufen der Herdentiere. Musik konnte durchaus auch einen anderen Sinn als es an belebteren Orten haben.

Die Pferdekopfgeige, an deren Klang ich mich erinnerte beim Anblick jener chinesischen Tuschemalerei, spielte zum Gesang einer jungen Hirtin, die eine verstörte Kamelstute nach einem schweren Fohlenwurf beruhigen wollte. Die Stute ließ in ihrer psychologisch instabilen Verfassung ihr kleines, inzwischen bereits schwaches Fohlen nicht heran, das sich durch kurze Rufe in hoher Lage beklagt.

Die dokumentierende und ganz sicher nicht manipulierte Szene, aufgenommen von den beiden jungen Filmemachern Byambasu-ren Davaa und Luigi Falorni10 an einem Ort in der Mongolei, präsentiert zwar nicht vordergründig, aber doch sehr anschaulich, welche Dimensionen musikalisches Wissen anehmen kann, ein Wissen, das man sich nicht mittelbar aneignen kann, sondern nur handelnd versteht.

10 Beide sind Absolventen der HFF München im Fach Regie, jeweils geboren 1971 in Ulaanbaatar und in Florenz.

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Transkription des beginnenden Gesangs mit einsetzender Pferdekopfgeige

Noch während die ersten Zeilen erklangen, gesungen einzig auf „Hoos“, das mongolische Wort für Kamel, fing die Stute zu brummen an und zwar mit einem sehr markanten doppeltönigen Brummen, das in einem schwachen höheren Ausruf endete. Es dauerte nicht lange, und sie ergab sich dem fließenden Wechsel zwischen Gesang und Pferdekopfgeigenspiel. Die Sängerin verstand jede Bewegung und jeden Laut des Tieres. Sie griff der Stute in das dichte Fell und strich es in beruhigendem Rhythmus

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aus, massierte die angespannten Muskeln und sang unbeirrt und voll unfassbarem Wissen um die Wirkung ihrer Melodieformeln weiter. Das Fohlen wurde langsam an die Stute herangeführt und von ihr nicht wieder unwirsch vertrieben. Nach ein paar weiteren Strophen führten die Männer das Fohlen unter die Stute und es begann schmatzend zu trinken. Der Stute rollten Tränen aus den Augen. Wenn auch die Wahrhaftigkeit der letzten Einstellung unter kinematophilen Neidern diskutabel blieb, so war das Vor-haben doch unbestritten geglückt, denn Kamele sind nicht mani-pulierbar wie etwa Pferde oder andere Filmtiere.

Die gesungene Melodie ist frei gestaltet, wenn sie auch den melo-dischen Gepflogenheiten der Region in Syntax und rhythmischer Gliederung verwandt ist. Die Akteure der Dokumentation erklärten, dass sie das Lied dem Charakter des Tieres individuell anpassen mussten. Doch wie ist erkennbar, welcher Charakter ein Kamel für welche Melodie empfänglich macht? Woher stammen die komplizierten und wahrscheinlich nur auf praktischen Versu-chen basierenden Kenntnisse um die Seele des Tieres, die mit uns in diesem sonderbaren Moment offenkundig direkt kommuni-ziert?

Mancher Medienmogul würde sein Geschäft mit Verbrauchs-musik gesichert wissen, wenn er nur einen Bruchteil über diese Art körperlich-mentaler Kommunikation verstehen würde. Umfragen und bestens ausgerüstete psychologische Versuchsla-bore können nicht annähernd an die Effektivität dieser Hirten im Inneren Asiens heranreichen. Es ist, als wäre in der modernen Hochgeschwindigkeitsgesellschaft ein komplexes Erfahrungs-system ausgefallen, das nun mit behäbigen, teuren und dennoch fehlerhaften Mechanismen kompensiert werden müsste.

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Das Beispiel legt den Verdacht nahe, dass außer diesem Mangel-wissen über Möglichkeiten musikalischer Botschaften weitere, vorerst weniger offensichtliche Defizite existieren und nichts macht bekanntermaßen unsicherer als die allmählich aufkeimende Ahnung von fortschreitender Unzulänglichkeit. Außerdem führt uns dieser Zustand vor Augen, dass es nicht immer nur um das Aufspüren bedrohter Arten von Musik geht, sondern mitunter auch um die Entdeckung bereits verloren gegangener Nutzungs-fertigkeiten und zwar unter Teilen der Erdbevölkerung, die sich selbst zumeist für besonders zivilisiert halten.

In Urumqi bgegneten mir neben komplexen Beziehungsgebilden zwischen Mensch, Tier, Natur und Musik, auch verblüffend einfache musikalische Formprinzipien, die sich hervorragend als choreographische Unterlage eignen, wie die Geschichte vom „Adler“, ein anderes bedeutendes Tier der Steppe, dem in einem episch angelegten und eher zum Komischen tendierenden Tanz gehuldigt wird.

Die den Oboenspieler begleitenden Musiker saßen entspannt vor ihrem Trommelpaar, einer hoch und einer tief gestimmten koni-schen Trommel, und bearbeiteten sie im steten Wechsel mit ihren Schlägeln. Man mochte meinen, dass bei zwei Trommeln und zwei mit je einem Schlägel ausgerüsteten Händen unter Aus-nutzung der unterschiedlichen Stimmung tolle Schlagkombina-tionen mit virtuosen Wirbeln möglich sein sollten, aber dem war ganz und gar nicht so. In ziemlich gleichförmigem Wechsel per Takt tönten die Trommeln mit unbeirrbarer Schlichtheit. Und so gelang es, sowohl für den Oboenspieler als auch für die drei Tän-zer eine solide Orientierungsgrundlage zu schaffen. Da die sich absetzenden Melodiezeilen des Wiederholungsparts in drei Takte gegliedert waren, fielen ihre Abschnitte jeweils auf verschiedene

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Kamele in Tusche (Urumqi)

Trommeln und die kurze, einfache Struktur bekam räumliche Tiefe. Ein Zeilenirrtum, der häufig bei Wiederholungen auftritt und zwar vor allem bei den Tänzern, war daher nicht möglich. Das Einfache war also das Komplizierte, das alles zusammen hielt.

Transkribierter Ausschnitt aus dem Adlertanz mit hohen (schwarzen) und tiefen (weißen) Trommelsequenzen unter der Oboenstimme, die das Stück ordnen.

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Adler flogen einst auch über Jaohe und Gaochang, zwei Oasen am Rande der nördlichen Seidenstraße, die im 7. Jahrhundert ihre Blütezeit erlebt hatten und nun als Ruinenstädte Reisende an-locken sollten. Die Häuser waren aus Lehmziegeln errichtet wor-den, doch der schneidende Wind hatte die Fugen über die Jahr-hunderte hinweg geglättet und ließ die Ruinen wie riesige Termi-tenhügel in der prallen Sonne brüten. Es war wirklich schrecklich heiß und trocken wie in einer finnischen Weltmeistersauna nach zwei Stunden Leerlauf ohne Aufguss. Es herrschte jedoch nicht immer schon derartige Lebensfeindlichkeit, im Gegenteil, es war eine blühender Ort der Kultur und der Macht. Wie mochte das zivile Leben in den Mauern dieser Stadt einst ausgesehen und welche Klangwelt wird die Bewohner umgeben haben?

Schwer vorstellbar, und doch sollte es möglich sein, immaterielle Klangstrukturen ebenso wie materielle Architektur, Skulpturen, Schmuckstücke oder Keramik wirklichkeitsnah zu rekonstruieren. Unsere allgemeine historische Anschauungskraft könnte dadurch unglaublich gewinnen. Während es in der Welt der Populärwis-senschaft längst Normalität ist, auch wenig elegante, unspektaku-läre oder gar recht hässliche Dinge allein um ihres Wissenswertes willen zu rekonstruieren, scheint es mit den nichtdinglichen Er-scheinungen offenbar stets eine Frage der ästhetischen Brauch-barkeit zu sein, die sich selbst im Wege steht, denn sie misst sich an sich selbst und verneint das Vorhandensein von geistigem Wissen in nichtsprachlichen Äußerungen wie es zum Beispiel Musik und Tanz sind.

Kurioserweise rührt die unterstellte Inhaltslosigkeit nicht selten von den wenigen sprachlichen Elementen dieser Künste her, den begleiteten oder unbegleiteten Gesangstexten, die in diesem Zusammenhang eher Klang- als Informationsträger sind, ja bis-

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Kamele in Tusche (Urumqi)

weilen als Bestandteil von Musik versagen, wenn ihr als ver-gleichsweise minderwertig empfundener Informationsgehalt in den Vordergrund tritt. Die richtige Mischung scheint wohl essen-tiell zu sein.

Aber auch aus der anderen Perspektive gesehen, ist die Suche nach dem Kern des Problems nicht ganz so einfach. Sicher wür-den wir wohl kaum nur der architektonischen Schönheit wegen in ein Haus ziehen, wenn dieses Haus nicht auch die Funktionen einer Behausung aufweisen würde. Doch das ist nicht der Punkt. Richtiger wäre wohl, dass ein Haus ohne diese Funktion wohl nicht schön genannt werden würde. Wir erkennen das leicht an der Raumstruktur, der Bauweise, der Innenausstattung, dem Umfeld des Hauses. Eine gesamte Medienbranche informiert uns zudem und bildet uns unentwegt weiter, und zwar auch über kulturelle Unterschiede, die uns mitnichten abschrecken, sondern eher faszinieren. Doch woher sollen wir wissen, auf welche Raumstrukturen, Bauweisen, Innenausstattungen und Umfelder in einen nichtmateriellen Gebilde zu achten ist? Woher erkenne ich das Funktionieren als menschliche Äußerung? Wie erreicht mich das in ihr gespeicherte Wissen? Das Kamel weiß es, die Hirtin auch. Wir müssen uns geschlagen geben, weil wir ihre Kultur zu teilen nicht imstande sind. Uns fehlt schlichtes Grund-lagenwissen. Leider verschwindet die Chance, es zu erlangen, genau mit den immateriellen Gebilden selbst und eine Aufnahme bleibt bei aller Rafinesse eine verdinglichte Kopie, die unabhängig von Zeit und Raum vor sich hin existiert wie Douglas Adams’ Petunientopf11. Nur eben ohne kontextuale Grundlagen.

11 Der Primeltopf symbolisiert das Nichtverstehen der Einzelheit, die von ihrem Zusammenhang getrennt wird. Erscheinung und Wesen sind so nicht ergründbar. Vgl.: Adams, Douglas: Per Anhalter durch die Galaxis. In: Keine

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Um so erstaunlicher sollte es sein, dass in jenem schmalen Laden an der Beijinger Allee in Urumqi ein chinesischer Tuschemaler sowohl den Pferdekopfgeiger als auch eine Reihe romantischer Landschaftsszenen mit Kamelen zum Verkauf ausstellte, Motive, die klare Rückübersetzungen in die uigurische Erfahrungswelt bedeuten. Der Maler mochte einfach nur ein guter Geschäfts-mann sein, doch die Art, wie er sein Handwerk pflegte, ließ zu-mindest ahnen, dass seine fremdkulturellen Erfahrungen dafür ausreichten. Er verkaufte auch an uigurische Kunden, denen doch klar sein sollte, dass an diesem Ort mit wenigen Ausnahmen nur chinesische Künstler klassische Tuschemalerei ausführen. Es scheint darin keinerlei Berührungsangst zu stecken, da doch schon seit Jahrhunderten ethnisch getrenntes Expertentum in gemeinsame Kulturerfahrungen münden kann. Bleibt fraglich, warum sich diese unkomplizierte Wahrheit in Kreisen medial vermittelter Politik noch nicht herumgesprochen hat. Möglicher-weise ist es doch nicht ganz so einfach. Symbiotische Kultur-räume strukturieren sich zwar nicht frontal von einer ethnischen Gruppe zur anderen, sondern es wirken interethnische und -so-ziale Makrointeressen, bisweilen wechselnde solidarische Bezie-hungen, die sich durchaus auch auf Abgrenzung zu anderen Ethnien beziehen, etwa die als weniger zivilisiert betrachteten Völker rund um die Metropole des Junggar-Beckens. Die Mand-schuren oder die Xibe12, die auf Folklorefesten mit wilden animalischen Jagdtänzen gern zur Schau gestellt werden, sind nicht nur zahlenmäßig als Minderheit zu begreifen.

Panik. 5 Romane in einem Band. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2001: 7-208. 12 Auch Xianbei, eine aus den nördlichen Völkern in der Zeit der Liao-Dynastie hervorgegangene Minderheit, die eine mandschurisch-tungusische Sprache spricht.

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Kamele in Tusche (Urumqi)

Einer dieser eher Furcht statt Respekt einflößenden Tänze wird musikalisch gestützt durch einen rauen männlichen Schreigesang, der durch die zumeist übersteuerte Wiedergabe noch weniger zivilisert klingt.

Transkribierter Ausschnitt aus dem wilden Jagdtanz der Xibe, Gesangsstimme und große Rahmentrommeln

Die tief und halbtief klingenden, großen Rahmentrommeln unterstreichen das Barbarische der ungelenken und bärengleichen Schritte, die in wildes Stampfen übergehen und von krächzenden Rufen begleitet werden.

Das Tierische als das Fremde zu betrachten geht auf eine lange ideologische Tradition zurück, die sich in fast allen lokalen Legenden offenbart. So ist zum Beispiel der Affenkult auch in Xinjiang fester Bestandteil zahlreicher Geschichten, die mit dem Stoff der in China weithin bekannten „Westreise“13 verwandt sind, in welchem Sun Wukong als Affenkönig eine Hauptrolle

13 Wu, Ch’êng-ên: Monkeys Pilgerfahrt – Eine chinesische Legende. Übersetzt von Georgette Boner und Maria Nils. Zürich, Artemis-Verlag, 1947.

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spielt. Tatsächlich stellt Sun Wukong eine Parallelfigur zum indischen Hanuman dar, der sich in sämtlichen Ramayana-Episoden erfolgreich herumtreibt. Seine größte Stärke liegt darin, nicht unfehlbar sein zu müssen, weil er kein menschlicher König ist. Seine Verantwortungslosigkeit treibt die Dramatik der Episoden an, sein Wagemut illustriert die Weisheit des Instinkts. Interessant ist dabei die Tatsache, dass es in Xinjiang weder im Junggar- noch im Tarim-Becken je Affen gab und die Vorstellung von ihnen schon mit der Entstehung der Geschichten auf Ab- oder Nachbildungen beruhen musste, die aus dem Süden stammten.

Eine wunderliche Sammlung von Affenfiguren14, ausgegraben nahe der Oase Hotian am südlichen Rand des Tarim-Beckens, die Turpan quasi gegenüberliegt, zeigt eine weitere Kuriosität: Laute spielende Affen als kleine Sitzfiguren, die einst auf Schreinen ihren Platz finden mochten. Ist der Affe als solcher schon befremdlich genug, so ist es die Laute erst recht. Die Figuren stammen aus dem 2.-3. Jahrhundert, also aus einer Zeit, in der die Geschichte der Westreise gerade entstand. Die dargestellten Lauten15 waren zu jener Zeit noch nicht in China verbreitet und stellen Kulurzeugnisse des persischen Raumes dar. Sie sind mög-licherweise in engerem Zusammenhang mit dem Manichäismus nach Xinjiang gelangt und mit dessen Untergang vergraben worden. Erst Jahrhunderte später wurde dieser Lautentyp erfolg-reich weiter nach Osten transportiert und mit vielen kleinen, schrittweisen Veränderungen übernommen, doch noch lange als kultureller Fremdling betrachtet. 14 die beiden Figuren stammen aus Iotkan, Oase Hotian (Heitian), Xinjiang, 2.-3. Jahrhundert u.Z., ausgestellt in der Staatlichen Eremitage St. Petersburg 15 offensichtlich viersaitige Querriegellauten mit Plektrumsspielart, Holzdecke und Schalenkorpus bilden eine Einheit.

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Kamele in Tusche (Urumqi)

Zwei mit menschlichen Zügen ausgestattete Affenfiguren aus dem dritten Jahrhundert, gefunden in der Oase Hotian, ausge-stellt in der „Staatlichen Eremitage St. Petersburg“, bewundert von vielen.

Die Affen aus Hotian sind ideell mit den Kamelen in Tusche verwandt. In beiden Fällen hat mehr als eine Kultur ihre Finger im Spiel und diese sind mit ein wenig Grundlagenwissen identifi-zierbar. Kulturelle Unabhängigkeit ist ihnen allerdings fremd und daher können sie auch keinem allein, keiner Einzelkultur und schon gar keiner im weltgeschichtlichen Maßstab kurzlebigen Administration gehören.

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Bären und Boote (Härjedalen)

Härjedalen im Sommer ist nicht viel mehr als ein riesiges Tier-reich mit Überresten menschlicher Bewegung, aufgebockten Booten an kühlen Seestränden, zweckentfremdeten Skihütten für Durchreisende, gut gesicherten Müllcontainern für Picknick-freunde, stillen Wegweisern. Der Bär brummt hier zumeist nur im Winter, aber so nah erlebt man ihn am ehesten im Sommer.

Lofsdalen, ein Wintersportort in Härjedalen, auf halbem Wege zwischen Binnen- und Außenküste Skandinaviens

Als wir Härjedalen besuchten, trieb sich gerade eine Bärin in der Gegend herum, die instinktiv den einzigen unverschlossenen Müllcontainer im Ort finden konnte und auch gern einmal ein-same und unverschlossene Skihütten näher in Augenschein nahm. Des Abends saß man deshalb mit einem kräftigen, Respekt einflößenden Wanderstock auf der Terasse und beobachtete auf-

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Bären ud Boote (Härjedalen) merksam den Waldrand. Gegen die wesentlich konkreteren ani-malischen Attacken der kleinen Blutsauger half allerdings auch kein Wanderstock. Starke Moskito-Spiralen aus den Tropen konnten sie immerhin punktuell ablenken.

Der Ort war sowohl in Richtung Osten als auch in Richtung Westen etwa gleich weit vom Meer entfernt. Doch es gab unten im Tal einen langgestreckten rostfarbigen See mit erfrischend kühlem Wasser und einige wenige Camper, die dafür sorgten, dass der letzte kleine Kaufladen nicht auch noch Ferien machte.

Abgesehen von ihnen und den paar Beerensammlern am Wochenende, waren wesentlich mehr Lemminge, Rentiere und Elche als menschliche Wesen unterwegs. Man konnte sich in kurzer Zeit so sehr an die Ruhe und Einsamkeit gewöhnen, dass einem die nächst größere Kleinstadt schon nach einer Woche anstrengend, laut und hektisch erschien.

Die Laute der sommerlich schwedischen Berglandschaft, das vereinzelte, aber durchdringende Zwitschern der Vögel, das Knacken von Ästen, herabfallende Tannenzapfen, plätschernde Bächlein, raschelnde Lemminge, und schließlich hier und da ein überraschender Käuzchenruf, bildeten eine ziemlich archaische Hörkulisse, die auch die frühesten Menschen in weiten Teilen Europas so erlebt haben mögen. Ideal für fantastische Ideen und Selbstversuche, denn tatsächlich bilden geografische und histori-sche Bedingungen eine Einheit, die in urbanen und naturfernen Räumen oft um ihre landschaftlich-klimatische Komponente verkürzt wird. Auf der anderen Seite reicht auch die gut konser-vierte Welt der Schallereignisse nicht ganz aus, um sich ein wirklichkeitsnahes Bild von dem zu machen, was wir „Musizieren“ zu nennen gewohnt sind.

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musik welt bilder Die Weite der Landschaft, steinig kahle Bergrücken und Hoch-ebenen, enge Einschnitte und waldige Schrägen legen nahe, dass hier Vieh über sehr lange Strecken getrieben wurde, das satte Grün des Sommers ekstatisch auskostend und die ewige Sonne, die selbst nächtliches Wandern ermöglichte. Musik des Alltags hat sich so auf nur wenige Hilfsmittel verlassen können und war zugleich so nah an das Leben im Freien gebunden, dass die Schallkulisse der Natur einen integralen Bestandteil bildete. Wie die Tiere mit ihren Treibern, hatte auch Musik lange Strecken zurück zu legen. Stimmen und Instrumente mussten weit rufen können. In Landschaften, die vorwiegend für den Weidebetrieb geeignet sind und deren Bevölkerungsdichte so gering ist, sind durchdringende künstlich und schließlich auch künstlerisch gestaltete Signale lebensnotwendig, besonders für die einsamen Menschenseelen. Und so finden wir heute noch das „kauking“, im Hochschwedischen auch kulning genannt, das Rufen als Musizierform der Viehhirten. Von den Frauen vokal ausgeführt, von den Männern auf Pfeifen und Hörnern produziert.

Ineressanterweise sind hier tatsächlich die weiblichen Stimm-eigenschaften besser geeignet, die die kurzen Melodiezeilen über viele Kilometer tragen. Kauking bedient sich einer speziellen, an den Joik der Samen erinnernden Singetechnik. Die Ruhetöne sind glatt und kräftig, die Tonverbindungen perlen variantenreich dahin und individualisieren vereinbarte Rufformeln.

Während Frauen sich mit ihrer hohen kräftigen und kehligen Stimme Respekt bei Tier und Mensch verschaffen, greifen Männer zumeist auf ein Blasinstrument zurück, denn ihre tiefere Stimmen würden ein zu diffuses Obertonspektrum erzeugen, dass sich im Echo bis zur Unkenntlichkeit kreuzt und nur einfach laut, nicht jedoch deutlich wäre. Der gerade, nahezu vibratolose

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Bären ud Boote (Härjedalen) Klang eines Horns oder einer Rohrpfeife ersetzt die Stimme und gewinnt eine ganz eigene Ästhetik. Kauking in Härjedalen ist das Gegenteil von vokalem Mainstream. Eine erfolgreiche Frau aus Härjedalen mit einer guten Kauking-Stimme könnte in keinem Europäischen Parlament einen Blumentopf gewinnen. Schrill und erbarmungslos würde sie sich in das Hirn der Zuhörer bohren und bei den meisten männlichen Kollegen eine irrationale Abneigung erzeugen, die nichts mit sachlicher Qualifikation sondern lediglich mit kulturellen Hörgewohnheiten zu tun hat. Erfolgreiche Frauenstimmen in Europa sind tief und weich, nicht aggressiv hoch und rhythmisch modulierend. Ein Blick in die Liste europäischer Parlamentarierinnen und die dazugehörigen Stimmproben offenbart es. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet der Ausdruck „Im hohen Norden“ doch noch einiges mehr.

Neben so herausragenden herben Stimmen wie die von Margeret Thatcher, Madeleine Albright oder Hilary Clinton, gab es auf weitaus weniger spektakuläre Weise doch eine erstaunliche Kon-tinuität in der Reihe schwedischer Außenministerinnen: Karin Söder (1976-1978), Margaretha af Ugglas (1991-1994), Lena Hjelm-Wallén (1994-1998), Anna Lindh (1998-2003), und Laila Freivalds (2003-2006). Sie haben nicht nur ihre höhenindifferente Stimmgewalt benutzt sondern ihre besonderen kommunikativen Fähigkeiten, die in anderen Regionen eher selten erfahrbar sind und daher auch selten gewürdigt werden. In Finnland ist seit 8 Jahren Tarja Halonen Präsidentin und in Irland sind mit Mary Robinson und Mary McAleese seit 1990 Staatspräsidentinnen an der politischen Spitze zu finden. Diese Tatsachen sind nicht mehr überraschend, doch interessant sind die deutlichen Relationen zwischen Höhe der Sprechstimme und Akzeptanz, die sich aus Bekanntheitsgrad, Durchsetzungsvermögen und Repräsenta-

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musik welt bilder tionswert zusammensetzt. Je höher der Sprechstimmbereich, desto geringer offensichtlich die Akzeptanz.

Das gegenwärtig in weiten Teilen Europas und in europäisch orientierten Kulturen ausgeprägte Klischee scheint sich selbst zu verwirklichen: Erfolgreiche Frauen sprechen wie Männer, nur weniger aggressiv. Während die Stimmlage nicht tief genug sein kann, ist die Ausprägung von Stimmschärfe männlichen Kollegen vorbehalten. Es fügt sich ganz logisch ein, dass nicht nur Männer sondern vor allem wohl erzogene Frauen dieser Ansicht sind, denn der Stimmklang eines Menschen ist eines der Merkmale, von welchem am wenigsten abstrahiert werden kann. Er macht Menschen sympathisch oder abstoßend. Paradoxerweise führt wohl gerade die Gleichstellungsoffensive dazu, die nicht zufällig mit der flächendeckenden Einführung von Mikrofonen zusam-menfällt, dass die Stimme als ein letztes unveränderbares Identifi-kationsorgan tragisch überbelegt wird mit irrationalen Bedeutun-gen. So werden hohe Frauenstimmen mit unreifen Knabenstim-men assoziiert und selbst die gesprochenen Inhalte auf diese Art kontextualisiert. Eine Predigt mit hoher Stimme vorgetragen wirkt in diesem kulturellen Zusammenhang wie aus einem Comic-Heftchen. Hören wir uns ältere Politikerreden an, so wird uns vor allem ihre schrille Höhe erschrecken: das war vor dieser Zeit. Überlebende Protagonisten gelten als Kabarettistenfutter. Tontechnik hat hier einen leicht zu übersehenden und dennoch enormen Einfluss auf die Wahrnehmung von Persönlichkeiten.

Dagegen nimmt sich Kauking in Härjedalen und weiter im Nor-den wie eine archaische Insel rationaler Lebensweisheit aus. Je höher und schärfer die Stimme, desto durchringender, respek-tierter und funktional erfolgreicher ist sie. In einer Aufnahme von

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Bären ud Boote (Härjedalen) 1954 „kaukt“ Karin Edvards einen Lockruf an ihre Rinder16, der hier der Übersichtlichkeit wegen eine Oktave tiefer notiert ist.

Muh, muh, muh, muh!

Transkription und Spektralbildausschnitt der Gesangsmelodie von Karin Edvards

16 Lockrop, Karin Edvards, kauking 1954. Aus : Suède. Musique populaire. Éditions : Harmonia Mundi, OCORA Radio France. C 6000010 HM 79 ADD English – Svenska, Titel 1. Transkribiert von G.Jähnichen.

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musik welt bilder Nach den einzelnen Zeilen folgen unterschiedlich kurze Pausen, markiert mit einem x, abhängig von den gerade ausgeführten Arbeitsgängen. Die Rinder antworteten rhythmisch wohl integ-riert, wie im enstprechenden Spektralbild deutlich wird. Die kur-zen kräftigen aufwärts strebenden Glissandi sind das Muhen einer Kuh.

Außer Kauking sind vor allem weiter südlich noch immer wun-dersame Hirtenrufe mit Horn zu hören, von denen die von Carl-Gustaf Färje 1960 aufgenommene Version17 besonders reizvoll ist.

Transkription der Kuhhornmelodie von Gustaf Färje

Die einzelnen Rufformeln schwimmen in ihrem eigenen Echo, so dass Meloldienuancen, ein Umgehen oder Ausweichen aus dem „Seufzerschema“ ausgesprochen überraschende Wirkungen zei-gen, denn die Ausleitungen verschmelzen mit dem langsam ver-hallenden und sich weiter fortsetzenden Echo zu einem Schall-teppich. 17 Carl-Gustaf Färje, Kuhhorn, 1960. Hornlåt från Malung efter Nöstmo Halvar. Aus : Suède. Musique populaire. Éditions : Harmonia Mundi, OCORA, Radio France. C 6000010 HM 79 ADD English – Svenska, Titel 2. Transkribiert von G.Jähnichen.

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Bären ud Boote (Härjedalen) Die Aufnahmen, veröffentlicht auf einer sehr unterschätzten Ocora-Edition des französischen Rundfunks, reichen zurück bis ins Jahr 1938 und präsentieren die frühen sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts als die Blütezeit des Vallmusik-Sammelns. Vallmu-sik, die jede deutsche Suchmaschine gleich in Ballmusik verwan-delt, meint Musik im Kontext der Herde, also nicht nur Hirten-musik, denn sie schließt die Tiere, die Seen und Wälder, die Berge und Täler als Schallgeneratoren mit ein. Es ist eher ein ganzheitli-ches Produzieren und Hören als das gezielte und selektive Musi-zieren sich langweilender einsamer Hütejungen und –mädchen.

Neben der reizvollen aber doch etwas kurzatmigen Weise von Carl-Gustaf Färje fand sich auch der „Entwicklungs-Ruf“, ein sich anfangs aus wenigen Wendungen zusammen setzende, doch sich ständig erweiternde Ruf, der beinahe erzählend wirkt.18 Der Hornbläser Jonny Soling war bereits in jungen Jahren ein be-kannter Fiedler aus Österdalarna, der aber nicht weniger hervor-ragend Horn spielte. Diese längeren und sich „entwickelnden“ Rufe kamen erst Ende der achtiziger bis Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts auf. Sie sind also noch jung und unschuldig.

Unter dem beeindruckend klaren Spektralbild sind die Zeilen-nummern angegeben. Es ist dies im Prinzip die selbe Vorgehens-weise, die sogenannte Weltmusiker erkennen lassen, wenn sie sich Melodieteile oder Rhythmusstrukturen in fremden, ihnen zumeist nicht wirklich vertrauten Kulturen leihen.

18 Jonny Soling, Horn, 1995. Vallmusik vid Stångtjärn. Aus : Suède. Musique populaire. Éditions : Harmonia Mundi, OCORA, Radio France. C 6000010 HM 79 ADD English – Svenska, Titel 31. 6 Zeilen transkribiert von G.Jähnichen.

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Transkription und Spektralbild der Hornstimme von Jonny Soling

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Bären ud Boote (Härjedalen) Das Borgen in der eigenen Geschichte wird von musikalischen Naturfreunden oft besser toleriert, was einiges aussagt über deren historisches Verständnis. Schließlich kann auch hier nicht garan-tiert werden, dass diejenigen, die solche Art von Musik produzie-ren, mehr von ihrer Geschichte als von fremden Gegenwarts-kulturen verstünden. Wie auch immer, im halbakademischen Jargon der letzten Jahrhundertwende nennt sich das eine ‚kreative Gestaltung’ und das andere ‚kultureller Raubbau’.

Wie unhaltbar diese vertikale und horizontale Schnitttechnik durch Zeit- und Regionaltafeln ist, bewiesen schon die Wikinger auf ihren langen Reisen. Sie transportierten nicht nur Technolo-gien, Güter und Gene, sondern auch Sprache und Kunst. Die der Vallmusik eigene Geradlinigkeit und richtungsabhängige Interval-lik innerhalb des Quintbereiches, den zumeist eine kleine Terz über dem Grundton prägt, ist in ganz ähnlicher Weise entlang der nordischen Reiserouten zu finden.

Gerade jene Musiker, die „kreativ gestalten“, was sich in ihrer Region an musikalischer Hinterlassenschaft aufspüren lässt, reduzieren ihre Funde auf ein simples Maß an Erkennbarkeit und legen so ein abstraktes Kerngebilde vor, das sich leicht identifi-zieren lässt.

Im fernen Kiew tat dies Roman Hrynkiv in einer seiner frühen Bandura-Kompositionen. Die moderne ukrainische Bandura ver-einigt Spielmöglichkeiten von Gitarre und Harfe auf treffliche Weise, obwohl sie weder Gitarre noch Harfe, sondern am ehesten eine Griffbrettzither ist. 1991 komponierte der inzwischen zum Bandura-Professor erannte Roman Hrynkiv das Stück „Ves-nyanka“, was soviel heißt wie Frühligszeit oder Frühlings-stimmung, und verwendete im Mittelteil eine schlichte engschrit-

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musik welt bilder tige Melodie, die sich Ohrwürmern gleich sofort im Hirn festsetzt und aus „traditionellem Material“ der Umgebung gefertigt war.

Roman Hrynkivs Begegnung mit der Welt hängt eng zusammen mit diesem Stück, denn es gelangte durch Zufallsaufnahmen französischer Filmemacher in die Hände Sir Yehudi Menuhins, der eben diesen Melodieausschnitt notierte, um sogleich den Urheber auf diversen diplomatischen Wegen ausfindig zu machen. Die Melodie eilte wie Aschenputtels Schuh um die Welt und schließlich fand man ihn in der Studierstube seines damaligen Professors, der die Verantwortung für die per Hand notierte und per Fax versendete Melodie ablehnte. Hier begann Roman Hrynkivs Schritt in die Welt der Konzertreisenden, allerdings nie im Norden Europas, der so intim ist mit dieser kleinen, feinen Melodie, die ihr eigenes Echo mit einschließt:

Transkription des zweiten Themas des Stückes Vesnyanka für moderne Bandura von Roman Hrynkiv

Im Spektralbild ist deutlich, dass sich die Melodie in einem Durchführungsteil polyphon auffächert und aus ihrer höheren Mittellage auseinander treibt wie Wellen von einem ins Wasser geworfenen Stein. Das Stück ist großartig und möglicherweise etwas wie ein historischer Reflex, denn sie strahlt in ihrer Stimmung zurück in die Welt nordischer Vallmusik, die schon

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Bären ud Boote (Härjedalen) globale Tendenzen hatte, als noch die meisten Europäer den Globus für eine Scheibe hielten.

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Spektralbildausschnitt aus Vesnyanka für moderne Bandura von Roman Hrynkiv

Der 1926 geborene Bengt-Arne Walling brachte die melodisch orientierte Stimmung althergebrachter Klangvorstellungen in einen anderen Zusammenhang. Mit ewas Mühe versuchte er, zur eigenen Geschichte Abstand zu gewinnen und verknüpfte als einer der ersten überhaupt den Jazz der sechziger und siebziger Jahre mit abstrakten Folklorezitaten aus seiner geliebten Heimat. Die Re-Lokalisierung bislang überregional interpretierter Jazzmu-sik nahm sehr wahrscheinlich in Schweden ihren Anfang19 und es liegt ein wenig Ironie in der Tatsache, dass archaische Melodiefi-guren, die vielleicht schon an Bord der Wikingerschiffe nach Amerika gelangten, jetzt in Duke Ellingtons Jazzformate hinein-operiert wurden wie ein spätes Mitbringsel.

19 Ling, Jan: A History of European Folk Music. Translated by Linda Schenck, Robert Schenck. New York: Boydell & Brewer University of Rochester Press, 1997: 176.

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musik welt bilder Seine Schüler und Freunde Nils Landgren und Esbjörn Svensson, die nur auf Fotos stets gut rasiert und fröhlich dreinblicken, haben die Stimmung auf verblüffend ähnliche Weise wie Roman Hrynkiv eingefangen, wenn auch mit ihren jazzigen Fähigkeiten, die dem Kauking gar nicht so fremd sein dürften. Esbjörn Svensson, der erst vor wenigen Wochen und viel zu jung beim Tauchen tödlich verunglückt ist, war der wohl treibende Keil, der einen offensiven Umgang mit dieser beinahe vergessenen Kunst zu pflegen propagierte.

Melodievorlage des Pianisten Esbjörn Svensson in „Höpsi“

So entstand ein kleines, zauberhaftes Stückchen Musik, im Origi-nal genannt „Halling Efter Höpsi“, das keine regionalen Sprünge, sondern eher einen historischen Salto auf der Stelle vollführt. Esbjörn Svenssons Klavier drängelt sich nicht vor, es bleibt so schlicht wie möglich und so dynamisch wie nötig, während Nils Landgren sehr geradlinig und unspektakulär auf einer roten, etwas gedrungenen Posaune seine Melodievarianten entwickelt. Es ist als könne man die Enten im eisenreichen Seewasser Härjedalens auf und abtauchen, die Regenpfeifer über die tausend Meter

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Bären ud Boote (Härjedalen) hohen kahlen Fjälls rufen, die klickenden Schritte der Rentiere auf dem Fels hören.

Mitten auf dem rostfarbenen See zu Füßen des Ortes Lofsdalen gab es kaum ein paar Mücken. Die Futterquellen schienen wohl nicht attraktiv genug, denn wann schaute schon einmal ein Fisch aus dem Wasser unf blieb lange genug, um sich aussaugen zu lassen. Wir ruderten mit schwachem Plätschern und horchten auf den lauen Wind in den Wipfeln der fernen Nadelbäume. Die Ruhe war tröstlich und nicht ein bisschen ängstigend.

Bär auf Beerensuche in Härjedalen

Unser Boot lag längst schwarz glänzend mit dem Kiel zuoberst auf dem Ufer, als wir ein Knacken und Rascheln vom jenseitigen Ufer her hörten. Die Bärin warf einen flüchtigen Schatten auf eine verwachsene Lichtung im Fichtenwald und schaute herüber. Wie gebannt starrte ich in ihre Richtung und zurrte langsam die Seile an den Sicherungspflock, die Melodie von Höpsi vor mich hin summend, um mich zu beruhigen.

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Gedis Wunderkinder (Watamu)

Kilifi-Creek und Mida-Creek an Kenias Küste, der weiße Fleck bedeckt Gedi und scheint wie das Auge eines Dämons

Gedi unweit Watamu und Namensgeber des nahen Nationalparks ist ein sonderbarer Ort, der Jahrhunderte vergessen war, der weder von Portugiesen noch von Briten bezeugend zur Kenntnis genommen wurde und doch einmal von schillernder Pracht gewesen sein muss, wie so viele Handelsstädte entlang der Swahi-liküste.

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Gedis Wunderkinder (Watamu) Die Ruinenstadt aus vergangenen glanzvollen Zeiten an der Küste Kenias erschien mir wie ein lebendig gewordenes Bild, das ganz meinen verträumten Vorstellungen aus Kindertagen von im Dschungel verschwundenen Schätzen entsprach. Die überwu-cherten Wege und Mauern wurden von Riesenbäumen über-schattet, die noch älter als die Ruinen selbst zu sein schienen. Würdevoll distanziert schauten sie mit ihren weise wispernden Kronen herab auf die Armseligen und Rastlosen, die sich im Labyrinth der einst reichen Stadt ergingen und nur wenige Minu-ten in ihr weilen durften. Der Sinn der Vergangenheit ließ sich nicht in so kurzer Zeit begreifen und damit endete schon die Liste der Gewissheiten, die man mit sich forttrug.

Auf den Mauerkanten posierten Affen, die sich furchtlos zwischen den schwitzenden Wanderern bewegten. Sie waren es und das Licht, das den Ort dennoch auf etwas unheimliche Art eine Erleuchtung sein ließen: Gedi war ein erzählender Ort. Wenn man nur Geduld genug hatte, und warten konnte, bis sich das Bild verdichtete. Vom Meer her wehte eine salzige Brise landauf. Die Baumwipfel winkten den vorübergleitenden Frach-tern zu, die vor Mombasa auf Reede lagen. Luft und Licht paar-ten sich mit den Tönen tropischen Lebens und schufen eine sprudelnde Atmosphäre.

Es mögen tausende Besucher im Jahr nach Gedi kommen und schließlich auf die wenigen Schaukästen im Museumshäuschen blicken. Auch sie würden den Affen erst zutraulich und dann überraschend ängstlich begegnen, und alle diese Besucher sehen jahrhein jahraus dieselben Bilder in ganz ähnlichem Licht. Selbst die Luft schmeckt stets gleichartig salzig, vielleicht mehr oder weniger fischig. Können Tausende aber auch jene Einzigartigkeit

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musik welt bilder fühlen, das Unwiederbringliche, Einschneidende, das körperlich spürbare Vergehen von Zeit?

Mein Sohn und meine Tochter liefen die bemoosten Wege ent-lang und versteckten sich voreinander. Sie waren in einem Alter, indem sie noch alles trugen, was man ihnen zum Anziehen heraussuchte und ich hatte sie besonders herausgeputzt. Ein blondes Traumpaar. Vielleicht war ihre Anwesenheit der Auslö-ser, der mich so empfindlich für die Vergänglichkeit stimmte. Nie wieder würde ich sie so sehen können wie an diesem Tag. Ich erinnere mich noch heute in diesen Bildern an ihre bizarre Unschuld, spielend an einem Brunnen auf einer viele hundert Jahre alten Lichtung in Gedi. In Öl gemalt würde man ein solches Bild gewiss Kitsch nennen.

Mein Sohn erblickte plötzlich eine vorüberrollendes Stoffbündel gefolgt von einer Schar Giriama-Jungen, die ihn gern in ihrem grölenden Rudel aufnahmen und mit in das nahe liegende Dorf brachten. Wir gingen ihm auf roterdenen Wegen nach.

Das Dorf wurde vorwiegend von den Servicemitarbeitern des Museums und ihren Familien bewohnt. Neben ein wenig Land-wirtschaft für den Eigenbedarf wurden vor allem Andenken produziert und zwar mitten auf dem zentralen Dorfplatz. Während die Jungen in einem der Häuser verschwanden, begaben wir uns zum Haupthandwerker, der sich mit einer Reihe kleiner einfelliger Handtrommeln beschäftigte, die aus der Schale von Brotfrüchten gefertigt waren und in deren filzige Außenhaut er versuchte so sinnreiche Worte wie „Jambo“ oder „Kenya“ oder „Jambo Kenya“, je nach Größe der Fruchtschale, einzuritzen. Ohne dies würden sie sich möglicherweise besser verkaufen, aber ich sagte ihm das nicht, denn er hätte es mir ganz sicher nicht geglaubt und mich für eine arrogante Spielverderberin gehalten.

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Gedis Wunderkinder (Watamu) Und wer weiß, vielleicht überschätzte ich schon wieder die Vorstellungskraft durchschnittlicher Touristen und er tat das einzig Richtige.

Nach wenigen Minuten gesellte sich ein Knabe von etwa acht Jahren zu ihm. Wir schautem dem Handwerker noch ein Weil-chen zu, währenddessen das Weißblond meines Sohnes zwischen schwarzen Krausköpfen in der Ferne herumhüpfte. Seine Schildmütze war offenbar beim Fußballspielen verloren gegan-gen. Schüchtern versuchte ich den Trommelbastler zu einer Kostprobe auf den hübsch mit Brandmustern verzierten Chivoti, den kurzen Querflöten der Giriama zu verleiten. Falls das nicht ginge, wären mir auch die größeren, offensichtlich zum tatsächli-chen Gebrauch bestimmten Trommeln recht. Er zeigte zwei Reihen blendend weißer Zähne und nickte dem kleinen Jungen zu, der auf einer von diesen saß. Ich griff nach einer Chivoti und entlockte ihr durch Drehen und Probieren zwei ungleiche Tonreihen aufwärts20:

Notation der spieltechnisch modulierten Tonreihen auf der Chivoti von Gedi

Der Knabe rutschte von der Trommel und brachte sie vor einem querliegenden Sitzstamm in Position, um sie sich zwischen die kleinen Knie klemmen zu können. Daneben stellte er eine höhere

20 Ausführliche Beschreibungen finden sich in Jähnichen, Gisa: Die Chivoti der Giriama. In: Berichte aus dem ICTM-Nationalkomitee Deutschland, Bd. V, hrsg. von Marianne Bröcker, Bamberg: Universitätsbibliothek, 1997: 149-172.

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musik welt bilder einfellige Trommel, die er mit der linken Hand bediente. Er fing an, ein einfaches Muster zu schlagen und ich imitierte weiter ein paar Melodiephrasen, die mir von anderen Giriamatanzstücken in Erinnerung waren. Er fand offenbar viel Spaß daran und schließ-lich tobten auch die verschwitzten wilden Fußballkinder magisch angezogen vom Spektakel heran. Eine Idylle wie aus einem post-kolonialen Aufklärungsbuch, dachte ich, und wartete gefasst auf das blaue Wunder, das mir noch bevorstehen musste. Aber es geschah nichts, was mich wieder aus dieser Lieblichkeit des Moments herausriss. Nach wenigen Minuten, spielte auch der Trommelbastler mit und ein paar Mädchen rannten herbei und schwangen ihre noch unsichtbaren Hüftrundungen.

Mein Sohn, blond und fremd, meine Tochter, aufgekratzt und unruhig, schauten verzaubert drein und lachten über die eigenar-tigen Bewegungen der kleinen Tänzerinnen. Werden sie sich je wieder so einer überspringenden Laune hingeben können? Wie lange werden sie noch in der Lage sein, sich selbst vegessend zu offenbaren? Auch solche nicht ganz zur Idylle passenden Fragen schossen mir durch den Kopf, während sich die Zufallsgesell-schaft erschöpft niederließ und langsam zur Ruhe kam.

Ein paar Mütter mit sehr kleinen Kindern auf ihren Hüften traten aus den hohen Hütten, die ganz Dach waren und außer der Tür keine einzige Öffnung zu haben schienen. Sie fanden die blonden Kinder interessant und nickten mir anerkennend zu. Es wird nicht ihre erste Begegnung mit hellhaarigen Fremden gewesen sein, doch Kinder scheinen immer und überall auf ihre eigene unverwechselbare Art zu faszinieren. Besonders verblüffend scheint die Kürze ihrer Erholungspausen, die offensichtlich keine kulturellen Varianten kennt. Gerade noch japsend ins Gras gefal-

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Gedis Wunderkinder (Watamu) len, stürmen sie nach wenigen Minuten schon wieder los, als wären sie nach einer Woche Hausarrest frei gelassen worden.

Während die Kinder umhertobten, verglich ich die klingende Erinnerung mit meinen Erfahrungen am Kilifi-Creek weiter südwarts. Dieser Creek reicht tief in das Land hinein und entlang seiner verzweigten Arme finden sich zahlreiche Giriama-Dörfer. Auch dort hatten wir Trommeln, Oboen und jene kurzen Quer-flöten gehört.

Transkription des Begrüßungstanzes für Oboe und Trommeln am Südwestufer des Kilifi-Creeks

Doch das Trommeln hier klang symmetrisch hinkend, die einschneidende Oboe feuerte die neuerdings reichlich bekleideten Tänzer und Tänzerinnen an und der ganze Aufwand galt einem kleinen Motorboot mit technisch gut ausgerüsteten Touristen, die das Ganze durch ihren Foto- oder Videosucher beobachteten, als hätten sie Angst, der Sache im tatsächlichen Zustand nicht folgen zu können, weil dann keine konservierte Wiederholung mehr möglich wäre. Ein oft entschuldigend angeführter Nebeneffekt ist die beabsichtigte Vorführung im Freundeskreis, die in den meisten Fällen jedoch nicht stattfindet oder genau diese Szenen auslässt. Die Faszination des Augenblicks, die nassen Füße in den brüchigen Ledersandalen, die wartenden Reiher am Rande des Weilers, der Geruch von salzigem Fisch, Frangipani-Blüten und Schweiß, die Unmöglichkeit, von der momentanen Anstrengung

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musik welt bilder zu abstrahieren und es einfach einen lustigen Ausflug sein zu lassen, machen noch aus jedem Zufallstouristen einen vom Jagd-fieber gepackten Anthropologen. So entstehen jährlich viele tausend Stunden Ton- und Bildaufnahmen, für die sich die einen schämen, weil sie die Toskanaliebhaber in der Nachbarschaft nerven könnten und die die anderen völlig schamlos in ihren Regalen und Schubfächern verkramen. Nur sehr wenige Reisende machen sich Gedanken darüber, die sie ehrlich mit anderen teilen wollen und von diesen gibt es einen winzigen Prozentsatz, der glaubt, dass sich ein professioneller Anthropologe in einem Museum oder einem Archiv dafür interessieren könne. Leider sind diese Wenigen auch wiederum diejenigen, denen als Erste aus den akademischen Hallen der Hohn entgegenschlägt, denn da könnte ja jeder dahergelaufene Hobbysammler kommen. Nach dem Grad der Authentizität befragt, schleichen sie mit ihrer Beute fort und beschließen, weder Anthropologen, noch Poli-zisten, noch irgendjemandem als Zeuge der banalen Wirklichkeit jemals wieder dienen zu wollen. Das abstrakt Authentische ist unfair und bringt ehrliches Bemühen oft zu Fall.

So war es auch hier. Die inzwischen fast täglichen Vorführungen der Giriama am Kilifi-Creek zeigten deutliche Anzeichen, bereits zu festen Gebilden zu erstarren, ein Vorgang, der notwendig eintritt, um den Tänzern und Musikern den Stress zu ersparen, den jede real geforderte Aktion im Rahmen ihres eigenen Alltags mit sich bringt. Bislang waren sie nur zu bestimmten Zeiten im Jahr und zu besonderen Anlässen aktiv. Ihre Tänze hatten ganz speziellen Anforderungen in Länge und Intensität zu genügen. Sie brauchten dafür Kraft und Ausdauer, mussten konzentriert verfolgen, wie sich das Geschehen um sie herum entwickelt und sie waren Teil der gemeinschaftlichen Anstrengung für einen

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Gedis Wunderkinder (Watamu) Zweck, der zumeist außerhalb der Musik lag und in ihrem Verständnis lebensnotwendig war.

Das blühende Geschäft mit den neugierigen Touristen funktio-nierte sie um zu professionellen Vorführern, ließ aber auch die Tänze zu fertigen, kontextneutralen Nummern und Bootsplätze am Strand zu recht unnatürlichen Natur-Bühnen werden.

Es ist bezeichnend und wundert mich deshalb nicht, dass ausge-rechnet jene durch Fernseh- und Pressedokumentationen allseitig gebildeten Besucher, die ganz kommerziell angereist sind, um ihren hohen Versorgungsstandard nirgends entbehren zu müssen, am ehesten die fortschreitende Kommerzialisierung der schon nicht mehr richtig wilden Musik und die fehlende Authentizität der Tänzerinnen wortreich bedauern. Ihr Unbehagen scheint mir jedoch alles andere als bedauerlich, denn es meint eigentlich nur ihre vorgefasste Imagination, die enttäuscht wurde, eine Imagina-tion vom entzückenden Verharren im unbewusst Primitiven, das weder Scham noch Berechnung kennen sollte. Damit wird wohl nirgends mehr zu dienen sein und ich kann nur allen trommeln-den, tanzenden und flötenden Vorführern gratulieren, die diese Imagination ganz offen zerstören und die authentische Gegen-wart zeigen.

Viel weniger wahrhaftig sind indessen Vorführungen, die versu-chen, die formale Kulisse zu erhalten, um der touristischen Bildungsimagination zu dienen. Die ursächliche Atmosphäre bestimmter Tanzprozessionen, die durch alle Zeiten von Siedlung zu Siedlung, von Jahr zu Jahr ganz unterschiedlich geprägt sein konnte, wird dadurch in jedem Fall sterilisiert und der kommer-zielle Aspekt, der ebenfalls schon immer eine Rolle gespielt hat, wird oberflächlich verleugnet. Solche Vorführungen scheinen bei Weitem weniger glaubwürdig, auch wenn sie durchaus sehr

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musik welt bilder authenthisch sind, denn sie spiegeln aktuelle Marktinteressen wider, zeigen soziale und kulturelle Positionen. Es sieht am Ende aus, als ließe die Jagd nach vom Verfall bedrohter Kultur die Kultur erst richtig verfallen. Auch das ist natürlich eine Fiktion, die die angenommenen Verursacher überschätzt. Veränderungen, die es ganz sicher immer, wenn auch in unterschiedlichem Tempo, gegeben hat, gehen in allererster Instanz von der sozialen Situation innerhalb der kulturellen Gruppe selbst aus. Touristen sind allenfalls katalytisch wirksam, Tanz- und Musikforscher, vor allem Dokumentaristen, haben einen etwas bedrohlicheren Einfluss, wenn ihnen keine alternativen Optionen in der betref-fenden Kultur gegenüberstehen.

Hier scheint meiner Meinung nach wohl ein gern geübter Denk-fehler zu liegen: die allermeisten Kulturen, auch jene, deren Sprache nicht geschrieben wird, deren Namen weitgehend unbe-kannt sind und deren Leben nur rudimentär erfahrbar und fixiert durch wenige kulutrelle Artefakte symbolisiert ist, haben alterna-tive Optionen. Dass diese Optionen nicht allen zugänglich sind, macht sie nicht unwirksam, sie existieren auch ohne uns, mögli-cherweise sogar besser ohne uns. Eine wirkliche Herausforderung wäre es, sie als kulturelle Überlebensstrategien zu erkennen, ein Unterfangen, an dem sich schon Generationen von Anthropolo-gen, Sozialpsychologen und Regionalwissenschaftlern versucht haben und zwar insgesamt nicht sehr erfolgreich. Das Mysterium des kulturellen Willens ist schwer ergründbar. Vielleicht tut sich ein winziger Einblick auf, wenn es an einzelnen skizzenhaften Details wundersam aufleuchtet.

Ein solcher Fall begegnete mir im Rasthaus von Porini, einem Versorgungsdorf der Giriama am Rande der Küstenstraße zwi-schen Mombasa und Kilifi. Noch vor wenigen Jahrzehnten lebten

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Gedis Wunderkinder (Watamu) die Giriama wie die meisten Mijikenda-Völker weiter im Landes-inneren. Der Straßenbau, der Versorgungshandel und der Tourismus zog die Dörfer weiter in Richtung Küste, wenn auch die landwirtschafltichen Bedingungen hier eher schlechter waren, da die Weideflächen nicht ausreichen und die Böden zuviel Salz enhalten.

Das Rasthaus in Porini dient Fernfahrern, Reisegesellschaften und Einheimischen als Treffpunkt, wobei die Aktionsräume der unterschiedlichen Besucher säuberlich getrennt sind. Die Fern-fahrer hatten ihre Theke gleich am Ende des Parkplatzes. Aus einem Kioskfenster schaute eine beschürzte ältere Dame mit zwei Reihen leuchtend weißer Zähne, die ihre Gäste vortrefflich zu unterhalten schien.

Die Einheimischen hatten sich ihre eigene Lounge gegenüber dem Schildkrötengehege aus Schilfschirmen und Hartholzqua-dern gebaut. Die dort aufgereihten Weißglasflaschen enthielten gewiss Palmwein, der entweder sehr gut sein musste oder beson-ders preiswert war, denn der Warenumschlag war stets hoch.

Den Reisegesellschaften war der Lehmbau im Palmengarten hin-ter den Schildkröten vorbehalten. An langen Tafeln konnten dort exotische Fladenbrote und gegrilltes Fleisch verzehrt werden, mit den blanken Fingern, versteht sich, nur so mochte es authentisch wirken und obendrein den Abwasch sparen. Eine kleine Fläche im Garten diente halbprofessionellen Musik- und Tanzvorführern als Arbeitsplatz. Die Reisegesellschaften bedienten dann wie allerorts mit fettigen Fingern ihre Fotoapparate und Videokame-ras, um ihrer surrealistischen Jagdleidenschaft zu frönen.

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musik welt bilder

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Gedis Wunderkinder (Watamu)

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Komplette Transkription eines Chivoti-Stückes, aufgenommen am 22. September 1993 in Porini

Einer der Musiker spielte Chivoti, die kurze Querflöte der Giri-ama, die ich schon in Gedi bewundert hatte. Ich vesuchte, mich mit ihm zu unterhalten. Daraufhin ging er mit mir zurück unter die Schilfschirme der Einheimischen, um mir kurzentschlossen eine ganze Reihe interessanter Melodiekombinationen zu zeigen,

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Gedis Wunderkinder (Watamu) die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstehen konnte. Es war mir schlicht unbegreiflich, nach welchem Prinzip er diese Melodieteile aneinanderreihte, vor allem aber war ich verblüfft, dass die Tonreihe komplett verschieden von jener in Gedi war. Erst später wurde mir klar, dass die Intervallik keine Rolle spielte, solange es jeweils auf- beziehungsweise abwärts ging, denn die Grifflöcher auf der Flöte lagen einfach dort, wo sie am be-quemsten zu greifen waren.

In altbewährter Weise versuchte ich beim Transkribieren, die Zeilenstrukturen zu ordnen und so ihre logischen Beziehungen zu ergründen. Es gelang mir im Groben und ich freute mich über die Entdeckung, dass sich die Zeilen nach ihren Zieltönen ordnen ließen und sich so ein relativ schlüssiges System ergab:

Melodische Zeilenstruktur innerhalb der Abschnitte (22.9.1993)

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musik welt bilder Doch als ich zwei jahre später am selben Ort einen anderen Musiker, der allerdings derselben Gruppe angehörte, aufnahm, stellte sich meine These als gänzlich unbrauchbar dar. Nichts davon konnte stimmen.

Diese Tonreihen konnte ich durch viele Versuche, die am ehesten an Formelsuchbilder aus IQ-Testheftchen erinnerten, endlich nach ihren Initialtonstufen ordnen und es ergaben sich verblüf-fend ähnliche Reihenstrukturen wie in jenem früheren Beispiel.

Melodische Zeilenstruktur innerhalb der Abschnitte (19.9.1995)

Damit war der Grundstein meiner Neugier auf sämtliche Flöten-musik in dieser Gegend gelegt und vor allem auf die dahinter verborgenen, unsichtbaren, nur wenigen sofort logisch erscheinenden Prinzipien. Über die Jahre hinweg konnte ich der

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Gedis Wunderkinder (Watamu) Sammlung noch etliche Beweise hinzufügen und erinnere mich dabei stets an den kurzen Moment, als ich unerwartet plötzlich auf des Rätsels Lösung gestoßen bin und das Mysterium entschleiert schien. Während ich stets darauf achtete, die notierten Zeilen als Ganzes zu erfassen und auch optisch voneinander abzugrenzen und zueinander in Beziehung zu bringen, war es mir anfangs völlig entfallen, dass selbst durch diese übersichtliche, dem fortlaufenden Schreibformat widerstehende Technik wesentliche Formprinzipien, die so wichtig sind, um sich Musik überhaupt merken zu können, unsichtbar bleiben.

Erst nachdem ich mich von der absoluten Intervallik verabschie-det habe und die ganzheitlich gedachten Zeilen in ihren Varianten grafisch formuliert hatte, offenbarte sich die Konstruktion, die nicht nur einfach zu merken, sondern auch flexibel erweiterbar scheint. Deshalb haben die jungen Männer der Giriama auch Recht, wenn sie sagen, dass es sich eigentlich um dieselbe Musik handelt, auch wenn wir weder die gleichen Intervalle noch annä-hernd ähnliche Melodieteile hören. Es ist ein bisschen, als würde man eine Reihe Socken am Bündchen und eine Reihe an den Fußspitzen auf die Leine klammern: Es bleiben dennoch Socken, und sie sind alle im selben Fluss gewaschen worden. Durchge-stylte Kompositionen nach europäischem Standard mögen ihnen wohl sehr zwanghaft und langweilig vorkommen.

Die guten Flötenspieler in den Dörfern der Giriama werden von den Kindern bewundert. Sie symbolisieren eine gewisse Unab-hängigkeit, Männlichkeit und Gescheitheit. Alle Knaben träumen davon, einst so bewundert zu werden. Und alle Mädchen träu-men, einen guten Flötenspieler näher kennen zu lernen. Während die Trommler stets obligatorisch zu jeder Feier und jeder anderen

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musik welt bilder kleineren Gelegenheit spielen müssen, steht es den Flötenspielern frei, sich zu ihnen zu gesellen. Ihr Spiel ist das Sahnehäubchen, es ist feiner und phantasievoller als das der brachialen Oboenspieler, die die Tänzer und Tänzerinnen aufpeitschen sollen. Gemein haben sie mit diesen lediglich, dass die absolute Intervallik ihrer Blasinstrumente nahezu redundant ist.

In den Ruinen von Gedi

So ist es nicht besonders erstaunlich, dass man kaum ein Giria-madorf passieren kann, ohne irgendeine verdächtige Klangregung der Chivoti spielenden Knaben zu vernehmen. Eine Generation kleiner Wunderkinder trägt schliesslich Sorge für eine gewisse Stabilität von Traditionen, die inzwischen rasante Veränderungen erfahren und mit der geeigneten Logik doch stets identifizierbar bleiben.

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin)

Der Moritzplatz in Kreuzberg achtzehn Jahre später

„Ein Kapuzenshirt bedient die Anonymität der Großstadt. Man fühlt sich darin geborgen, einfach, aber gut angezogen. Ein Kapuzenshirt stellt sicher, dass man demjenigen, der einen er-kennt, auch selbst ins Gesicht sehen kann. Die Kapuze schützt vor Nieselregen. Sie weicht nicht durch, denn man muss sich in der Stadt ja ohnehin nicht länger im Freien aufhalten.“ So sprach noch vor wenigen Wochen mitleidig belehrend mein Sohn zu mir. Inzwischen liegt ein Stapel ausrangierter Kapuzenshirts im Wäschekasten, aus denen auch meine später geborene Tochter

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin) herausgewachsen ist. Doch der Geist des Kapuzenshirts mitsamt seiner Daseinsbegründung hüpft über das Berliner Pflaster und ernährt unsere eigenen Widersprüche: wir wollen wie alle und doch speziell sein, anonym bleiben und doch erkannt werden, allen direkt ins Gesicht schauen, doch jedem auf ungleiche Art. Balanzierend zwischen diesen Ansprüchen lernen wir uns selbst zuletzt kennen.

Am Moritzplatz in Kreuzberg frage ich mich immer wieder, ob man Zeit fühlen kann. Ein schlichter Kreisverkehr umgeben von wunderlicher Leere an so zentraler baugrundteurer Stelle, in eini-ger Entfernung eingerahmt von eklektischer Architektur, die ganz unterschiedliche Sozialnaturen koexisiteren lässt. Ein Platz ohne Fassaden, ein ehrlicher Platz, wo sich Menschen anschauen müs-sen, weil es sich nicht lohnt, den Blick in die Ferne zu richten. Kurzum, der Moritzplatz ist mir stets als ein Nicht-Platz im Ge-dächtnis, der zwischen „Es-war-einmal“ und „Es-werde“ schwebt, eine anschauliche Lücke für jedermanns Gegenwart lassend.

Mit dem Auto umkreiste ich ihn erstmals in einem noch nicht alten und doch schon bemitleidenswerten Wartburg, meine kleine Tochter im Gepäck und meine Freundin Sabine. Das Auto, ge-borgt für einen Ausflug in die neuzeitliche Musikforschung jen-seits der dematerialisierten aber noch immer gegenwärtigen Mauer, steuerten wir Dahlem entgegen. Der Moritzplatz war mein Schnittpunkt zwischen den Welten. Ich ließ etwas hinter mir, ich hatte etwas vor mir, und keines von beiden schien mit dem anderen zusammen zu passen.

Meine Tochter war noch so jung, dass sie zur Nahrungsaufnahme meiner persönlichen Anwesenheit bedurfte, meine Freundin Sabine war dagegen schon so alt, dass sie eine Freundin wie mich

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musik welt bilder mitsamt Tochter ihrer wissenschaftlichen Neugier wegen wohl-wollend in Kauf nahm, um ja keine Minute unseres Zusammen-seins zu verschwenden. Sabine, die eigentlich in Aschersleben wohnte, besuchte mich regelmäßig in Berlin, um sich mit ihrem Doktorvater, der auch mein Doktorvater war, zu besprechen. Sie kam stets voller Tatendrang und Elan und ließ sich dann nach vollbrachter Konsultation in unserem Familienkreis mental wie-der aufrichten. Auf diese Weise promovierte sie, ohne seelisch Schaden zu nehmen mit sich und der Welt im Reinen und mit einer Prise Selbstironie, die ich auch manchmal gebraucht hätte. Der Ausflug nach Dahlem in eine weiß getünchte Universitäts-villa mit Rasenstück und Parkplatz war die traditionelle Fort-setzung jener anspornenden Aufrichtungsaktionen.

Prof. Jotka, späterhin einziger C4-Lehrstuhlinhaber unseres Fachs in Deutschland, hatte uns persönlich eingeladen, seine Gemar-kungen an der Freien Universität zu besichtigen: Büro, Biblio-thek, Tonstudio, Garten. Alles prima, die gängigen Hauswitze inbegriffen.

In Wirklichkeit wollte er uns besichtigen, die promovierten Exo-ten aus dem wilden Osten, die es trotz steter Indoktrination zu einem ansprechenden IQ gebracht hatten und noch an die höhere Bedeutung von Wissenschaft glaubten.

Meine Tochter rekelte sich nichtsahnend in der Gartensonne und schlief beinahe alle vier Stunden hindurch, die wir mit der Besichtigung teurer oder seltener Bücher zubrachten.

Die Villa, Prof. Jotka eingeschlossen, machte einen unwirklichen Eindruck auf mich. Nirgends ein Anflug moderner Zeiten, kein kleiner Commodore im Sekretariat, nicht einmal eine elektrische Schreibmaschine mit Speicher. Er selbst war von ausgesuchter

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin) Höflichkeit, hörte uns zu und schien sich nicht zu langweilen. Meine Vorstellungsrede war kurz und fröhlich, er kannte mich ja bereits aus meinem Abschlusskolloquium, als er erstmals einer derartigen Veranstaltung im Osten der Stadt beiwohnte. Damals war er sehr früh erschienen, um meine Dissertation noch vor Beginn der Disputation durchzulesen. Er schaffte es auch und disputierte schließlich auch ganz wohlwollend, wie jeder gute Onkel aus dem Westen.

Nun, Wochen später, während unseres Fachgespräches in seinem aussichtsreichen Büro bewunderte ich vor allem Sabines Geschick, ihr starkes politisches Engagement komplett auszu-blenden und sich in mustergültigen positivistischen Formanalysen über mehrstimmige Gesänge der Ovambo in Namibia zu erge-hen. Auch das hatte etwas Unwirkliches. Ich kannte ihre Disser-tation vielleicht gründlicher als ihr Doktorvater, die Musiker, mit denen sie arbeitete, und die tiefe emotionale Bindung, die sie mit den Emigrantenkindern aufgebaut hatte. Die musikwissenschaft-liche Auseinandersetzung, die bei ihr bisweilen groteske statisti-sche Formen annehmen konnte, war sicher auch ein Teil der äußerlichen Rechtfertigung ihrer originären Anhänglichkeit und Zuneigung. Sie liebte ihre namibischen Kinder, die hilflosen Halbwüchsigen, die komplizierten Teenager, die sie so lange als Lehrerin in den Emigrantenschulen begleitet hatte. Nun sorgte sie sich um deren zukünftiges Schicksal, denn sie wurden abge-schoben aus dem Osten Deutschlands, heimgeholt in das inzwi-schen unabhängige Namibia, angeblich befreit von bevormun-dender kollektiver Zwangserziehung, eine Schlagzeile, die zu erwähnen sie nie vergaß. Doch all diese Sorgen verdeckte sie durch Intervallzählungen, Tonreihenvergleiche, nüchterne For-meln und die Systematisierung von Textstrukturen. Sie konnte

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musik welt bilder sich in dieses Thema sehr glaubwürdig hineinsteigern und schien ihr Glück im Streben nach Ordnung und in übertriebener Akribie zu suchen.

In Wirklichkeit wollte sie vor allem nach Namibia reisen. Endlich. Nachdem es möglich geworden war. Prof. Jotka schaute sie inte-ressiert an, zumindest erweckte es den Eindruck, denn sein eines intaktes Auge glänzte. Das andere blickte auf mich. Ich wusste damals nicht, ob er damit sehen konnte und machte vorsichtshal-ber ein ernstes Gesicht. Sabine schloß pathetisch mit den weißen Flecken auf der Landkarte der Musikkulturen Afrikas, die es zu tilgen gelte. Afrika, wie bist du fern und groß und unfassbar!

Jene Momente im Arbeitszimmer des Professors gehören zu den unvergessenen Abenteuern, die jeder auf seine Art irgendwie einmal erlebt und niemand zusammenhängend erzählen kann. Da war Prof. Jotka mit seiner Goldrandbrille und seinem gespaltenen Blick, seinen gewienerten Schuhen, dem Hut am Haken, dem aufgeräumten Schreibtisch, der Sorgfalt in Stimme und Gestus, trotz gezielt eingestreuten rheinischen Humors – hier waren wir, die enthusiastischen, reichlich albernen, zupackenden, gut impro-visierenden Besucherinnen mit Kleinkindtasche und Klarsichtfo-lien in einem unsäglichen Plastikbeutel, der heute Kult wäre.

Die Kluft zwischen unseren Erfahrungsräumen, unseren Auffas-sungen vom Leben, von Gerechtigkeit und Anstand, von Wissen-schaftlichkeit und Klugheit – sie schien kurzzeitig aufgefüllt mit einer elementaren Neugier. Das Ergebnis ergoss sich in den Garten durch den verrauschten Klang, den eine gut gehütete ORWO-Kasette in einem noch älteren Kasettenrecorder erzeugte: „Ndamono vakwaita tavalu“ – schallte es aus den Laut-sprechern, „Ich habe Soldaten kämpfen gesehen...“.

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin) Die Situation erscheint rückblickend noch komischer, denn zu jenem Zeitpunkt war uns gar nicht bewusst, wie wenig Prof. Jotka mit dem Wesen dieser Gesänge anfangen konnte. Während Sabine ihre theoretischen Vergleiche als Mittel zu höherem Ver-ständnis benutzte, waren ihm diese von so großer, sich selbst erfüllender Zwecksinnlichkeit, dass ihm der ohnehin unverständ-liche Text in Oshi-Kwanyama gänzlich egal war.21 Wir klärten ihn nicht auf, und er klärte uns nicht auf. Für mich war es der Augenblick, in dem sich die unwirklichen Umstände, in denen dieser mir bestens bekannte Gesang erschallte, in eine klassische musikethnologische Feldbeobachtung verwandelten. Prof. Jotka legte beim Hören den Kopf etwas schräg und bewegte unkon-trolliert sein ungesundes Auge. Er nahm sämtliche physisch ver-wertbaren Signale wahr, die sich ihm als solche zu erkennen gaben. Die schlechte Qualität der Tonaufnahme schien ihn dabei noch zu stimulieren, er zog einen Mundwinkel hoch und öffnete leicht den Mund. Am Ende des Liedes seufzte er, als ahnte er, dass er es mit einer vom Aussterben bedrohten Art von Musik zu tun habe.

Sabines fleißigen Erläuterungen folgte er mit langschrittigem Auf- und Abgehen, an jeder Kehrtwende leicht von den Fußspitzen auf die Fersen vor und zurück wippend. Dann blieb er unver-mittelt vor ihr stehen, griff sich die Klarsichtfolie, die ihre Ideen umhüllte, und fragte, „Und das ist nicht einfach ein gewöhnlicher Dreiertakt, wie wir ihn aus vielen christlichen Chorälen kennen?“

21 Deutsche Übersetzung des Textes: Ich habe Soldaten kämpfen gesehen, weil es ihr eigenes Land ist, meine Nation. Denn mit Rassenhass und Sklaverei herrschen die feindlichen Buren, meine Nation. Wir werden qualvoll geschlagen, gefoltert mit Elektroschocks, meine Nation. Wir sind Soldaten Nuyomas, wir sind Kämpfer der PLAN, meine Nation. Die SWAPO ist standhaft und bereit. Das koloniale Joch wird die SWAPO zerbrechen.

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Notation des Liedes „Ndamono Vakwaita“ von Sabine Zinke

Das prinzipielle Festhalten am Formzahlprinzip afrikanischer Musikpraxis in diesem speziellen Fall hatte wohl am ehesten

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin) ideelle Gründe. Wie ich heute meine, war die Frage sehr sinnvoll, auch wenn ich glaube, dass Prof. Jotka sie aus ganz anderen Gründen stellte, als ich sie mir nun vorlege. Sie hat etwas mit unserer langjährig gezüchteten Vorstellung von Geschichte zu tun, in der kein Platz für Zwiespältigkeit zu sein scheint. Alles entwickelte sich so sinnreich vom Einfachen zum Komplexen, vom Lokalen zum Globalen. Oder?

Wandzeichnung im Schloß Bellin, der einstigen Schule, in die die namibischen Kinder gingen: Ovambo-Dorf mit Mecklenburger Schafen

Dabei gab es viel Widersinniges, etwa die unglücklich hergeleitete Ablehnung von Herkunfts- und Abstammungsprinzipien in der Begründung des Nationalen, doch zugleich die penible Suche nach kulturellen Beweisen für Herkunft und Abstammung. Die Diskussion von progressiven Neuerungen im sozialen System und die Geißelung sozial heterogener Kulturbegegnungen, wie sie in kolonisierten Gebieten weltweit üblich war, lag ebenfalls quer

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musik welt bilder zum modernen ganzheitlichen Denken, das freilich Diskontinui-täten, Parallelentwicklungen, Formalintegrationen und Sinnrekon-struktionen in kulturellen Dokumenten erklärt, die so klar in eben jenem Gesang eingefangen waren.

„Shiwana shange!“ – Meine Nation! – hallte im Garten die tiefe Schlusszeile des Vorsängers nach. Die folgende Mehrstimmigkeit des Chores ist ihrem Wesen nach eine aktuell wirksame Mischung aus tradtioneller Stimmteilung und generalbassgeneriertem Choralgesang. Die Grenze in der rhythmischen Interpretation ist so undeutlich, dass wir sie nicht bestimmen können, sie mag zudem für jeden der Singenden unterschiedlich starke Bedeutung haben.

Heute wundert mich daran, warum wir so fixiert waren auf diese definitorischen Bestimmungen. Wozu eine solche Verschwen-dung wissenschaftlicher Energie auf Eindeutigkeiten, wenn doch gerade musikalische Äußerungen vom Alternativen leben? Es sind stets die Möglichkeiten, die reizen, nicht die Festlegungen. Sicher, der Text zeigt Festgelegtes, doch auch er ist sinnlich alter-nativ und dient – ebenso möglicherweise – der Schallformung mehr als der Verbreitung von Ideologie, die sich ganz unabhängig von ihm allein durch die musikalische Verquickung verschiedener Teilsysteme in der rhythmischen Interpretation ausdehnt. Daher halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass zumindest von einigen Sängern das Lied ganz anders gedacht wurde.

Widerstrebend lenkte Sabine ein, dass es sicherlich Einige gäbe, die das Lied auftaktig empfinden, aber es würde auch auf das Formzahlschema passen und da in der gleichen Kategorie ja auch ungewohnte, also nicht in die Choralauffassung übersetzbare, Gesänge existierten, wäre die „afrikanische“ Lösung wohl am ehesten richtig.

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin)

Reinterpretierte Notation von „Ndamono Vakwaita“

Kratzend spulte sie die B-Seite der Kassette zurück. „Da“ rief sie und erhob sich, Prof. Jotka fest anblickend. Der nächste Gesang klang eher wie ein flotter Marsch, allerdings nicht auftaktig:

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin)

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Notation des Liedes „Vanyasha va Namibia“ von Sabine Zinke

War das nun „afrikanischer“, „namibischer“, mehr „ovambo-gemäß“? Kann man Herkunft und Kulturalität überhaupt stei-gern? Oder anders herum: Erlaubt diese Frage gar ein Entweder-Oder?

Der zweite Gesang22, gesungen von Sabines Schützlingen fern der Heimat, klingt etwas zu schnell und unstet. Den Kindern gefiel 22 Deutsche Übersetzung des Textes: Jugend Namibias, kommt um zu kämpfen! Steht vereint zusammen, wie die SWAPO es will. Euer Zuhause, euer ständiges Zuhause, nehmt dafür die SWAPO, so daß ihr dem richtigen namibischen Weg folgen könnt. Wir lieben unser Namibia. So ist der Frosch geborgen in seiner Winterhülle. So liebt (braucht) der Stiefel den Weg. So liebt die Zunge die Zähne (ist durch sie geschützt). Auch wenn man versucht, uns irrezuführen, wir vertrauen Sam. Weil er die erste Persönlichkeit war, die wir sahen mit einer Waffe in der Hand. Die Buren haben unser Land erobert. Die

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin) vor allem der kraftvolle Stimmsatz, das war sehr wohl zu hören, doch der Text konnte ihnen kaum mehr als ein abstraktes, fernes Ideal bedeuten, eine romantische Träumerei, die nicht wirklich existierte.

In der Musik selbst, im Klang des gemeinschaftlichen Gesangs lag dieser Traum begründet, der Text transportierte nur die Stimme nach außen. Möglicherweise ist genau das ovambo-gemäß, denn auch in diesem komplexeren Gesang gibt es kaum eine Interpretationsgrenze zu folgender rhythmischer Auffassung, die am ehesten einen raschen Vier-Viertel-Takt meint:

Beide Möglichkeiten sind also gegeben und es ist eine Frage des Hinhörens und Dabeiseins, die aktuelle Gültigkeit für den kleinen relevanten Ausschnitt aus der Geschichte dieses Gesangs zu fin-den. Für Sabine sollte sie offenbar gerade deshalb afrikanisch begriffen werden, weil sie so nah der eigenen Kultur zu sein schien. Der Gedanke, dass hier einfach Strukturen gebraucht und essentiell wiederverwendet wurden, die sich ideell einer fremden, und doch angeeigneten Herrschaftskultur zuordnen ließen, passte nicht zur Moral des Textes.

Doch Moral hin und her, diese Übergangsmusik, volltönend und mächtig, im Denken ihrer Produzenten nicht einheitlich definier-bar und doch lebendig, ist eine Musik, die zur letzten ihrer Art gehört. Sabine wusste das nicht, als sie diese Gesänge zum ersten Mal im angolanischen Busch von Kwanza Sul hörte. Im Gegen-teil, sie glaubte an deren Zukunft, an die Kraft der von Massen-liedern ausgehenden Ordination, die außerhalb stiller Einzel-

SWAPO kam mit ihren Zielen. Steht vereint zusammen, wie die SWAPO es will.

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musik welt bilder schicksale große Menschengruppen friedlich miteinander umge-hen lässt.

Reinterpretierte Notation von „Vanyasha va Namibia“

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Kreuzberger Kapuzenshirt (Berlin) Prof. Jotka war weit entfernt von dieser Welt des Denkens. Für ihn klang es wie ein zu schneller Marsch, gesungen von Halb-wüchsigen. Die Halbwüchsigen gibt es nicht mehr, es wird sie so nie wieder geben. Die Musik ist länger geblieben, doch seit der Text an der Realität in Namibia hart geprüft wurde, gleicht sie einem verhallenden Echo, nostalgisch, entkräftet, blass. Sie wird Geschichte. Jetzt.23

Ich denke oft an diese symbolisch unproportionale und zugleich skurrile Begegnung wenn ich mir im Archiv Videosequenzen und Fotos anschaue, die Sabine gemacht hatte. Ihre namibischen Kinder trugen auch Kapuzenshirts, sie sind inzwischen längst erwachsen und ebenso glücklich oder unglücklich wie alle Erwachsenen.

Sabine ließ ihr Leben bei einem tragischen Autounfall in Nami-bia, nachdem sie es endlich erreicht hatte. Ihre Schützlinge sangen ihr zu Ehren ein letztes Mal die Lieder, die ihr so viel bedeuteten und gaben ihnen vielleicht schon eine anderen Sinn.

23 In Sabines Manuskripten fand sich folgende Anmerkung: „Namibier selbst äußerten sich in dem Beitrag "The cultural dimension of the anti-colonial struggle in Namibia", der 1984 in der Zeitschrift "Namibia today" erschien, folgendermaßen zum stattgefundenen musikalischen Wandel in ihrem Land: "Like all other aspects of the Namibian people's culture, traditional music did not, however, remain unaffected by the dominant cultural influence of the ruling alien group. The rather widespread acceptance of Christian religion, over a period of one and half a century, has made a significant imprint on the Namibian music. There has been a strong infusion of religious content into it. The exciting rhythms of the traditional African drum music was, to a large excent, replaced by the solemn melody of Christian religious songs.” Die handschriftlichen Notationen sind Reproduktionen aus dem Manuskript der Dissertation von Sabine Zinke, dargestellt mit freundlicher Genehmigung von Herbert Zinke.

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua)

Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua)

Winterliches Sam Neua, Hauptstadt der Provinz Huaphan im Nordosten von Laos

Von ganz oben, von der Bergkuppe her sah ich geblendet vom Licht hellbraun auf mittelbraunem Grund einen Jungen näher kommen, auf einem rostigen Damenfahrrad langsam an Fahrt gewinnend. Er fuhr im Stehen den lehmverklebten Weg herunter, denn seine kurzen Beine hätten im Sitzen die Pedale nicht errei-chen können. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben als er unseren Jeep auf sich zurollen sah, der die ganz Breite der bei-den ausgefahrenen Reifenspuren einnahm. Es war zu spät zum Umdrehen. Die Bremse am Fahrrad funktionierte nicht, weil die kleine Hand des Jungen nicht gleichzeitig den Lenker festhalten und nach ihr greifen konnte. Ausweichen blieb die einzige Mög-lichkeit. Rechts ging es steil bergan, links steil bergab, nur einige

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musik welt bilder dornige Sträucher befestigten die nirgends ordenltich verzeich-nete Überlandstraße oberhalb des Sam-Flusses in der laotischen Provinz Huaphan. Mit schreckgeweiteten Augen und offenem Mund warf sich der Junge in die Sträucher, das Fahrrad rutschte unter den Jeep. Schließlich standen wir. Der Motor verstummte, die Karosserie vibrierte. Instinktiv griff ich nach der Türverrie-gelung und wollte aussteigen. Meine Kollegin hielt mich zurück: „Warte!“. „Worauf soll ich warten?“ fragte ich ungeduldig, jede Minute wäre doch kostbar, womöglich bräuchte der Junge unsere Hilfe. „Nein“, meinte sie nachdrücklich, „er ist ein Lao Sun“. Der Jeepfahrer blickte meine Kollegin schräg an und bemerkte schüchtern: „Aber wir können nicht weiterfahren. Das Fahr-rad...“. Sie gab widerstrebend auf, sich prinzipiell zu weigern: „Geh’ du und schau nach!“, sagte sie zum Fahrer und blickte demonstrativ in eine andere Richtung zum Fenster hinaus, als wolle sie nicht Zeugin der Begegnung werden, als wäre der Junge schuld an ihrer augenblicklichen Verstimmung.

Um verstehen zu können, was sich hier abspielte, reichen blanke Fakten nicht. Ein ganz klein wenig Geschichte und sehr viel mehr individuelle Kenntnis der Lebensanschauungen meiner Kollegin sind nötig, um zu erahnen, wie vielschichtig sich Konflikte gestalten können, die nicht mit den oft vereinfachenden ethnopsychologischen Mustern erklärbar sind. Meine Kollegin mit Namen Sivilay, abgeleitet von dem Falang24-Fremdwort „civilisation“ und sowohl beliebter Männer- als auch Frauen-name, meinte mit „Lao Sun“ die sogenannten Berglaoten. Obgleich es in Laos mindestens 45 verschiedene Ethnien gibt, teilen die modernen Laoten, die tatsächlich auch ethnische Lao-ten sind, ihre Bevölkerungsbestandteile in Berg-, Ober- und 24 Falang meint „France“ und bezeichnet sämtliche Ausländer

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) Unterlaoten ein, wobei die Unterlaoten, diejenigen also, die unten wohnen, die Mehrheit ausmachen und im Prinzip an der Macht sind. Das erspart ihnen Unterscheidungen im kulturellen und sozialen Standard, die möglicherweise verwirrend sein können. Nichtsdestotrotz sind Unterschiede vorhanden, viele tatsächliche und viele imaginäre, über Jahrzehnte hinweg hartnäckig gepflegte Vorurteile. Der Krieg, einer der Lieferanten jener gepflegten Vorurteile, lag inzwischen über 25 Jahre zurück und doch wurde selbst der kleine Fahrradfahrer, der kaum älter als 11 Jahre alt war, mit der Last seiner Volksgeschichte beladen und hat zu büßen für Verrat und Arroganz, zwei komplett an den Haaren herbeigezogenen Gründen für die instinktive Ablehnung der Berglaoten durch die Unterlaoten. Dabei haben beide Schuldka-tegorien zwei ganz unterschiedliche Intentionen. Die eine Gruppe der unterlaotischen Nationalisten bezichtigen die Hmong einer infamen Auslieferung an die Viet Công durch ihre unermüdliche Bereitschaft, den einstigen Ho-Chi-Minh-Pfad intakt zu halten. Das bescherte Laos, dem nie der Krieg erklärt worden war, mehr Bombenabwürfe als alle Bombenabwürfe des Zweiten Weltkrie-ges zusammengenommen. „Das hätte nicht sein müssen“, mei-nen die Unterlaoten, die etwas zu verlieren hatten. In deren Augen sind die Berglaoten deshalb arrogant, weil sie sich dadurch sogar in der Regierung gutversorgte Posten sichern konnten. Schließlich gab es sogar Zeiten, da spielte man in Regierungskrei-sen mit dem Gedanken, die gesamte Hauptstadt vom Mekong in die Provinz Huaphan zu verlegen.

Es gab aber auch die entgegengesetzte Begründung: Die Hmong hätten – wann immer sie konnten – mit den Amerikanern gemeinsame Sache gemacht. Sie hätten mit viel Gewinn ihr Opium verkauft, ihre Infrastruktur und ihre Ortskenntnis ange-

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musik welt bilder boten, um sich Privilegien zu sichern. Schließlich wären die Hmong diejenigen, die von allen in Laos lebenden Völkern pro-zentual die meisten Verwandten in den Vereinigten Staaten hät-ten, die am besten extern versorgt würden.

Obwohl es zahlreiche Beweise für beide Auslegungen zu geben scheint, vermute ich real andere Hintergründe, die sowohl histo-risch als auch sozial wesentlich weiter zurück und tiefer liegen. Da wäre die zelebrierte Autarkie zu nennen, die damit einherge-hende Unabhängigkeit, die wiederum Genügsamkeit und einen gänzlich anders dimensionierten Familiensinn erfordert. Während die männlichen Unterlaoten mit Fingern auf die Hmong-Polyga-mie zeigen – aus Neid, versteht sich -, fürchten sich die weibli-chen Unterlaoten vor der harten Arbeit, die jedwede Autarkie erst ermöglicht. Andererseits wünschten sie sich, dass ihre Männer ebenso umfassend für sie sorgen könnten wie es Hmong-Männer tun. Die Zwiespältigkeit hat also eine besondere Form des Neids zur Ursache, die es bereits über Jahrhunderte gegeben haben mochte. Sivilay, meine Kollegin, hatte dies nicht nur instinktiv verinnerlicht, sondern, und das zeichnete sie besonders aus, sie glaubte auch daran und nährte diesen Glauben mit unzähligen Räuberpistolen über Unfälle, Morde, Hinterhältigkeiten und Betrügereien, um der Versuchung, sie doch mehrheitlich wie ihresgleichen zu betrachten, besser widerstehen zu können. Waren wir im „Lao-Sun-Gebiet“25 unterwegs, schloss sie sich stets ein, selbst wenn sie nur kurz etwas in ihrem Zimmer holen

25 Genau genommen müssten zu den Berglaoten auch die Iu Mien, die Akha, die Karen und noch einige andere gehören, doch diese Völker, weiter nördlich von Huaphan beheimatet, wurden von den meisten zivilisierten Unterlaoten als „Wilde“ noch weiter herabgesetzt. Das Misstrauen gegenüber den Hmong stellte sozusagen auch eine Form von Respekt dar.

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) wollte. Sie trug auch sämtliche Barschaft immer mit sich herum in einem ausgeblichenen orangefarbenen Rucksack, obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Raubüberfalls außerhalb geschlossener Räume um ein Vielfaches höher lag als in einem Gästezimmer. Da die größte Banknote mit 20.000 Kip etwa 2,5 US-Dollar aus-machte, ist ungefähr kalkulierbar, wie schwer der Rucksack war, wenn wir umgerechnet 2000 Dollar unterwegs brauchten, und davon der größte Teil in den üblichen kleinen 1000-Kip-Schei-nen, deren Gegenwert ungefähr 12 US-Cent betrug.

Die Situation hatte ich indessen selbst verschärft, indem ich mich über ihr irrationales Sicherheitsbedürfnis lustig machte. Sie wollte mir nun ständig beweisen, wie recht sie mit ihrem Glauben an das Böse hätte. Der kleine Junge traute sich jedenfalls nicht gleich aus seinem Rettungsstrauch hervor. Beherzt stieg ich nun doch mit aus und suchte nach ihm. Der Strauch wackelte, ich hörte ein heftiges Atmen und griff dann nach einer empor gereckten Hand. Erst widerstrebend wand er sich heraus und sah mir verblüfft ins Gesicht. Er hatte sich seine Arme zerkratzt und Schürfwunden an den Handballen, nichts Schlimmes, doch der Todesschreck hatte ihn erwischt. Er schluchzte trocken und schielte an mir vorbei zu unserem alten Jeep, einem altersschwachen S 2000 von undefi-nierbarer olivgrüner Farbe. Sivilay schaute missmutig in Richtung Fluss. Ich wollte sie nicht mehr als nötig provozieren und ver-mied ihr Blickfeld. Der Junge folgte mir hinter den Wagen und griff dort nach seinem verbeulten Fahrrad. Den Lenker hatte der Fahrer schon wieder gerade gestellt. Einen ewigen Moment lang blieb der Junge wie angewachsen stehen und starrte uns an, als warte er auf etwas. Erst nach einem weiteren ängstlichen Blick zu der Frau im Auto besann er sich und ging seltsam watschelnd im

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musik welt bilder klebrigen Lehm davon, das Fahrrad schiebend und immer wieder ungläubig zurückblickend.

Wir stiegen wieder ein und fuhren die paar Kilometer bis zum nächsten Dorf. Im Auto herrschte eisiges Schweigen. Das Gro-teske an der gesamten Situation war die Wortlosigkeit, mit der all das geschah. Während mir ziemlich klar war, was meine Kollegin Sivilay dachte, war ich doch neugierig darauf, was sich wohl der Junge dachte, welche irrationalen Gründe existierten für seine Angst, warum war er nicht ein bisschen erleichtert, dass ihm nichts passiert ist, was hatte er eigentlich erwartet? Fragen über Fragen, die sich nicht schnell beantworten ließen.

Wir erreichten das Dorf an der Strecke nach Phonsavan. Dort wartete unser Kollege Duangmixay, der selbst zu den Berglaoten zählt, doch schon ewige Zeiten mit den Unterlaoten in der Hauptstadt arbeitet und deshalb für die hier lebenden Hmong wie ein aus dem Ausland heimkehrender Verwandter wirkte. Er war morgens mit dem Bus vorgefahren, um uns anzukündigen. Das Dorf hatte noch einige der wirklich seltenen Gesänge zu bieten, die wir aufzeichnen und der Nachwelt erhalten wollten. Nur kurz schossen mir ein paar Fragen durch den Kopf: Welche Nachwelt eigentlich? Die allgemein laotische? Die allgemeine Welt als sol-che? Mehr für unsere oder mehr für ihre Welt? Ich konnte darüber in der Kürze der Zeit nicht nachdenken, also bemühte ich mich erst einmal um den rein technischen Erhalt.

Das Erlebnis mit dem jungen Fahrradfahrer steckte mir noch in den Knochen, außerdem war ich müde und irgendwie übertrug sich auch ein Funken Übellaunigkeit von Sivilay auf mich, was insgesamt zu einer Art Müdigkeit führte, die zwar apathisch machte, aber auch konzentriert auf das Notwendigste. Im Haus des Dorfchefs, wo die Vorführung stattfinden sollte, drängte sich

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) bald das ganz Dorf zusammen. Sie standen ganz stramm an den Holzwänden, deren Querbretter schuppenartig übereinander montiert waren. Das unterste Wandbrett fehlte jeweils und so sah man mitunter ein paar Hühnerbeine außen vorüberlaufen. Um ein bisschen Licht zu haben, musste die Tür offen bleiben, denn es gab keine Fenster. Sorgfältig kleideten sich die Mädchen und Burschen an. Die relativ niedrigen Temperaturen machten es leicht, mehrere Lagen Röcke und Schärpen, grellbunt mit winzi-gen Mustern und Silberschmuck bestickt, übereinander zu ziehen und so zu einer respektierlichen Person heranzuwachsen. Der eigentliche Star war allerdings ein alter Herr, der nur in seinen schlichten schwarze Bauernhosen und einer einfachen indigo-gefärbten Jacke erschienen war.

Mister Yengpauly aus dem Dorf Vanglom bei Sam Neua

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musik welt bilder Er saß auf einem der ungepolsterten Betten ganz vorn auf der Kante mit übergeschlagenen Beinen und schaute uns beim Aus-packen der Geräte zu. Er war sehr dünn und zerbrechlich, seine Augen lagen tief in den Höhlen, doch sein Haar war noch raben-schwarz. Dunagmixay ging herum und unterhielt sich mit den älteren Leuten in deren Sprache. Er stellte uns noch einmal allen vor und bat um absolute Ruhe während der Aufnahmen. Diese oft vorgetragene Bitte hatte eher symbolischen Wert. Wenn jetzt auch jeder nickte und ein Zischen durch den Raum fegte, so war uns doch klar, dass die Konzentration der Neugierigen niemals länger als 2-3 Minuten anhielt. Das Maximum waren einmal etwas mehr als 4 Minuten. Ich schickte Sivilay als Kontrolle herum. Sie sollte mit scharfen Blicken und deutlicher Mimik für ein besseres Gedächtnis sorgen. Dieser ungeliebte Job verbesserte ihre Laune nicht, dennoch war mir die Aufgabenteilung so lieber, denn das Technische lag ihr noch weniger. Im Grunde war sie nur in unse-rer Mannschaft gelandet, weil man für sie auch in den anderen Abteilungen der Laotischen Nationalbibliothek keine Verwen-dung gefunden hatte. Duangmixay hatte zwar einen guten Willen, war aber eben doch durch und durch Mann. So konnte ich ihn nur mit gleichwertigen Aufgaben belästigen. Er sollte bei den Aufnahmen assistieren und Protokoll führen.

Wir begannen mit dem alten Mann. Duangmixay platzierte ihn auf einem Hocker vor das Bettgestell, die beiden Mikrofone hielt ich selbst. Im letzten Moment vor dem Luftholen rutschte er mitsamt Hocker doch wieder zurück, so dass mir nichts weiter übrig blieb als meine beiden Arme, bestückt mit je einem Mikro-fon von ca. 400g Gewicht, weit auszustrecken um die Richtcha-rakteristik und damit die Abschirmung vor dem allgemeinen Gemurmel im Hintergrund wirksam werden zu lassen. Das Stück

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) dauerte exakt 5 Minuten und 24 Sekunden. Danach fielen mir beide Arme ab. Ich habe es vor allem deshalb durchgehalten, weil der Gesang tatsächlich etwas Besonderes war. Yengpauly, so hieß der Mikrofonflüchter, war ca. 60 Jahre alt und verstand die Kunst der Wiederholungsvermeidung ausgezeichnet. Ohne auch nur einmal zu Stocken trug er ganz konzentriert vor all den Bekann-ten, deren Anwesenheit sich gewöhnlich extrem hemmend aus-wirkt, seinen Gesang vor. Ab und zu blickte er Duangmixay an, der nervös auf den Aussteuerungspegel achtete.

Transkription des Gesangs „Leuangtengdong“

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musik welt bilder Der in ungleich lange Zeilen strukturierte Vortrag war so span-nend, dass Sivilay kaum Arbeit hatte. Alle lauschten, sogar die Hühner verkniffen sich ihr Gegacker.

Kaum hatte Yengpauly geendet, schob sich die Tür weiter auf und unser Unfallopfer erschien mit einer Katze unter dem Arm. Sofort zischte man auf ihn ein, doch er drängelte sich mutig wei-ter vor, ohne auf das Raunen zu achten. Als nächstes spielte Yengpauly auf seiner Mundorgel. ich bat ihn, erneut näher heran-zurutschen und setzte mich etwas bequemer hin. Viele Male hatte man mir angeboten, doch ein Stativ für die Aufnahmen zu be-nutzen. Doch auch diese Situation bewies, wie unmöglich es war, mit Stativ zu arbeiten. Von hinten wurde ich nicht selten be-drängt, ein Stativ wäre längst umgefallen. Zudem war der Boden aus festgestampften Lehm so uneben, dass ein Stativ keinen festen Stand haben konnte. Jede Positionsveränderung der Musi-zierenden würde eine langwierige Nachjustierung erfordern. Mit anderen Worten, Stative sind unter diesen Bedingungen einfach uneffektiv, ganz abgesehen davon, dass wir oft weite Strecken zu Fuß unterwegs sind und uns über jedes Stück zusätzliches Gepäck ärgern. Die Schattenseite des stativlosen Aufnehmens ist die damit verbundene sportliche Herausforderung, die zu einem psychosensorischen Extrem wird, wenn fliegende Insekten ins Spiel kommen. Zum Glück war es kalt genug, dass nicht noch die Hitze zu ertragen war.

Während Yengpauly auf seiner Mundorgel spielte, gingen meine Gedanken einen Tag zurück. Wir hatten Viangxay besucht, die Beinahe-Hauptstadt von Laos mit ihren Höhlenquartieren, in denen einst der Generalstab untergebracht war und dem Kriegs-museum, das den Taten des großen Heerführes Kayson Phomvi-han huldigte.

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) Auf dem Rückweg hielten wir in einem nahegelegenen Dorf, das von bizarren Kalksteinfelsen umgeben war. Es hieß Phuxay und hatte eine wunderschöne Ballwiese. Dies ist der Ort, wo um Neujahr herum die jungen Mädchen mit den heiratsfähigen Jüng-lingen durch Ballwürfe kommunizieren. Die jungen Leute singen dabei lange vielzeilige Lieder nach bestimmten Mustern. In diesen Liedern fragen sie sich gegenseitig aus. Lässt einer der Partner verwirrt durch Gesang und Fragen den Ball fallen, ist ein Pfand fällig, meist ein Kleidungs- oder Schmuckstück. Da im Winter viele Sachen übereinander getragen werden, besteht kaum die Gefahr, dass einer der beiden am Ende ohne etwas dasteht. Und doch wird anzüglich gekichert, wenn die Wäsche dünner wird. Während sich die Jungen auf diese Art amüsieren, stehen die Alten am Rande der Ballwiese und diskutieren über die Kandida-ten, über deren Familien und die Schicksale ihrer Angehörigen. Es ist oft die einzige Zeit im Jahr, zu der sich alle diesen bren-nenden existenziellen Fragen widmen, für die es nicht genügt, eine Arbeitspause einzulegen. Ein bereits glücklich Verheirateter lud uns ein, die umliegenden Kalksteinhöhlen zu besichtigen und wir gingen mit ihm. Sivilay, die unsere gesamte Reise zu den Berglaoten nicht genießen wollte, blieb im Auto zurück, klappte den Sitz zurück und versuchte, alle Gepäckstücke über Schulter-riemen und Griffe auf dem Schoß gesichert, zu schlafen.

Die Höhlen waren riesig. Hier hatte man einst ganze Kranken-häuser, Schulen, Fabriken und Verwaltungen untergebracht. Ich konnte mir nun ungefähr eine lebensnahe Vorstellung davon machen, wie aussichtslos das Unterfangen der Franzosen, Japaner und Amerikaner gewesen sein muss, Indochina auf irgendeine Art physisch einzunehmen. In Gedanken vesunken schlenderten wir

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musik welt bilder zurück ins Dorf. Plötzlich drang ein kratzender und zugleich quietschender Laut an mein Ohr, eine Spießgeige, wie mir schien.

Onkel Hoe Xaicheu (rechts) mit seinem Bruder im Dorf Phuxay bei Viangxay

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) Ich bat unseren Begleiter, den Musikanten in seine Hütte zu ein-zuladen, damit wir ihn aufnehmen können. Duangmixay hatte es plötzlich eilig, zurück zu den jungen Mädchen auf die Ballwiese zu kommen und ließ mich mit ihm allein. Der Begleiter lachte nur und meinte, dass dies sein Onkel sei, der sowieso bei ihm wohne. Dieser Onkel mit dem Namen Hoe Xaicheu, 38 Jahre alt, machte einen sehr gepflegten Eindruck. Er trug neue Tennissocken in seinen aus Autoreifen geschnitzten Sandalen und ein Sakko aus braunem Stoff über seinem grellblauen Strickpullover. Frisch rasiert und duftend empfing er mich. Wir setzten uns und tranken etwas Wasser aus dem allgegenwärtigen Abkochkessel. Ich fragte ihn, ob er viel Musik mache. Ich hätte Glück, meinte er, denn gestern war er als Musiker auf einer Neujahrsfeier in der Distrikt-hauptstadt geladen und morgen würde er in Viangxay erwartet. Nur dieser eine Tag blieb ihm zur Erholung, und so konnte ich ihn überhaupt zu dieser Stunde an diesem himmelklaren Winter-tag antreffen. Er wusste eben nicht, dass wir uns auch an anderen Orten hätten begegnen können, dass ich ihn gewiss in ganz Huaphan aufgespürt hätte, wäre mir nur seine Person tatsächlich so wichtig gewesen. Doch Berühmtheiten nehmen gern nur ihre Eigenbewegung wahr und das ist gar nicht so schlecht, so kon-zentrieren sie sich wenigstens auf das Ihnen Wesentliche. Ich entschuldigte mich für einen Moment und bat ihn, unterdessen seine anderen Instrumente zu suchen. Sivilay saß noch immer unbequem verkrümmt im Auto und schniefte schlafend. Ganz vorsichtig zog ich die Gerätetasche und die Aktenmappe heraus, um sie nicht zu wecken. Wieder im Hause der beiden Männer angelangt, packte ich sogleich ganz geschäftig und ernst die Geräte aus und steckte alle Kabel sorgfältig zusammen. Mein junger Begleiter half mir beim Halten der Mikrofone. Onkel Hoe Xaicheu setzte sich ordentlich zurecht und nahm zunächst seine

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musik welt bilder Pi, ein Durchschlagzungeninstrument mit Grifflöchern, das ich besonders mochte, weil es seinen herben und doch warmen star-ken Klang geradezu verströmte und zwar auf eine Art und Weise, dass einem die Pausen vorkamen, als wäre man unter Wasser getaucht. Sein Spiel begann nicht mit Musik, sondern mit einer kurzen Rede, die er direkt an mich richtete. Der vielbeschäftigte Onkel kannte allerdings nur eine ausländische Anrede, die er auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte und stets benutzte und so tat er es auch in meinem Fall und nannte mich „Mister“, was aus seinem Munde etwa Missetär“ klang.

Transkription des pi-Stückes von Hoe Xaicheu

Ich verfolgte seine Rede mit ernstem Gesicht und war gespannt auf sein Spiel. Zurecht, wie sich herausstellte, denn er war tat-sächlich ein Künstler auf diesem Instrument, der sich sehen las-sen konnte. Beinahe endlos konnte er jeweils unterschiedliche

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) Zeilen spielen, die sich trotz des geringen Tonraums nicht ähnel-ten. Seine Phantasie war bemerkenswert, die Liegetöne flossen schwingend und rein daher, die Pausen tauchten mich in ein inne-res Echo, ganz wie ich hoffte. Deshalb bereute ich keine Sekunde lang, den Onkel an diesem himmelklaren Wintertag getroffen zu haben.

Die Spektralanalyse zeigt deutlich, wie sauber Onkel Hoe Xaicheu seine Pi blies und wie „leer“ die Pause war.

Eine ganz ähnliche faszinierende Musik strömte nun aus der Mundorgel von Yengpauly. Der Ton war so stark, dass er das inzwischen einsetzende Flüstern und Raunen der Zuschauer übertönte. Mein Blick wanderte durch den Raum. Entsetzt sah ich, dass auch Sivilay mit einer älteren Frau flüsterte. Auch ihre Konzentration reichte jeweils nur für eine kurze Zeit. Ich ver-suchte, ruhig zu bleiben. Nach diesem Stück schickte ich jedoch wieder Duangmixay los, er solle die Zahl der Gäste reduzieren. Bewährt hatte sich dabei die Methode, so zu tun, als ob man mit dem Aufnehmen aufhöre und fertig mit der Arbeit wäre. Die Leute würden sich allmählich zerstreuen und in ihre Hütten zurückkehren. Hier wirkte es aber absolut nicht. Als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet, belagerten sie uns nun, wollten

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musik welt bilder das Aufgenommene hören, die Bilder in der mitlaufenden Kamera sehen, in unsere Taschen schauen, unsere Kleidung befühlen und an meinen blonden Haaren ziehen. Dagegen konnten wir nichts tun. Ich fixierte mit Blicken den Fahrradjun-gen, er schien mich zu verstehen und suchte nach einem Ausweg. Unbemerkt ließ er seine Katze vom Arm herunter und rief mit schriller Knabenstimme etwas. Sofort begann eine Suche nach der Flüchtigen. Im Hause hielt man Entenkücken, so reichte die Aufregung aus, um von uns abzulassen und sich dieser dringen-deren Aufgabe zuzuwenden. Duangmixay lief den Musikern hin-terher, um Ihnen klar zu machen, dass wir noch nicht fertig sind, sondern nur eine kurze Pause machten. Sie versammelten sich in ihren farbenprächtigen Kleidern vor der Tür. Er gab ihnen Ziga-retten, obwohl er selbst nicht rauchte. Nach der zweiten Auf-nahmerunde war ich sehr müde und sank auf dem Bettgestell einfach zur Seite, nur, um für einen kurzen Moment die Augen zu schließen.

Eine Stunde später erwachte ich und blickte direkt in das Gesicht des Fahrradjungen. Mir war, als träumte ich noch. Es roch nach gekochtem Reis und Schweinefett. Ich überwand mich und stand auf, folgte dem Jungen zu Tisch in die Nachbarhütte. Noch war es nicht soweit, man reichte zuerst das Schnapstablett herum. Dem wollte ich dringend entgehen und entschied mich, eine Sanitäranlage zu suchen. Eine Frau führte mich hinter das Haus zu einem Verschlag. Ich ließ mir alle Zeit der Welt. Dennoch erwartete mich die Frau wieder vor der Tür. Also bog ich vor dem Grundstück herunter in Richtung Fluss. Sie folgte mir und zeigte auf allerlei Pflanzen. Dabei wiederholte sie immer wieder deren Bezeichnungen. So spielten wir ein Weile Vokabeltraining. ich fragte sie nach ihrer Familie aus. Der Fahrradjunge war einer

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Fahrrad fahren in Huaphan (Sam Neua) ihrer 6 Söhne. Ich sagte nichts weiter, fragte aber, was er denn einmal werden möchte. Sie antwortete „Ladelennefahle“26 und lachte. Für einen winzigen Augenblick glaubte ich schon, sie wüsste von dem Unfall, doch dann lachte ich auch.

Das Weg in die Welt: öffentlicher Transport von Sam Neua in die Landeshauptstadt Vientiane

26 heißt Radrennfahrer. Ein Wort, dass sie von deutschen Radsportlern aufschnappte, die Huaphan und das auf vietnamesischer Seite liegende Lang Son durchradelt hatten. Sie waren 3 Tage zu Gast in Vanglom, weil sie ihre Drahtesel reparieren mussten. Unser junger Freund war zu jener Zeit gerade 6 Jahre alt und trieb sich immer im Reparaturschuppen herum.

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Tadasuni beerdigt Johannes Paul (Sardinien)

Am Lago Baratz, ganz im Nordwesten Sardiniens, findet sich neurdings auch der sardische bzw. der tyrrhenische Laubfrosch, ein wundersames kleines gelbgrünes Amphibientier, des jedes Klischee eines Frosches erfüllt. Er ist von anpassungsfähigem, genügsamen Wesen und liebt die Blütenstauden gewässernaher Pflanzen als Köder für seine eigentliche Beute.

Der sardische Laubfrosch ist nicht aus dem Nahen Osten einge-wandert, wie einst vermutet wurde, sondern ist quasi ein Euro-päer mit Emigrationshintergrund. Aus dem Norden kommend erreichte er die Mittelmeerinseln Capraia, Île de Cavallo, Elba, Monte Christo, Korsika und Sardinien sehr wahrscheinlich über eine Landbrücke. Ja, er ist einer der lebenden Beweise dafür, dass sehr wahrscheinlich eine solche gab, denn Amphibien tolerieren in kaum einer Dosierung Salzwasser. Und nun siedelt das putzige Tierchen ganz fröhlich seit tausenden Jahren an den insularen Binnengewässern. Die männlichen Exemplare besitzen große Schallblasen, die für den ohrenbetäubenden Krach27 verantwortlich sind, der an eine Meute japanischer Touristen erinnert, die einen Souvenirladen in Singapur erstürmen und mit wachsender Begeisterung und sich gegenseitig anfeuernd eine Kollektion von Frosch-Schrapern ausprobieren.

27 Paarungsrufe werden untersucht nach Frequenz, Dauer und Anzahl der Pulse. So soll es „Sexueller Selektionsdruck durch die weibliche Partnerwahl“ sein, der den Klang stimuliert und hochgradig differenzierbar macht. Siehe dazu: Hotz, H.J.: Paarungsruf und systematischer Status des tyrrhenischen Laubfroschs aus dem Hyla arborea-Komplex. Salamandra 19 (1/2). 1983: 21-28.

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Tadasuni beerdigt Johannes Paul (Sardinien)

Raganella, die organologische Bezeichnung für das animalische Schrapgerät, bedeutet zugleich auch lebendiger Frosch. Nur zur Osterzeit, genauer in der Karwoche, erinnern sich auch militante Tierliebhaber daran, dass sich der Frosch kulturell durch seinen Klang identifiziert. Sardinien ist quasi reich an beiden: hölzernen Osterschrapern und echten sardischen Fröschen. Der Ingenieur Angelo Omodeo, der den nach ihm benannten Stausee entawarf und die Staumauer Santa Chiara in nur 5 Jahren bis 1924 bauen ließ, lockte eine große Froschkolonie an die Ufer des jungen, wachsenden Sees. Das kleine Örtchen Tadasuni, zu jener Zeit fast doppelt soviele Einwohner als heute zählend28, wurde zu einem Urlaubsort mit Seeblick. Neben Fröschen lockt der See auch Angeltouristen und Besucher an, die sich vom stressigen Strand-leben erholen möchten. Tadasuni gedeiht. Der Stausee linderte einst die Not der Bauern schlagartig. Dürrejahre und Hunger verschwanden. Trauer um verlorene Bäume und geflutete Höfe konnte sich gewiss keiner leisten.

Etwa ein Jahrzehnt nach dem Bau der Staumauer wuchs hier der Knabe Don Giovanni heran, der seinen Namen verhöhnte, indem er sich zum Priester weihen ließ. Es mag sehr wohl sein, dass ihn die Laute der Frösche zum Phantasieren brachten und er schon früh daran dachte, alles Quaken und Ratschen seiner einst kleinen Knabenwelt zu sammeln.29 Von ihm wird noch die Rede sein.

28 Im April 2005, hatte Tadasuni (Oristano) 179 Einwohner. Seit Beginn der Volkszählung im Jahre 1861 (332) bis 1936 ansteigend auf (440), stärkster Rückgang fand statt zwischen 1961-1971 um genau 94 Einwohner. 29 Don Giovanni Dore, Tadasuni, Via Adua 7, 0785-50113, zu finden zwischen Altopiano di Abbasanta und Lago Omodeo (Stausee) an der Strada 131.

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Seit nur 150 Jahren zu Italien gehörend, lag Sardinien auf den frühen Weltkarten zumeist auf der Schnittstelle zwischen Orient und Okzident30, in hübsch aufgemachten Kopien also auf der Falzstelle zwischen den Seiten. Die alte katalanische Weltkarte von 1375, die einst dem Sohn des Herrschers von Aragon verehrt wurde und die 1380 ihren festen Platz im Louvre einnahm, zeigte auf der okzidentalen Seite die Westküstenorte, zu denen auch Alghero, Bosa und Oristano gehören dürften, während auf der orientalen Seite nur wenige Küstenmerkmale entlang der Costa Smeralda nördlich von Olbia notiert sind.

Tatsächlich ist Sardinien jedoch so vielseitig in die Geschichte des Mittelmeerraumes eingebunden, allein durch das schiere Alter der dort ansässigen und ausstrahlenden Zivilisationsformen, dass jedes Steinchen im Mauerwerk der unzähligen Kultstätten und der nach ihrem Verfall aus ihnen gebauten Trockenmauern vor Stolz glänzen könnte. Es sollte die Sarden nicht kümmern, welches Bild sich die Welt von ihnen machte: ihre Welt war so fordernd und wunderbar, dass sie sich wohl auf ihre Verteidigung verstanden, aber wenig Antrieb entwickelten, fremde Territorien zu erobern. Die Kartenrandlage hat gewiss etwas Symbolisches.

Italien selbst hat auch Inseln, die nicht von Wasser umgeben sind: Der Vatikan ist eine solche Insel im italienischen Staatsgebilde. Mehr noch, er ist in vielen Dingen einem Meteoriten gleich unbe-rührbar und lebensfern. Als Johannes Paul den Weg alles Irdi-schen nahm, waren es vor allem die aus der Ferne Angereisten, die es exzessiv bekümmerte. Das alltägliche Italien verlangsamte sich lediglich für eine gewisse Zeit. Es wurde emotional etwas

30 vgl. Uhden, Richard: Die antiken Grundlagen der mittelalterlichen Seekarten. In: Imago Mundi Vol. 1 (1935). London, Imago Mundi Ltd. 1935: 1–19.

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stiller und gedämpfter, auch in sonst lebhaften Trauerdingen. So glich das Treiben in der sardo-katalanischen Stadt Alghero31 eher dem in einer mitteldeutschen Kleinstadt als in einem traditions-reichen, italienischen Badeort. An Stelle geschäftstüchtiger Hektik, lautstarker Wortwechsel, tobender und kreischender Kinder, die in den engen Gassen Verstecken und Fangen spielten, erschien eine exotische Beschaulichkeit, die sich möglicherweise tiefer in das Gedächtnis prägte als ihr bedauerlicher Anlass.

Die ungewöhnliche Ruhe und Besonnenheit führte schließlich dazu, dass ich ganz ernst genommen wurde, als ich mich in unse-rem Quartier nach der Musikinstrumentensammlung des Padre Don Giovanni Dore erkundigte. Er würde sicher daheim sein, jetzt wäre schließlich jeder zu Hause. Doch sein zu Hause lag etwa einen Tagesausflug weit von Alghero entfernt.

Wir nahmen die Küstenstraße über Bosa, die in der Saison sonst reichlich von Panoramabussen frequentiert wird doch gerade heute entlang der Steilhänge und Taleinschnitte wie für uns ausgerollt dalag. Die kühle Frühlingsbrise und die sich landein-wärts türmenden Schäfchenwolken machten schläfern.

Schließlich verließen wir die Küste und fuhren landeinwärts bis Sindia und Macomer, kreuzten die Schnellstraße 131 und erreichten Tadasuni zwischen dem Höhenzug Altopiano di Abbasanta und dem Lago Omodeo. Wir erblickten von weitem den dunklen See. Er unterbrach die aufregende Mischung von vielfarbigen felsigen Bergen mit dunklen Hängen, dicht gedräng-ten und lebhaften Städtchen, aus denen wilkürlich geformte Kirchkuppeln und Türme in den Himmel ragten, und die mehr als dreitausend Jahre alten steinernen Nuraghen, ulkigen Kegel-

31 S’Alighera (sardisch), L’Alguer (katalanisch)

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Siedlungen, die wie überdimensionale Wegmarkierungen in der Landschaft herumstanden. Der See war schön, gewaltig und irgendwie fremd. Selbst nach neunzig Jahren Flutung ragten noch tote Baumkronen aus dem Wasser, auf denen sich Vögel versammelten, die Fische und Frösche mögen. Das Ufer schim-merte zwischen rosa und beige in flachen Schichten, die entweder modrig oder hart waren. Kein See zum Baden und Faulenzen.

Die Kirche San Michele prunkte im Zentrum Tadasunis, mit einem runden, recht flachen Kuppeldach über einer einstöckigen Feldsteinhalle, die an der Portalseite weiß getüncht erstrahlte. Im Garten stand ein ungleich hohes Palmenpaar und hob sich vor dem Weiß der Kuppelwand scharf ab. Eine ältere Frau schritt über die Piazza Municipio und schaute beim Laufen zu Boden, als würde sie die einzelnen Pflastersteine zählen. Sie trug schwarz und ihre Unterarme blieben in den Taschen ihrer langen Schürze verborgen. Wir riefen die Signora, nicht laut, aber bestimmt. Sie erwachte aus ihrer Entrücktheit und versuchte, einen Mundwin-kel freundlich zu heben. Der Padre wohne dort drüben, neben der Kirche. Sie würde ihn gleich herüberschicken, er hält gerade eine Andacht, weil das ganze Dorf mit der Beerdigung von Johannes Paul beschäftigt sei. Sie blickte betriebsam drein und schien auch sonst gefasst in ihrem Schmerz. Wir passierten die einzige Restauration an der Hauptstraße und sahen durch die Schaufenster einen riesigen Breitwandbildschirm umrahmt von Fußballtrophäen und Vereinswimplen, auf dem die Direktüber-tragung der Beisetzung in Rom lief. Die Sportsfreunde an der Bar schauten ungewöhnlich aufmerksam zu. Ihre Münder standen ein wenig offen, genauso wie bei Sportübertragungen, um für jeden spontanen Ausruf bereit zu sein. Noch ehe ich zu Ende dachte, dass die heutige Übertragung wohl wenig Spontanes bieten

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würde, ging die Seitentür der Kirche auf und die Signora trat gemeinsam mit dem Padre hinaus ins Freie. Sie lenkte ihre Schritte zur örtlichen Bibliothek, die sie offensichtlich betreute. Täglich von 15 bis 18 Uhr war sie geöffnet. Seit es CDs und DVDs gab, war der Padre einer der wenigen Erwachsenen, die tatsächlich ab und zu richtige Bücher entliehen.

Nicht erst mit der wachsenden existentiellen Sicherheit begann der inzwischen zum Padre avancierte Don Giovanni, seine Sammlung aufzubauen. Auf Reisen von Dorf zu Dorf suchte er nach Klanggeräten, Musikinstrumenten, alten Schellackplatten, Noten, Manuskripten, Theaterkleidung und anderen Utensilien, die er passend und interessant fand. Zehntausende Besucher führte er schon durch sein dickes graues Haus und erklärte mit der ihm eigenen Geduld und Gleichmütigkeit, was es mit seinen Sammlungsstücken auf sich hat. Er tat dies jahraus und jahrein, auch in jenem Jahr, als Johannes Paul von uns ging und der Zufall es wollte, ihm genau am Tage der Beisetzung zu begegnen, weitab vom Zentrum der Trauerfeierlichkeiten, doch inmitten seiner christlichen Welt.

Er ging uns mit festen Schritten voran zu seinem Haus, gebaut aus schweren Feldsteinen, unverputzt, aber so dickwandig, dass wohl kaum ein Laut nach außen dringen konnte, obgleich er so ziemlich alle Geräte, die zur öffentlichen Ruhestörung geeignet sind, unter seinem Dach zusammen getragen hatte.

Gleich hinter dem Eingang faszinierte mich eine „Marmororgel“. Sie bestand aus einem hellen Marmorquader, in dessen oben liegende und ansteigende Seite ein sich in die Tiefe fortsetzendes, schneidendes Würfelmuster gesägt war. Mit einem kleinen Holzklöppel ließen sich die wie Stalagmiten aufragenden Steinstäbe anschlagen und gaben einen gläsernen Klang von sich.

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Skizze der „Marmororgel“ von Tadasuni

Foto des steinernen Unikats

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Das Instrument schien wohl so schwer zu sein, dass es nicht in die Ausstellungsräume des Obergeschosses getragen werden konnte. Möglicherweise war es auch eine zu individuelle, lokale Erfindung, und daher vielleicht unwürdig, in die Reihen authenti-scher Sammlerstücke aufgenommen zu werden. Hier irrte ich, wie sich bald herausstellte. Nachdem wir im Obergeschoss die kuri-ose Zusammenstellung von alten Schellackplatten und Opern-manuskripten, alte handgearbeitete Kostüme und Bordüren besichtigt hatten, betraten wir die eigentliche Schatzkammer. Authentisch schienen die Schätze allemal, doch es fehlte das Dünkelhafte geordneter Präsentation. Harmonikas und Tonpfei-fen, eine exotische Bogenharfe aus Burma und eine Mbira aus Massenproduktion lugten zwischen den verschiedenen Modellen einheimischer Instrumentenproduktion hervor. Die sonore Stimme des Padre, der sich außerordentlich mühte, langsam und verständlich zu sprechen, war die eigentliche Verbindung zwi-schen den Exponaten. Er stand an der Fensterfront und wir saßen wie brave Schüler vor ihm und lauschten seinen Worten und Demonstrationen.

In den Sprechpausen überraschte uns die kühle Stille, die sich zwischen den Mauern ausbreitete. Don Giovanni war in seinem Element. Er klärte uns auf und machte mit einfachen Gesten klar, was er betonen wollte. Und doch schien er uns zu beobachten, als wären wir eine Neuerwerbung in seiner Sammlung. Wahrschein-lich sah er mir die Neugier an, die mich stets in einer solchen Umgebung befiel. Wie ein Krabbelkind, das alles versucht zu berühren und auszuprobieren streckte ich meine Hand nach den seltsamen Dingen aus, die in Wirklichkeit ganz anders wirkten als auf Fotografien. Darunter war eine steinerne Pfeife, die nur dann erklang, wenn die untere Öffnung mit der Hand verdeckt wurde.

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Schnell sagt es sich dahin, dass dies eines der ältesten Instrumente in der Sammlung und überhaupt auf Sardinien wäre, doch dieser Lebenskonstruktion nach auffindbaren Artefakten sollte man nicht lechtfertig aufsitzen. Die steinerne Pfeife ist gewiss alt, doch sie beweist nicht, dass es neben ihr nicht auch andere, bereits verwitterte, eben nicht steinerne, Musikinstrumente gegeben haben mag, die wir nicht mehr finden können und die mögli-cherweise sogar älter waren.

Fotos der steinerne Nuraghen-Pfeife und der Scorriu

Es amüsiert mich immer wieder, wenn frühe Musikgeschichtsbil-der, entworfen in Lexika und Enzyklopädien32, von steinernen und knöchernen Musikinstrumenten dominiert werden. Warum sollten unsere Vorfahren ausgerechnet nur diese relativ schwer zu bearbeitenden Materialien benutzt haben, wo es doch zweifellos Felle, Pflanzenfasern, Holz oder Rohr in Hülle und Fülle gab? Ich 32 Karlinger, Felix: Studien zur Ethnomusikologie und Volksliteratur Sardiniens. Sardìnnia, Band 1, hrsg. von Giovanni Masala. München: BoD 2004.

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tendiere eher zu der Auffassung, dass solche Funde extreme Ausnahmen darstellen, zumindest werden die Hersteller nicht darauf spekuliert haben, dass wir ihre Schallwerkzeuge dreitau-send Jahre später finden und uns nach diesen ein Bild ihrer musiktechnologischen Fertigkeiten machen würden. Mein unver-rottbarer Hausmüll könnte in dreitausend Jahren ebenso leicht ein falsches Bild über meine realen Lebensgewohheiten erzeugen.

Eine andere Kuriosität war die Korkreibetrommel Scorriu33, die solch höllischen Lärm machen kann, dass sie mehrere Kilometer weit deutlich hörbar ist. Sie verdankt ihre Existenz der späten Verbreitung des Telefons und aller peripheren Erfindungen, denn die sich in den Bergen verschanzenden Rebellen benötigten schon wesentlich früher ein Kommunikationssystem, das sich locker mit schnurlosen Netzwerken der Jetztzeit messen konnte. Das nebenbei allein das Ertönen der Scorriu schon Angst und Schrecken unter den Gesetzeshütern und damit den Feinden der Rebellen verbreitete, ist eher eine assoziative Nebenwirkung. Der erzeugte Ton ist so extrem laut und tief, dass er Mauerwerk vib-rieren lässt, zumindest schien es mir so, als hätten meine Kniege-lenke Resonanzschwingungen in die Magengegend gesendet. Mir war zum Hinsetzen. Vielleicht stimmte es doch, dass man mit diesem Ding seine Widersacher sprichwörtlich aus dem Sattel werfen konnte. Mit Rücksicht auf die Besonderheiten des Tages stellte der Padre seine akustische Folter ein. Während ich mich von der körperlichen Erfahrung erholte, durfte ich so harmlosen Dingen wie Maultrommeln und Rohrflöten lauschen. 33 Carrera, Alessandro: Folk music and popular song from the nineteenth century to the 1990s. In: The Cambridge Companion to Modern Italian Culture, ed. by Zygmunt G. Baránski and Rebecca J. West. Cambridge University Press, 2001: 325-335.

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Spektralbild des Trunfa-Spiels von Don Giovanni Dore

Die Maultrommel Trunfa gibt ein schönes Spektralbild ab: als hätte man die Monti del Gennargentu vor sich, in denen sich noch bis vor wenigen Jahrzehnten Gruppen von Banditen herumtrieben.

Die Rohrflöte des Padre in Form einer Tabakspfeife zwitscherte eine liebliche, harmlose Melodie mit schmächtigem Ambitus, die gewiss weder Schafs- und Ziegenmilch sauer werden ließ:

Transkription der Rohrflötenmelodie gespielt von Don Giovanni Dore

Doch erstaunlich mag sein, dass selbst auf dem so abenteuerli-chen Eiland, auf dem sich ziemlich viele Landschaften Europas, die sonst nur durch intensiven Tourismus erschließbar wären, und Zeugnisse zahlreicher Kulturen mit ihrer vieltausendjährigen Geschichte finden lassen, Musiker gibt, die ihre Inspiration andernorts suchen, etwa in Lateinamerika oder doch mindestens

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auf dem halbem Wege dorthin. Enzo Faveta, dessen Album „Atlantico“ exakt 6 Jahre zuvor aufgenommen wurde, hatte zwischen seinen Hits auch ein ganz bescheidenes Stückchen namens “Núria” für eine Flauto Boliviano versteckt. Ohne jede Werbung träumt es vor sich hin und ist doch so wichtig als Stimmungslicht zwischen den grellen Scheinwerfern moderner Worldmusic, dessen Eingangsmelodie so beginnt:

Transkribierter Ausschnitt des Solos für Flauto Boliviano namens „Núria“ von Enzo Faveta 34

Im Spektralbild sind die Ausarbeitungen plastisch sichtbar. Ruhe und Aufregung stellen sich als Registerwechsel dar. Einer Gele-genheitsunterhaltung gleich fließt das Zwiegespräch zwischen tief und hoch fort, ohne einem bestimmten Ende entgegenzustreben.

Spektralbild der Gesamtmelodie von „Núria“

34 Quelle: Enzo Faveta “Atlantico”, produziert im Selbstverlag, aufgenommen im Aramulla Studio, Poggio de Pini, Cagliari, 7.-11. April 1999. Titel 3, 1’15.

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Enzo Faveta wurde mir von einem schmächtigen jungen Mädchen in Algheros Altstadt empfohlen, nachdem ich sie fragte, welche sardische Musik denn besonders gut sei und gern gehört wird. Sie trug schwarz, dem Ernst jener Tage angemessen und weniger dem Hang nach jugendlicher Verdunklung folgend. Die knallharten Anthologien sardischer Volksmusik mitsamt ihren vor allem von Fremden bewunderten „Tenores“, den mehrstimmigen, scharftönigen Gesängen musikalisch versierter Hirten, oder mit ihren auf Launeddas begleiteten Tanzmelodien und Balladen scheinen nicht das Herz eines jeden Sarden zu erquicken. Auch der Padre schien diesbezüglich rücksichtsvoll und spielte lediglich ein paar einzelne Launeddapfeifen, etwa so:

Transkribierte Demonstration einer Launeddapfeife des Padre

Das verspielte Umkreisen von Tönen läßt die langen geraden Töne um so besser erstrahlen. Launedda-Klänge konnten mich nicht ernsthaft überraschen, gehören sie doch zum Traditions-klischee sardischer Tonkunst35, die augenscheinlich wenig mit der italienischen Klassik unseres Durchschnittsverstandes zu tun hat.

Doch schließlich es gab eine umwerfende Überraschung: die Entdeckung einer laotischen Mundorgel, die ich zwar schon in einigen Souvenir- und Musikläden des Nordens gesehen hatte, die 35 “Since the period of the Renaissance this italian peasant music [...] has lived almost without contact with the great streams of Italian fine-art music. It has followed its own courses, unknown and neglected, like a great underground river.” Lomax, Alan, Diego Carpitella: Introduction to “Columbia World Library of Folk and Primitive Music”. XV. Northern and Central Italy and the Albanians of Calabria. XVI. Southern Italy and the Islands. Four sound discs (Columbia Records KL 5173, KL 5174) 1957.

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ich aber für eine Art exotisches Ornament hielt, etwa wie Djembetrommeln in esoterisch aufgemachten Orientläden, die man als Schlafzimmerhocker oder Zeitungsablage missbrauchen kann. Offensichtlich war auch das ein Irrtum. Diese Mundorgel, genannt „organum aboca“, war ebenso authentisch für sardische Musikpraxis wie jene „Marmororgel“ im Erdgeschoss. Ich glaubte, dem Padre zeigen zu müssen, wie man sie spielt, doch er wusste es offensichtlich besser. Die verglichen mit dem laotischen Original umgedrehte Spielweise ermöglichte ganz ähnliche verspielte, engschrittige Umkreisungen von Melodietö-nen, im Spektralbild ganz deutlich als die bewegten Linien zu erkennen. Außerdem konnte man die harmonischen Grundfunk-tionen durch Bordunwechsel bewerkstelligen, die gegenüber den Launeddas interessante Vorteile boten. Die lange Geschichte der Einwanderung, die mit recht wenig erfolgreichen christlichen Missionierungsversuchen zu tun hatte, erzählte ich kurze Zeit darauf meinen europäischen Kollegen, die wie ich bestätigt fanden, dass solche Verpflanzungen nur dort möglich sind, wo sie auch gedeihlich in vorbereitetem Boden anwachsen.

Spektralbild des Mundorgelspiels von Don Giovanni Dore

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Die eigentliche Verblüffung konnte ich erst Monate später in Laos, dem fernen Herkunftsland, beobachten.36 Mit offenem Mündern reichten die Musiker meine Fotos herum und disku-tierten wild durcheinander. Dann probierten sie sogar selbst, ihre Mundorgel falsch herum zu spielen, um schließlich in helles Gelächter auszubrechen. Als sie sich wieder beruhigt hatten, betrachteten sie ihre Mundorgeln mit leicht verändertem Blick, als hätten sie von einem lange verheimlichten, fremden Liebhaber ihrer besten Freundin gehört.

Der Padre zählte die vielen italienischen Kardinäle auf, die sich in der Ferne betätigt hatten. Die Liste reichte mit Luigi Cardinal Caetani bis 1622 zurück. Seine eifrige Beweisführung erinnerte mich wieder daran, dass heute ziemlich weltweit Johannes Paul begraben wurde, auch hier in Tadasuni. Die Geschichte von Dingen kreuzt sich mit der Geschichte von Bedingungen, wie sie der Padre predigt. Am Ende bleibt stets eine reale Gegenwart, die beides vermischt, die verkehrte Mundorgel mit den laotischen Klosterschülern, die Froschkonzerte mit dem Architekten Angelo Omodeo und die Bolivianische Rohrflöte Enzo Favetas mit dem ewig jugendlichen Fernweh der kleinen Sardin aus Alghero.

36 Ausführlich dazu: Jähnichen Gisa: Sardinian Air in Lao Pipes. In: Tautosakos Darbai XXXII, hrsg. vom Institut für Litauische Literatur und Folklore. Vilnius 2006: 77-86.

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Bänke und Zelte (Ciudad de Mexico)

Bänke und Zelte (Ciudad de México)

Die Magistrale Paseo de la Reforma von Ciudad de México, im September 2006 absolut verkehrsberuhigt

Im großen Volkspark Chapultepec von Mexico Stadt stehen Bänke, die ein wahrhaft kluger Denker unter den Designern gefertigt haben muss. Sobald ich meinen Rücken der vorgegebe-nen leicht geschwungenen Form angepasst hatte, befiel mich schon tiefe Ruhe und wohlige Müdigkeit. Die Sitzfläche ist ele-gant nach hinten geneigt und lang genug um auch die Unter-schenkel in einem günstigen Winkel erholsam aufliegen zu lassen. Ich gehe davon aus, dass die meisten Erwachsenen hier ungefähr meine Größe haben, denn ich bin eher klein für mein großwüch-siges europäisches Umfeld, und daher werden sehr viele Men-schen der größten aller großen Städte Lateinamerikas ganz ähnli-che Momente mit diesen genial konstruierten Bänken erleben. Die Bänke sind von so überwältigender Funktionalität, dass sie

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sich sehr gut als präventives Mittel zur Gewaltbekämpfung eignen würden. Und noch als ich dies dachte und mir vorstellte, wie sehr ich sie fortan vermissen werde, unfähig, die Wohltat zu vergessen, die sie mir nach vielen Stunden flotten Wanderns antaten, flogen meine Gedanken schon in einen angenehmen luftigen Traum und ich schlief inmitten des rauschenden Grüns ein.

Stets sind es die Übergänge vom Wachzustand in den Schlaf, von blanker gegenständlicher Wahrnehmung zur phantasievollen Spekulation, von körperlicher Gespanntheit zur seelischen Kom-pensation, die zu interessanten Verknüpfungen, zu verrückten, kleinen Geschichten führen.

Vor meinen Augen kreisten an den Füßen aufgehängte dunkle Mexikaner mit nackten ausgebreiteten Armen, die unendliche Strophen einer uralten Ballade mit minimalen und daher um so bedeutsameren Veränderungen vortrugen. Traum und Wirklich-keit spielten mir einen Streich, denn die fliegenden dunklen Män-ner singen nicht und die uralte Ballade gehört zu den Gesängen der Cora-Gemeinschaften, die unter unglaublichen Bedingungen vor hundert Jahren aufgenommen wurden. Jener Gesang, einge-kratzt in eine wächserne Walze, hatte aufregende Folgen, über die ich noch berichten werde.

Kurz bevor ich mich auf der einen erdbeerjoghurtfarbenen Bank niederließ, hatte ich die Baumflieger gesehen. Sie bauten Ihren kahlen, hellblau angestrichenen Lebensbaum auf einem runden Platz unweit des Anthropologischen Museums auf und lockten viele Leute an diesem etwas kühlen Sonnabendmorgen an. Die Baumflieger, hier Voladores genannt, sind eine der kulturellen Wiederentdeckungen, die uns an so vielen Orten der Welt das Gefühl geben, zu den auserwählten Beobachtern einmaliger Kulturschöpfungen zu zählen. Selten können wir einschätzen,

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was daran wirklich einmalig und was schöpferisch ist, doch wir sind der Vorstellung, auserwählt zu sein, nie abgeneigt. Wir glau-ben gern an das Besondere.

Foto: Aussschnitt aus einem Wandbild im Anthropologischen Museum von Ciudad de México, der vier Baumflieger und ihren Priester im Hintergrund zeigt.

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Die Baumflieger im Chapultepec-Park sind extra vom Museum angestellt, um den Gästen dieses sonst seltenere Ritual vorzu-spielen. Sie versuchen dabei, tatsächlich die einzelnen Handlungs-folgen einzuhalten. Doch der vage Zauber stellt sich nur mit ganz viel Phantasie ein. Sie waren zu fünft am Werk und machten einen etwas müden und unkonzentrierten Eindruck. Der Priester-Darsteller ging zuerst in den Kreis, in dessen Mitte der etwa sieben Meter hohe Baum aufgestellt war. Nach ihm kamen die Flieger-Darsteller. Normalerweise unterscheiden sich die Perso-nen äußerlich durch ihre Kleidung, zumindest der Priester sollte ein rotes Hemd mit weißem Saum und eine bunte Kappe tragen und die Flieger sollten unauffällige Kleidung oder einen freien Oberkörper bevorzugen. Doch hier waren alle fünf wie Priester gekleidet, sie trugen zusätzlich noch eine Schärpe mit bunden Applikationen über ihrem weißen Hemd. Tänzerisch umrundeten sie den Baum, wozu der Priester Einhandflöte und Einhand-trommel spielte. Die Trommel hielt er an einem steifen Griff in derselben Hand wie die Flöte mit vier Grifflöchern.

Das rhythmische Muster der Melodie richtete sich nach der Schrittweite und hing ganz wesentlich von der Stimmigkeit der Flöte ab. Bei den hiesigen Instrumentenbauern am Platz der Verfassung fiel mir auf, dass fast alle Flöten unterschiedlich gestimmt sind, es also offensichtlich nicht wirklich auf eine spezielle Intervallik ankam, sondern auch hier die Schrittweite individuell gedacht wird, wie es beim Tanzen der Fall ist. Wesent-lich scheint nur die Schrittrichtung und die Intensität. Das Schreiten wechselte mit synchronen Tanzschritten nach dem Muster links-rechts-links-rechts-rechts, wobei der wiederholte Schritt rechts kräftiger ausfiel und eine längere Spanne Zeit kostete. Am Ende einer Umrundung stampften die Flieger mit

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ihrem Priester synchron zur Trommelstimme in metrischen Dreiergliederungen mit wechselfüßigen Akzenten. Mitunter drehten sich die Flieger auch im gleichen Schreitrhythmus mit gebeugtem Haupt um ihrer eigene Achse. Diese kurze Drehung ist eigentlich der verbliebene Kern des getanzten Rituals an den Sonnengott. Doch sie ging so schnell vorbei und wirkte so ver-schämt, dass sie im allgemeinen Staunen unterging. Nach mehr-maliger Wiederholung kletterten die Flieger auf den mit Seilen umschnürten Baum in das ihn krönende Quadratgestell.

Ausschnitt von Spekralbild und Transkription des ersten Tanzes

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Dort befestigten sie ihre Gürtel an den Seilschlaufen, die sie auf ihrem Weg kopfüber abwärts halten sollten. Ihnen folgte der mu-sizierende Priester, der sich ins Zentrum auf den Stamm begab. Er setzte sich auf eine große Trommel direkt in der Mitte des Stammquerschnitts und hätte seine eigene Trommel verstummen lassen müssen, doch war die vermutete Hörerwartung des Publi-kums zu groß und zu fordernd, so dass er mit dem Trommeln fortsetzte. Er tat es sanfter als zuvor, doch war zweifelhaft, ob er den Sonnengott damit beschwichtigen konnte. Die Flötenstimme soll Blitze symbolisieren, die in den Himmel stechen und die Nähe Gottes suchen. Die Trommeltöne zum Tanz hingegen markieren den Herzschlag der Mutter Erde, daher ist ihr Schwe-ben in sieben Metern Höhe eher bedrohlich. In 13 Runden wur-den die Baumflieger herabgelassen, indem sich die Seile durch die Rotation des Quadratgestells abwickelten. Kurz bevor sie mit ihren ausgestreckten Armen den Boden berührten, begaben sie sich wieder in aufrechte Position und stiegen wohl koordiniert gleichzeitig ab. Die zweite Runde des Tanzes begann, der noch zwei weitere folgten. Erst dann war das zahlenmystische Ritual vollendet.37

37 Ein guter Freund beschrieb das Ritual in México nach seinen eigenen Beobachtungen: The Sundance begins with the four flyers entering the circle led by the Priest. The Priest, who is dressed in red and white to represent the sun, wears a multi-colored headdress to reflect the rainbow. All five dance around the base of the pole, stopping in the four primary directions to ask permission for the Sundance which honors the Creator. The four flyers, in turn, ascend the pole, which towers from the earth a full eighty feet, topped by an eight-inch diameter drum and a rotating platform. The pole represents the connection of the earth to the heavens; our earthly connection to the divine, the Creator. The rope which is wrapped around the pole from the bottom to the top, and which they use to climb, represents the umbilical cord. The Priest is the last to ascend. Once on top he makes an offering in song using a flute, dancing on top of the eight-inch drum, stopping in the four directions to offer

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Ausschnitt von Spekralbild und Transkription des zweiten Tanzes

Die Voladores bemühten sich, nicht gelangweilt auszusehen. Eigenartiger Weise ließ sie eben diese angestrengte Ernsthaftig-

a prayer in song. The drum, upon which he stands, carries his footfalls down through the pole to the earth as his flute song is carried to the heavens. The drum upon which he dances, represents the heartbeat of Mother Earth and the flute represents lightning. Ergänzungen finden sich in dem Dokumentarfilm “The Tree of Life” von Bruce Lane. ISBN #.978-1-891813-00-9. Dort sind 6 Baumflieger in priestergleichen Kostümen mit Spitzhut und an fixierten Schienenseilen, parallel nebeneinander laufend zur Sicherheit des Abseilens, zu sehen.

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keit müde wirken, als würden sie gefangen sein in ihrem eigenen Ritual, unfähig, spontan auszubrechen, zu lachen, sich rücklings auf den Rasen fallen zu lassen, sich zurückzufinden in diesen Samstag zur Mittagszeit.

Als ich wieder aufblinzelte sah ich sie von Weitem. Sie packten still ihre Kostüme in Leinenbeutel und rollten die Seile ein. Ende der Vorstellung. Die Zuschauer verliefen sich sternförmig im Park. Einige schlenderten an den besonderen Bänken vorbei, die inzwischen längst besetzt waren. Großzügig machte ich einer Mutter mit zwei quengelnden Kindern Platz und strebte dem Parkausgang entgegen.

Im September 2006 glich der sich anschließende Paseo de la Reforma einem riesigen Schulungscamp für Openair-Politiker. Die zwei breiten mehrspurigen Fahrbahnen waren mit gelben, weißen und blauen Plastikzelten gepflastert, deren Portale aufge-rollt zur Einkehr aufforderten. „El pueblo unido“ schallte aus den Lautsprechern, gestisch ausgearbeitete Politikerreden flim-merten über Videomonitore und auf den Tischen stapelten sich Kaffeebecher, Fragebögen, Formulare und bunte Zeitungen. Die Wände zierten Spruchbänder, abgestellte Kisten, hier und da lugte eine Gitarre aus dem Hausrat. Zwischen den Zelten trock-nete Wäsche und lüfteten Schlafsäcke auf Seilen, die denen der Voladores verblüffend ähnlich waren. Surrealistisch war auch der Blick durch die im Wind flatternden verblichenen T-Shirts auf die Glas- und Stahlfassaden der großen Banken, die wiederum so gar nichts mit meinen Lieblingsbänken zu tun hatten. Es roch nach Gegrilltem und es herrschte trotz aller Außergewöhnlichkeit eine routinierte Ruhe, die mich an professionelle Bestattungsunter-nehmen erinnerte. Erst gegen Abend zeigte sich Aufregung, Hoffnung, Verzweiflung, Trost, Leidenschaft, die sich in Sprech-

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chören entlud. „Obrador, Obrador“ schallte es weithin und lang und länger wurden die Reden der Agierenden. Jeder sah sich fähig, zu widersprechen, Beifall zu bekunden, selbst auf die Bühne aus Kisten zu springen und mit fliegenden Armen und Händen zu unterstreichen, was ihn oder sie besonders bewegt. Für einen kleinen Moment offenbarte sich die enorme Anzie-hungskraft, die von solchen spontanen Lebensbekundungen einer Masse Gleichgesinnter ausgehen kann. Wie leicht reckte sich die Faust gegen eine imaginäre Allmacht, wie ungeniert schrie es sich mit den anderen in den Nachthimmel hinein. Es mag der Augen-blick unglaublicher Opferbereitschaft sein, der schließlich alles rechtfertigt, alle verbrüdert und verschwistert.

Die lebhafte Magistrale, die Hauptschlagader des Zenrums, pul-sierte für wenige Wochen einmal nicht vom pausenlosen Straßenverkehr. Schon begannen sich die Spitzen der Palmblätter von der Last des Feinstaubes zu erholen. Allerdings kam man nur zu Fuß voran. Wenn die Sonne es schaffte, den Stadtsmog zu durchbrechen, kroch die grelle Schwüle auch unter die gelben Plastikzeltbahnen, die von unzähligen Menschen aus unzähligen Gründen besucht wurden. Mich trieb die Neugier auf das, was übrig war von der sprichwörtlichen lateinamerikanischen Revo-lutionsmagie unter die Massen. Nachdem mich die Hoffnung in meiner Teenagerzeit mit dem Tod Allendes verlassen hatte, mied ich diese wilde Welt spontaner Grundsätzlichkeit. Ihre Lieder klangen ganz ähnlich, doch schien mir ihr Geist nicht mehr so sprühend und ansteckend. Ich fühlte mich alt und verräterisch und suchte nach Ausreden für mein verändertes Wesen in den sonnenverbrannten Gesichtern gleichaltriger Mexikaner und Mexikanerinnen, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um auch nur zu ahnen, was in mir vorging. Ich sehnte mich nach

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mehr Überblick und suchte den Torre Latinoamericana, einst das größte Haus des Halbkontinents. Viel schmächtiger und un-scheinbarer als ich ihn mir vorgestellt hatte stand er plötzlich da inmitten des Straßengewirrs, eingerahmt von schmucklosen Bu-den, einer schüchtern wirkenden Kirche und protzigen Sand-steingebäuden, die seltsame Behörden und andere wichtige Insti-tute beherbergen. Der Lift in das Obergeschoss ruckelte etwas und kam recht abrupt zum Stehen. Man konnte in alle Richtun-gen herausschauen und die sichernden Glasscheiben schienen recht nah zu sein, was den schmächtigen Eindruck noch ver-stärkte. Der Blick war dennoch überwältigend. In einer halben Stunde sollte die Sonne untergehen. Ich suchte mir ein gutes Plätzchen und träumte dem Ereignis entgegen. Obwohl der Turm recht hoch war, gewann man nach einiger Zeit den Eindruck, bergauf zu schauen. Nach Norden hin wölbte sich eine dicht bebaute Bergkette in den Himmel. Nach Westen ging es aufwärts zum Volkspark Chapultepec mit seinem dunklen Baumbestand über dem Adlern gleich kleine Federwölkchen kreisten, die ihre Schatten über die Spazierwege streichen ließen. Die dunklen Straßenschluchten der Innenstadt erschienen wie Löcher im Steinboden des Häusermeeres. Nur die leuchtend gelben Planen der revolutionären Allee-Besetzer blitzten hervor, die entlang des Paseo de la Reforma am Turm vorbei führten.

Der Sonnuntergang war irgendwie enttäuschend, ein gelb-pink-farbener Streif flimmerte wie durch angegrautes Milchglas. Nur die kleinen Wölkchen über dem Park strahlten silberblau für ein paar wenige Augenblicke. Die Lichter unter den gelben Planen wurden angezündet und ließen den langen Straßenug wie eine goldene Schlange leuchten die sich auf dem dunklen Grund eines Labyrinths windet. Als ich wieder herunter kam, waren die

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Straßen voll mit Menschen, die sich in die kühle Nachtbrise flüchteten. Unterhalb der Plaza de la Constitution trafen sich die jungen, schönen und zumeist reichen Mexikaner. Sie flanierten entlang der betagten Kolonialbauten und setzten sich in die Korbsessel der teuren Straßencafés. Touristen irrten zwischen ihnen herum in Birkenstockschuhen und mit verbranntem Ge-nick. Auch sie fühlten sich angezogen von den Obrador-Anhän-gern und betrachteten es als Urlaubszugabe, echte Widerstands-kämpfer unter authentischen Dritte-Welt-Bedingungen erlebt, fotografiert und gefilmt zu haben.

Die Menschenmassen und die aufgeheizten Steinbauten machten das Flanieren trotz der leichten Brise allerdings wenig erholsam. Wer sich schneller bewegen wollte, musste in den Untergrund gehen. Über Tage fuhr hier zu dieser Zeit nichts. Die wenigen passierbaren Seitenstraßen waren voll mit Kleintransportern und Taxis, in denen unbelehrbare Reisende saßen, die lieber bequem zu spät kamen, als sich mit dem einfachen Volk in die Öffent-lichkeit zu begeben. Die Untergrundbahn von Ciudad de México ist wohl organisiert, wohl temperiert und erstaunlich zuverlässig. Ein Zufluchtsort für alle Verunsicherten und Geschwächten.

Außerhalb des noblen Zentrums wurde das noch offensichtlicher. Die Stationen boten mit ihrer Infrastruktur nicht nur gebeutelten Stadtwanderern und Berufspendlern etwas mehr Komfort, son-dern vor allem jenen, die das harte Leben in der mexikanischen Provinz entlassen hatte. An der Station Insurgentes kamen Bauern aus entlegenen Bergdörfern in kleinen Gruppen zusam-men.

Hier gab es sehr einfache Imbisshallen, relativ brauchbare Waschräume und einen verkehrsfreien runden Platz, der aussah, als sei er wie eine Drehbühne in der Mitte des von Schnellstraßen

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umbauten Areals versenkt worden. Existenziell wichtig waren jedoch die überdachten Flächen, die bei Regen und Sonne Schutz boten.

Dort begegnete mir ein älteres Paar aus Nayarit an der Pazifik-küste. Sie saßen auf der Balustrade einer Blumeninsel und waren für die Jahreszeit viel zu warm gekleidet. Die Frau trug einen türkisblauen langen Rock mit einer fein gestickten Blumenbor-düre auf gelbem Grund. Sie hüllte sich in einen schwarzen Schal aus grober Wolle. Ihr Mann trug ein abgewetztes Jacket, recht jugendlich wirkende Blue-Jeans und ein grell orangfarbenes T-Shirt. Seinen Kopf zierte ein fast weißer Hut mit grauem Band.

Ich setzte mich erschöpft vom Spazieren neben sie und bewun-derte die Stickerei. Sie begannen in schlechtem Spanisch zu erklä-ren, dass sie hier auf ihren Sohn warten würden, der gerade nach ihre Tochter sucht. Die Tochter soll schon vor vielen Wochen in die Hauptstadt gefahren sein, weil sie hier Arbeit gefunden hätte. Sie soll Näherin sein, hatte sich aber nie wieder gemeldet. Es folgte eine ausführliche Beschreibung des jungen Mädchens. Sie würden sich Sorgen machen, denn man höre ja so viele unglückli-che Geschichten. Vor allem junge Menschen würden die Sierra Madre verlassen, besonders jene, die östlich des Highway Num-mer 15 wohnten. Sie schauten mich an, als könnte ich ihnen hel-fen, die Sache wieder in den Griff zu bekommen, die Abwande-rung stoppen, die Kinder ihren Eltern zurückgeben, die jungen Mädchen vor Händlern schützen, die sie als alles andere, aber nicht als Näherinnen brauchten.

Nayarit war einst die Wiege des mexikanischen Aufbegehrens gegen die spanischen Eroberer. Der blutig niedergeschlagene Mixtón-Krieg führte schon damals zur massenhaften Verschlep-pung von Indios. Die Cora und Huichol sind daher recht weit

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verstreut in Mexiko und zugleich von einer tiefen Verbundenheit mit ihrer Heimatlandschaft geprägt. Es ist ihnen umso unver-ständlicher, wie man diese Heimat freiwilig verlassen kann, es sei denn, man hat so ernste Gründe wie dieses ältere Ehepaar hier.

Ein Mitote, ein Erzählgesang der Cora aus dem damals kleinen und unzugänglichen Dorf Jesús María Cortes in Nayarit, zu jener Zeit noch unter dem Begriff ‚Militärbezirk Tepic’ geführt, fiel mir wieder ein, der zu den frühesten Tonaufnahmen in Mittelamerika gehört.38 Der Anthropologe Konrad Theodor Preuß hatte im „Auftrage und mit Mitteln des Königlich Preussischen Kultus-ministeriums aus der Herzog von Loubat-Professeur-Stiftung“ in den Jahren 1905 und 1906 Mexico bereist und ist auf abenteuerli-che Weise und der ihm eigenen Zielstrebigkeit dorthin gelangt. Er nahm neben einigen anderen den Cora-Sänger Leocadio Enriquez auf, einen der wenigen im Ort, die die langen Mitote-Gesänge noch beherrschten.39 Orte mit dem Namen Jesús María gibt es übrigens auch noch in Aguascalientes, Chiapas, Chihuahua, Gua-najuato, Michoacán, San Luis Potosí, Sinaloa, Nuevo León, Baja California Sur, Campeche, Coahuila, Durango, Jalisco, Oaxaca, Tabasco, Tamaulipas und Zacatecas. Der kleine Zusatz ‚Cortes’ ist jünger als die Tonaufnahme des damals noch jungen Konrad Preuß, der sich wie viele seiner Kollegen als hervorragender Beobachter einführte und Dank möglicher Tonaufzeichnungen schon bald einen Namen machen konnte. Leider hat auch er als

38 Hörbst, Viola: „Mitote“ singing of the Cora (auch Nayeri) Indian Leocadio Enriquez, recorded by Konrad Theodor Preuß in Jesús María, Mexico, 1905/06. In: Music! The Berlin Phonogramm-Archiv 1900-2000. Hrsg. von Artur Simon und Ulrich Wegner. Museum Collection Berlin. Wergo. Berlin 2000: 96-101. 39 Preuß, Konrad Theodor, Brief Nr. E 1173/06, S. 8, Archiv des Ethnologischen Museums Berlin (1906): „Es gibt nur wenige, die diese Lieder heutzutage noch kennen“.

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später erfahrener und – man sollte meinen – weiser Mann den Versuchungen staatstragender Ideologie im heraufziehenden Dritten Reich nicht widerstehen können und eiferte um die vor-dersten Plätze mit Richard Thurnwald, gegen Walter Krickeberg und Hermann Baumann, die ihrerseits ergebenere Anhänger des aktuellen Regimes zu sein glaubten. Die groteske wissenschafts-theoretische Auseinandersetzung verbarg kaum das grundlegende politische Profilierungsstreben und die elemantare Angst, durch Unbedachtheit plötzlich ins existenzielle Abseits zu geraten. Fleiß und Sachkenntnisse allein genügen jedoch nicht zu einem guten Anthropologen. Es ist, als würde ein Arzt kein Blut sehen können oder ein Vegetarier bei einem Metzger in die Lehre gehen. Bei-nahe ‚glücklicherweise’ blieben ihm die Folgen seines Tuns erspart. Er starb friedlich im Jahre 1938 und nahm seinen Eifer mit ins Grab.40

Geblieben sind die Aufnahmen, die zum Glück nicht zerstört wurden, obwohl es mehr als nur eine Gelegenheit gab. Der Gesang, der so gut zu dem Cora-Pärchen passte, lebte einst von seinem treibenden Rhythmus, der minimalen Variation des Strophenteils mit steter und unbeirrter Wiederholung des Nach-satzes. Das eigentliche Können mag im umfangreichen Text be-gründet sein, doch auch die effektive Variation solch monoton erscheinender langer Lieder ist eine Kunst für sich. Es liegt nahe, dass das Lied zum Tanzen animierte und dass auch Teile davon instrumental begleitet werden konnten, etwa auf den einfachen Rohrflöten41, die in einer Hand gehalten werden können.

40 Petermann, Werner: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal: Edition Trickster im Peter Hammer Verlag. 2004: 768-769. 41 Außenspaltflöten mit 6 Grifflöchern. In verschiedenen Größen als Spielinstrument der Knaben oder als Ritualinstrument ähnlich dem der Baumflieger.

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Bänke und Zelte (Ciudad de Mexico)

Ausschnitte aus Transkription und Spektralbild des Mitote-Gesangs

Verglichen mit späteren Aufnahmen, ist gerade die sehr bewusste, wenn auch unaufdringliche Differenzierung der Melodiezeilen in der frühen Aufnahme bemerkenswert.42 Tanzlieder, die zum Fest

42 Vergl.: Sorenson, Richard E.; Philip R. Lenna: Cora Indian Festive Music. Folkways Records [1966]; 1 disc. 33 1/3 rpm. Folkways ethnic library. Indians of Mexico Music. Recorded in the mountains of the northwestern part of the

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musik welt bilder

‘Las Pachitas De Los Corachol’ etwa in Santa Teresa gesungen werden, bestehen größtenteils aus identischen Strophenwieder-holungen. Nur die Schreie und das ergänzte Instrumentarium bringen Veränderungen in den Ablauf. Das Repertoire scheint heute generell mehr „konfektoniert“ nach Darbietungskontexten.

Zwei Jahre, nachdem Konrad Theodor Preuß den Ort Jesús María verlassen hatte, wurde Catherine Palmer Finerty (1908-2006) geboren, die in ihrem späteren Leben schließlich acht Jahre in diesem Ort verbrachte und im Alter von 92 Jahren ein Buch43 über diese Zeit schrieb. Geboren in Südkalifornien, floh sie aus dem modernen Großstadtmilieu Manhattans in eine großartige Fremde, die sie selbst bekehrte, obgleich sie kam, um zu bekeh-ren. Nach diesen acht Jahren reiste sie weiter in eine noch abgele-genere Siedlung der Huichol, deren Bewohner ihre Hilfe im Bildungs- und Gesundheitswesen dringender brauchten, wie sie meinte. Die mexikanische Regierung verlieh ihr die Goldene Ehrenmedaille, die höchste Auszeichnung für humanitäre Dienste des Landes, um ihren unermüdlichen Einsatz zu würdigen.

Wie unterschiedlich sind doch die Wege eines Konrad Theodor Preuß und einer Catherine Palmer Finerty. Es gehört eine gute Portion professioneller Leidenschaftslosigkeit dazu, den von ihnen gesammelten Kentnissen gleichwertiges Interesse entge-genzubringen. Der Akademiker Preuß hat viel geleistet, denn ohne ihn wüssten wir nichts von den Mitote-Gesängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Er war auch der Nationalsozialist Preuß,

State of Nayarit, mexico. Notes on the music, by the editors (4p.) inserted in container 43 Catherine Palmer Finerty: “In a Village Far From Home: My Life Among the Cora Indians of the Sierra Madre. Tucson: University of Arizona Press, 2000.

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Bänke und Zelte (Ciudad de Mexico)

der in seinem Beflissenheit schließlich nur noch von Walter Krickeberg übertroffen wurde. Es ist nicht wirklich überra-schend, dass ausgerechnet er ihm im Amt folgte und ungestört bis 1954 mit ganz ähnlichem Eifer seine eigene Geschichte verdrehen konnte.

Um wieviel ehrlicher sind wohl die müden verschwizten Kämpfer unter den gelben Planen entlang des Paseo de la Reforma? In wenigen Tagen werden die Zelte abgerissen. Die Frist ist verstri-chen, der tägliche Wahnsinn wird zurückkehren auf die belebteste Magistrale der Hauptstadt. Werden sie jemals leugnen, sich für Obrador und seine Bewegung eingesetzt zu haben? Werden sie, obgleich gebrochen, aufrecht bleiben?

Gips-Kapelle im Anthropologischen Museum von Ciudad de México

Bleiben werden auf jeden Fall die Bänke im Volkspark Chapulte-pec und die Baumflieger, die uns stets glauben lassen, etwas Außergewöhnliches zu erleben.

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Nikolaus an Bord (Amsterdam)

Gemalte Karte der Umgebung von Amsterdam, Markermeer und Ijsselmeer, ein schwarzes Konfetti bedeckt das Gebiet, in wel-chem der Nikolaus kreuzte

Der Himmel war von einem Milchgrau, unwesentlich dunkler als das ockergelbe Wasser des Ijsselmeeres, das zwischen baldiger Verdüsterung und längerfristiger Erhellung schwankte. Es war nicht dunkel und nicht kalt, ein hoffnungsloser Fall von Hoff-nung auf Wetterbesserung, der sicherlich schon die Wikinger erlegen waren. Dieses Schwanken des Lichtes wirkte sich auch auf die Stimmung aus. Mit einem guten Freund sind wir auf seinem eisernen Segelkahn an diesem Samstag hinausgefahren, um die letzte herbstliche Wärme einzufangen. Das Wasser plät-scherte freundlich und ruhig, nur wenige Segler waren unterwegs, ein paar kleine Plastikboote und ein paar notorische Angler. Selbst die Möwen hielten sich zurück. Wir glitten dahin, der Wind

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Nikolaus an Bord (Amsterdam) war so sanft, dass es keiner sekundengenauen Aktionen bedurfte und wir uns ausruhen konnten. Wir taten es schwankend wie das Licht, in Gedanken immer noch bei den alltäglichen Problemen, doch unkonzentriert genug, um ja nichts zu entscheiden. Es war Anfang Oktober.

Mitten in diese Schwebe hinein platzte ein groteskes Ereignis: das Erscheinen des heiligen Nikolaus in weniger als 20 Metern Ent-fernung. Ein riesiges glänzend lackiertes Segelschiff tauchte plötzlich aus dem Nichts auf, wahrscheinlich vom gegenüberlie-genden Andijk herkommend, mit dunkelroten Segeln, die phan-tastisch vor dem grauen Himmel leuchteten und wie sie eigentlich nur im Scheepvaartmuseum auf romantischen Bildern zu sehen sind. Es gibt nur wenige Großsegler von diesem Format. Ich glaubte, es war eine Brigg. Da ich die „Amsterdam“ nur mit weißen Segeln kannte, war ich mir jedoch nicht sicher. An der Reling standen schweigend ein paar Leute und ließen die Arme entlang der kunstvoll gedrechselten Streben baumeln. Weiter hinten war ein mehrstufiges Podest aufgebaut, auf dem er stand, der Nikolaus. Er war sehr groß und kräftig, trug einen lang dahinwallenden grauweißen Bart, eine Pelzkappe aus Silberfuchs-fell, die eine winzige goldleuchtende Krone umgab. Mit der rechten Hand umfasste er ein Neptunzepter und hielt sich mit der freien linken Hand seinen langen rotsamtenen Mantel zu, der von einem breiten, buschigen Kragen aus Silberfuchsfell gesäumt wurde. Der Nikolaus sah zu uns herüber und legte kurz seinen Zeigefinger senkrecht über seine Lippen, um uns zu bedeuten, dass wir schweigen sollten. Er hätte ganz unbesorgt sein können, denn wir sahen ihn ohnehin verdattert mit offenem Mund und leicht blödem Blick an. Wir trauten unseren Sinnen nicht. In dieser Haltung verharrten wir, bis der Nikolaus sich so weit

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musik welt bilder entfernt hatte, dass wir ihn nicht mehr deutlich von den anderen Menschen an Bord unterscheiden konnten. Die dunkelroten Segel bauschten sich in der schwachen Brise, das ockergelbe Ijsselmeer überspülte die gekräuselte Spur des Segelschiffes und weg war der Nikolaus. Unser Freund erklärte uns, dass dies wohl eine Probefahrt war, denn alljährlich legt der maritime Nikolaus im Amsterdamer Hafen an. Verwundert darüber, dass man Dinge, die man jedes Jahr tut, auch noch proben muss, fragte ich mich, wozu wir eigentlich schweigen sollten. Es würde uns ja doch keiner glauben und außerdem, so im Nachhinein gesehen, hätten wir auch kaum mehr Lärm als Wellen und Wind verur-sacht, wäre es wirklich nur um den Moment der Begegnung gegangen. Wollte der Nikolaus etwa tatsächlich das „Hoornbla-zen“ hören, das alljährlich in Twente44 veranstaltet wird, um ihn anzulocken, wie eine höchst umstrittene Sage berichtet? Die Hörner übrigens, auf denen dort geblasen wird, zählen zu den längsten Hörnern der Welt und stechen auch im Klang locker jedes Alphorn aus. Die Tradition des Hoornblazens ist etwa 2500 Jahre alt und höchst unchristlich. Doch die Kinder mögen an die Kombination glauben: Hoornblazen – Segelschiff mit Nikolaus an Bord – Anlegen und Umsteigen auf einen Schimmel – Ritt über Polder und Deiche – Bescherung in die Holzschuhe, wenn Pferdefutter beiliegt.

Für eine Weile hatte uns der Nikolaus aus unserem Trott gerissen, für eine weitere Weile gab er uns Rätsel auf und schließlich verselbständigte sich der Vorgang zum Symbol für all das Wunderliche, was in Amsterdam und Umgebung geschah.

44 Landschaft im Osten von Overijssel. Hoornblazen wird besonders in den Orten Denenkemp und Ootmarsum gepflegt.

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Nikolaus an Bord (Amsterdam) Ich liebte vieles an der Stadt, die schmalen Straßen entlang der Grachten, die gardinenlosen Fenster und das strahlende Weiß der Rahmen, die hell klingenden Ladenglocken, das Schnarren der tiefen Männerstimmen und das rauhe Kratzen der Reibekonso-nanten, den schwachen Duft der Pfannkuchen, den starken Duft der Käsetheken, die braunen Kaffeestuben und die Direktheit aller Kommunikation, die mich ein bisschen an Berlin erinnerte. Als Fremde konnte ich das gewiss genießen, für einen Dauer-aufenthalt wären allerdings weitere Studien nötig.

Unser Freund hatte uns in seine Wohnung eingeladen. Diese Wohnung war früher einmal Bestandteil einer Kommune auf der Prinzeninsel45. Inzwischen war sie von ihm hochwertig saniert worden und strahlte intellektuelle Gediegenheit aus. Die Lage bleibt jedenfalls zauberhaft und ist mittlerweile unbezahlbar. Von meiner Schlafstatt zu ebener Erde aus, einer dicken, überlangen Federkernmatratze, wie sie hochwüchsige friesische Bauchschlä-fer brauchen, konnte ich direkt in die vom Wind immer in Bewe-gung gehaltene Krone eines Kastanienbaumes sehen, hinter der sich die Masten der Jollen und Boote wiegten. Was kann noch einschläfernder sein?

Außer der Schlafstatt selbst gab es im Raum noch eine Hoch-zeitstruhe und einen Schrank. Beide waren bunt angemalt, mit kleinen Mustern übersät und mit schweren Messingbeschlägen versehen. Sie wirkten kurios in dem riesigen Raum und spiegelten sich in den klarlackierten Schiffsbodendielen wie zwei ungleiche Angler in einem stillen Waldsee. Mit ihrem kitschigen, gewiss

45 Prinseneiland, Ort, wo in den 70er Jahren alte Speicher in Gemeinschaftswohnungen verwandelt wurden. Es gibt auch jeweils einen kleinen Garten dazu, einen Bootsanleger und für ganz Raffinierte einen Fahrzeugabstellplatz.

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musik welt bilder auch romantischen, am ehesten aber wohl nostalgischen Gestus erinnerten sie mich sofort an ein Stück ebenso aufgemöbelter Hochzeitsmusik: Tsjerne. Es ist eine sehr deftige Tanzmusik, die vom tänzerischen Grundaufbau der Quadrille ähnelt. Die eigent-lichen Stücke dieses Namens waren einst kurzatmige Melodierei-hen, die man in einer Endlosschleife bis zur Bewusstlosigkeit spielen und tanzen konnte. Tsjerne heißt wörtlich auch Rühren. Es soll an die Buttermacherinnen erinnern, die stundenlang die fette Milch schlagen, stampfen und rühren, damit die Butter eine besonders zartcremige Konsistenz erhält. Irgendwann nach dem zweiten Weltkrieg wurde den gebeutelten Holländern und Friesen der Tanz aber zu langweilig und sie stückelten weitere Melodie-teile an, die ihnen eben geradeso in den Sinn kamen. Wie beim Buttermachen rührten sie das Ganze kräftig um und versetzten Zwischenteile, mixten hier und da ein wenig durcheinander und fertig war das neue Tanzlied. Nicht selten halten meine Studenten dieses Stück für „irgendwie slawisch“. Sie begründen das mit dem häufigen Dur-Moll-Wechsel, bestimmten engschrittigen Melodiewendungen, und natürlich mit den dramatischen Tempo-änderungen. Der Schein trügt jedoch, denn all diese kleinen Einzelteile sind brave Deichgeborene und da auch dort dem Leben eine gewisse Dramatik nicht abzusprechen ist, besonders wenn es sich um so schwerwiegende Probleme wie Hochzeiten und Familienfeiern handelt, klingt es eben auch so.

Tänze wie diesen begleiten allen Regeln zufolge zwei Akkordeons und eine Geige. Das schnellstmögliche Grundtempo, nachdem sich alles richtet, hängt vom Alkoholpegel der Musikanten ab, der sich leider oft reziprok zum Bewegungsbedürfnis der Tanzenden verhält. Im Ergebnis kommt es zu manch erheiternder Holper-stelle, doch die gemeinsamen Ritardandi lassen die Musiker

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Nikolaus an Bord (Amsterdam) wieder zueinander finden. Die skizzierten Ausschnitte sind die Bestandteile jenes Tsjerne-Tanzes, der mir spontan in den Sinn kam, als ich die beiden angemalten Möbelstücke sah. Bei aller Einfachheit ist es eben doch nicht so leicht, die Melodie insge-samt auswendig mitzupfeifen. Der gefühlte Tonalitätswechsel wird großzügig durch ordentliche, immerhin logische, Änderun-gen der Tonart ergänzt.

Dies ist der erste Teil, der vorsorglich in gemächlichem Tempo beginnt.

Transkription von „Tsjerne“, 1. Teil

Diesem folgt in der Dominanttonart des ersten Teils diese flotte Hüpfeinlage:

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musik welt bilder

Transkription von „Tsjerne“, 2. Teil

Danach folgt eine Wiederholung der Zeilen 4 und 5 aus dem ersten Teil und dann der Zeilen 2 und 3 aus demselben, insge-samt also eine besonders gut „verrührte“ Stelle.

Einen Zwischenabschluß stellt der folgende Zweizeiler dar, der genug Gelegenheit bietet, sich wieder auf ein einheitliches Tempo einzustellen.

Transkription von „Tsjerne“, 3. Teil

Nun geht das Ganze von vorn los, nicht ohne doch ein paar Zeilen, durcheinander in der Abfolge und überraschend wie der

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Nikolaus an Bord (Amsterdam) Nikolaus, zu wiederholen. Der Tanz Tsjerne gehört daher ganz und gar nicht zu den bedrohten Arten klanglich-motionaler Arti-kulation, doch sein Wesen, seine herausfordernde konservative Denkart vom Bewegen und Verharren, man möchte meinen: „vom Verharren in der Bewegung“, ein Zug, der eben jedes konservative Wesen prägt, wird wohl nicht mehr lange gegen-wärtig sein.

Amsterdam ist jedoch nicht nur ein Hort der Bodenständigkeit und schleichenden Innovation. Es gibt vor allem hier sehr viel Unberührtes zu bewundern, Schätze aus Übersee, aus den Kolo-nien, die die Niederlande hatten und denen, die sie gern gehabt hätten. Proportional dazu gibt es nicht gerade wenige Experten für all diese fremden Wunderwerke, die einen nüchtern und ökonomisch, die anderen Nüchternheit und Ökonomie verab-scheuend und anprangernd. Und dann gibt es noch eine Gruppe von seriösen Experten, die zwischen diesen beiden Extremen in kurzen Intervallen schwanken wie die Lichtverhältnisse auf dem herbstlichen Ijsselmeer.

Zu dieser Gattung gehören die sinophilen Zweige der schönen Wissenschaften, die sicherlich mit großem administrativen Kraft-aufwand und aus ihrer fernöstlichen Gelassenheit schöpfend 2005 ein Chinafestival mit angehängter Musikkonferenz organi-sierten. Kernstück dieser Aktion war die Ausstellung und Bespielung des Glockenensembles aus dem Grab der Marquise Yi, zu ihren Lebzeiten bekannt als Zeng Hou Yi, die bis min-destens 433 vor unserer Zeitrechnung im Norden der heutigen Provinz Hubei lebte. Zum Ensemble gehörten auch Klangsteine, die zwar nicht komplett erhalten waren, doch originalgetreu nachgefertigt wurden. Die Bronzeglocken entdeckten Fachleute des Provinzmuseums Wuhan 1978 in der Nähe von Leigudun,

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musik welt bilder nachdem einigen Bauern bei Feldarbeiten Unregelmäßigkeiten im Erdreich aufgefallen waren, und stellen einen der bedeutendsten archäologischen Funde der letzten Jahrzehnte in China dar.

Diese bereits schon einmal gestorbenen Musikinstrumente, die Jahrhunderte neben Totengebeinen lagerten und den irdischen Nachfahren längst entfallen waren, übten eine faszinierende Wir-kung auf mich aus. Mitten in der Haupthalle des Amsterdamer Tropenmuseums waren sie im harten Licht nordischer Backstein-bauten im Rechteck auf einen roten Teppich platziert. Die grau-grünen Glocken hingen schräg in einem rotlackierten Holzgestell und hatten einen ovalen Durchmesser, der angeblich ursächlich für die Erzeugung zweier verschiedener Töne pro Glocke sein soll. Auch wenn das noch nicht wirklich klar zu sein scheint, sind die Töne ganz für sich genommen wie Schallgedanken aus einer anderen Welt, aus einer unwiderruflich vergangenen Welt, von der wir nichts wissen. Was kann uns der Klang erzählen?

Zunächst besteht wohl die größte Schwierigkeit darin, von all den Schallelementen, den gegenwärtigen Lebensgeräuschen, einge-schlossen Musik jedweden zugänglichen Formats, zu abstrahie-ren, um sich überhaupt vorstellen zu können, wie eine Glocke für einen Menschen klingt, der unsere moderne Schallwelt nicht kennt. Schon in diesem Schritt stoßen die meisten an ihre Gren-zen, denn sich an etwas zu erinnern ist oft sehr viel leichter, als etwas sehr Gegenwärtiges zu vergessen. Doch nur dadurch kann sich der Sinn des Klangs erschließen. Im Grunde müsste ich mich in eine klassische Schallisolation begeben, auf eine einsame Süd-seeinsel, in eine einsame Berghütte ohne Strom und Wasser, in einen Bunker ohne Telefon, um nach einiger Zeit den Glocken-klang annähernd adäquat in seiner geschichtlichen Klanglichkeit auffassen zu können. Ohne diesen Versuch stellen die Glocken

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Nikolaus an Bord (Amsterdam) nur einen neuen von vielen neuen Klängen dar, der Reiz ver-schwindet so schnell, dass nur die Überraschung im ersten Moment in Erinnerung bleibt. Das Nikolausphänomen. Bald löschen weitere neue Reize den alten aus und zurück bleibt nur das Bild des Glockengestells an jenem Ort stolzer Kolonial-geschichte. Vieles hängt also von der Phantasie des Hörenden ab, einer Phantasie, deren Haupteigenschaft nicht nur das Erfinden neuer Zusammenhänge, sondern vor allem das Verdrängen real bestehender Zusammenhänge sein muss. Vor 2500 Jahren, seit in Twente angeblich das Hoornblazen veranstaltet wird, hatten ein paar Leute im fernen Hubei die Idee, eine bestimmte Anzahl von Glocken nebeneinander zu hängen, einige größere darunter zu stellen und auch noch ein paar klingende Steinwinkel hinzuzufü-gen. Darauf spielten sehr wahrscheinlich nur ausgesuchte Amts-träger, denn es bedarf kaum besonderer Phantasie, um sich auszurechnen, wie kostbar diese Glocken sein mussten, als es noch keinen weltweiten Erzhandel und keine elektronisch gesteuerten Schmelzöfen und auch keine Präzisionsgießereien gegeben hatte. Daher durfte natürlich nicht jeder, der Lust hatte, eben einmal so im Vorbeigehen eine Glocke anschlagen. Da es so viele Glocken sind, brauchte man gewiss mehrere Spieler und um diese mehreren Spieler zu einer koordinierten Aktion zu bringen, bedurfte es eines Planes, einer Absprache. Heute würden wir es Komposition nennen, vor allem wenn es schriftlich verabredet wird. Bis dahin reicht unsere einfache Phantasie gerade noch, aber dann scheitern wir doch an der Vorstellung, wie denn das Repertoire beschaffen war. Welche musikalischen Erfahrungen brachten denn die ausgesuchten Amtsträger mit? Stammten sie nur von anderen Amtsträgern ab, oder waren es Kinder von Bauern und Fischern, die sich angedient hatten? Kannten sie viele verschiedene Melodien oder nur einige wenige, dafür aber sehr

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musik welt bilder genau und in vielen Variationen? Diese Fragen können auch mit den modernsten Mitteln der Wissenschaft kaum noch beantwor-tet werden und doch ist deren Klärung sehr wichtig.

Ich könnte annehmen, dass die Zusammensetzung der Musiker im Amt Gegenstand ständiger Eifersüchteleien war, denn diese Posten müssen mit einer besondere Macht verbunden gewesen sein. Schon das Privileg, einen Glockenhammer aufbewahren zu dürfen, der dafür sorgte, dass der Klang seine kristallene, sein vielschichtige, bisweilen melodisch unfassbare Dimension gewann, war gewiss mit entsprechenden Ehren verbunden. Doch als Produkt meiner Phantasie ist dieses Szenario nur eines von vielen Möglichen. Einmal von Studenten gefragt, von welchem Abschnitt der Geschichte wir uns die genaueste Vorstellung machen können, fiel mir nur die Zukunft ein, denn unsere Projektionen in die Zukunft haben zumindest den Vorteil, dass sie tatsächlich Wirklichkeit werden können.

Im Gegenteil dazu sind unsere Vorstellungen von allem Gewesenen ganz sicher nicht wirklich, weil sie stets nur unsere eigene Relation zur Geschichte im Moment der Darlegung präsentieren, mit anderen Worten: wir sprechen meistens über unsere eigene Gegenwart, wenn wir uns mit Geschichte befassen, weil wir nicht in der Lage sind, von unserer Gegenwartserfahrung zu abstrahieren. Wir haben, um ganz ehrlich zu sein, keine Erfahrung damit. Die Zukunft aber ist anerkanntermaßen unerfahrenes Terrain. Niemand kann behaupten, dass unsere dorthin projizierte Phantasie als Voraussehung falsch sei. Die Zukunft kennt ihre Beweise noch nicht. Über die Vergangenheit wissen wir fast nichts, nur eben soviel, dass unsere Beweise von der Qualität einer Nachsehung sind und eher rechtfertigen, was wir glauben, als was wir wissen. Soweit es Musik betrifft, hilft uns

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Nikolaus an Bord (Amsterdam) wenigstens deren phantasiefördernde Beschaffenheit weiter. Klänge vermitteln auch Wissen, wenn wir nur wüssten, wie wir es dazu machen könnten.

Fenster der Universität Wuhan. Von dort kommen die Musiker, die auch nicht wissen, was auf den Glocken der Marquise Yi einst gespielt wurde.

Solcherlei Gedanken mögen vielleicht auch den Komponisten des wundersamen, wenn auch weniger überraschenden Stückes „Moonlight night“ bewegt haben, und er stand den Antworten ebenso hilflos gegenüber. Sein Stück ist der klingende Beweis, dass unsere Liebe zur Geschichte es unglaublich schwer hat, zu den Hintergründen vorzudringen, zu protzig und aufdringlich steht das Ich der Gegenwart im Weg und lässt kaum einen Spalt frei, um einen Blick in die Vergangenheit zu erhaschen.

Wäre da nicht der Ton selbst. Unverfälscht und nackt perlt er dahin, dem einen bedeutet er eine interessante Erholung von all den elektronisch generierten Schallerlebnissen des Alltags, dem anderen zwingt er eine Gänsehaut auf, einen kurzen Augenblick

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musik welt bilder der vergangenen Wahrheit, als würden Totgeglaubte plötzlich mit einem Ufo landen, mit grünen Antennen auf den Köpfen einen Espresso am Automaten ziehen und sich wundern, dass die Gulden nicht mehr funktionieren. Der Komponist Zhang Xiang wird sich bestimmt ebenso gewundert haben, dass seine Musik keine Lust auf Pentatonik hatte, denn die Glocken gaben doch weitaus mehr her.

Das dreidimensional anmutende Spektralbild des Mittelteils zeigt den „schwebenden Teppich“ sentimentaler deutscher Lauten-klänge, die sich in Zhang Xiangs Komposition gemogelt haben. Sehr schön zu sehen sind auch die tiefen großen Glocken zu Be-ginn und am Ende, die besonders lange nachklingen.

In offiziellen Verlautbarungen entschuldigt er dies damit, dass er sich an Traditionen chinesischer höfischer Musik und Volksgesängen orientiert. Da dies dem enttäuschten Sinophilen nicht zu reichen scheint, behauptet er, auch sentimentale deutsche Lautenklänge inkorporiert zu haben, die er auf einer Moselkreuzfahrt in Luxemburg auf sich wirken ließ. Diese für ihn äußerst exotischen Klänge bilden den schwebenden Teppich,

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Nikolaus an Bord (Amsterdam) gespielt auf den zum Glockensatz gehörenden Klangsteinen,46 auf dem sich die kräftige, klare Struktur der Melodie entfaltet.

Transkriptionsentwurf des Mittelteils nach dem Gehör. Die Musiker spielen in Wirklichkeit nach Glockenziffern. Die obere Zeile gibt den dreizeitigen ostinaten Klangteppich wieder. Die melodische Struktur bricht aus dem pentatonischen Klischee aus, fängt sich jedoch artig zum Schluss einer jeden Phrase in einer modernen Floskel.

46 Hubei chime bells „Moonlit night“, Hubei Provincial Museum Ensemble, CHIME Archive, composed by Zhang Xiang, recorded by A. Schimmelpenninck and F. Kouwenhoven at the Hubei Provincial Museum in Wuhan, 29 April 2005.

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musik welt bilder Die Aufführung des Stückes im Tropenmuseum Amsterdam war sehr gut besucht. Jeder Sitzplatz war belegt, mancher sogar mit zwei Personen. Viele Zuhörer standen und schwiegen seltsam berührt. Zhang Xiang machte einen nervösen und fahrigen Eindruck, als wisse er genau, was er hier tat. Er manipulierte unsere Sicht auf die chinesische Geschichte und er versuchte es auf die sanfte Tour mit Introduktion, Ausarbeitung und Kadenz, mit gut vorbereiteten Akzenten und stringenter Entfaltung der Thematik, mit Vielfalt und umfänglichen Reizmomenten, die sorgfältig aufgelöst wurden. Nichts lag ihm ferner als das Nikolausphänomen. Er schien Überraschungen zu hassen.

Herbstliches Amsterdam

So weit die Welten des Hoornblazens und des Glockenspiels auch voneinander entfernt sind, ihre Geschichten fanden zeitlich parallel statt und schließlich kreuzten sie sich. Das war das eigentlich Anrührende.

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Bildverzeichnis

Bildverzeichnis

Sämtliche Grafiken, Transkriptionen, Notationen, Spektralbilder und Fotos sind vom Autor selbst erstellt worden, sofern nicht anders angegeben.

Seite Titel

5 Blick über die Mauer des Campus Campolide: keine Nostalgie

9 Spektralbildausschnitt und Transkription des Gesangs „Encomendaçao das almas“

14 Spektralbild des gesamten Steinbrecherliedes 15 Transkriptionsschema des Steinbrecherliedes 16 Notation des Steinbrecherliedes; Notation von Claudia

Thieße, Johann-Wolfang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, Januar 2007. Geringe Korrekturen betreffen die eingefügten Pausen zum Luftholen.

18 Spektralbildausschnitt aus dem Lied „Rendez-vous“ 19 Melodietranskription des Liedes „Rendez-vous“ 20 Mondfisch im Oceanarium „Vasco da Gama“ von

Lissabon 22 Tuschemalerei „Kamel” von Anne Kerber, mit

freundlicher Genehmigung der Malerin. 24 Galeriefoto der Matouqin, Bejinger Allee, Urumqi, Xinjiang26 Transkription des beginnenden Gesangs mit einsetzender

Pferdekopfgeige 29 Transkribierter Ausschnitt aus dem Adlertanz mit hohen

(schwarzen) und tiefen (weißen) Trommelsequenzen unter der Oboenstimme, die das Stück ordnen.

33 Transkribierter Ausschnitt aus dem wilden Jagdtanz der Xibe, Gesangsstimme und große Rahmentrommeln

35 Zwei mit menschlichen Zügen und je einer Laute

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musik welt bilder

ausgestattete Affenfiguren aus dem dritten Jahrhundert, gefunden in der Oase Hotian, ausgestellt in der „Staatlichen Eremitage St. Petersburg“, bewundert von vielen.

36 Lofsdalen, ein Wintersportort in Härjedalen, auf halbem Wege zwischen Binnen- und Westküste Skandinaviens

41 Transkription und Spektralbildausschnitt der Gesangsmelodie von Karin Edvards

42 Transkription der Kuhhornmelodie von Gustaf Färje 44 Transkription und Spektralbild der Hornstimme von Jonny

Soling 46 Transkription des zweiten Themas des Stückes Vesnyanka

für moderne Bandura von Roman Hrynkiv 47 Spektralbildausschnitt aus Vesnyanka für moderne Bandura

von Roman Hrynkiv 48 Melodievorlage des Pianisten Esbjörn Svensson in „Höpsi“49 Bär auf Beerensuche in Härjedalen 50 Kilifi-Creek und Mida-Creek an Kenias Küste, der weiße

Fleck bedeckt Gedi und scheint wie das Auge eines Dämonen

53 Notation der spieltechnisch modulierten Tonreihen auf der Chivoti von Gedi

55 Transkription des Begrüßungstanzes für Oboe und Trommeln am Südwestufer des Kilifi-Creeks

60-62 Komplette Transkription eines Chivoti-Stückes, aufgenommen am 22. September 1993 in Porini

63 Melodische Zeilenstruktur innerhalb der Abschnitte (22.9.1993)

64 Melodische Zeilenstruktur innerhalb der Abschnitte (19.9.1995)

66 In den Ruinen von Gedi 67 Der Moritzplatz in Kreuzberg achtzehn Jahre später, Fotos

von Ulrike Jähnichen mit freundlicher Genehmigung. 73 Notation des Liedes „Ndamono Vakwaita“ von Sabine

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Bildverzeichnis

Zinke 74 Wandzeichnung im Schloß Bellin, der einstigen Schule, in

die die namibischen Kinder gingen: Ovambo-Dorf mit Mecklenburger Schafen, mit freundlicher Genehmigung von Herbert Zinke.

76 Reinterpretierte Notation von „Ndamono Vakwaita“ 77-79 Notation des Liedes „Vanyasha va Namibia“ von Sabine

Zinke 81 Reinterpretierte Notation von „Vanyasha va Namibia“ Winterliches Sam Neua, Hauptstadt der Provinz Huaphan

im Nordosten von Laos 89 Mister Yengpauly aus dem Dorf Vanglom bei Sam Neua 91 Transkription des Gesangs „Leuangtengdong“ (ATML

00234) 94 Onkel Hoe Xaicheu (rechts) mit seinem Bruder im Dorf

Phuxay bei Viangxay 96 Transkription des pi-Stückes von Hoe Xaicheu (ATML

00228) 97 Die Spektralanalyse zeigt deutlich, wie sauber Onkel Hoe

Xaicheu seine Pi blies und wie „leer“ die Pause war. 99 Das Weg in die Welt: öffentlicher Transport von Sam Neua

in die Landeshauptstadt Vientiane 106 Skizze der „Marmororgel“ von Tadasuni, Seiten- und

Vorderansicht 106 Foto des steinernen Unikats 108 Fotos der steinerne Nuraghen-Pfeife und der Scorriu 110 Spektralbild des Trunfa-Spiels von Don Giovanni Dore 110 Transkription der Rohrflötenmelodie gespielt von Don

Giovanni Dore 111 Transkribierter Ausschnitt des Solos für Flauto Boliviano

namens „Núria“ von Enzo Faveta 111 Spektralbild der Gesamtmelodie von „Núria“

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musik welt bilder 112 Transkribierte Demonstration einer Launeddapfeife des

Padre 113 Spektralbild des Mundorgelspiels von Don Giovanni Dore 115 Die Magistrale Paseo de la Reforma von Ciudad de México,

im September 2006 absolut verkehrsberuhigt 117 Aussschnitt aus einem Wandbild im Anthropologischen

Museum von Ciudad de Mexico, der vier Baumflieger und ihren Priester im Hintergrund zeigt.

119 Ausschnitt von Spekralbild und Transkription des ersten Tanzes der Baumflieger

121 Ausschnitt von Spekralbild und Transkription des zweiten Tanzes der Baumflieger

129 Ausschnitte aus Transkription und Spektralbild des Mitote-Gesangs

132 Gemalte Karte der Umgebung von Amsterdam, Markermeer und Ijsselmeer, ein schwarzes Konfetti bedeckt das Gebiet, in welchem der Nikolaus kreuzte

137 Transkription von „Tsjerne“, 1. Teil 138 Transkription von „Tsjerne“, 2. Teil 138 Transkription von „Tsjerne“, 3. Teil 143 Fenster der Universität Wuhan. Von dort kommen die

Musiker, die auch nicht wissen, was auf den Glocken der Marquise Yi einst gespielt wurde..

144 Das Spektralbild des Mittelteils zeigt den „schwebenden Teppich“ sentimentaler deutscher Lautenklänge, die sich in Zhang Xiangs Komposition gemogelt haben.

145 Transkriptionsentwurf des Mittelteils nach dem Gehör. Die Musiker spielen in Wirklichkeit nach Glockenziffern. Die obere Zeile gibt den dreizeitigen ostinaten Klangteppich wieder. Die melodische Struktur bricht aus dem pentatonischen Klischee aus, fängt sich jedoch artig zum Schluss einer jeden Phrase in einer modernen Floskel.

146 Herbstliches Amsterdam

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Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis Adams, Douglas: Keine Panik. 5 Romane in einem Band. München: Wilhelm Heyne Verlag, 2001.

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Catherine Palmer Finerty: In a Village Far From Home: My Life Among the Cora Indians of the Sierra Madre. Tucson: University of Arizona Press, 2000.

Daniélou, Alain: Booklet zu Portuguese Traditional Music; Musique Tra / AUDIVIS D 8008, 1988. Unesco Collection. Musiques et musiciens du monde. Recordings made by Hubert de Fraysseix 1971.

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152

Literaturverzeichnis

Ortsregister Aguascalientes 127 Alghero 102, 103, 112, 114 Altopiano di Abbasanta 101,

103 Amsterdam 132-134, 139-140,

149 Andijk 133 Aragon 102 Arrábida 12 Aschersleben 69 Baja California Sur 127 Beira Baixa 19 Berlin 4, 67, 68, 69, 127, 135,

151, 152 Bosa 102 Campeche 127 Campolide 5, 7, 9, 147 Castelo Branco 17 Chiapas 127 Chihuahua 127 China 23, 140 Ciudad de México 115, 117,

125, 131, 150 Coahuila 127 Costa Smeralda 102 Dahlem 68, 69 Denenkemp 134 Deutschland 69, 70, 151 Durango 127 Estoril 12

Florenz 25 Gedi 50, 51, 52, 53, 62, 63, 66,

148 Guanajuato 127 Härjedalen 36, 39, 40, 48, 49,

148 Huaphan 83, 84, 85, 95, 147 Hubei 139, 141 Ijsselmeer 132, 134, 139, 150 Indochina 139 Italien 102, 103 Jalisco 127 Jesús María Cortes 127, 130,

151 Kilifi 58 Kilifi-Creek 50, 55, 56, 148 Kreuzberg 67, 68, 148 Lago Omodeo 101, 103 Laos 83, 84, 85, 86, 92, 114,

149 Leigudun 139 Lissabon 5, 10, 12, 20 Lofsdalen 36, 49, 148 Macomer 103 Manhattan 130 Markermeer 132, 150 Michoacán 127 Mida-Creek 50, 148 Mombasa 58 Monsante 19

153

musik welt bilder Monti del Gennargentu 110 München 25 Namibia 79, 81, 82, 149 Nayarit 126, 127, 130, 152 Niederlande, die 139 Nuevo León 127 Oaxaca 127 Olbia 102 Ootmarsum 134 Oristano 101, 102 Österdalarna 43 Overijssel 134 Phuxay 93, 94, 149 Porto 12 Portugal 13 Prinseneiland 135 San Luis Potosí 127 Santa Chiara 101 Sardinien 100, 101, 102, 108,

151 Schweden 47 Sesimbra 12

Setúbal 12 Sinaloa 127 Sindia 103 Skandinavien 36, 148 Südkalifornien 130 Swahiliküste 50 Tabasco 127 Tadasuni 100, 101, 103, 104,

106, 114, 149 Tamaulipa 127 Tejo 5, 6, 7, 20 Tepic 127 Twente 134, 141 Ukraine 45 Urumqi 21, 23, 28, 32, 147 Vanglom 89, 149 Viangxay 92, 94, 95, 149 Vila Nogueira de Azeitão 12 Watamu 50 Wuhan 139, 143, 150 Xinjiang 22, 33, 34 Zacatecas 127

154

Literaturverzeichnis

Personenregister Adams, Douglas 31, 32 af Ugglas, Margaretha 39 Albright, Madeleine 39 Allende, Salvador 123 Baumann, Hermann 128 Callem, António 10 Carrera, Alessandro 109 Clinton, Hilary 39 Davaa, Byambasuren 25 Dore, Don Giovanni 103, 110,

113 Duangmixay Likaya 88 Edvards, Karin 41 Ellington, Duke 47 Falorni, Luigi 25 Färje, Carl-Gustaf 42 Finerty, Catherine Palmer 130 Freivalds, Laila 39 Halonen, Tarja 39 Hjelm-Wallén, Lena 39 Hoe Xaicheu 94, 95, 96, 97 Hörbst, Viola 127 Hotz, H.J. 100 Hrynkiv, Roman 45, 46, 47, 48 ‚Jotka’ (Josef Kuckertz) 69, 71,

72, 74, 76, 84 Karlinger, Felix 108 Kayson Phomvihan 92 Krickeberg, Walter 128, 131

Landgren, Nils 48 Lenna, Philipp R. 129 Lindh, Anna 39 McAleese, Mary 39 Menuhin, Sir Yehudi 46 Nery, Raul 10 Noronha, Maria Teresa de 10 Obrador, Lopez 123, 125, 131 Omodeo, Angelo 101, 114 Papst Johannes Paul 100, 102,

104, 105, 114 Petermann, Werner 128 Pina, Joel 10 Preuß, Konrad Theodor 127,

128, 130 Robinson, Mary 39 Sabrosa, José Antonio 10 Saramago, José 6 Simon, Artur 127 Sivilay Sopha 84, 86, 87, 88, 90,

92, 94, 95, 97 Söder, Karin 39 Soling, Jonny 43, 44 Sorenson, Richard 129 Svensson, Esbjörn 48 Thatcher, Margeret 39 Thieße, Claudia 16 Thurnwald, Richard 128 Uhden, Richard 102

155

musik welt bilder Vasco da Gama 7, 20 Vale, Joaquim do 10 Walling, Bengt-Arne 47 Wegner, Ulrich 127 Yengpauly 89, 91, 92, 97

Zeng Hou Yi (Marquise Yi) 139, 141

Zhang Xiang 144, 146 Zinke, Sabine 69, 70, 71, 72,

73, 75, 79, 80, 82

156