Habilschrift

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1 Stamatios D. Gerogiorgakis Futura contingentia, necessitas per accidens und Prädestination in Byzanz und in der Scholastik

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Stamatios D. Gerogiorgakis

Futura contingentia, necessitas per accidens und

Prädestination in Byzanz und in der Scholastik

2

Meinen Eltern

„Gerne gönnen wir die schnellste Reise,

Gern die hohe Fahrt dir; Güterfülle

Wartet drüben in den Welten deiner,

Wird Rückkehrendem in unsern Armen

Lieb’ und Preis dir.“

Johann Wolfgang von Goethe, Seefahrt (1777)

3

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen 5

Vorwort 8

0. Einleitung 10

0.1. Einordnung der vorliegenden Arbeit in der Forschung 11

0.2. Einige grundlegende Begriffe 21

0.3. Verortung der vorliegenden Arbeit in den Einzeldisziplinen 27

Erster Teil: Überblick über die Vorgeschichte: Spätantike und frühes Mittelalter 30

1. Frühe Lehren über die Vergangenheit 31

1.1. Die Irreversibilität der Vergangenheit 31

1.2. Zeitlosigkeit in der griechischen Patristik 32

1.3. Der Vergangenheitsbegriff in der griechischen Patristik 37

2. Frühe Lehren über die Zukunft 40

2.1. Antike und spätantike Lehren über die Zukunft 40

2.2. Die Unbestimmtheit der Zukunft in den Aristoteles-Kommentaren bis zum 7. Jh. 45

2.3. Die Vorherbestimmung der Zukunft in den theologischen Quellen bis zum 9. Jh. 51

2.4. „Vorauswissen ist nicht Vorherbestimmen“: Eine einflussreiche Formel des 8. Jh. 62

2.5. Frühchristliche und frühmittelalterliche Eschatologie des Weltendes in Ost und West 66

3. Schlussfolgerungen aus den frühen Zeitlehren 74

Zweiter Teil: Hoch- und spätmittelalterliche Antworten auf die Frage, ob die Vergangenheit nachträglich geändert werden kann 78

4. Einleitende Bemerkungen 79

5. Reversible Vergangenheit 82

6. Irreversible Vergangenheit 101

6.1. Der Irreversibilitätsgedanke in der Frühscholastik 101

6.2. Der Irreversibilitätsgedanke im Hoch- und Spätmittelalter 108

7. Schlussfolgerungen aus den Vergangenheitslehren 114

8. Ansätze für die Unbestimmtheit der Zukunft 119

8.1. Gegen die Vorherbestimmung der Todesstunde 119

8.2. Freiwilligkeit und Unbestimmtheit der Zukunft in den Aristoteles-Kommentaren in Ost und West 141

8.3. Gottes Wesen und Kontingenz bei Alain von Lille und im byzantinischen Hesychasmus 149

8.4. Franziskanische Freiheits-Theologie 153

4

8.5. Handlungsfreiheit im Palamismus 186

9. Ansätze gegen die Unbestimmtheit der Zukunft 197

9.1. Prädestination in der Frühscholastik 197

9.2. Die diodorische Möglichkeitskonzeption zu Beginn der Hochscholastik 201

9.3. Fatum, Prädestination und Kontingenz im Thomismus – einschließlich des byzantinischen 216

9.4. Willensfreiheit und Prädestination in der neoaugustinischen Theologie vom 13. bis zum 15. Jh. 238

9.5. Prädestination in den frühen Reformbewegungen 263

10. Schlussfolgerungen aus den Zukunftslehren 273

11. Ein mit der Prädestinationslehre zusammenhängendes Fallbeispiel: Fegefeuer 278

11.1. Das Fegefeuer bei Albert dem Großen 285

11.2. Das Fegefeuer bei Thomas von Aquin 286

11.3. Das Fegefeuer bei Bonaventura 289

11.4. Erste Auseinandersetzungen zwischen Byzantinern und Lateinern über das Fegefeuer im 13. Jh. 292

11.5. Fegefeuer in den frühen Reformbewegungen 297

11.6. Argumente für und gegen das Fegefeuer auf dem Konzil von Ferrara-Florenz 308

11.7. Die Bedeutung des Palamismus für die Ablehnung der Fegefeuerlehre im Osten 326

11.8. Juristische und pekuniäre Analogien der Fegefeuer-Metaphysik 338

12. Schlussfolgerungen aus der Fegefeuerlehre 344

13. Futurologie im Mittelalter 346

14. Allgemeine Schlussfolgerungen 350

Literatur 356

5

Abkürzungen

1 Kor: 1. Korintherbrief, s. NT.

1 Tim: 1. Timotheusbrief, s. NT.

2 Makk: 2. Makkabäerbuch, s. AT.

a.: articulus und articuli.

ad: zu (z.B. ad arg. 3: zu Argument 3).

AT: Altes Testament; s. Abkürzungen Septuaginta / Luther-Übersetzung / Einheitsübersetzung.

arg.: argumentum.

CAG: Commentaria in Aristotelem Graeca, hg. v. Diels, H., 23 Bde

in 51 Folgen, Berlin, 1882-1909.

cap.: capitulum und capitula.

CCCM: Corpus Christianorum Continuatio Mediaevalis, Bde. 1-193 und App., Turnhout, 1971-2002

CCSL: Corpus Christianorum Series Latina, Bde. 1-176, Turnhout, 1954-1965.

col. bzw. coll.: columna bzw. columnae; die Spalten, in die jede Textseite der Patrologia Graeca (PG) und Patrologia Latina (PL) zweigeteilt wird; Plural: „coll.“

d. bzw. dd.: distinctio bzw. distinctiones; Bezeichnung der grob um-rissenen thematischen Einheiten in den Sentenzenkommentaren.

DH: Denzinger, H./Hünermann, P. u.a. (Hg.), Enchiridion symbolo-rum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum, Frei-burg i. Br., 200139

Dan: Buch Daniel, s. AT.

Eccl: Ecclesiastes, s. A.T.

Einheitsübersetzung: Die Bibel. Einheitsübersetzung der heiligen Schrift, Stuttgart, 1990.

f. bzw. ff. [vor einer Zahl]: folium bzw. folia; Blatt bzw. Blätter bei Handschriftenpaginierung. Nicht zu verwechsleln mit der Angabe f. bzw. ff. nach einer Zahl, welche auf die Seite(-n) hinweist, die auf die letztgenannte folgt bzw. folgen.

Joh: Johannesevangeliums, s. NT.

Jona: Buch Jona, s. AT.

6

lec.: lectio.

lib.: liber.

Lk: Lukasevangelium, s. NT.

Luther-Übersetzung: Die Bibel nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers, Berlin, 1965.

Mk: Markusevangelium, s. NT.

Mt: Matthäusevangelium, s. NT.

n.: notitia.

Nah: Buch Nahum, s. AT.

NT: Neues Testament bzw. Novum Testamentum Graece (Nestle-Aland), Stuttgart, 1898.

Offb: Apokalypse des Johannes, s. NT.

opusc.: opusculum.

p. bzw. pp.: pagina bzw. paginae; Seitenangabe von Primärtexten, um diese von anderen üblicherweise beim Zitieren solcher Texte zu verwendenden Angaben – etwa „cap.“, „a.“ usw. – zu unterscheiden.

PG: Patrologiae cursus completus. Series Graeca, accurante Migne, J.-P., 161 Bde, Paris, 1857-1866.

PL: Patrologiae cursus completus. Series Latina, accurante Migne, J.-P., 217 Bde, Paris, 1844-1855.

PO: Patrologia Orientalis, hg. v. Graffin, R. u.a., 51 Bde, Paris u. Brepols, 1904-2008.

Ps: Psalmen, s. AT.

q. bzw. qq.: quaestio bzw. quaestiones.

qc.: quaestionuncula; Unterfrage.

quodl.: quodlibet; bei der Angabe einzelner Quodlibets in einer Sammlung.

resp.: responsio; Erwiderung.

Röm: Römerbrief, s. NT.

Septuaginta: Septuaginta, hg. v. Rahlfs, A., Stuttgart und Athen, 1979.

Vulgata: Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, rec. Weber, R., 2 Bde, Stuttgart, 1969.

7

8

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung ging aus dem Erfurter Forschungspro-

jekt „Zeitvorstellungen im westlichen und östlichen Hoch- und

Spätmittelalter“ hervor, das durch die Förderung der Deutschen For-

schungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des Schwerpunktpro-

gramms 1173 („Integration und Desintegration der Kulturen im eu-

ropäischen Mittelalter“) ermöglicht wurde. Ohne die großzügige Un-

terstützung der DFG seit 2005, auch ohne ein Stipendium des Deut-

schen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) im Jahr 2004, in

dem die Recherche zur Erstellung des Projektentwurfs realisiert wer-

den konnte, wäre diese Studie wahrscheinlich nicht zustande ge-

kommen.

Allen, die im Erfurter Teilprojekt einen Nutzen gesehen haben,

möchte ich meinen tiefen Dank aussprechen: dem Antragsteller Prof.

Dr. Vasilios Makrides (Erfurt), auf dessen Rat und Wissen ich stets

zurückgriff, sowie den Initiatoren des SPP 1173 Prof. Dr. Michael

Borgolte (Berlin) und Prof. Dr. Bernd Schneidmüller (Heidelberg),

deren methodische Ansätze eine wichtige Rolle für meine Orientie-

rung in der Landschaft der mediävistischen Studien spielten.

Diskussionen mit Freunden und Kollegen verdanke ich Vieles, was

ich in den letzten Jahren über die Modal- und Temporalontologie

lernte und zum Zweck der Exegese auf die mittelalterlichen Lehren

anwenden konnte. Seien in diesem Kontext Prof. Dr. Dr. Hans Burk-

hardt (München) und Georgios Karageorgoudis (München) erwähnt,

an die ich meine Dankbarkeit äußern möchte. Danken möchte ich

auch denjenigen Freunden und Kollegen, die mir in den Jahren mei-

ner Beschäftigung mit diesem Projekt, manchmal auch davor, das

Verständnis mittelalterlicher Begrifflichkeiten erleichterten oder

mich mit ihren Bemerkungen zum Nachdenken anregten: Prof. Dr.

Pantelis Bassakos (Athen), Ernest Kadotschnikow (Erfurt), Brigitte

Kanngießer (Erfurt), Sebastian Rimestad (Erfurt) und Dr. Henrik

Wels (Berlin).

Ohne die lehrreichen und ausführlichen Bemerkungen von Prof. Dr.

Josef Freitag und Prof. Dr. Guido Löhrer im Typoskript der Habilita-

tionsschrift wäre dieses Buch sehr unvollständig gewesen. Darüber

9

hinaus hätten sich in dasselbe ohne das Lektorieren von Dr. Nicolai

Staab einige ungeschickte Sprachausdrücke eingeschlichen. Für et-

waige Fehler und Versehen zeichnet weiterhin natürlich allein der

Autor zuständig.

Moosburg an der Isar, 20. März 2014

10

0. Einleitung

Sollten die Hauptaussagen der vorliegenden Arbeit dermaßen kom-

primiert werden, dass sie auf der Rückseite einer Postkarte Platz fin-

den, dann könnten sie folgendermaßen lauten:

In der mittelalterlichen Theologie und Philosophie waren zwei Mög-

lichkeitskonzeptionen bekannt: A. Die diodorische, die das Mögliche

als das ohnehin Einzutreffende ansieht, und B. die aristotelische, die

das Mögliche als einen „offenen“ Ereignisausgang betrachtet, dem

ein ebenfalls „offener“, alternativer Ereignisausgang gegenübersteht.

Durch das Mittelalter hindurch setzte sich in den lateinischen Quel-

len mehr und mehr die diodorische, in den griechischen jedoch die

aristotelische Konzeption als Mainstream durch. Diese Präferenz des

jeweiligen philosophischen und theologischen „Idioms“ westlich und

östlich der Adria hat interessante und wichtige Auswirkungen auf

das religiöse Leben.

Auf der Vorderseite der Postkarte würden idealerweise in großen

Lettern zwei Sprüche aus der Antike stehen, die für die in ihren

Grundzügen geschilderte, mittelalterliche Debatte wegweisend wa-

ren. Der eine würde den Überlegungen des Diodor Kronos entspre-

chen, nach dem die deterministische Möglichkeitskonzeption heute

genannt wird:

Nichts über die Zukunft ist jetzt möglich, es sei denn, es kommt je-

denfalls noch zustande.1

Der andere Spruch würde die Aristoteles-Interpretation zugunsten

der offenen Möglichkeiten wiedergeben, die dem mittelalterlichen

Indeterminismus eigen war:

Von einer jetzt als möglich anzusehenden Seeschlacht sollte gelten,

dass sie in Zukunft weder stattfindet noch nicht stattfindet.2

Möge die Postkartenlektüre (wohlgemerkt würde es sich um eine

Postkarte mit Sonderformat handeln) das Interesse des Lesers aber

1 Vgl. Epiktet, Dissertationes ab Arriano digestae, lib. II, cap. 19, § 1; Cice-

ro, De fato, cap. 9, § 17; Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Analyti-corum Priorum librum I commentarium, in 34 a 12, pp. 18334-1846.

2 Aristoteles, De interpretatione, 18 b 25.

11

auch seine Geduld geweckt haben, die erforderlich ist, um eine lange

Kette von Indizien bis zum Schluss zu verfolgen.

0.1. Einordnung der vorliegenden Arbeit in die Forschung

Die vorliegende Studie stellt einen direkten Vergleich zwischen der

Scholastik und der byzantinischen Philosophie und Theologie dar.

Sie stellt Lehren der Philosophie und Theologie des Hoch- und

Spätmittelalters einander gegenüber und bespricht diese in kritischer,

jedenfalls nicht in doxographischer Hinsicht. Allgemein gesprochen

drehen sich diese Lehren um das Thema, was einerseits als eine un-

bestimmte Möglichkeit, d.h. als kontingent angesehen wurde, was

andererseits als notwendig oder unmöglich verstanden wurde.

Diese für die Theologie der West- wie der Ostkirche wichtigen Vor-

stellungen werden im Zusammenhang mit zwei (jedenfalls schein-

bar) gegensätzlichen Begriffen studiert: Das sind die Prädestination

und die Willensfreiheit. Zwar versuchte ein Großteil der Scholastik,

die Prädestination und die Willensfreiheit zu vereinbaren, aber es ist

ein christlicher Topos, dass die Prädestination einen unverrückbaren

Gang der zukünftigen Ereignisse vorschreibt, und ein aristotelischer

Topos, dass die Willensfreiheit eine unbestimmte Zukunft voraus-

setzt.

Da bereits im Titel der vorliegenden Arbeit die Kontingenz in einem

theologischen Kontext erwähnt wird, wird sich wohl der eine oder

andere Leser der vorliegenden Arbeit an die von Hermann Lübbe

gelieferte, sehr einflussreiche „funktionalistische“ Definition der Re-

ligion als Kontingenzbewältigung3 erinnert fühlen. Obwohl die theo-

retische Verortung von Lübbes Analyse der vorliegenden Arbeit

fremd ist, ist die Assoziation von Kontingenz und Religion der Sache

nach nicht abwegig. Zwar meinte Lübbe eine sich auf die Moderne

beziehende Definition der Religion formuliert zu haben, während es

im vorliegenden Buch um das Mittelalter geht. Abgesehen von Lüb-

bes Intentionen erweist sich seine Religionsdefinition als adäquat in

bezug auf die byzantinische und die scholastische Theologie. Diese

theologischen „Idiome“ des Mittelalters, so wird sich hoffentlich der

Leser aus den nachfolgenden Ausführungen überzeugen können,

3 Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 219-220.

12

trennten sich zwar in vielerlei Hinsicht, aber eine sehr wichtige Dif-

ferenz zwischen denselben lag in ihrer Auffassung der Kontingenz.

Indem sie die Kontingenz anders definierten, definierten sie die Re-

ligiosität und zu guter Letzt die eigene Kultur anders.

Das mag etwas theorielastig erscheinen. Denn im Vordergrund trenn-

ten sich die West- und die Ostkirche in Fragen nach Exaktem: kano-

nisch in puncto Papstprimat, liturgisch in der Verwendung von unge-

säuertem bzw. gesäuertem Brot in der Eucharistie, dogmatisch in der

Frage nach dem Hervorgang des Heiligen Geistes – was zwar nicht

augenscheinlich greifbar ist, aber immerhin etwas mit der Funktion

einer göttlichen Person zu tun hat.

Und doch trennten sie sich eben nicht nur wegen der vorgenannten

Fragen. Ihre Differenzen waren viel hintergründiger. Wo die West-

kirche die Kontingenz, die Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit der

irdischen Angelegenheiten rationalisierte und in Gott bei all seiner

Unerforschlichkeit einen festen, konsequenten König mit Staatsrai-

son sah, der alles unter Kontrolle halten wollte, sah die Ostkirche in

Gott einen eigenwilligen und unberechenbaren Vater; in der Kontin-

genz die selbst in Gott nicht zur Ruhe kommenden Wogen der Zeit

sowie die selbst von Gott nicht entschiedenen, offenen Möglichkei-

ten der Zukunft.

Bei der Behandlung meiner mittelalterlichen Texte beschränkte ich

mich auf Lehren über Reversibilität bzw. Irreversibilität der Vergan-

genheit, Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit der Zukunft, ferner über

die Prädestination. Das sind Teilaspekte, die ein reiches Geflecht von

ideengeschichtlichen Zusammenhängen aufweisen und mir sehr re-

präsentativ erschienen.

Als ein Fallbeispiel der Prädestination gehe ich am Ende dieses Bu-

ches auf die Fegefeuerlehre ein. Die Fegefeuerdebatte eignet sich

sehr zum Nahvergleich beider christlichen Kulturen des Mittelalters

und zwar deswegen, weil sie anhand von Berichten über direkte Be-

gegnungen zwischen scholastischen und byzantinischen Theologen

studiert werden kann.

Trotz der in den letzten Jahrzehnten gut gediehenen Mittelalterfor-

schung bleiben viele Bereiche der mittelalterlichen Philosophie und

Theologie (so gut wie) unerforscht.

13

Das trifft zunächst für die Argumentation bzw. Beweisführung in

byzantinischen philosophischen und theologischen Texten zu. Nicht,

dass wir zu wenig über argumentative byzantinische Texte wüssten.

Eher sind diese nur doxographisch studiert worden.

Denn im Vergleich zu den Philosophen oder Logikhistorikern mit

einer systematischen, nicht nur historischen Kompetenz in Sachen

Argumentation, die sich mit arabischen und lateinischen Texten des

Mittelalters beschäftigt haben, ist die Zahl derer aus demselben Per-

sonenkreis, die sich, sei es am Rande, mit der Argumentation byzan-

tinischer Texte beschäftigt haben, sehr gering.4 An mangelnden

Griechischkenntnissen dürfte das nicht liegen. Sofern logische Ar-

gumente in byzantinischen Texten vorkommen, bleiben sie in der

Regel unanalysiert5 – um vom schlechten Ruf der byzantinischen

Logik unter Logikhistorikern als Folge der Prantlschen These über

die Urheberschaft der Summulae logicales ganz zu schweigen.6

Darüber hinaus sind Studien äußerst selten, in denen die byzantini-

sche Philosophie und Theologie in Gesamtdarstellungen des mittelal-

terlichen Denkens mit einbezogen wird. Die arabische Logik und die

jüdische Philosophie werden viel öfter einbezogen.

Im Jahr 1985 kam der von Tamar Rudavski herausgegebene Sam-

melband Divine Omniscience and Omnipotence in Medieval Philo-

sophy heraus. Mit dieser Thematik beschäftigt sich die vorliegende 4 Über ein paar Namen komme ich jedenfalls nicht hinaus: Dummett, Modal

Syllogisms; Pinborg (mit Ebbesen), Gennadios and Western Scholasticism. Die an der arabischen Philosophie Interessierten aus demselben Fachkreis sind weitaus mehr: der frühere Harvard-Professor Harry Austryn Wolfson; außerdem der für seine Arbeit in der Zeitlogik bekannte Nicholas Rescher; ferner Paul Thom, Dominik Perler und einige noch.

5 Aho / Yrjönsuuri, Late Medieval Logic, 15, stellen fest, dass die byzantini-sche Logik insgesamt unbekannt ist.

6 Die immer wieder besonders von osteuropäischen Forschern angeführte These Carl Prantls († 1888), nach welcher der Autor der Summulae Petrus Hispanus († 1277 (?)) aus einem byzantinischen Urtext übersetzt hätte – was eindeutig widerlegt worden ist – überschattet die Bedeutung der byzan-tinischen Logik nach dem Motto: „Wenn das das beste Argument der Jünger der byzantinischen Logik ist, dann wird es wohl um das ganze Fach nicht viel besser bestellt sein“. Vgl. auch Spade, Thoughts, Words and Things, 42. Eine Kurzfassung von Prantls These und der Diskussion dazu findet der interessierte Leser in Wolfgang Degens Einführung zu: Petrus Hispanus, Logische Abhandlungen, XV-XVII.

14

Arbeit intensiv. Nun glänzt die byzantinische Philosophie im Sam-

melband mit ihrer Abwesenheit. Zwar deutet der Untertitel: Islamic,

Jewish and Christian Perspectives, das Gegenteil an, denn die by-

zantinische Philosophie ist ein guter Teil der christlichen Philosophie

des Mittelalters; sie hat sogar Bereiche, die als Teilzweige der Scho-

lastik betrachtet werden können. Allerdings entdeckt der Leser des

Sammelbandes ziemlich schnell, dass die Besprechungen der christ-

lichen Tradition des Mittelalters auf lateinische Texte der Scholastik

beschränkt sind.

Im Jahr 2005, als diese Arbeit noch in den Kinderschuhen steckte,

erschien mit dem von Dominik Perler und Ulrich Rudolph herausge-

gebenen Sammelband Logik und Theologie der Versuch, viele der

Zusammenhänge, mit denen sich die vorliegende Arbeit beschäftigt,

in Hinblick auf die lateinische sowie die arabische Logik des Mittel-

alters zu erforschen.7 Die Lücke zu schließen, die bezüglich der by-

zantinischen Theologie und Logik übrig blieb, wurde eine Ambition

der vorliegenden Arbeit.

Diese Forschungslücke blieb auch nach der Veröffentlichung des

Sonderheftes der Zeitschrift Vivarium 48/1-2 (2010) noch offen,8 das

den etwas missverständlichen Titel trug: „Aristotelian Logic East

and West, 500-1500: On Interpretation and Prior Analytics in Two

Traditions“. Mit „East“ war hier nämlich die arabische Logik ge-

meint.

Die Texte der byzantinischen Philosophie und Theologie sind bisher

nicht als argumentative Texte studiert worden, statt dessen sind sie

aus dem Gesichtspunkt des orthodoxen Theologen, des Philologen

oder des Historikers erschlossen worden. Die philologischen und

historischen Arbeiten geben Aufschluss über historische, sprachliche

und biographische Gegebenheiten, sehen aber von Kohärenz und

inneren Zusammenhängen, von Kompatibilität und Inkompatibilität

zwischen byzantinischen und sonstigen Lehren ab.9 Die byzantini-

7 Vgl. z.B. Schöck, Aussagenquantifizierung, 36-40. 8 Thematisch berührt auch diese Aufsatzsammlung einige Punkte, die in der

vorliegenden Arbeit besprochen werden. Vgl. z.B. Knuuttila, Medieval Commentators.

9 Zwei große Ausnahmen sind der Sammelband von Ierodiakonou, Byzantine Philosophy sowie David Bradshaws Buch: Aristotle East and West, die aber

15

sche Philosophie wird also in der Regel von Forschern mit einem

philologischen oder historiographischen Hintergrund unter einem

doxographischen Blickwinkel studiert.10

Nicht dass dieser Blickwinkel nur in der byzantinischen Philoso-

phiegeschichtsschreibung besteht. In den Kulturwissenschaften kann

von einem doxographischen Blickwinkel überall dort die Rede sein,

wo Thesen von verschiedenen Autoren besprochen werden, die einen

bunten Flickenteppich ergeben, dessen Farbenstruktur keine inneren

Zusammenhänge aufweist; die eine Fülle aus bunten Positionen er-

geben, welche nur dem Gemeinplatz Nahrung bieten können, dass es

nichts gibt, was es nicht gibt. Ich nenne diese Forschungsrichtung

der Kulturwissenschaften: „Neodoxographie“.11

Den Einwand, dass die Neodoxographie aus der Sicht der analyti-

schen Philosophie und der Logikgeschichte vielleicht ungenügend,

aber aus kulturwissenschaftlicher oder ideengeschichtlicher Sicht

genau das Richtige wäre, möchte ich beim besten Willen nicht gelten

lassen. Die Kulturwissenschaften und die Ideengeschichte dürfen

genauso wenig wie die Philosophie die argumentative Form eines

theologischen oder philosophischen Textes übersehen. Gute Argu-

mente sind für die Kulturwissenschaften durchaus von Belang: Je

besser fundiert eine Proposition, eine Reihe von Thesen, eine Ideolo-

gie ist, desto höher steigen ihre Chancen, akzeptiert und recht lange

einflussreich zu werden; desto beachtenswerter ist es, wenn die Ak-

zeptanz doch ausbleibt; desto leichter kann für diese Proposition,

diese Reihe von Thesen, diese Ideologie propagiert werden. Es sei

denn, es ist anzunehmen, dass das Publikum, an das die Proposition,

die Reihe der Thesen, die Ideologie gerichtet wird, sich größtenteils

die Kontingenzproblematik nicht behandeln. Mit der vorliegenden Arbeit verbindet Bradshaws Buch allerdings die Position, dass die verschiedenen metaphysischen Konzeptionen in Scholastik und byzantinischer Philosophie ausnahmslos Ausgestaltungen verschiedener Aristoteles-Rezeptionen sind. Ierodiakonou, The Anti-Logical Movement, sieht eine Ausnahme bzw. kei-ne Aristoteles-Rezeption hinter dem theologischen Mainstream, der sich nach dem 14. Jh. in Byzanz etablierte.

10 Tatakis, La philosophie Byzantine; Kapriev, Philosophie in Byzanz; Podska-lsky, Theologie und Philosophie in Byzanz; Benakis, Texts and Studies.

11 Vgl. z.B. Nauta, William of Ockham and Lorenzo Valla; ferner die zusam-menhanglosen Einzeldarstellungen von Kap. II bei Borgolte et al. (Hg.), Mittelalter im Labor, 25-169.

16

irrational verhält. Meines Erachtens könnte kein Kulturwissenschaft-

ler oder Ideenhistoriker mit so einer Annahme weiterkommen.

Die Neodoxographie bietet also für die Kulturwissenschaften, deutli-

cher noch für die Philosophie einen relativ geringen Nutzen. Wenn

es nichts anderes gibt, dann sollte man sich mit ihr begnügen. Aber

selbst den relativ geringen Nutzen, der aus der doxographischen Be-

sprechung byzantinischer Quellen zu ziehen ist, haben sich die nam-

haften Philosophiehistoriker des Mittelalters sehr selten zu eigen

gemacht.12

Die byzantinische Philosophie und Theologie werden außerdem der

Scholastik recht selten gegenübergestellt. Solche Gegenüberstellun-

gen sind nicht flächendeckend13 oder konfessionsgefärbt14 oder bei-

des.15

12 Von den zirka 1220 Seiten des 2009 herausgegebenen Sammelbandes von

Pasnau, The Cambridge History of Medieval Philosophy, kommt die byzan-tinische Philosophie auf 11 Seiten der Darstellung von Ierodiakonou. Von mehr als 400 Seiten entfallen auf den Aristotelismus im Osten bei Maren-bon, Medieval Philosophy, nur die Seiten 56-62, wo aber die arabische Phi-losophie den Löwenanteil hat, sowie die Seiten 129-130, wo das Werk von Michael Psellos und Johannes Italos besprochen wird. Marenbon beschränkt sich in Early Medieval Philosophy, einem 162 Seiten langen Buch, in dem es wegen der behandelten Periode sogar zur Hälfte um griechische Urtexte hätte gehen können, auf die frühen griechischen Kirchenväter (etwa 2 Sei-ten), lässt die griechischen Aristoteles-Kommentare außer Acht und stellt nur noch die Frage nach Johannes Scotus Eriugenas Vertrautheit mit früh-christlichen griechischen Texten (keine 2 Seiten). Eriugenas Lehre von der Prädestination bzw. dessen Verurteilung der doppelten Prädestination um-fasst z.B. 3 Seiten. Derselbe John Marenbon erwähnt keine mittelalterlichen griechischen Quellen in seiner Einführung (Titel: Later Medieval Philoso-phy) in die Philosophie der Periode 1150-1350– verständlicherweise, da er dort nur emblematische Autoren der Scholastik bespricht. Besonders spär-lich und pauschal sind außerdem die Bezugnahmen auf die byzantinische Philosophie bei Kretzmann / Kenny / Pinborg, The Cambridge History of Later Medieval Philosophy.

13 Z.B. Papadopoulos, Thomas in Byzanz; Ebbesen / Pinborg, Gennadios and Western Scholasticism; Podskalsky, Die Rezeption der thomistischen Theo-logie.

14 Z.B.: Matsoukas, Dogmatikē kai symbolikē theologia. 15 Z.B.: Florovsky, Cur Deus homo? The Motive of the Incarnation, in: ders.,

Creation and Redemption, 163-170.

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Zur vorliegenden Studie motivierte mich u.a. die Feststellung, dass

die Scholastik einerseits und die mittel- sowie spätbyzantinische Phi-

losophie andererseits als zwei eng verwandte Geisteserscheinungen

des Mittelalters viel öfter einem eingehenden, ja einem problemori-

entierten Nahvergleich hätten unterzogen werden können.16 Ist doch

der Nahvergleich im Urteil der historischen Komparatistik der me-

thodisch unbedenklichste unter allen Vergleichsarten, der bereits von

der Annales-Schule empfohlen wurde.

Ein Vergleich legitimiert sich nicht von allein. Man denke an das

geflügelte Wort vom Vergleich zwischen Birnen und Äpfeln, das

andeutet, es gebe illegitime Vergleiche, da Birnen und Äpfel un-

gleichartig sind. Höchstens kann man dann Birnen und Äpfel unter

dafür erfundenen Aspekten vergleichen: zwar nicht als zu demselben

Baum gehörig, aber etwa unter dem Aspekt der Farbe, der äußeren

Form, des Schädlingsbefalls usw. Es stellt sich dann die Frage, ob

der gewählte Aspekt irgend einen Nutzen bringt oder nicht.

Aber Fragen nach dem Nutzen können lästig sein. Was wäre z.B. der

Nutzen davon, Heiligenviten aus dem Mittelmeer mit nordischen

Heldensagen zu vergleichen? Ein Nutzen ist nicht auszuschließen,

aber, wer beides unter einem einzigen Aspekt erforschen würde,

stünde in Erklärungsnöten.

Ich glaube, im Fall meines Vergleichs in der vorliegenden Arbeit,

keine Aspekte erfinden zu müssen. Trotz manchmal unterschiedli-

cher Terminologien sprachen Byzantiner und Lateiner in der Meta-

physik der Zeit, in der Prädestinationsproblematik, in der Eschatolo-

gie von ein-und-derselben Sache, die sie freilich anders empfanden.

Die Quellen, die ich hier in Betracht gezogen habe, sprechen von

16 Eine einfache Durchsicht der Literaturangaben der vorliegenden Arbeit

bestätigt meine Feststellung: Man findet in denselben entweder Monogra-phien über die scholastische oder über die byzantinische Philosophie und Theologie aber keine über beide Traditionen. Dieser Trend erstreckt sich sogar auf Nachschlagewerke: In Paul Edwards’ Encyclopedia of Philosophy sowie in der von Edward Craig herausgegebenen Routledge Encyclopedia of Philosophy wird die byzantinische Philosophie pauschal in einer eigenen Gesamtdarstellung besprochen und von den thematischen Einzeldarstellun-gen der mittelalterlichen Philosophie ausgeschlossen. Der Leser des zweiten Bandes von Coplestons History of Philosophy, in dem die Philosophie des Mittelalters besprochen wird, wird vergebens nach einer Behandlung der byzantinischen Philosophie suchen.

18

„kontingenten Zukunftsereignissen“ oder von „akzidentieller Not-

wendigkeit“; von „Freiheit“ oder „Unfreiheit“; von „Bestimmtheit“

oder „Unbestimmtheit“ und Ähnlichem. Noch mehr: Sie interpretie-

ren diese Wörter auf dieselbe Art, des öfteren sogar mit Rückgriff

auf dieselbe Tradition: den Aristotelismus.

Bevorzugt habe ich in meiner Auswahl Texte, die einen Anspruch

auf innere Kohärenz erheben. Berichte über Visionen, prosopogra-

phische Details, zeitgeschichtliche Zeugnisse und Volksvorstellun-

gen interessierten mich nur bedingt. In solchen, eher unreflektierten

Quellen, sehe ich mehr die Gefahr, nicht Repräsentatives für kultur-

immanent zu halten, als dass ich das in theologischen und philoso-

phischen Traktaten sehe. Reflektierte Lehren (Theorien also) eignen

sich sehr gut zur Entdeckung der in der Gesellschaft fungierenden

Idealtypen. Nicht zuletzt sind sie ein beliebter Fundus der Religions-

soziologie.17

Meine Quellen sind also selektiert. Das ist nichts Neues, denn alle

Monographien, die sich mit einer breiten Textbasis beschäftigen,

selektieren (manchmal gezwungenermaßen stark) ihre Quellen. Die

Gefahr besteht in solchen Fällen eher darin, eine willkürliche Selek-

tion vorzunehmen. Die Selektion der reflektierten Quellen gegenüber

den unreflektierten ist aber weder willkürlich noch den untersuchten

Quellen selber fremd. Konzilien, Universitäten, Dispute, Debatten

waren Institutionen bzw. institutionalisierte Verfahren, die theologi-

sche Thesen auf ihre Reflektion und Rationalität überprüften und in

einen expliziten oder impliziten Kanon übernahmen. Was in diesem

erweiterten Sinne zum Kanon gehörte, hatte mit Rationalitätsstan-

dards zu tun, die auf lange Sicht richtig angewandt wurden. Werke

von Autoren, die über eine längere Zeitspanne hinweg gelesen wur-

den, große Verbreitung fanden, für Konzilien, öffentliche Debatten

und dergleichen den Anlass gaben; Werke ferner, die von Klerikern 17 Im zweiten Kapitel eines 1904 geschriebenen Aufsatzes weist Max Weber,

Die Objektivität, 197, auf folgende Quellen des mittelalterlichen Idealtypus des „Christlichen“ hin: Glaubenssätze, Kirchenrecht- und sittliche Normen, Maximen, Lebensführung und („zahllose“ wie er bemerkt) Einzelzusam-menhänge. Nun sind Glaubenssätze und Kirchenrecht nichts als Normen, die ausschließlich in reflektierten Lehren zum Ausdruck kommen. Sittliche Normen und Maximen betreffen Normen, die durch reflektierte Lehren mit-bestimmt sind, und nur die Lebensführung und die Einzelzusammenhänge betreffen menschliches Verhalten, das kein reflektiertes zu sein braucht.

19

benutzt wurden, die auf Werke von anderen Autoren antworten oder

selber Antworten hervorriefen, gelten als kanonisiert und als mehr

oder minder reflektiert.

Texte, die bei ihrer Produktion keinen rationalen Selektionskriterien

unterworfen waren, werden in der vorliegenden Arbeit nicht bespro-

chen. In apokalyptischen, visionären, hagiographischen Sparten der

religiösen Literatur sind schrille Gestalten, Sonderfälle, Einzelgän-

ger, lokale geistige Erscheinungen viel mehr vertreten als in der aka-

demischen Literatur, so dass für ein repräsentatives Bild eine sehr

große Menge an Quellen angeführt werden muss. Die Historiker,

Mediävisten und Byzantinisten arbeiten auch mit solchen Quellen

und zwar unter Heranziehung einer ungeheueren Menge von Texten.

Als Nicht-Historiker wollte ich mich nicht mit ihnen messen.

Zudem verraten Schriften aus solchen Sparten oft nicht viel über eine

Gesellschaft. Unreflektierte Vorstellungen spiegeln keinen Versuch

für eine kohärente Weltanschauung wider. Wenn sie überhaupt in

einem theoretischen Rahmen eingebettet sind, sind sie schlecht ein-

gebettet.

Unreflektierte und nicht rezipierte Vorstellungen können sogar irre-

führend für das Verständnis von lebensweltlichen Zusammenhängen

in einer Gesellschaft sein. Dazu möchte ich ein Beispiel aus dem 15.

Jh. nennen, das im Rahmen dieser Arbeit näher beleuchtet wird. Die

Prädestinationslehre, der Glaube an einen unverrückbaren Plan Got-

tes in der Geschichte, ferner daran, dass sich Gott in seinem Urteil

festlegt, sind charakteristisch für die Westkirche. Ablehnung der

Prädestination, der Glaube an die Willkür, ja an die Unberechenbar-

keit Gottes sind dagegen für die Ostkirche charakteristisch. Nun

strebte im 15. Jh. eine böhmische Reformbewegung, die Hussiten,

nach einer Abspaltung von Rom und einer Union mit der Ostkirche.

Es gab 1451 sogar einen Briefwechsel zwischen den Prager Utraqu-

isten und den Konstantinopler Antiunionisten zu diesem Zweck.18 In

Zeitmetaphysik, Sündenverständnis, Eschatologie und Geschichts-

philosophie blieben allerdings die Hussiten von der neoaugustischen

Prädestinationslehre geprägt, ganz im Gegensatz zu ihren byzantini-

schen Unionspartnern.

18 Vgl. Kap. 12 der vorliegenden Arbeit.

20

Mit dem kleinen Teil des byzantinischen Klerus, der eine Union mit

Rom eingegangen war, hätten sich die Hussiten über die Eschatolo-

gie einigen können,19 aber gerade solche Partner haben die Hussiten

natürlich aus politischen Gründen nicht gewollt. Wäre ihnen so et-

was genehm gewesen, so wären sie gleich unter der römischen Juris-

diktion geblieben.

Ein weiteres Beispiel aus exakt derselben Zeit: Der Umstand, dass

Georg Scholarios, das inoffizielle Oberhaupt der byzantinischen An-

tiunionisten, zufällig ein Thomist war und daher in Sachen Prädesti-

nation eine „westlichere“ Meinung vertrat als die Strömung, der er

vorstand, übte keinen Einfluss auf die hesychastische Theologie der

byzantinischen Antiunionisten aus. Metaphysische Grundhaltungen,

so scheint es, sind gegen große politische Umwälzungen immun,

geschweige denn durch das politische „Personal“ zu beeinflussen.

Die Kontakte zwischen den Hussiten und den Antiunionisten in Kon-

stantinopel blieben erfolglos, obwohl sich in den überlieferten Do-

kumenten breite Übereinstimmung abzeichnete.20 Diese Kontakte

hätten also genauso ausbleiben können. Waren sie doch nur politisch

motiviert und theologisch unreflektiert bzw. in keinem theologischen

Rahmen eingebettet.

Die Einbettung in einen theoretischen Rahmen ist wesentlich in den

mittelalterlichen theologischen Traktaten. Diese unterlagen einem

sehr stringenten Auswahlverfahren. Um zum Magister einer mittelal-

terlichen Universität ernannt zu werden, um als Autor theologischer

Schriften einen Namen zu gewinnen, hatte man im Mittelalter den

Beweis zu erbringen, den gelehrten Verstandesgebrauch zu beherr-

schen. Denn Rationalität und Reflektiertheit waren im Mittelalter

institutionalisierte und zu überprüfende Eigenschaften einer Lehre.

Zusammen mit der Loslösung vom Episodischen und Vereinzelten

sind sie meines Erachtens bleibende und sehr interessante Merkmale

der christlichen Theologie.21

19 Vgl. Bessarions Prädestinationslehre im Kap. 9.4 der vorliegenden Arbeit. 20 Eine eher beiläufige Besprechung dieser Dokumente findet der interessierte

Leser im Kapitel 11.5 der vorliegenden Arbeit. 21 Damit behaupte ich nicht, dass es ausschließlich Eigenschaften der christli-

chen Theologie wären. Durch das Studium der buddhistischen Logik oder der islamischen Mu’tazila kann man sich leicht überzeugen, dass die ratio-

21

Hoch- und spätmittelalterliche Theologie und Philosophie werden

heute von Theologen, Ideenhistorikern, Philosophiehistorikern, Reli-

gionswissenschaftlern und Historikern intensiv studiert. Die aus Re-

naissance und Aufklärung stammenden Vorurteile gegen das Mittel-

alter als ein dunkles Zeitalter, das zu unserer heutigen Kultur nur

wenig beigesteuert hätte, erscheinen jetzt überwunden. Die neue Li-

teratur vermittelt ein keineswegs so „unmodernes“ oder „exotisches“

Mittelalterbild.

0.2. Einige grundlegende Begriffe

Vergangenheit ist der Zeitabschnitt und dessen Teile, auf die sich

Ausdrücke im Präteritum und verwandten Tempora beziehen.

Zukunft ist der Zeitabschnitt und dessen Teile, auf die sich Ausdrü-

cke im Futur beziehen.22

Mit „kontingent“ im Sinne der futura contingentia sind in der vorlie-

genden Arbeit Sätze / Ereignisse gemeint (unterschieden wird im

Kontext), bei denen es weder notwendig noch unmöglich ist, dass sie

zutreffen / eintreten.

Mit necessitas per accidens bzw. „zufällige Notwendigkeit“ ist die

Unmöglichkeit gemeint, vergangene Ereignisse ungeschehen zu ma-

chen. Die Zufälligkeit dieser Notwendigkeit bedingt sich durch die

Unumkehrbarkeit der Zeit und nicht durch das Wesen des Ereignis-

ses. Der Umstand z.B., dass ich nichts mehr dagegen unternehmen

kann, dass ich gestern ein weißes Hemd trug, ist auf das Verstreichen

der Zeit zurückzuführen. Dass die Zeit verstrichen ist, so dass meine

nalistische Theologie geographisch gesehen nicht nur in Europa zu lokali-sieren ist. Im Zen-Buddhismus haben wir es allerdings mit episodischen Er-zählungen, nicht mit reflektierten Lehren im hier betrachteten Sinn zu tun.

22 Beide Begriffsklärungen klingen zwar plump, sind aber adäquater als etwa Begriffsklärungen der Art: „Zukunft ist die Zeit nach dem jetzigen Mo-ment“ und „Vergangenheit ist die Zeit vor dem jetzigen Moment“. Diese Begriffsklärungen würden kein Kriterium an die Hand geben, ob sich der Satz: „Gestern sagte der Wetterbericht Schneefall für morgen voraus“ auf Vergangenes oder Zukünftiges bezieht. Nach meinen formalistischen Be-griffsklärungen ist es ein Satz über die Vergangenheit. Für philosophisch in-teressantere Beispiele und Rätsel vgl. die Teile über die „halbvergangenen Sachverhalte“ im Kap. 5 der vorliegenden Arbeit.

22

Hemdenwahl nicht mehr abgewendet werden kann, gehört zu den

Akzidenzien, nicht zum Wesen des Weißes-Hemd-Tragens.

Die Prädestination ist eine von Gott vorgesehene Wandlung eines

Menschen, damit dieser das Heil erlangt. Die mittelalterlichen Ver-

treter der „doppelten Prädestination“ haben neben der Erlangung des

Heils die Verdammnis in der Hölle zum Ziel der Prädestination hin-

zugerechnet.

Diese Begriffsklärungen werden noch im Laufe des Textes anhand

von Beispielen weiter präzisiert.

Von der Antike bis zum frühen Mittelalter war es die logische und

philosophische, nicht die theologische Problematik, die bei der Be-

handlung der Vergangenheit, der Zukunft, der Kontingenz, der Not-

wendigkeit und der Prädestination im Vordergrund stand. Das soll

nicht heißen, dass theologische Zusammenhänge um diese Begriff-

lichkeiten nicht bereits seit der Antike bemerkt worden waren. Im

Gegenteil: Aristoteles und Cicero besprachen durchaus ein paar theo-

logische Konsequenzen der futura contingentia sowie der necessitas

per accidens. Mit dem Christentum wurden diese Konsequenzen

aber viel ausführlicher besprochen – allen voran die Konsequenzen

aus den futura contingentia.

Aus historischer Perspektive bauen die mittelalterlichen Diskussio-

nen über die futura contingentia auf der Analyse der kontingenten

Zukunftsereignisse durch ARISTOTELES auf.23 Es ist bis heute nicht

klar, was Aristoteles’ Position über die futura contingentia in De

interpretatione, IX, genau besagt. Die mittelalterlichen Analysen

stimmen in diesem Punkt genauso wenig überein wie die heutigen.

Auf jeden Fall meinte Aristoteles, dass alles Kontingente (griechisch:

„endekhomenon“) etwas ist, was zutreffen kann, wobei aber auch

sein Gegenteil zutreffen kann. Das lässt allerdings zu, dass der Satz:

„Morgen ist Montag“ ein futurum contingens ist. In einem Sinn ist

nämlich der Satz: „Morgen ist nicht Montag“ ebenfalls möglich.

Aber gerade der Satz „Morgen ist Montag“ erfüllt die Bedingung, die

Aristoteles als charakteristisch für den Fatalismus nennt; die Bedin-

gung nämlich, dass der morgige Tag ein Montag sein muss, wenn es

23 Einen Überblick dieser Diskussionen in philosophiehistorischer Perspektive

versucht Craig, The Problem of Divine Foreknowledge, zu geben.

23

wahr ist, dass morgen Montag ist bzw. dass morgen gar nicht Mon-

tag sein kann, wenn es wahr ist, dass morgen kein Montag ist.24

Wenn z.B. heute ein Sonntag ist, dann ist es notwendig, dass morgen

Montag ist. Wenn heute aber kein Sonntag ist, dann ist es unmöglich,

dass morgen Montag ist. Beide Modalitäten, die Notwendigkeit und

die Unmöglichkeit, schließen die Kontingenz aus. In diesem Sinn ist

Zweifel daran angebracht, ob der Satz „Morgen ist Montag“ kontin-

gent im Sinn der futura contingentia ist.

Man kann natürlich den Sachverhalt, dass morgen Montag ist, „kon-

tingent“ in dem Sinne nennen, dass es z.B. nicht bekannt und daher

nicht sicher ist, ob heute Sonntag ist (= epistemisch kontingent), oder

dass der Satz „Morgen ist nicht Montag“ weder ein logisches Gesetz

noch eine Kontradiktion ist (= de dicto-kontingent). Epistemische

(bekannt oder unbekannt) und formallogische (logisches Gesetz oder

Kontradiktion) Eigenschaften reichen aber nicht aus, um einen Satz

als futurum contingens im Sinne der Zeitlogik zu charakterisieren.

Deshalb finde ich, dass die eingangs gewählte Begriffsklärung besser

der aristotelischen Position bezüglich der Kontingenz im Sinne der

futura contingentia entspricht. Im Klartext schließt sie wie Aristote-

les aus,25 dass der objektive Wahrscheinlichkeitsgrad n eines kontin-

genten Satzes im Sinne der futura contingentia: n = 1 oder n = 0 ist.

Ein futurum contingens, über das kein Zweifel bestehen kann, ist,

dass morgen für eine Weile die Sonne scheint. Der Satz: „Morgen

wird die Sonne scheinen“ hat einen objektiven Wahrscheinlichkeits-

grad 0 < n < 1. D.h. solange ein Teil des morgigen Tages noch Zu-

kunft ist, bedingt die der Zukunft inhärente Unsicherheit, dass ein

kleiner Sonnenschein nicht auszuschließen ist.

Damit ist gemeint, dass die Kontingenz im Sinne der futura contin-

gentia eine originär zeitlogische Eigenschaft des kontingenten Sach-

verhaltes ist, d.h.

1. keine epistemische Eigenschaft des kontingenten Sachverhaltes

und

24 Vgl. für ein anderes Beispiel, das diese Bedingung ausdrückt, Aristoteles,

De interpretatione, 18 a 30-b 1 sowie ebenda, 18 b 6-7 für die fatalistischen Konsequenzen.

25 A.a.O.

24

2. keine lediglich formale Eigenschaft des Satzes, die den kontin-

genten Sachverhalt ausdrückt.

Bezüglich Punkt (1) herrschte im Mittelalter keine Einigkeit. Eigent-

lich tendierten viele mittelalterliche Autoren dazu, die futura contin-

gentia gegen Aristoteles (aber wie sie meinten: mit Aristoteles) auf-

grund von epistemischen Merkmalen zu analysieren.26

Bezüglich Punkt (2) bestand aber Einigkeit. Daraus folgt, dass die

Kontingenz im Sinne der mittelalterlichen Diskussionen um die futu-

ra contingentia eine, wie man sagte, Modalität de re ist.27

De re ist auch eine weitere Modalität, mit der sich die mittelalterli-

chen Autoren intensiv auseinandergesetzt haben: die necessitas per

accidens bzw. die Irreversibilität der Vergangenheit. Der Umstand,

dass ich nichts mehr dagegen unternehmen kann, dass ich gestern

mein weißes Hemd trug, ist auf keine formale Eigenschaft des Satzes

zurückzuführen: „Gestern hatte ich mein weißes Hemd an“, sondern

dieser Umstand ist durch das Faktum bedingt, dass die Vergangen-

heit ein für allemal festgesetzt und vorbei ist. Gestern, bevor ich mir

dieses Hemd anzog, konnte ich sehr viel dagegen unternehmen. D.h.

gestern war es mir möglich, ein anderes Hemd anzuziehen. Heute ist

es mir jedoch nicht mehr möglich, gestern ein anderes Hemd ange-

zogen zu haben. Also ist es im nachhinein notwendig, dass ich dieses

Hemd anhatte.

Die Lehre über diese zufällige, will sagen zeitbedingte, Notwendig-

keit der Vergangenheitsereignisse wurde in der Antike widerspruchs-

los angenommen. Es war für die Autoren der Antike klar, dass kein

Mensch und auch kein Gott imstande war, vergangene Ereignisse

umzukehren. Aber mit dem Christentum sollte ein neues Element in

die Theologie eingehen: die göttliche Allmacht. Ein wirklich all-

mächtiger Gott sollte es zustande bringen können, dass Vergangenes

26 Die Analyse der futura contingentia durch Thomas von Aquin ist ein typi-

scher Fall dieser Tendenz. Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.3. 27 Prior, Three-Valued Logic, 322, definierte (versehentlich?) die Kontingenz

bei Aristoteles als de dicto-Modalität, deutete aber zwei Seiten später an, dass die Notwendigkeit, die in De interpretatione, IX, im Kontext des Fata-lismus zum Ausdruck kommt, de re ist – was natürlich stimmt. Es wäre un-gereimt, wenn Aristoteles mit einer de dicto-Kontingenz gegen eine de re-Notwendigkeit argumentieren wollte.

25

umkehrbar ist. Ansonsten wäre es absurd, zu ihm als Allmächtigem

zu beten, er möge bereits Geschehenes in unserem Sinn lenken. Das

tun wir aber stets. Wenn jemand erfährt, das Schiff sei untergegan-

gen, mit dem sein Sohn fuhr, dann wünscht er, dass sein Sohn nicht

mit dem Schiff in die Tiefe gerissen ist.28 Aber ob sein Sohn mit dem

Schiff in die Tiefe gerissen ist, steht bereits fest, wenn er vom Unter-

gang des Schiffes erfährt. Bloß er weiß in diesem Moment nichts

vom Schicksal seines Sohnes. Ist der Sohn nun wirklich auf der

Wasseroberfläche geblieben und hat eine Chance, gerettet zu wer-

den, dann ist der Wunsch obsolet. Ist der Sohn dagegen mit dem

Schiff untergegangen, dann verlangt der Wunsch, dass die Vergan-

genheit ungeschehen gemacht würde. Aber das ist unmöglich, wenn

die Vergangenheit bereits festgesetzt ist.

Man kann die „Festgesetztheit“ der Vergangenheit auf die Zukunft

übertragen, z.B. denken, dass Gott mich dazu prädestiniert, morgen

so geistesabwesend zu sein, dass ich das Essen versalze.

Aber es ist auch vorstellbar, dass Gott mich mit der Fähigkeit aus-

stattet, mit ein wenig Aufmerksamkeit diesem Schicksal zu entge-

hen. Mit anderen Worten: In einem christlichen Kontext ist es eine

plausible theologische und metaphysische Vorstellung, dass die Ver-

gangenheit zwar unumkehrbar ist – und zwar trotz Allmacht, dass die

Zukunft aber frei wählbar ist.

Die Prädestination geht also von unbedingt stattzufindenden Zu-

kunftsereignissen aus. Die Wahl- und die Willensfreiheit geht aber

von Zukunftsereignissen mit offenem Ausgang aus. Der spätantike

Aristoteles-Kommentator Ammonios hat in diesem Punkt wohl als

erster eine wichtige Unterscheidung getroffen.29 Er hat zwischen Zu-

kunftsereignissen, die unbedingt geschehen werden („esomena“),

und Zukunftsereignissen, die vielleicht doch nicht eintreten werden

(„mellonta“) unterschieden. Wenn ich ein „esomenon“ voraussage,

ohne dass dies am Ende zutrifft, dann habe ich mich geirrt. Wenn ich

aber ein „mellon“ voraussage, ohne dass dies am Ende zutrifft, dann

habe ich mich nicht geirrt.

28 Das Beispiel stammt von Michael Dummett, Bringing about the Past, 341-

342. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139 b 6-7, gefiel mehr ein Beispiel über den in seinen Augen abstrusen Wunsch, Troia erobert zu haben.

29 Ammonius, In Aristotelis De interpretatione, 13834–1396.

26

Zwei Beispiele können diese Begriffe verdeutlichen. Beispiel eines

„esomenon“: „Morgen ist Vollmond“; Beispiel eines „mellon“:

„Morgen werde ich den Rasen mähen“. Wenn ich heute sage: „Mor-

gen ist Vollmond“ und morgen ist kein Vollmond, dann irre ich mich

heute. Aber wenn ich heute sage: „Morgen werde ich den Rasen mä-

hen“, dann bringe ich eine Absicht zum Ausdruck, die ich unter den

normalen Rahmenbedingungen des Rasenmähens als zutreffend ein-

schätze. Wenn es morgen z.B. unablässig und heftig regnet, dann

kann ich den Rasen nicht mähen. Trotzdem habe ich mich heute

nicht etwa geirrt, als ich sagte, dass ich den Rasen mähen werde. Ich

würde ja den Rasen mähen, wenn das nur machbar wäre. Es hat so-

gar gestimmt, dass ich den Rasen mähen würde, wenn das machbar

wäre. Mit anderen Worten setzte meine Aussage: „Morgen werde ich

den Rasen mähen“ gleich die Bedingungen der Handlung voraus; der

Handlung wohlgemerkt, von der die Aussage handelt – von welcher

denn sonst? Ich sagte also mit meiner Aussage nicht aus, dass ich

übermenschliche Fähigkeiten zur Wetterprognose hätte. Auch wenn

ich wegen Regnens den Rasen zum Schluss nicht mähe, habe ich

nicht versagt bei der Erfüllung der Bedingungen, von denen meine

Aussage handelte. Ich habe mich nicht darin geirrt, was ich am fol-

genden Tag tun würde. Ein „mellon“ in diesem Sinne lässt sich als

ein futurum contingens ausdrücken, d.h. als ein Satz über ein kontin-

gentes Zukunftsereignis. Dieser kann zutreffen oder er kann nicht

zutreffen, ohne dass ihm seine Wahrhaftigkeit abgesprochen wird.

Es ist aber nicht ohne Weiteres anzunehmen, dass es „mellonta“ gibt.

Man könnte meinen, dass es keine derartigen Zukunftsereignisse

gibt, die anfangs zukünftig sind, am Ende aber nicht realisiert wer-

den. Man stelle sich vor, dass es keine futura contingentia, sondern

nur futura gibt: Ereignisse, von denen Gott bestimmt hat, dass sie

sich auf alle Fälle zutragen werden. Dies ist eine deterministische

Position. In dieser Härte wurde sie von keinem mittelalterlichen

Theologen vertreten. Viele zogen es vor, aus der Sicht Gottes alle

Ereignisse als zeitlos realisiert zu betrachten, und die futura contin-

gentia so zu verstehen, dass sie die (durchgängig bestimmten) Zu-

kunftsereignisse bedeuten, deren Ausgang aber aus menschlicher

Sicht ungewiss ist. Der in den byzantinischen litterae getroffene Un-

terschied zwischen „mellon“ und „esomenon“, den die Scholastik

nicht kannte, wäre damit nur ein Unterschied im menschlichen Wis-

27

sen, der für Gott nicht besteht. D.h. Gott erkennt alles, was sich er-

eignen wird. Die Menschen sind nicht wirklich frei, etwas anderes zu

tun, als was Gott vorausweiß. Es sei denn, man nennt Freiheit das

Wissensdefizit des Menschen. In diesem Sinne denken die Men-

schen, frei zu sein, dies oder das tun zu können. Soweit eine sehr

pauschale Begriffsklärung der futura contingentia, die sich im Rah-

men dieser Arbeit präzisieren wird.

Dass Antike und Spätantike die Vergangenheit als festgesetzt und die

Zukunft als offen voraussetzten, hat ein paar Theologen des Mittelal-

ters, meist lateinischer Zunge, nicht daran gehindert zu denken, dass

die Zukunft aus Gottes Sicht Vergangenes, jedenfalls Festgeplantes

darstellt, während andere, sowohl Byzantiner als auch einige Scho-

lastiker, der Ansicht waren, kraft Gottes Allmacht könnte auf die

Vergangenheit – umso mehr auf die Zukunft – Einfluss geübt wer-

den. Die antiken und spätantiken Analysen zu diesem Thema wurden

im Mittelalter nicht ohne Weiteres übernommen.

Einige Fragen, die ich an die Quellen stelle, sind: Warum konnte sich

die neoaugustinische Theologie trotz des anfänglichen Häresie-

Verdachts die spätmittelalterliche lateinische Theologie mehr beein-

flussen als der Scotismus und der Ockhamismus? Warum wurde der

Prädestinationsgedanke in Byzanz abgelehnt? Warum wurde in By-

zanz derjenige, der eine Prädestination akzeptierte, nicht mehr als

orthodox angesehen? Was machte die Scholastik deterministisch in

der Prädestinationslehre, rigoros im Sündenverständnis und schließ-

lich weltbejahend, während die byzantinische Theologie indetermi-

nistisch, nachsichtig und weltabgewandt blieb?

0.3. Verortung der vorliegenden Arbeit in den Einzeldisziplinen

Ich stelle obige und ähnliche Fragen je nachdem in philosophischer

und religionswissenschaftlicher Hinsicht. Wie etwa die Philologie

und die Geschichtsschreibung brauchen die Disziplinen der Philoso-

phie und der Religionswissenschaft, solange sie mit historischen

Texten arbeiten, Tatsachenfeststellungen, Materialien über die Quel-

len. Diese Materialien sind ihnen ein Mittel zu einem bestimmten

Zweck, in dem sie sich von Philologie und Geschichtsschreibung

unterscheiden. Die Philosophie und die Religionswissenschaft be-

trachten nämlich Inhalte von Lehren in ihrem nicht nur historischen,

28

sondern auch theoretischen Zusammenhang. Sie zeigen z.B., inwie-

fern Gedankengüter nicht aus unmethodisch zusammengefügten Tei-

len bestehen, sondern kohärente Systeme darstellen.

Die Kohärenz einer Lehre, so scheint es, ist eine notwendige Bedin-

gung dafür, dass derselben Plausibilität zugeschrieben wird. Ein An-

zeichen für diese allgemeine Feststellung bieten die in der Geschich-

te so zahlreichen Lehren, Ideologien, religiösen Glaubensartikel, die

unter der Last ihrer eigenen Ungereimtheiten zusammenbrachen. Ist

eine Lehre inkohärent, dann muss sie falsch sein. Auf Ungereimthei-

ten bzw. Freiheit davon hinzuweisen, ist ein wertfreies Urteil, das ich

mir gelegentlich zu fällen erlaube.

Derartige Urteile sind wichtige Bestandteile der Arbeit des Philoso-

phiehistorikers par excellence, aber auch des Religionswissenschaft-

lers, wenn dieser eine bestimmte Perspektive vertritt.30

Nachdem ich den Bereich der vorliegenden Arbeit im Sinne der Dis-

ziplinen abgesteckt habe, möchte ich meine Behandlung des Stoffs

von einer bestimmten Denkschule absetzen.

Diese Arbeit verwendet uralte, traditionelle Dichotomien: Ost und

West, byzantinisch und scholastisch. Vom in den Kulturwissenschaf-

ten neuerdings etablierten Brauch angespornt, würden aber Leser, die

vom postmodernen Diskurs und den postcolonial studies herkom-

men, dazu tendieren, Kategorien wie: byzantinisch, scholastisch, öst-

lich, westlich, usw. als überholt zu betrachten und nur noch von un-

zähligen, parallel zueinander bestehenden „Diskursen“ zu sprechen.

Indizien für diese Betrachtungsweise fänden sie in der Geschichte

genug. Nicht zuletzt gab es unter den Theologen und den Philoso-

phen des Mittelalters außer orthodoxen Byzantinern und romtreuen

Scholastikern sozusagen auch „Zwitterwesen“: östliche Thomisten,

westliche Antithomisten, Byzantiner die sich ausgerechnet mit

Thomas-Kritik gegen die östliche Theologie auflehnten, westliche

Theologen, die Rom verschmähten und gen Konstantinopel mit

30 Für eine Umschreibung dieses Augenmerks eignen sich die programmati-

schen Desiderate von Kippenberg, Diskursive Religionswissenschaft, pas-sim. Die Legitimität anderer Richtungen der Religionswissenschaft, zum ei-nen der sehr stark an der deskriptiven Soziologie orientierten, zum anderen der Religionsgeschichte, möchte ich damit selbstverständlich nicht bestrei-ten.

29

Hoffnung aufblickten usw. – um von der Pluralität der Schulen in-

nerhalb der hier pauschal „romtreuen Scholastik“ genannten Haupt-

strömung ganz zu schweigen. Der Überblick geht irgendwann verlo-

ren.

Meine Antwort lautet, dass diese Erscheinungen lediglich Seiten-

ströme neben beiden den Ton angebenden Mainstreams darstellten,

dem byzantinischen und dem scholastischen; dass die Lokalisierung

des europäischen Ostens und Westens trotz sich verwischender

Grenzen eine seit dem Mittelalter mehr klare denn unklare Sache ist.

D.h. diese Arbeit kommt zuletzt zum Schluss, dass die o.g. Dichoto-

mien berechtigt sind.

Es könnte allerdings sein, dass es Leser obiger Art gibt, die bei die-

ser Antwort (unberechtigterweise) an eine petitio principii denken

müssen.

Sie würden Bedenken gegen Begriffsdichotomien insgesamt hegen.

„Wenn man Begriffsdichotomien hineininterpretiert, dann interpre-

tiert man sie heraus“, würden sie meinen. Solchen Lesern möchte ich

Folgendes ans Herz legen: Sie sollten beim Lesen der Arbeit bei Be-

griffspaaren wie byzantinisch / scholastisch, östlich / westlich usw.

scare quotes verwenden. Nachdem sie mit dem Lesen fertig sind,

müssten sie sie wieder streichen – so jedenfalls meine Vermutung.

Sie müssen herausfinden, dass die Trennung zwischen einem christ-

lichen Osten und einem christlichen Westen bestehen bleiben kann,

da sie wenigstens was die Vergangenheits-, Zukunfts- und Kontin-

genzvorstellungen der mittelalterlichen Theologie anbetrifft insge-

samt berechtigt ist. Damit soll nicht gesagt sein, dass Ost und West,

Byzantinisches und Scholastisches Denkblöcke darstellen, die sich

als gegensätzlich wahrnahmen.

30

Erster Teil: Überblick über die Vorgeschichte: Spätantike und frühes

Mittelalter

31

1. Frühe Lehren über die Vergangenheit

1.1. Die Irreversibilität der Vergangenheit

Die Philosophie der Spätantike und des Frühmittelalters ging von

vergangenen Tatsachen aus, die im nachhinein nicht mehr beeinflusst

werden können. Diese Grundposition lässt sich auf ARISTOTELES

zurückführen. Aristoteles hatte die Intuition ausgedrückt, dass eine

auf die Vergangenheit bezogene Absicht sinnlos ist („Niemand kann

den Wunsch hegen, Troia erobert zu haben“).31 Im Anschluss an den

Dichter Agathon sprach er ferner Gott die Fähigkeit ab, die Vergan-

genheit rückgängig zu machen.32 Christliche Autoren der Spätantike

haben diese These gelegentlich explizit vertreten, allerdings ohne

sich auf Aristoteles zu beziehen. Vgl. etwa HIERONYMUS:

Wenngleich Gott alles kann, kann er die Jungfrau nach ihrem Fehl-tritt [wörtlich: „Fall“] nicht mehr in ihrer Jungfräulichkeit wieder-herstellen [wörtlich „erheben“].33

Bei AUGUSTIN steht zu diesem Punkt mehr als ein Aphorismus. Au-

gustin nennt einen Grund, aus dem selbst Gott den „Fehltritt“ einer –

vormaligen – Jungfrau nicht mehr rückgängig machen kann. Dies

würde, meint er, einen Widerspruch nach sich ziehen:

Wer also sagt, Gott sollte bewirken, dass das, was geschehen ist, rückgängig gemacht würde, wenn er allmächtig ist, sieht nicht ein, Folgendes zu sagen: Gott solle bewirken, dass das, was wahr sei, falsch sei, ohne aufzuhören, wahr zu sein.34

Hinsichtlich einer Beschränkung der göttlichen Allmacht sollten in

der Hochscholastik Peter Damiani und Thomas von Aquin auf das

Beispiel des Hieronymus zurückgreifen. In der lateinischen Tradition

wurde die in ihrer Jungfräulichkeit nachträglich nicht mehr herzu-

stellende, ehemalige Jungfrau zum plakativen Ausdruck der Irrever-

sibilität der Vergangenheit.

Das Bild, das die griechischen Texte vermitteln, ist komplizierter.

Bezugnahmen der griechischen patristischen Literatur auf die Irre-

31 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139 b 6-7. Übersetzungen in der vorlie-

genden Arbeit stammen, wenn nichts anderes angegeben ist, vom Verfasser. 32 Ebenda, 1139 b 10-11. 33 Hieronymus, Epistulae, Ad Eustochium, ep. 22, § 5 (bzw. PL 22, col. 397). 34 Augustin, Contra Faustum, 26, PL 42, col. 481.

32

versibilität der Vergangenheit sind sehr selten,35 dafür werden Gottes

Zeitlosigkeit und uneingeschränkte Allmacht vehement betont.

Die byzantinischen Kommentatoren der Nikomachischen Ethik lie-

ßen die Irreversibilität der Vergangenheit unbeachtet. Bereits AS-

PASIUS (2. Jh.)36 unterließ es, das sechste Buch zu kommentieren, in

dem Aristoteles die Irreversibilitäts-These bespricht. Über die Bü-

cher, die Aspasius selber „ekpeptōkota“ nennt, d.h. „fallen gelasse-

ne“ (die Lücke erstreckt sich auch über das fünfte Buch), können

verschiedene Vermutungen geäußert werden. Vielleicht waren für

Aspasius diese Bücher nicht verfügbar. Vielleicht hatte Aspasius

gedacht, dass sie (Anfang des 2. Jh.!) endgültig verloren gegangen

waren. Vielleicht hat er sie einfach ignoriert, da er dachte, dass sie

nicht der Kommentierung bedürfen.37

Die Lücke beim Aspasius-Kommentar kann eine der Ursachen dafür

gewesen sein, dass die Irreversibilität der Vergangenheit in der ge-

samten theologischen und philosophischen Literatur von Byzanz in

sehr seltenen Fällen beachtet wurde.38

1.2. Zeitlosigkeit in der griechischen Patristik

Mit der Zeit zusammenhängende logische Probleme waren bereits

ARISTOTELES bekannt. Sie sind Probleme, die mit der Semantik von

Ausdrücken zusammenhängen, die Wandel bedeuten. Aristoteles

wies z.B. auf die Umstand hin, dass das Entstehende nicht ist, wäh-

rend es entsteht.39 Es drängt sich die Frage auf, inwieweit es berech-

tigt ist, von der Entstehung etwa eines Menschen zu sprechen, wenn

der Mensch während seiner Entstehung nicht ist. Inwiefern handelt

es sich dabei um seine Entstehung? „Seine Entstehung“ ist ein Aus-

druck mit einem Possessivpronomen. Aber der „Besitzer“ der Ent-

stehung, der mit dem Possessivpronomen angedeutet wird, der

Mensch nämlich, ist noch am Entstehen und besteht gar nicht. 35 Einen der seltenen Fälle findet man bei Johannes Chrysostomos – vgl. das

nachfolgende Kapitel. 36 Aspasius, In ethica Nicomachea quae supersunt commentaria. 37 Vgl. Barnes, An Introduction to Aspasius, 19. 38 Vgl. Kap. 6 der vorliegenden Arbeit. 39 Aristoteles, De interpretatione, 17 b 34.

33

Ebenfalls kann hinterfragt werden, welche Anhaltspunkte dazu be-

rechtigen, vom Ende eines Entstehungsprozesses zu sprechen.

Auf diese Fragen ging später Gregor von Nazianz ein und zwar mit

Bezug auf die Entstehung des Sohnes Gottes. Es kann schon jetzt auf

sein Resultat vorgegriffen werden: Der Zeitbegriff sei antinomisch,

was die triadische Theologie rechtfertige, wenn diese die Entstehung

der zweiten Person der Dreieinigkeit weder zu einem bestimmten

Zeitpunkt ansetze noch als außerhalb der Zeit ansehe.

EUSEBIUS VON CÄSAREA († 339) brachte sein Plädoyer für die di-

mensionslose Ewigkeit mit einer Entlehnung aus dem Neoplatoniker

und Pythagoreer des 2. Jahrhunderts n. Chr. NUMENIUS VON

APAMEA zum Ausdruck:

Von allem, was ist, gilt, dass es weder [lediglich] war noch jemals vergeht. Es besteht ewig zu einer abgesteckten Zeit, nämlich der ge-genwärtigen allein. Mit jedem, der die Gegenwart in Ewigkeit um-benennen möchte, stimme ich überein. Von der Vergangenheit sol-len wir denken, dass sie nach ihrer Verstreichung ein für allemal verging und nicht mehr dazu überging zu sein. Die Zukunft besteht noch nicht, will es aber künftig vermögen, dazu überzugehen zu sein.40

Die Zukunft kann laut Text dazu übergehen zu sein. Die Zukunft

weist also Eusebius als eine Möglichkeit aus, die nicht unbedingt

eintritt. In der Passage wird ohne Zweifel indeterministisches Ge-

dankengut zum Ausdruck gebracht.

BASILIUS VON CÄSARIA († 379) argumentierte gegen die Realität der

Zeit:

Ist denn die Zeit nicht derart, dass die Vergangenheit verstrich, die Zukunft noch nicht besteht, und die Gegenwart der Wahrnehmung entgeht, bevor sie erkannt wird? Derart ist alles Entstehende von Na-tur aus, ob es allgemein wächst oder schwindet. Was aber etabliert und beständig ist, darauf deutet die Natur nicht hin.41

40 Eusebius von Cäsarea, Praeparatio evangelica, lib. 11, cap. 10, PG 21, coll.

873-874. 41 Basilius von Cäsarea, Homiliae IX in hexaemeron, hom. 1, cap. 5, PG 29,

coll. 13-14. Ein Zusammenhang zwischen dieser Stelle und der Lehre in der Physik von Aristoteles, 218 a 8-25, nach der die Zeit aus keinen Gegen-wartsmomenten bestehen kann, da das Jetzt kein Zeitabschnitt selber ist, sondern die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft, liegt auf der Hand.

34

Wie oben kurz erwähnt versuchte GREGOR VON NAZIANZ († 390) in

seiner Rede Über Gottes Sohn42 die Zeit als antinomisch darzustel-

len:

Ist die Zeit zu einer Zeit oder zu keiner Zeit entstanden? Wenn sie zu einer Zeit entstanden ist, welche war das? Welche sind die anschlie-ßenden Momente? Wie ist das Enthaltensein in derselben beschaf-fen? Ist sie aber zu keiner Zeit entstanden, was soll dann die nutzlose Spitzfindigkeit, eine zeitlose Zeit einzuführen?43

Die Zeit ist nach christlicher Auffassung ein Teil der Schöpfung. Sie

muss daher entstanden sein. Die Entstehung der Zeit zieht aber laut

Gregor von Nazianz Widersprüche nach sich. Entweder gab es einen

Zeitpunkt, in dem die Zeit entstand (d.h. in dem Gott sie erschaffen

hat), oder es gab keinen Zeitpunkt, in dem die Zeit entstand. Im ers-

ten Fall ist die Zeit zu einer Zeit entstanden, im zweiten ist sie zu

keiner Zeit, zeitlos also, entstanden. Im ersten Fall muss die Zeit, zu

der der Zeitpunkt gehört, in dem die Zeit entstand, wiederum in ei-

nem Zeitpunkt entstanden sein usw. Dieser Gedankengang führt zu

einem unendlichen Regress, was den ersten Fall ausschließt. Um den

Regress aufzuhalten, ist es erforderlich, eine Entstehung einzuführen,

die außerhalb der Zeit zustande kommt – die zeitlose Entstehung al-

so, die den oben erwähnten zweiten Fall ausmacht. Da aber die Ent-

stehung eine Veränderung ist und eine Veränderung stets die Ver-

streichung von Zeit bedeutet, ist eine zeitlose Entstehung eine cont-

radictio in adjecto, womit der zweite Fall ebenfalls wie der erste

auszuschließen ist. Um es mit Gregor von Nazianz auszudrücken, ist

die Annahme der zeitlosen Zeit eine „redundante Spitzfindigkeit“

(„perittē sophia“).

Analog dazu seien, so Gregor weiter, die Beispiele, die von Eunomi-

anern und Arianern gegen das nizäno-konstantinopolitanisches

Glaubensbekenntnis vorgebracht würden (eine Formulierung, zu der

Gregor wesentlich beigetragen hatte): Dieses lehrte, Gott-Sohn sei

42 Gregor von Nazianz, Orationes theologicae, or. 3, FC 22 (bzw. or. 29, PG

36, coll. 74-102). Unter demselben Titel, De filio, gibt es zwei Reden Gre-gors. Es ist nur die in der jeweiligen Edition verwendete Reden- bzw. Opus-kel-Nr., die eindeutig ist.

43 Ebenda, § 9, FC 22, p. 1885-8 (bzw. or. 29, PG 36, col. 85 B). Meine Über-setzung weicht stark von der H.J. Siebens in FC 22, p. 189, ab.

35

„aus dem Vater geboren vor aller Zeit“.44 Geborensein ist aber eine

Eigenschaft, die eine Entstehung betrifft und in Folge dessen das

obige Paradox zu Folge hat. Gregor von Nazianz lässt die Eunomia-

ner und Arianer die Frage stellen, ob Gott-Sohn während seiner Zeu-

gung da war oder nicht – zweifellos eine Fangfrage. Denn wenn er

da war, dann kann nicht davon gesprochen werden, dass er dem Va-

ter geboren wurde (man denke an die oben skizzierten logischen

Schwierigkeiten im Kontext von Verben, die eine Entstehung bedeu-

ten), wenn er aber nicht da war, dann besteht ein dogmatisches Prob-

lem. Gregor von Nazianz optierte dafür, dass beide Sätze aus diesem

kontradiktorischen Paar („Gott-Sohn wurde aus dem Gott-Vater ge-

boren, während er da war“ und „Gott-Sohn wurde aus dem Gott-

Vater geboren, während er nicht da war“) falsch sind.

Mit seiner Besprechung dieser Antinomien will Gregor von Nazianz

die Intuition nahe legen, eine Entstehung beziehe eine Abweichung

vom Bivalenzprinzip mit ein, d.h. vom Prinzip, dass jeder Satz ent-

weder wahr oder falsch ist und keine andere Möglichkeit besteht.

Laut Bivalenzprinzip bestehen kontradiktorische Satzpaare aus ei-

nem wahren und einem falschen Satz, was aber im vorangegangenen

Beispiel scheinbar nicht gilt.

In diesem Kontext versteht Gregor das Lügnerparadox. Dieses Para-

dox betrifft den Satz: „Ich lüge jetzt“. Wenn dieser Satz wahr ist,

dann lüge ich, also ist der Satz falsch. Aber wenn er falsch ist, dann

lüge ich nicht. Aber wenn ich nicht lüge, ist das, was ich sage – obi-

ger Satz nämlich – wahr. Aber wenn dieser Satz wahr ist, dann lüge

ich usw. Aufgrund der mit der Entstehung und dem Lügnerparadox

zusammenhängenden Widersprüche zieht Gregor das Fazit, dass das

Bivalenzprinzip nur bedingt gilt:

Was ist denn daran verwunderlich, wenn dort [d.h. in der Frage, ob Gott-Vater Jesus geboren wurde, während er da war oder während er nicht da war] die Proponenten beider Ansichten falsch liegen, zumal

44 Diese deutsche Formulierung des griechischen Ausdrucks „ek tou patros

gennēthenta pro pantōn tōn aiōnōn“ (lat.: „ex patre natum ante omnia saecu-la“) lautet sowohl im römisch-katholischen Messbuch für die Bistümer des deutschen Sprachgebietes als auch in der evangelischen Agende gleich. Im Liturgikon der deutschsprachigen orthodoxen Gemeinden wird dagegen die Formel bevorzugt: „[...] der vom Vater gezeugt ist vor aller Zeit“. Für die hier vorgenommene Analyse der Prädikate, die Wandel signalisieren, sind diese übersetzerischen Feinheiten nicht von Relevanz.

36

auch hier [d.h. in der Entstehung sowie im Lügnerparadox] Gegen-sätzliches zutrifft, so dass dir die Weisheit [er meint das Bivalenz-prinzip] als Dummheit erscheint?45

Man sieht also, dass Gregor den Widerspruch nicht als Gedankenfeh-

ler, sondern als einen Defekt in der Natur von Gegebenheiten wie

Wandel und selbstreferentielles Lügen einräumte.

Neben diesem Ansatz, der die triadische Theologie als (angeblich

harmlos) widersprüchlich ausweist, gab es in der griechischsprachi-

gen Theologie des 4. Jh. den Versuch, Rätsel, die der Begriff Zeit

aufwirft, unter einem logischen Gesichtspunkt zu lösen. Folgende

Stelle aus JOHANNES CHRYSOSTOMOS († 407) setzt z.B. unter Hin-

weis auf das Verweilen Gottes in der Zeitlosigkeit die Prädestination

voraus:

Denn genauso wie Stattgefundenes nicht rückgängig zu machen ist, kann sich auch dieses [er meint eine Prophezeiung – S.G.] nicht als Nichtzutreffendes herausstellen, obwohl es künftig ist.46

Aus der Irreversibilität der Vergangenheit folgt also nach Johannes

Chrysostomos die durchgängige Bestimmtheit des Zukünftigen aus

der Sicht Gottes. Johannes Chrysostomos kommentiert dabei die

Stelle 26,39 aus dem Matthäusevangelium: „Mein Vater, wenn es

möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber“ (Luther-

Übersetzung). Dass Gott-Vater der Bitte Jesu nicht nachgekommen

ist, interpretiert Johannes dahin gehend, dass es gar nicht möglich

war, den festen Plan der Ereignisse, der vergangenen wie der zukünf-

tigen, zu ändern. Aus Gottes Sicht gebe es keinen Unterschied zwi-

schen der Gewissheit, mit der Vergangenes stattgefunden hat, und

der Gewissheit, mit der Zukünftiges stattzufinden hat.

Weitere frühchristliche Stimmen griechischer Sprache, die sich für

Gottes Ewigkeitsperspektive bezüglich aller Zeiten optierten, waren

im 4. und 5. Jh. THEODORET VON KYROS und NEMESIUS VON EME-

SA:

Da wir nichts von dem wissen, was der Fall sein wird, und nur Ge-genwärtiges betrachten, fällen wir keine richtigen Urteile über das,

45 Gregor von Nazianz, Orationes theologicae, or. 3 (= De filio), FC 22 (bzw.

or. 29, cap. 9, PG 36, col. 85). 46 Johannes Chrysostomos, In illud: Pater, si possible est, transeat, cap. 1, PG

51, col. 33. Vgl. auch ders., Interpretatio in Isaiam, cap. 1, § 3, PG 56, col. 17.

37

was geschieht. Aus Gottes Sicht ist aber Bevorstehendes wie Ge-genwärtiges.47

Nemesius meinte zudem,48 dass es Urteile gibt, die die Menschen

fällen (er meinte temporalisierte Sätze) und „zwangsläufig“ – wie er

meint – unrichtig sind bzw. nicht einmal zufällig richtig sein können.

Sie sind unrichtig, nicht weil das, was sie beschreiben, nicht stattfin-

den würde, sondern weil alles Kontingente, was sie aber beschreiben

wollen, unbestimmt und alles Unbestimmte unbekannt ist. In Bezug

auf die Urteile, die Gott fällt, nimmt Nemesius jedoch eine andere

Position ein, denn Gottes Sicht setze Zukünftiges und Gegenwärtiges

gleich.

Die Positionen von Gregor von Nazianz und Basilius von Cäsarea

scheinen nahezulegen, dass die gesamte Zeit einschließlich der Ver-

gangenheit irreal ist, dass die Existenz der Zeit jedenfalls Paradoxien

nach sich zieht. Die Positionen von Johannes Chrysostomos, Theo-

doret von Kyros und Nemesius von Emesa über die göttliche Sicht

der Zukunftsdinge scheinen dagegen die Zeitlehre des Thomas von

Aquin vorwegzunehmen.49

1.3. Der Vergangenheitsbegriff in der griechischen Patristik

Aus Diskussionen über die Natur der Vergangenheit, der Gegenwart

und der Zukunft, die gleichzeitig die klassische Philosophie beschäf-

47 Nemesius von Emesa, De natura hominis, cap. 43, pp. 12926 –1301 (Ausga-

be Morani) (bzw. PG 40, col. 801 B – Ausgabe Matthaei). Vgl. auch Theo-doret von Kyros, Interpretatio in Psalmos, XCI, Vers 12, PG 80, col. 1621 A.

48 Nemesius von Emesa, De natura hominis, cap. 36, p. 10621-22 (Ausgabe Mo-rani) (bzw. PG 40, col. 748 – Ausgabe Matthaei).

49 Bradshaw, Time and Eternity, 353-361, meint, dass die griechische Theolo-gie von den Kappadokiern bis zu Maximus dem Bekenner die Ewigkeit nicht als etwas Statisches, sondern als einen ständigen Hervorgangs-Prozess darstelle. Das sei ein bereits bei Pseudo-Dionysius Areopagita vorhandenes Element der patristischen Ewigkeitslehre (ebenda, 347-349), und nur in die-sem Sinne sei die positive Verwendung des Begriffs Prädestination („proo-rismos“) bei Maximus dem Bekenner zu verstehen. In diesem Sinne hätte die griechische Patristik alles andere als die Ewigkeitslehre des Thomas von Aquin vorweggenommen. Bradshaws Unterscheidung zwischen einer stati-schen und einer dynamischen Ewigkeit ist mir unklar.

38

tigten, entflammte im neuen Kontext der christlichen Theologie ein

neuer Streit, der keine Vorläufer in der klassischen Philosophie hatte.

Die antagonistischen Schulen der Aristoteliker und der Megariker

waren einer Meinung bezüglich wahrer Sätze über die Vergangen-

heit. Sie besagte, dass solche Sätze nicht nur wahr, sondern notwen-

dig wahr sind. Es war die griechische Patristik, die an diesem selte-

nen Fall der Übereinstimmung von Aristotelikern und Megarikern zu

rütteln begann.

Ein allmächtiger Gott hat die Macht, Vergangenes zu ändern. Es

scheint also, dass eine christliche Philosophie die Wahrheit von Sät-

zen über die Vergangenheit nicht als notwendig, infolgedessen die

Vergangenheitsereignisse selber nicht als irreversibel betrachten

kann.

Einige Bemerkungen von DIDYMOS DEM BLINDEN, einem christli-

chen Neoplatoniker aus Alexandrien und Zeitgenossen von Basilius

von Cäsarea, implizieren die Ablehnung der Irreversibilität der Ver-

gangenheit – die Reversibilität der Vergangenheit also. Didymos

bemerkte, dass die Heilige Schrift in Bezug auf Gott die grammatika-

lischen Tempora als völlig gegeneinander austauschbar betrachtet:

Vieles, was sich künftig ereignen wird, wird als bereits geschehen betrachtet. Auch bereits geschehene Ereignisse werden als sich gera-de ereignende oder zu geschehende betrachtet. Der heilige Geist pflegt in seinem Wissen und Können, alles vorauszusagen. Nicht zu-letzt deutet er die Sachen um die unaussprechliche Einrichtung her-um als bereits geschehen, bevor diese passieren. Im einundzwanzigs-ten Psalm50 sagt etwa der noch nicht Fleisch gewordene Herr: „Sie haben meine Hände und Füße durchgraben“; und außerdem: „Sie teilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Ge-wand“.51

50 Ps 22,17 bzw. 19. Didymos nennt den zweiundzwanzigsten Psalm: „einund-

zwanzigsten“ da das die Nummerierung dieses Psalms in der Septuaginta ist, die ihm natürlich vorliegt.

51 Didymos der Blinde, De trinitate, lib. 3, cap. III, 161 a, PG 39, coll. 820-821. Didymos zitiert die Verben beider Stellen: „eryxan“, „diemerisanto“ und „ebalon“ im Aorist – korrekt nach der Septuaginta, Ps 21,17 und 19. In der Luther-Übersetzung, Ps 22,19, stehen beide letzteren Verben („teilen“, „werfen“) im Präsens, in der deutschen Einheitsübersetzung, Ps 22,17 und 19, stehen alle drei Verben im Präsens. Obwohl ich mich bei der Überset-zung der Entlehnungen aus dem Alten Testament an der Luther-Übersetzung orientiere, setze ich die Verben ins Präteritum im Sinne von

39

Didymos fährt mit vielen weiteren Beispielen fort. Er fasst wenig

später zusammen:

Gott, der die Nachkommen vorausgesehen hat und alles Vergangene und Künftige als Bestehendes und Gegenwärtiges betrachtet, ist alle Ewigkeit ein einziger Maßstab und nichts ist gesondert. Und wie vor Kurzem gesagt weiß er im voraus und versprach offen, dass die Menschen mit dem der Form nach unvergänglich da gewesenen und einzig geborenen Sohn gleichartig werden.52

CYRILL VON ALEXANDRIEN, der im 5. Jh. lebte, meinte, dass Gott

Vergangenes rückgängig machen kann. Er könne Sünden, die bereits

geschehen sind, ungeschehen machen. Dies nennt Cyrill „Aufhebung

des Geschehenen“ („anhairesis tōn symbebēkotōn“).53

Die nächste bedeutende Gestalt der griechischen Theologie nach Cy-

rill in Bezug auf unsere Frage ist MAXIMUS DER BEKENNER zwei

Jahrhunderte später. Auch dieser war ein Exponent der Reversibili-

täts-These. Da Gott alles könne, so Maximus, wann auch immer er

so wolle, ziemt es sich für ihn nicht zu zögern, etwas in Sein zu ver-

wandeln („ousiōsai“).54 Gott kann also jegliches Ereignis so ausge-

hen lassen, wie er will, unabhängig davon, wann sich das Ereignis

zuträgt. Vor dem Hintergrund dieser These ist wohl zu verstehen,

dass Maximus genauso wie Cyrill der Meinung war, vergangene

Sünden können aufgehoben werden.55

In der Literatur ist bemerkt worden, dass die Zeitlehre des Maximus

einen „erneuerten“ Aristotelismus darstellt.56 Diese pauschale Ein-

Didymos, der auf der Grundlage der in der Septuaginta verwendeten gram-matikalischen Tempora seine Interpretation aufbaut. Im hebräischen Origi-nal (Das Alte Testament. Interlinearübersetzung, Bd. 4, p. 576) steht an der Stelle Ps 22,17 kein Verb. Die Stelle Ps 22,19 sowie der ganze Kontext ist in Gegenwartsformen formuliert.

52 Didymos der Blinde, De trinitate, lib. III, cap. 4, 167 b-168 a, PG 39, coll. 837-840.

53 Cyrill von Alexandrien, Responsiones ad Tiberium diaconum sociosque suos, p. 5992-3.

54 Maximus der Bekenner, Capita de caritate, centena IV, cap. 4, PG 90, col. 1048 D. Vgl. auch: centena IV, cap. 3, col. 1048 C.

55 Maximus der Bekenner, Liber asceticus, cap. 22, PG 90, col. 928. 56 Betsakos, Stasis aeikinētos. Einen Aristotelismus mit neoplatonischen Ele-

menten und christlicher Teleologie sieht bei Maximus auch Plass, Transcendent Time, 270-272; 274-277.

40

schätzung ist korrekt im folgenden Sinne: Im Mittelalter wurden in-

deterministische Lehren oft als aristotelistisch wahrgenommen. Und

Maximus ging von einer (radikal-indeterministischen) reversiblen

Vergangenheit aus.

2. Frühe Lehren über die Zukunft

2.1. Antike und spätantike Lehren über die Zukunft

Aristoteles meinte, dass kontingente Ereignisse von einem früheren

Zeitpunkt betrachtet nicht unbedingt stattzufinden haben. Sobald ge-

schehen, werden sie zwingend stattgefunden haben. Mit anderen

Worten werden kontingente Ereignisse abwendbar sein, noch bevor

sie sich ereignen, aber unabwendbar sein, nachdem sie sich ereignet

haben.

Die Abwendbarkeit kontingenter Zukunftsereignisse entfachte in der

Antike eine Debatte zwischen Aristotelikern und Megarikern.57 Letz-

tere hielten die Möglichkeiten, die die Zukunft offenhält, für unbe-

dingt stattzufindende Zukunftsereignisse. Geschehe etwas weder

jetzt noch in Zukunft, so die Möglichkeitsauffassung der Megariker,

dann war es von vornherein nicht möglich. Die einflussreichsten Ar-

gumente der Megariker für ihr Möglichkeitsverständnis waren das

Meisterargument von Diodor Kronos sowie das Getreidemäherargu-

ment. Diese sollten beweisen, dass alles, was möglich ist, nichts an-

deres ist als das, was eintreten muss. Über beide Argumente berich-

ten ausschließlich Aristoteliker oder Stoiker, die sie wegen des in

ihnen innewohnenden Nezessitarismus ablehnten. Diese Berichte

geben allerdings niemals den Wortlaut dieser Argumente wieder.

Von seinem Wortlaut nach nicht überlieferten Meisteargument seien

hier nur die uns heute bekannten Prämissen angeführt: „Alles Ver-

gangene ist notwendig“; „Nichts Unmögliches folgt aus Mögli-

chem“; „Es gibt Möglichkeiten, die niemals realisiert werden“. Dio-

dor führte seine Argumentation ad absurdum und ließ die letztge-

nannte Prämisse als die Unplausibelste fallen.58

57 Allgemein über diese Lehren berichten Hintikka, Time and Necessity, pas-

sim; Vuillemin, Nécessité ou contingence, passim. 58 Die Hauptquellen des Meisterarguments sind Alexander von Aphrodisias, In

Aristotelis Analyticorum Priorum librum I commentarium, CAG 2.1, pp.

41

Was das Getreidemäherargument anbetrifft, so ist seit der Spätantike

folgende Formulierung desselben bekannt: „Falls du das Getreide

mähen wirst, dann ist es nicht der Fall, dass du das Getreide viel-

leicht mähen wirst und vielleicht nicht mähen wirst, sondern du wirst

es auf alle Fälle mähen“.59

Aristoteles drückte in seiner Analyse des berühmten Beispiels einer

künftigen Seeschlacht eine den Nezessitarismus zurückweisende In-

tuition aus. Weder das Eintreten noch das Ausbleiben einer morgigen

Seeschlacht, so Aristoteles, sei aus heutiger Perspektive notwendig.

Einzig notwendig ist der Umstand, dass die Seeschlacht entweder

stattfinden oder nicht stattfinden wird.60

17719-1828 und 18334-18412, Cicero, De fato, cap. 9, § 17, und Epiktet, Dis-sertationes ab Arriano digestae, lib. II, cap. 19, § 1. Für ausführliche Analy-sen des Meisterarguments vgl. Prior, Diodoran Modalities; ders., Diodorus and Modal Logic; Becker, Zur Rekonstruktion des Kyrieuon Logos; Hintik-ka, Aristotle and the ‘Master Argument’; Rescher, A Version of the ‘Master Argument’; Gaskin, The Sea Battle and the Master Argument, sowie eine Reihe von Aufsätzen im zweiten Band der Zeitschrift Philosophiegeschichte und logische Analyse 2 (1999) über das Meisterargument; darunter Gaskin, Tense Logic and the Master Argument; Weidemann, ‘Aus etwas Möglichem folgt nichts Unmögliches’.

59 Die älteste Kunde über den Inhalt des Getreidemäherarguments liefert erst Ammonius, In Aristotelis De interpretatione, CAG 4.5, pp. 13124 –27. Ferner beschäftigten sich mit diesem Argument Stephanos, In Aristotelis De inter-pretatione, CAG 18.3, p. 3514, und der anonyme Autor des Codex Parisinus graecus 2064, In Aristotelis De interpretatione, 5412-17. Moderne Interpreta-tionen des Getreidemäherarguments lieferten Seel, Zur Geschichte und Lo-gik des θερίζων λόγος; Bobzien, Determinism and Freedom, 78-81; 189-91.

60 Die im Mittelalter intensiv rezipierte Stelle der Interpretationsschrift 19 a 28-35, lautet folgendermaßen: „[Es ist] zwar für alles notwendig, dass es <entweder> ist oder nicht ist, und auch, dass es <entweder> sein oder nicht sein wird; nicht aber ist das, was man behauptet, wenn man das eine ge-trennt vom anderen behauptet, notwendig. Ich meine damit, dass es bei-spielsweise zwar notwendig ist, dass morgen eine Seeschlacht entweder stattfinden oder nicht stattfinden wird, dass es aber nicht notwendig ist, dass morgen eine Seeschlacht stattfindet. Dass jedoch morgen eine Seeschlacht <entweder> stattfindet oder nicht stattfindet, ist notwendig. Da es sich mit dem Wahrsein der Sätze in derselben Weise verhält wie mit den Dingen, ist es demnach bei allem, womit es sich so verhält, dass (sich) je nachdem, wie es sich gerade trifft, (die eine oder die andere von zwei entgegengesetzten Möglichkeiten verwirklicht) und überhaupt so, dass einander entgegenge-setzte Möglichkeiten bestehen, offensichtlich notwendig, dass es sich auch mit dem (Wahrsein der des entsprechenden kontradiktorischen) Aussagen-

42

Dass Aristoteles nezessitaristische Ansichten unter keinen Umstän-

den nahegelegt wurden, wird aus der Rezeptionsgeschichte seiner

Besprechung der Mitys-Legende in der Poetik klar. Dass die Statue

des ermordeten Mitys genau auf den darunter stolzierenden Mörder

desselben einstürzte und diesen erschlug, scheint, so Aristoteles,

nicht zufällig zu sein, sondern einem unserer Gerechtigkeitsintuition

gemäßen Plan zu genügen.61

Aristoteles bezieht hier zwar nicht Stellung für eine höhere Gerech-

tigkeit, allerdings drückt er sich etwas missverständlich aus. Er be-

hauptet, dass das Theaterpublikum Bezugnahmen auf eine höhere

Gerechtigkeit in den Szenarien („mythoi“) von Theaterstücken als

geschmackvoll empfindet, so dass solche Bezugnahmen die be-

troffenen Szenarien „mit Sicherheit schöner erscheinen lassen“. Dass

Aristoteles den Geschmack des Publikums teilen könnte, ist eine

mögliche Interpretation der Stelle. Die Rezeptionsgeschichte dersel-

ben zeigt aber, dass diese Interpreation niemals erwogen wurde. We-

der im Mittelalter noch zu irgendeiner anderen Zeit wurde auf diese

Aristoteles-Stelle im Sinn eines Plädoyers für den Nezessitarismus

oder den Fatalismus verwiesen.

Im Gegenteil wurde im Mittelalter oft angenommen, dass Aristoteles

im Seeschlachtbeispiel den Gedanken nahe legen wollte, dass es Er-

eignisse gibt, die weder eintreten noch nicht eintreten.62

Aristoteles selber betrachtete es in De interpretatione wie gerade

eben angemerkt als notwendig, dass jedes künftige Ereignis entweder

eintritt oder nicht eintritt. In diesem Punkt waren sich beide im Mit-

telalter geläufigen Übersetzungen der Interpretationsschrift ins La-

teinische einig, die von Boethius aus dem 6. sowie die von Wilhelm

von Moerbeke aus dem 13. Jh.63

paar(es) in dieser Weise verhält.“ (Hermann Weidemanns Übersetzung, pp. 15-16).

61 Aristoteles, Poetik, 1452 a 7-9 (Arbogast Schmitts Übersetzung, pp. 15). 62 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.4. 63 Aristoteles, De interpretatione translatio Boethii, cap. 9, p. 1710-12; Aristote-

les, De interpretatione translatio Guillelmi de Morbeka, cap. 9, p. 4924-25. Boethius übersetzt freier als Moerbeke, aber seine Übersetzung an der Stel-le: „non[:] futurum esse cras bellum navale necesse est vel non futurum es-se“ kommt auf dasselbe hinaus wie die Formulierungen von Aristoteles in 19 a 30-31 und Moerbeke (respektive: „ou mentoi esesthai ge aurion

43

Trotzdem war es im Spätmittelalter nicht unüblich, die aristotelische

Position in diesem Punkt so zu interpretieren, dass sie vorgesehen

hätte, dass es unbestimmt wäre, ob Sätze über kontingente Zu-

kunftsereignisse wahr oder falsch wären bzw. dass sie weder wahr

noch falsch wären. Aristoteles hat zwar dies an einer Stelle nahege-

legt, ohne sich aber gleich diesbezüglich festzulegen. Er sagte, dass

sich eine künftige Seeschlacht, angenommen, dass sie zufällig ist, aus

heutiger Sicht weder ereignen noch nicht ereignen müsste („deoi

an“).64 Aristoteles meinte wohl, dass ein unnachgiebiger Indetermi-

nist, der meint, dass das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten bezo-

gen auf Sätze über die Zukunft nicht einzuhalten ist, zukünftige Er-

eignisse als gleichzeitig zukünftig eintretend und zukünftig nicht ein-

tretend betrachten muss.

Aristoteles bezog also nicht Stellung für den strengen Indeterminis-

mus. Die Distanz aber, die Aristoteles gegenüber dem strengen Inde-

terminismus bewahrte, ist in beiden lateinischen Übersetzungen der

Interpretationsschrift durch Boethius und Wilhelm von Moerbeke

leicht zu übersehen. Dort wird der griechische Ausdruck für die un-

gewisse Möglichkeit „deoi an“ (ein optativus potentialis) als Futur

(„oportebit“) wiedergegeben, was dem mittelalterlichen Leser beider

lateinischen Übersetzungen wohl den Eindruck vermittelte, Aristote-

les meinte, es werde tatsächlich gelten, dass sich die künftige See-

schlacht weder ereignet noch nicht ereignet.65 Wohl deswegen gab es

scholastische Autoren im Spätmittelalter, die Aristoteles eine Positi-

on zuschrieben, die viel entschiedener die Unbestimmtheit der Zu-

kunft behauptete, als dies am Wortlaut des Philosophen zu erkennen

ist.

Aber zunächst weiter zur Antike:

Wie gesagt haben auch die Stoiker die diodorische Möglichkeitsauf-

fassung verworfen. Sie waren zwar Deterministen, sie haben z.B. das

Fatum bejaht, sie betrachteten aber die Möglichkeiten als keine logi-

naumakhian anankaion oude mē genesthai“; „non tamen fieri navale bellum cras necessarium neque non fieri“.)

64 Die Stelle bei Aristoteles findet sich in De interpretatione, 18 b 24-25, bringt aber nicht die endgültige Position des Stagiriten zum Ausdruck.

65 Aristoteles, De interpretatione translatio Boethii, cap. 9, p. 157-8; Aristote-les, De interpretatione translatio Guillelmi de Morbeka, cap. 9, p. 4812.

44

schen Notwendigkeiten, wie dies mit Diodors Möglichkeitsauffas-

sung der Fall ist.66

Cicero hielt beide Möglichkeitsauffassungen, die stoische wie die

aristotelische, für überzeugend und neigte nach eigenem Bekunden

zur stoischen.67

Nicht dass er die stoische Vorsehungslehre für unproblematisch ge-

halten hätte. Cicero ließ eine Figur aus seinem Dialog Über die Na-

tur der Götter folgende Argumente gegen die stoische Vorsehungs-

lehre vorbringen: Die Götter könnten doch nicht menschliches Übel

wissentlich geschehen lassen, denn es sei schlecht vorstellbar, dass

die Götter so böse seien, Mord, Wohlergehen von Kriminellen, Got-

teslästerung zuzulassen. Wenn dies wider Erwarten der Fall sein soll-

te, so gäbe es keine Berechtigung, Menschen als Urheber dieser Ver-

sagen, als Täter also, zur Rechenschaft zu ziehen.68

Diese Argumente bleiben im Dialog Über die Natur der Götter ohne

Erwiderung und scheinen gegen die Existenz von Göttern zu spre-

chen. Cicero wollte jedoch den Göttern nicht die Existenz abspre-

chen und nahm in De divinatione an, dass den Göttern alles unbe-

kannt sei, was auch sonst niemand wisse, so z.B. zukünftige, men-

schenverschuldete Versagen.69 Auf diese Art wären menschliche

Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit mit der Existenz von Göt-

tern vereinbar. Die Götter seien demnach relativ indifferente Halb-

wissende göttlicher Natur, die einen Teil der Geschehen lenken wür-

den (daher die göttliche Vorsehung stoischer Prägung), einen ande-

ren wiederum nicht (daher die menschliche Zurechnungsfähigkeit).70

66 Für eine Diskussion von Chrysipps Kritik an Diodor vgl. Bobzien, Determi-

nism and Freedom, 102-116. Es sei dahingestellt, ob Bobziens Behauptung stimmt, dass die stoische Möglichkeitsauffassung im Gegensatz zur diodori-schen den Nezessitarismus nicht mit einbezieht.

67 Cicero, De natura deorum, 95. Vgl. auch ders., De fato, cap. 6-7, §§ 12-14. Dem an Ciceros Schicksals- und Freiheitsbegriff interessierten Leser steht die exegetische Monographie von Schallenberg, Freiheit und Determinis-mus, zur Verfügung.

68 Cicero, De natura deorum, lib. III, cap. 79-93. 69 Cicero, De divinatione, lib. I, cap. 56, 127. 70 Einen ausführlicheren Überblick über die antike Rezeptionsgeschichte die-

ser Thematik von Aristoteles bis Cicero bieten Kreter, Kann Fabius bei ei-ner Seeschlacht sterben? und Talanga, Zukunftsurteile und Fatum.

45

Versuche, beide extremen Ansichten zugunsten der Kontingenz bzw.

Notwendigkeit wahrer Sätze über die Zukunft zu kombinieren, blie-

ben auch nach Cicero nicht aus. Alexander von Aphrodisias (2.-3. Jh.

n. Chr.), kein Christ also, war bemüht, beiden unvereinbaren Positio-

nen, sowohl dem diodorischen Determinismus als auch der aristoteli-

schen Unbestimmtheit der Zukunft, mit Wohlwollen entgegenzu-

kommen. Er erkannte den diodorischen Möglichkeitsbegriff in sol-

chen Beschreibungen, die sich auf Gottes Wissen beziehen, den aris-

totelischen jedoch in Beschreibungen, die sich auf die menschliche

Wahrnehmung beziehen.71 Im Sinne des diodorischen Determinis-

mus lenken die Götter notwendig die zukünftigen Ereignisse, wäh-

rend es aus aristotelischer Sicht zukünftige Ereignisse gibt, die ihrem

Ausgang nach offen sind, so dass zunächst auch den Göttern unbe-

kannt bleiben muss, ob diese sich zutragen werden oder nicht.

Die sich aus dieser Mischung ergebende Diskrepanz zwischen göttli-

cher Lenkung und Unbestimmtheit der Zukunft hielt Alexander für

harmlos verglichen mit dem Fatalismus, den die stoische heimar-

menē-Lehre nach sich zog.

2.2. Die Unbestimmtheit der Zukunft in den Aristoteles-

Kommentaren bis zum 7. Jh.

Von der Antike bis zum Ende des Mittelalters wurde die Ungewiss-

heit der Zukunft ungebrochen als ein sehr wichtiger Punkt der aristo-

telischen Philosophie behandelt.

Wie bereits gesagt, besprach ALEXANDER VON APHRODISIAS (Ende

2. bis Anfang 3. Jh.) den diodorischen Möglichkeitsbegriff anhand

des Meisterarguments.72 Man kann Alexanders Bericht sinngetreu

folgendermaßen wiedergeben: Meint man mit „Dieser Strohhalm

kann verbrennen“ die Fähigkeit des Strohhalms, unter gegebenen

Bedingungen zu verbrennen, dann hängt es von den genannten Be-

dingungen ab, ob der Strohhalm wirklich verbrennt. Deutet man die-

se Bedingungen sehr weit, dann kann man es für „möglich“ halten,

dass der Strohhalm nur aufgrund dessen brennbar ist, dass er ein

71 Alexander von Aphrodisias, De fato, pp. 21015-2129. 72 Alexander Aphrodisiensis, In Aristotelis Analyticorum Priorum librum I

commentarium, in 34a12, CAG 2.1, pp. 18334-1846.

46

Strohhalm ist, d.h. unabhängig von seiner Umgebung. Dann „kann“

er auch auf dem Meeresboden verbrennen. Dies sei, so Alexander,

Philons Möglichkeitsverständnis. Laut Philon können auch Ereignis-

se als möglich gelten, die niemals eintreten. Aristoteles habe laut

Alexander ein viel differenzierteres Möglichkeitsverständnis, das

physikalische Umstände zur Frage, ob etwas möglich sei, miteinbe-

ziehe. Diodor habe schließlich ein äußerst deterministisches (Ale-

xander benutzt kein Adjektiv, das exakt diese Bedeutung hätte, aber

dies ist der Sinn seiner Darstellung) Möglichkeitsverständnis, das nur

Geschehenes oder unbedingt zu Geschehendes als möglich zulasse.

Dadurch, dass Alexander sich nur über die Semantik des Möglich-

keitsprädikats äußert, entzieht er sich der Debatte, welche von den

drei von ihm dargestellten Positionen, Philons, Aristoteles’ oder Di-

odors, die richtige ist. Wer Recht hat, hängt davon ab, welche Bedeu-

tung des Möglichkeitsprädikats zu favorisieren ist. Alexander verla-

gerte also die Diskussion dazu, welches Möglichkeitsprädikat für

unsere Zwecke adäquat ist. In seinem Kommentar bezog er keine

Stellung dazu.

Gegen Diodors Möglichkeitsverständnis argumentierte BOETHIUS (†

524). Als wohl einziger lateinischer Autor des frühen Christentums

hatte dieser wohl ein sehr gutes Verständnis griechischer philosophi-

scher Originaltexte. Im Anschluss an Aristoteles, De interpretatione

9, betrachtete Boethius die Zukunftsaussagen als weder bestimmt

wahr noch bestimmt falsch.73 Aber was (noch) nicht wahr ist, kann

Gott nicht wissen. Genaue Prognosen und doktrinäre Eschatologie

lassen sich unter diesen Voraussetzungen nicht rechtfertigen. Weil

das Meisterargument dieser Eigenschaft der Zukunftsaussagen nicht

entspricht, betrachtete es Boethius als einen Lehrsatz über eine intui-

tiv nicht naheliegende Bedeutung der Termini „Möglichkeit“ und

„Notwendigkeit“.74 73 Boethius, Commentarii in librum Aristotelis Peri hermeneias, prima editio,

lib. I, de futuris contingentibus (Bd. 1 der Ausgabe Meiser) – alternativ in: PL 64, col. 333 B-C.

74 Boethius, Commentarii in librum Aristotelis Peri hermeneias, secunda edi-tio, lib. III, cap. 9, Bd. 2, p. 234 (Ausgabe Meiser) – alternativ in: PL 64, col. 511 A: „Diodorus possibile esse determinat, quod aut est aut erit; im-possibile, quod cum falsum sit non erit verum; necessarium, quod cum ve-rum sit non erit falsum; non necessarium, quod aut iam est aut erit falsum“. Seine Meinung, dass die aristotelische, nicht die diodorische Mögli-

47

AMMONIUS unterschied in seinem Kommentar zur aristotelischen

Interpretationsschrift (Ende 5. oder Anfang 6. Jh.) zwischen ver-

schiedenen Zukunftsauffassungen anlässlich dieser Möglichkeits-

konzeption. Die diodorische Konzeption schilderte er anhand der

ältesten uns überlieferten Fassung des Getreidemäherarguments

(„therizon [logos]“),75 das historisch gesehen wie das Meisterargu-

ment megarischen Ursprungs sein dürfte.76 Ammonius war bestrebt

zu zeigen, dass das Getreidemäherargument einen Fehlschluss dar-

stellt. Seine Gründe, es abzulehnen, können wie folgt zusammenge-

fasst werden: Eine erste Prämisse des Getreidemäherarguments be-

sagt: „Wenn du das Getreide mähen wirst, dann wirst du es nicht

vielleicht mähen und vielleicht nicht mähen, sondern mit Sicherheit

mähen“. Analog dazu lautet eine zweite Prämisse: „Wenn du das

Getreide mähen wirst, dann wirst du es nicht vielleicht mähen und

vielleicht nicht mähen, sondern mit Sicherheit mähen“. Eine dritte

Prämisse lautete wohl: „Entweder wirst du das Getreide mähen, oder

du wirst es nicht mähen“. Nimmt man das erste Disjunkt dieser drit-

ten Prämisse an, dann folgt aus der ersten Prämisse, dass die be-

troffene Person das Getreide mit Sicherheit mähen wird. Nimmt man

aber das zweite Disjunkt der dritten Prämisse, dann folgt aus der

zweiten Prämisse, dass die betroffene Person das Getreide mit Si-

cherheit nicht mähen wird. D.h. unabhängig davon, was am Ende

passiert, wird das notwendig passiert sein. Ammonius argumentiert

dagegen, „die Prämisse: „Entweder wirst du das Getreide mähen,

oder du wirst es nicht mähen“ sei falsch, weil sie ein Disjunktions-

chkeitsdefinition die adäquate ist, drückt Boethius ebenda, lib. V, cap. 12, Bd. 2, p. 412 (Ausgabe Meiser) – alternativ in: PL 64, col. 597 B, aus. Die Stellungnahme von Boethius zu Aristoteles’ Beispiel einer morgigen See-schlacht bespricht ausführlich Kretzmann, Boethius and the Truth about Tomorrow's Sea Battle, passim.

75 Ammonius, In Aristotelis De interpretatione, 13124 –1327. 76 Nach dem Doxographen des 3. Jh. n. Chr. Diogenes Laertius, Vitae philoso-

phorum, lib. 7, 255-8, kursierten zur Zeit Zenons von Kition (3. Jh. v. Chr.) sieben verschiedene Fassungen des Getreidemäherarguments. Zenon hätte sogar „aus Wissbegierde“, so Diogenes Laertius, das Doppelte eines so-wieso extraorbitanten, ihm angebotenen Kaufpreises für ein Kompendium mit diesen sieben Fassungen bezahlt. Diogenes ist eine zu späte Quelle und die Episode zu grotesk, als dass die Glaubwürdigkeit dieser Geschichte über jeden Zweifel erhaben wäre. Näher kommt man an die Vorgeschichte des Getreidemäherarguments vor Ammonius nicht heran.

48

glied enthalte („Du wirst mähen“), das unter den Annahme, es werde

gemäht, notwendig sei („mit Sicherheit“) und eines („Du wirst nicht

mähen“), das unter derselben Annahme unmöglich sei (da es ja die

Negation einer notwendigen Wahrheit ist). Was Ammonius über die

Falschheit der Prämisse behauptet, stimmt selbstverständlich nicht.

Disjunktionen aus einer ohnehin wahren und einer mit Sicherheit

falschen Aussage sind im Gegenteil wahr.

Trotz seines (misslungenen) Widerlegungsversuches77 wollte Am-

monius nicht völlig ausschließen, dass es einen Zukunftsbegriff gibt,

nach dem es Sinn macht zu behaupten, etwas Zukünftiges müsse auf

alle Fälle eintreten. Um dies einzuräumen unterschied er zwischen

„mellon“, die eigentliche Zukunft, und „esomenon“.78 Beides bedeu-

tet „Zukünftiges“. „Mellon“ weist aber auf die Zukunft als eine ande-

re Zeitdimension hin, die mit der Gegenwart nichts zu tun hat. Daher

ist es möglich, dass etwas, was aus jetzigem Standpunkt ein „mellon“

darstellt, doch nicht zutrifft. „Esomenon“ dagegen (bezeichnender-

weise ein Partizip Futur des Verbs „einai“ = sein) weist auf einen

Zeitpunkt hin, in dem die Zukunft Gegenwart sein wird. Ein „eso-

menon“ kann nicht in letzter Minute abgewandt werden, wohl aber

ein „mellon“. D.h. Ammonius legte mit dieser Unterscheidung nahe,

dass die Frage, ob die Zukunft bestimmt oder unbestimmt ist, auf

Äquivokation beruht. Die Zukunft im Sinne des „mellon“ ist unbe-

stimmt und die Zukunft im Sinne des „esomenon“ ist bestimmt.79

77 Dass Ammonius nicht gelungen ist, das Getreidemäherargument zu wider-

legen, behauptet auch (richtig) Gerhard Seel, Philosophical Commentary, 160-161. Dieser meint allerdings, dass die Paradoxie im Getreidemäherar-gument mit dem inklusiven Verständnis der Disjunktion zusammenhängt, die als dritte Prämisse: „Du wirst das Getreide mähen oder du wirst das Ge-treide nicht mähen“, dass die exklusive Disjunktion an derselben Stelle da-gegen: „Entweder wirst du das Getreide mähen oder du wirst das Getreide nicht mähen“ bereits kein Paradox nach sich ziehen würde.

78 Ammonius, In Aristotelis De interpretatione, 13834–1396. 79 Van Rijen, Aspects of Aristotle’s Logic of Modalities, 116-26, versuchte,

beide Futurum-Modi von Ammonios auf Aristoteles zurückzuführen. Dage-gen argumentierte Weidemann, Erläuterungen, 227. Eine andere Frage ist, ob Ammonius die Position der orthodoxen Aristoteliker vertrat, nach der ein Futur-Satz des „mellon“-Typs weder wahr noch falsch ist. Diese Frage ist in der Sekundärliteratur ungeklärt – eigentlich ist nicht einmal geklärt, ob Aristoteles selber ein Vertreter dieser Position war; vgl. hierzu Fußn. 465. Bejaht wurde diese Frage von Dorothea Frede, Aristoteles und die See-

49

JOHANNES PHILOPONOS (6. Jh.), ein Schüler des Ammonius und der

erste Christ in der Reihe der hier vorgestellten Kommentatoren, plä-

dierte für eine indeterministische Interpretation der Analyse, die der

Kontingenzbegriff durch Aristoteles erfuhr. Er deutete darauf hin,

dass der megarische Möglichkeitsbegriff den Kontingenzbegriff von

Aristoteles nicht erfasst und somit irrelevant für die Kontingenzprob-

lematik ist.80 Dies ist noch nüchtern und entspricht unserem heutigen

Wissensstand über die zwei Begriffe.

Aber Philoponos war nicht nur der nüchterne Logiker, der beiden

Auffassungen, Diodors sowie Aristoteles’, Gerechtigkeit widerfahren

lassen wollte. Gleichzeitig war er ein Dialektiker, der im Sinne sei-

ner monophysitischen (und somit morgenländisch-christlichen)

Überzeugungen durchaus wie ein Apologet dachte und die ihm über-

lieferten Argumente für den Fatalismus nicht nur als exotisch, son-

dern auch als logisch inakzeptabel brandmarken wollte. Nachdem

sein Lehrer, Ammonius, versucht hatte, das Getreidemäherargument

als ungültig zu erweisen, übte Philoponos Kritik am Meisterargu-

ment in Gestalt von Zweifeln an dessen Schlüssigkeit. Diodors Mög-

lichkeitsbegriff sei nicht nur ein anderer als der von Aristoteles ein-

geführte Kontingenzbegriff („alla tina tou dynatou sēmainomena

einai phēsi“81), sondern gleichzeitig ein mehrdeutiger. So habe Dio-

dors „möglich” („dynaton“) zur gleichen Zeit die Bedeutungen „vor-

liegend“ bzw. „eingetreten” („hyparkhon“, „ekbebēkos“) und „des-

sen fähig einzutreten aber noch nicht eingetreten“ („dynamenon

ekbēnai, mēpō de ekbebēkos“).82 Diodor setzte nach Philoponos ei-

nen speziellen und sehr starken Möglichkeitsbegriff voraus, demnach

jede für die Zukunft in Frage kommende Möglichkeit nichts darüber

hinaus sei, als was sich mit Sicherheit ereignen wird.

schlacht, 24-27 und Gaskin, The Sea Battle and the Master Argument, 156 ff. Verneint wurde sie von Mignucci, Ammonius and the Problem of Future Contingent Truth, 251-256; Seel, Introduction, 34-38; Seel, Philosophical Commentary, 198-210. Für mehr Hinweise auf die Sekundärliteratur zu bei-den Antworten auf diese Frage vgl. Mignucci, ebenda, 247-248.

80 Johannes Philoponos, In Aristotelis Analytica Priora Commentaria, in 34a12, p. XLIIIr35-6 bzw. p. 16917-23.

81 A.a.O., 16917-9. 82 A.a.O., 169. Zur Interpretation des Meisterarguments durch Philoponos vgl.

Gerogiorgakis, Wenn die Möglichkeit in Notwendigkeit umschlägt, 32.

50

Diodor deshalb vorzuwerfen, er würde die verschiedenen Bedeutun-

gen von „möglich“ durcheinander bringen, setzt voraus, dass er diese

irgendwann nach aristotelischem Muster auseinander gehalten hätte

– was er von Haus aus nicht tat.

Philoponos und Ammonios markierten somit eine Abkehr vom „Plu-

ralismus“ des Alexander von Aphrodisias und polemisierten gegen

Diodors Determinismus. Darin folgte ihnen STEPHANOS (6.-7. Jh.).

Dieser widerlegte in seinem Kommentar zur aristotelischen Interpre-

tationsschrift eine Version des Getreidemäherarguments sowie ein

weiteres Plädoyer für die Bestimmtheit der Zukunft.83

Im Getreidemäherargument sei es laut Stephanos einerseits richtig,

dass man notwendig Getreide mähen wird, solange man Getreide

mähen wird. Jedoch lasse sich nicht wahrheitsgemäß behaupten, Ge-

treide werde gemäht, ohne dass das Gegenteil ebenfalls möglich wä-

re. Futursätze stellen nach Stephanos insofern keine Feststellungen

dar, als sich nur feststellen lässt, was gegenwärtig der Fall ist. Aber

etwas über die Gegenwart wird ja im Getreidemäherarrgument nicht

festgestellt. Da das Ereignis des Getreidemähens niemals im voraus,

niemals also im Futur, festgestellt werden kann, stellt der Satz:

„Wenn du Getreide mähen wirst, dann wirst du notwendig Getreide

mähen“ keine Implikation dar, selbst wenn es schließlich der Fall

sein wird, dass die Person, die mit „du“ angeredet wurde, Getreide

mäht. In der Analyse der Semantik von Futursätzen stimmt der An-

satz von Stephanos mit dem des ein Jahrhundert früher lebenden La-

teiners Boethius überein.84

Stephanos wies angesichts des göttlichen Vorauswissens auf eine

Lehre des IAMBLICHOS hin, eines heidnischen Mystikers des 3.-4.

Jahrhunderts. Zwischen dem, was schließlich das Erkenntnissubjekt

erkennt, und dem Gegenstand, auf den sich die Erkenntnis bezieht,

kann, so die These von Stephanos85 bzw. Iamblichos, eine Ungleich-

artig bestehen. Ein Mathematiker erkennt etwa die Eigenschaften

eines Dreiecks besser als jedes gezeichnete Dreieck je zulassen wür- 83 Stephanos, In Aristotelis librum De interpretatione commentarium, sec. 2,

„praxis“ 4, CAG 18.3, pp. 348-3628. 84 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 2.3. 85 Stephanos, In Aristotelis librum De interpretatione commentarium, sec. 2,

„praxis“ 4, CAG 18.3, p. 3519-25.

51

de. So verhält es sich auch bei Gott, so die von Stephanos gezogene

Analogie, der eine perfektere (weil gewisse) Kenntnis von kontin-

genten Zukunftsereignissen hat, als diese (ungewissen) Ereignisse

rechtfertigen. Auf dieselbe Lehre des Iamblichos sollte später auch

Michael Psellos hinweisen,86 um zu erklären, wieso Gottes Allwis-

senheit sich mit der Kontingenz von Zukunftsereignissen verträgt.

Da das göttliche Wissen also perfekt, die Realität aber nicht perfekt

ist, ist es laut Stephanos aus heutiger Sicht unbestimmt, ob morgen

eine Seeschlacht stattfindet, und es ist auch unbestimmt, ob morgen

keine stattfindet. Stephanos, ein Christ, scheint nicht zu merken, dass

dies mit dem Konzept eines Gottes, der als allwissend darüber mit

Bestimmtheit weiß, ob morgen eine Seeschlacht stattfindet oder

nicht, unvereinbar ist.

Wie man sieht, verfochten die Aristoteles-Kommentatoren bis zum

7. Jh. verschiedene Lesarten des aristotelischen Indeterminismus und

ließen Plädoyers für die Prädestination, wie sie ihnen aus der Philo-

sophie anhand des Meister- und des Getreidemäherarguments geläu-

fig waren, höchstens im Sinne einer weltfremden Neudefinition des

Möglichkeitsbegriffs gelten. Dass die Zukunft tatsächlich vorherbe-

stimmt wäre, räumten sie auf keinen Fall ein.

2.3. Die Vorherbestimmung der Zukunft in den theologischen

Quellen bis zum 9. Jh.

Gerade die Prädestination wurde aber in wichtigen philosophischen

Werken der lateinischen Literatur der Antike und Spätantike präfe-

riert und propagiert. Bereits bei Cicero hing diese Präferenz mit theo-

logischen Fragestellungen zusammen.

HIERONYMUS († 419) besprach die Darstellung eines sehr starken

Determinismus (etwas sei nur dann möglich, wenn es jetzt oder spä-

ter eintrete) in Ciceros De fato, cap. 6-7, §§ 12-14. Dort stellte Cice-

ro Chrysipp als den Befürworter der Position dar, nach der noch

nicht Geschehenem, die Möglichkeit, doch noch einzutreten, nicht

abzusprechen ist. Hieronymus selber nahm Partei zugunsten des De-

terminismus, indem er bestritt, dass es zukünftige Möglichkeiten

86 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.1.

52

gibt, die für immer unrealisiert bleiben.87 Hieronymus untermauerte

seine Position unter Rückgriff auf die göttliche, zeitlose Wahrneh-

mung der Ereignisse. Er verwies wahrscheinlich aus dem Gedächt-

nis, jedenfalls ungenau, auf eine Stelle des Alten Testaments. Er gibt

sie so wieder:

Alles, was zukünftig ist, hat sich bereits zugetragen zu einer vergan-genen Zeit.88

In der Vulgata übersetzte Hieronymus zwar nicht aus dem Gedächt-

nis, allerdings nicht minder abweichend von seiner griechischen Vor-

lage:

Was derart ist, dass es sich zugetragen hat, ist dasselbe, was sich zu-tragen wird. Was derart ist, dass es zustande kam, ist dasselbe, was zustande zu bringen ist.89

Im griechischen Text der Septuaginta fehlt allerdings die Gleichset-

zung von allem Vergangenen mit allem Zukünftigen

Es wird sich zutragen, was sich zugetragen hat; es wird zustande kommen, was zustande gebracht wurde.90

Zu beachten ist, dass Hieronymus in der Vulgata durch „ipsum“

(„dasselbe“/„es selber“), nicht die griechische Entsprechung „tauton“

übersetzt, sondern „auto“ (in etwa: „dasjenige“/„es“), die dritte Per-

son des Personalpronomens also. Die griechische Stelle hat außer-

dem einen poetischen Unterton, der die Vermutung zulässt, dass wir

es hier mit einer hyperbolē, mit einer poetischen Überhöhung also,

zu tun haben.

Hieronymus hat offenbar erstere – allerdings fingierte – Passage als

Bestätigung von Diodors Modallehre betrachtet, da er sie dahin ge-

hend überinterpretiert hat, dass Künftiges (wohl aus Gottes Sicht?)

87 Hieronymus, Dialogus adversus Pelagianos, lib. I, cap. 9, PL 23, col. 503

A. 88 Ebenda: „Omne quod futurum est, jam factum est in priori saeculo“ im An-

schluss an Eccl 1,9. 89 Eccl 1,9 nach Hieronymus’ Übersetzung in der Vulgata. Der Text lautet in

der Vulgata folgendermaßen: „Quid est quod fuit ipsum quod futurum est, quid est quod factum est ipsum quod fiendum est“.

90 Eccl 1,9 möglichst wörtlich nach der Septuaginta ohne Rücksichtnahme auf die deutsche Übersetzungstradition. Der Septuaginta-Text lautet folgender-maßen: „Ti to gegonos, auto to genēsomenon kai ti to pepoiēmenon, auto to poiēthēsomenon“.

53

zugleich aus Gottes Sicht Vergangenes sei, weshalb es nicht unbe-

stimmt sein könne.91

AUGUSTIN († 430) nimmt in seiner Behandlung der Vorbestimmung

von Zukunftsereignissen92 ebenfalls direkt auf Cicero Bezug.

CICERO hatte beide Hauptpersonen des Streitgesprächs De natura

deorum, Balbus und Cotta, behaupten lassen, die Götter würden den

Ausgang unbedeutender zukünftiger Ereignisse nicht genau erken-

nen. In seinen Argumenten zugunsten der stoischen Prädestinations-

lehre ließ Cicero Balbus angesichts des Bösen in der Welt lieber be-

haupten, dass die Götter kleinere Ungerechtigkeiten ignorieren (sie

übersähen sozusagen die Bäume, aber sähen durchaus den Wald), als

ihnen fehlende Bereitschaft bei der Abwendung dieser Ungerechtig-

keiten zuzuschieben.93 In den Gegenbeispielen, die er Cotta vortra-

gen ließ, wies Cicero darauf hin, dass es nicht immer Kleinigkeiten

sind, denen gegenüber die Götter gleichgültig oder unwissend sind.94

Cicero, der sich selbst in die Rolle des stillen Berichterstatters über

das Streitgespräch zwischen Balbus und Cotta stellt, gibt sich mehr

von den Worten des Balbus angetan. Dies erscheint Augustin inak-

zeptabel. Es sei „offensichtlich verrückt“, die Existenz eines Gottes

anzunehmen, der nicht alles über die Zukunft wüsste. Augustins Kri-

tik an den Ausführungen Ciceros lautet folgendermaßen: Cicero er-

kannte dass die stoische Prädestinationslehre und die Annahme, dass

der Mensch frei handelt, unverträglich sind. Diese Unverträglichkeit

behob Cicero, indem er Gott (bzw. die Götter) nur von Allgemein-

prozessen wissen ließ. Nach Augustin steht aber außer Frage, dass

Gott alles im voraus weiß. Die Menschen tun Vieles freien Willens,

während alles, was sie tun, Gott sehr wohl bekannt ist.

Augustin antwortet in diesem Kontext zwar nicht auf Ciceros Frage,

warum ein gütiger Gott Verbrechen zulassen sollte, rettet aber die

Entscheidungssfreiheit, die er im christlichen Kontext als verbindlich

ansah. Menschliche Willensfreiheit ist nach Augustin dadurch gege-

91 Vgl. Hieronymus, Dialogus adversus Pelagianos, lib. II, cap. 6, PL 23, col.

542 B, für die theologischen Nebenwirkungen dieser Position. 92 Augustin, De civitate Dei, lib. V, cap. 9, § 4. 93 Cicero, De natura deorum, lib. II, § 167. 94 Ebenda, lib. III, § 86.

54

ben, dass etwas nur dadurch zustande gekommen ist, dass es ein

Mensch gewollt hat. Gott weiß genau, was die Menschen wollen

werden, sowie, dass Vieles davon sündhaft ist. Trotzdem unternehme

er nichts dagegen, da er es gar nicht könne. Hätte er so etwas ge-

konnt, dann hätte er es zustande bringen können, dass zukünftige

Ereignisse anders ausgehen, als er vorhersah. Daraus folgt, dass Gott

doch kein Vorauswissen gehabt hätte. Dies schließt Augustin aus,

denn

Gott weiß ganz genau die Ordnung aller Ursachen und ein Großteil dieser Ursachen sind menschliche, freie Willensakte.95

Eine klare Absage an Fatalismus und Determinismus ist dies keines-

falls. Was Augustin nämlich hier „freie Willensakte“ nennt, ergibt

sich aus Fehlinformation über die Hintergründe einer Entscheidung.

Die Menschen wissen beim Handeln nicht, dass alles, was sie getan

haben, nicht hätte anders gemacht werden können, weil sonst das

Vorauswissen Gottes darüber falsch gewesen wäre. Sie wissen nicht,

dass Gottes Urteil über die Menschen nicht von deren Verdiensten

abhängig sein kann, da Gottes Wille in einem solchen Fall durch die

Menschen zu beeinflussen und zu lenken wäre. Gottes Gnade prädes-

tinierte seit aller Zeit die einen zur Rettung ins Paradies, die anderen

zur Verdammnis.96 Verschiedene Mittelalter-Kenner erkennen heute

Augustins Lehre über die zukünftigen Möglichkeiten sowie dessen

Prädestinationslehre mal fatalistische, mal amoralische, mal calvinis-

tische Tendenzen zu.97

Was Augustin mit seiner Prädestinationslehre beabsichtigte, war,

dem Pelagianismus den Boden zu entziehen. Diese Häresie vertrat

die Ansicht, dass der Mensch auf sein Seelenheil eigenständig durch 95 Fast wörtlich in Augustin, De civitate Dei, lib. V, cap. 9. 96 Vgl. die tabellarische Zusammenfassung der augustinischen Prädestina-

tions-Thesen bei von Moos, Das Geheimnis der Prädestination, 159. 97 Vgl. z.B. Craig, The Problem of Divine Foreknowledge, 59-79; Flasch, Lo-

gik des Schreckens, passim; von Moos, Das Geheimnis der Prädestination, 159-163. Bezeichnend (aber verständlich vor dem Hintergrund der Polemik gegen den Calvinismus) sind die 1713 in der Konstitution Unigenitus Dei Filius geäußerten, heftigen Bedenken von Papst CLEMENS XI. zu gewissen Facetten der augustinischen Prädestinationslehre (Text in: DH 2413). Z.B. könne sich nach der dort verurteilten These 13, die nach Augustins De cor-reptione et gratia, cap. 14, n. 43, PL 44, col. 942, klingt, kein menschlicher Wille dem Willen Gottes widersetzen, wenn dieser eine Seele retten wolle.

55

die Verrichtung von Verdiensten hinarbeitet. In ihrem Antipelagia-

nismus war die Westkirche seit frühen Zeiten viel konsequenter als

die Ostkirche. Zwar steht die Ostkirche des mittleren und späten By-

zanz in der Tradition des Dritten Ökumenischen Konzils (im Jahr

431), das den Pelagianismus anathematisierte. Aus der einschlägigen

Quelle geht allerdings klar hervor, dass diese Anathematisierung von

den westlichen Teilnehmern des Konzils veranlasst worden war.98

Während es im Westen ab dem 6. Jh. zahlreiche Verurteilungen des

Pelagianismus gab, folgte die Ostkirche dieser antipelagianischen

Rhetorik nicht. Sie verhielt sich vielmehr indifferent gegenüber den

Lehren des Pelagius99 und vertrat Positionen, die auch semipelagia-

nisch genannt werden können. Sie sprach sich etwa für die Erteilung

der göttlichen Gnade je nach der Bewährung des Begnadeten durch

eigene Werke aus.100

Augustins Assoziation zwischen Prädestination und Antipelagianis-

mus wurde allerdings selbst im Westen, geschweige denn im Osten,

nicht einmütig begrüßt. Papst LEO I. („der Große“) vermied, den

Terminus „Prädestination“ zu verwenden. In seinem einzigen Vor-

kommen in Leos Werken, bezieht sich dieser Terminus eher auf Got-

98 Schwartz, Acta conciliorum oecumenicorum, tomus 1, vol. 1, pars 3 (=

Concilium universale Ephesenum, Collectio Vaticana 82 und 84), pp. 7, 9 und 12; von Moos, Das Geheimnis der Prädestination, 160, bemerkt richtig, dass „die Ostkirche die Prädestinationslehre nie akzeptiert [hat]“, behauptet aber irrtümlich, dass eben dieselbe Kirche „weder die pelagianische noch die semi-pelagianische Gegentheorie als häretisch verurteilt [hat]“. Die Leh-re des Pelagius wurde 431 tatsächlich verurteilt. Von Moos hat allerdings insofern Recht, als diese Verurteilung für die Theologie der Ostkirche ohne erhebliche Folgen blieb.

99 Byzantinische Quellen über den Pelagianismus sind sehr spärlich und spie-geln in der Regel die westliche Haltung gegenüber dieser Häresie wider. Zum Dritten Ökumenischen Konzil vgl. vorherige Fußnote. Ebenfalls von einer westlichen Quelle abhängig und den westlichen Standpunkt wieder-spiegelnd ist die Darstellung des Pelagianismus durch Photios, Bibliotheca, cap. 53-54, 13b-15a bzw. PG 103, coll. 92-97.

100 Für viele textliche Belege und sachliche Zusammenhänge, die die Ver-wandtschaft der Freiheitslehre der griechischen Patristik mit dem Semi-pelagianismus verdeutlichen s. Schindler, Gnade und Freiheit, 179-183 so-wie 190-195.

56

tes Entschlossenheit, die Menschennatur zu erneuern, nicht etwa auf

die Vorherbestimmung der Natur.101

Bezeichnend für das Wohlwollen der griechischen Kirchenväter dem

gegenüber, was im Westen Semipelagianismus hieß, ist die von den

Kappadokiern Basilius von Cäsarea und Gregor von Nazianz ange-

fertigte Origenes-Anthologie.102 Diese enthält Formulierungen von

Origenes, die aus Sicht beider Väter dogmatisch akzeptabel sind.

Unter den dogmatisch akzeptablen Origenes-Stellen aber, die Basili-

us und Gregor von Nazianz hinüber retteten, finden sich Bemerkun-

gen zur Willensfreiheit, wonach die Prädestination die moralische

Selbstständigkeit („autexousion“) des Menschen aufheben würde.

Das Festhalten am autexousion sollte in der späteren byzantinischen

Theologie erhebliche Konsequenzen haben. Das autexousion wurde

zu einem der wichtigsten Begriffe der mittel- und spätbyzantinischen

Theologie, die den Prädestinationsgedanken mit stoischem Fatalis-

mus in Verbindung brachte und ablehnte. Die Hervorhebung der mo-

ralischen Selbstständigkeit des Menschen gegenüber der Prädestina-

tion war aber aus augustinischer Sicht semipelagianisch.

Deterministische Ansätze waren nicht auf die lateinische Theologie

beschränkt. Unabhängig von seiner Fürsprache zugunsten der origen-

ischen Lehre für die moralische Selbstständigkeit des Menschen,

erklärte der Grieche BASILIUS VON CÄSARIA103 Gottes Vorauswissen

über die Todesstunde des Einzelnen zu einem Fall der Prädestinati-

on.

Trotz des gewaltigen Einflusses, den Augustin und Hieronymus auf

die Theologie lateinischer Sprache übten, schwankte noch im 6. Jh.

Papst GREGOR I. (der Große) zwischen Prädestination und Freiheit.

101 Barclift, Predestination and Divine Foreknowledge, 11. 102 Text in: Origenes, Philokalia, cap. 21, pp. 152-177 (Robinsons Ausgabe)

bzw. De principiis, lib. III, cap. 6-7, pp. 201-206 (Koetschaus Ausgabe); auch in: PG 11, coll. 256-257. Die Kappadokier Basilius von Cäsarea und Gregor von Nazianz bewunderten Origenes, den Lehrer des Kappadokiers Gregor Thaumatourgos. Letzterer war Mentor von Makrina, der Großmutter von Basilius von Cäsarea und Gregor von Nyssa, und hatte so indirekt das religiöse Leben ihrer Familie geprägt.

103 Basilius von Cäsarea, Homilia quod Deus non est auctor malorum, 3, PG 31, col. 333 B.

57

Er meinte, dass Gott kraft seiner Allmacht das Lebensende eines je-

den Menschen je nach seinem Verdienst („juxta singulorum merita“)

anordnet.104 Einerseits hat die von Gregor postulierte Anordnung des

Lebensendes einen prädestinationsbejahenden Unterton. Andererseits

lässt die Passage eine prädestinationsverneinende Lesart zu: Gott

bestimmt das Lebensende eines jeden Menschen nicht seit aller

Ewigkeit gemäß seinem Allwissen (so etwas wird jedenfalls nicht

behauptet), sondern er bestimmt das Lebensende erst, nachdem sich

der einzelne Mensch mit seinen ureigenen und unabhängigen Taten

bewährt oder versagt hat. Dies scheint die Todesstunde vom Ver-

dienst des einzelnen Menschen abhängig zu machen und kommt ei-

ner Bejahung der sittlichen Autonomie gleich, die gerade im mittel-

alterlichen Kontext an pelagianische Tendenzen denken lässt.

Auch in der byzantinischen Theologie war die Parteinahme des Basi-

lius für die Prädestinationslehre offenbar auf Ablehnung gestoßen.

ANASTASIOS VON SINAI (7. Jh.) argumentierte in seinen Fragen und

Antworten,105 dass der Prädestinationsgedanke nach sich ziehen wür-

de, dass Gott auch für Kriege verantwortlich wäre, dass es im

Krankheitsfall keinen Unterschied machen würde, ob man betet oder

nicht, auch keinen Unterschied, ob man einen Arzt ruft oder nicht.106

Dies hielt Anastasios für absurd. Anastasios zog den Schluss, dass

Basilius allgemeine Vorgänge als prädestiniert betrachtete, etwa den

Umstand, dass jeder Mensch sterben soll, nicht aber wann und woran

einzelne Menschen sterben. Diese Position sollte Thomas von Aquin

verurteilen und der arabischen Theologie zuschreiben. Der Grieche

Markus von Ephesus aber, einer der bedeutendsten byzantinischen

Theologen des 15. Jh., sollte sie explizit akzeptieren.107

Die Prädestination bejahen wiederum zwei (wohl fälschlich) Photios

von Konstantinopel zugeschriebene Werke zur Vorherbestimmung

104 Gregor I. (Papst), Moralia in Iob, lib. XVI, cap. 10, p. 806. 105 Anastasios von Sinai, Erōtapokriseis, q. 88, PG 89, coll. 713-716. 106 Das Argument stellt vielleicht eine Bezugnahme auf Aristoteles, De inter-

pretatione, 18 b 26-33 dar. Jedenfalls ist es im Sinne des aristotelischen Ar-guments.

107 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.1.

58

der Todesstunde aus dem 8. und 9. Jh. Das sind ein Dialog,108 der

wohl GERMANOS I. VON KONSTANTINOPEL († nach 730), dem Kon-

stantinopler Patriarchen zwischen den Jahren 715 und 730, zuzu-

schreiben ist, sowie ein Kurztraktat.109

Im pseudo-photianischen Dialog wird alles, was ein Mensch unter

Körpereinsatz tut, als von Gott genau so vorgesehen verstanden, wie

es sich zuletzt ereignet; es gibt keine Abweichung von dem, was

Gott ursprünglich über die Ausführung körperlicher Handlungen

weiß. Es scheint also, dass kein Verbrecher freiwillig handelte. In-

folge dessen ist er nicht zurechnungsfähig und es ist also falsch, ihn

zu bestrafen.110

Aber nicht alle Zukunftsereignisse sind körperliche Handlungen.

Vorsätze und Gesinnungen sind ebenfalls Ereignisse, die zudem, so

der Autor des Dialogs, in Gottes Wissen nicht festgelegt sind. Der

Vorsatz, mit dem der Verbrecher sein Verbrechen beging, ist nicht in

Gottes Wissen festgelegt, sondern er hängt allein vom Verbrecher ab.

Dazu bemerkt der Autor, nicht die Tat werde bestraft, sondern die

nicht durch Gott festgelegte Gesinnung des Täters.111 Das ist eine

recht eigenartige Konzeption der Zurechnungsfähigkeit. Nach ihr ist

ein Vorsatz strafbar, wenn ihm eine in Gottes Wissen festgelegte Tat

entspricht, ansonsten ist er nicht strafbar. Angenommen, der freie

Vorsatz zur bösen Tat liegt vor, es kommt aber zu keiner Tat. Dann

108 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars secunda, q. 149 (=

Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, in: Westerink, Germanos on Predestined Terms of Life; außerdem in: Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, PG 98, coll. 89-132. Es fehlt in den Codices, die das Werk Photios zuschreiben, der letzte Teil des Werkes, ausgerechnet der also, der die stärksten Hinweise auf eine prädestinationsbejahende Theodizee enthält.

109 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars tertia, q. 240, pp. 20-25.

110 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars secunda, q. 149, p. 190 bzw. Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, cap. 23, (Weste-rink-Ausgabe – außerdem in PG 98, col. 128 D). Das ist ein Paradebeispiel des Mittelalters, das den Fatalismus ad absurdum führen will. Vgl. z.B. Mi-chael Glykas, Quaestiones, cap. 36, Bd. 1, pp. 380-381; Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De veritate, q. 2, a. 12, resp.

111 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars secunda, q. 149, p. 190 bzw. Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, cap. 23 (Weste-rink-Ausgabe – außerdem in PG 98, col. 129 A).

59

ist dieser Vorsatz nicht strafbar und der Mensch, der den bösen Vor-

satz hatte, ist ein unbescholtener virtueller Verbrecher. Wäre es aber

zur bösen Tat gekommen und zwar aus dem Grund allein, dass diese

in Gottes Wissen festgelegt ist, dann wäre die Strafbarkeit und damit

die Zurechnungsfähigkeit des aktuellen Verbrechers gegeben. In bei-

den Fällen gibt es aber keine kausale Beziehung zwischen Vorsatz

und Tat. Der Beitrag des bösen Menschen – im ersten Fall eines vir-

tuellen, im zweiten eines aktuellen Verbrechers – ist einundderselbe.

Derlei kontraintuitive Beispiele im Sinne der Moralität machen dem

Autor des Dialogs keine Sorge, der wohl bereits damit zufrieden war,

eine gemäßigt deterministische Prädestinationslehre zu vereinbaren.

Er meinte, dass die Art und der Moment des Todes der Bestrafung

von schlechter Gesinnung dienen. Daher wird die Zeit, die ein

Mensch zu leben hat, je nach seiner freien Gesinnung bei der Aus-

führung der Taten festgelegt, zu denen er prädestiniert ist.112 Es

kommt also bei der Bestimmung der Todesstunde durch Gott darauf

an, seit wann diese als prädestiniert gilt. Da die freie Gesinnung des

Sterblichen einen beträchtlichen Einfluss auf diese Bestimmung aus-

übt, gilt die Prädestination der Todesstunde eines jeden nicht seit

aller Ewigkeit. Sie muss im Laufe des Lebens erfolgen.

Im bereits genannten pseudo-photianischen Kurztraktat wird die Prä-

destination auch von Absichten, Vorsätzen und Gesinnungen propa-

giert. Er drückt also eine radikalere deterministische Haltung zur

Vorherbestimmung der Todesstunde aus, als dies beim pseudo-

photianischen Dialog zu demselben Thema der Fall ist.

Entgegen den in den pseudo-photianischen Todesstunden-Dialog und

im Kurztraktat vorgebrachten Thesen wurde die Vorherbestimmung

der Todesstunde nach dem 9. Jh. in den byzantinischen litterae nicht

mehr vertreten. Die meisten mittel- und spätbyzantinischen Todes-

stunden-Traktate bejahten die Unbestimmtheit der Zukunft – und

zwar auch aus Gottes Sicht!113

112 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars secunda, q. 149, p.

176 bzw. Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, cap. 9, (Weste-rink-Ausgabe – außerdem in PG 98, col. 105 C).

113 Vgl. Kap. 8.1. der vorliegenden Arbeit.

60

Im 9. Jh. war die Vorherbestimmung der Todesstunde auch in den

lateinischen litterae marginal. Die Prädestinationslehre des JOHAN-

NES SCOTUS ERIUGENA (9. Jh.), des irischen Gelehrten also, der u.a.

Maximus Confessor ins Lateinische übersetzte, ist eine indeterminis-

tische. Eriugena erklärte, keine Prädestination verursache Sünden

oder einen auf die Sünde folgenden (geistigen) Tod. Äußerungen von

heiligen Autoren, denen zufolge der Tod prädestiniert sei, seien als

uneigentliche Redewendungen zu verstehen.114 Da der menschliche

Wille durch und durch frei zum Begehen von Sünden oder zum

frommen Leben sei, könne es nicht sein, dass er von Gott zum einen

oder zum anderen bewogen wird. Denn dort, wo es eine bewegende

Wirkkraft gebe, da gebe es die Natur des (freien) Wollens nicht.115

Als Intentionen, die von einer Vergangenheit her auf eine Zukunft

gerichtet sind, können Vorauswissen und Vorherbestimmen dem

zeitlosen Gott nur uneigentlich zugeschrieben werden, genauso wie

Augen und Hände ihm nur uneigentlich dazugedichtet werden.116 Da

die Zukunft ein noch-nicht-Sein und daher ein nicht-Sein sei, könne

auf keine zukünftigen Ereignisse auf dem Wege des Vorherwissens

oder –bestimmens vorgegriffen werden.117 Mit „Prädestination“ kön-

ne eigentlich nur die Bereitschaft Gottes zu göttlichen Werken ge-

meint sein.118 Damit leugnet Johannes auch die einfache Prädestina-

tion im eigentlichen Sinne, nicht nur Gottschalks doppelte Prädesti-

nation,119 auf die er ursprünglich zielte.120

PHOTIOS VON KONSTANTINOPEL († 899), dem in der Tradition gerne

antilateinische Tendenzen zugeschrieben wurden, nachdem er als

Patriarch den Anstoß zum ersten morgenländischen Schisma gab

114 Johannes Scotus Eriugena, De praedestinatione liber, cap. 5, § 3, PL 122,

coll. 376 B-D. 115 Ebenda, cap. 5, §§ 4-5, coll. 376 D-377 C. 116 Ebenda, cap. 9, coll. 390 A-393 C. 117 Ebenda, cap. 10, § 5, coll. 396 C-397 B. 118 Ebenda, cap. 12, § 1, coll. 401 D-402 A.. 119 Zur doppelten Prädestination vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.4 und 9.5. 120 In dieser Einschätzung stimme ich mit Marenbon, Early Medieval Philoso-

phy, 56-57, überein.

61

(867), lehnte nicht nur jede Wahrsagerei,121 sondern auch die plato-

nische Auffassung einer unverrückbaren göttlichen Gerechtigkeit

ab.122 Man könne nicht exakt dieselben Voraussetzungen zum Leben

(„probiotē“) als Grundlage sowohl des selbstständigen Handelns als

auch einer unverrückbaren göttlichen Gerechtigkeit („heimarmenē“)

betrachten. Wolle man Beides rechtfertigen, dann bleibe nicht einmal

die Vorsehung erhalten.123 Photios setzte außerdem die stoische Auf-

fassung über die Bestimmung des Lebensbeginns und der Todes-

stunde mit Wahrsagerei gleich,124 indem er bemerkte, die Behaup-

tung der Wahrsager, das Leben regiere eine höhere Notwendigkeit

(„anankē“), laufe auf die Behauptung hinaus, das Leben verlaufe

zwangsläufig („biāi“), wie die Stoiker behaupten.125 Selbst ein Wil-

lensakt („boulēma“) Gottes könne nach Photios keine unverrückbare

göttliche Gerechtigkeit ergeben,126 da Anfang und Ende des Lebens

(wohl auch aus Gottes Sicht) unbestimmt („aorista“) seien.127 Die

Bibliothek des Photios, in der sich dieser so äußert, ist ein enzyklo-

pädisches Werk. Photios war anscheinend der Meinung, dass eine

ausführliche Behandlung der Kontingenz den Rahmen seines Werkes

sprengen würde. Statt diesen thematischen Komplex selber zu be-

handeln, empfiehlt er dem interessierten Leser ein erbauliches Werk,

das vor der platonischen Auffassung der unverrückbaren göttlichen

Gerechtigkeit warnt. Dies ist die Schrift Kata heimarmenēs des Bi-

121 Photios, Bibliotheca 172 b 8-9. Zu der bestimmten Wahrsagerei-Form der

Geburtstagskunde („genethlialogia“), auf die sich Photios hier bezieht, vgl. den Worteintrag im Lexicon des Photios. Vgl. auch Georg der Mönch, Chronicon breve, 5319-21.

122 Für die Definition der göttlichen Gerechtigkeit nach Platon vgl. Photios, Bibliotheca, 172 b 13-18. Für ihre Ablehnung nach ihrer Formulierung laut Hierokles vgl. ebenda 172 b 41-173 a 4.

123 Photios, Bibliotheca, 172 b 39-173 a 4. 124 Dabei setzt Photios die antistoische und antifatalistische Polemik Justin des

Märtyrers fort – des ersten christlichen Philosophen aus dem 2. Jh. Vgl. Jus-tin Märtyrer, Apologia minor, cap. 7, §§ 4-9.

125 Photios, Bibliotheca, 461 b23-4. 126 Ebenda, 461 b8-9. 127 Ebenda 462 b6-14.

62

schofs DIODOR VON TARSUS (nicht mit Diodor Kronos zu verwech-

seln) aus dem vierten Jahrhundert.128

Aussagen gegen die Vorherbestimmung und den Plan Gottes waren

im 9. und 10. Jh. Teil der byzantinischen Polemik gegen den Islam.

In der Schrift Widerlegung des durch den Araber Mohammed ge-

fälschten Buches des NIKETAS VON BYZANZ wird die Überzeugung

zum Ausdruck gebracht, dass der im Koran geschilderte Plan Gottes

sowohl der Heiligen Schrift als auch der Natur widerspreche.129 In

seiner Kritik an einem Agarener wandte sich BARTHOLOMÄUS VON

EDESSA explizit gegen Mohammeds Determinismus.130

2.4. „Vorauswissen ist nicht Vorherbestimmen“: Eine einflussrei-

che Formel des 8. Jh.

Im Kapitel 2.2. haben wir bereits festgestellt, dass der Lateiner

Boethius sowie dessen griechischer Zeitgenosse Stephanos das Tem-

pus Futur ähnlich indeterministisch verstanden haben.

Direkt durch Boethius beeinflusst waren wohl keine griechischen

Autoren des Frühmittelalters. Jedenfalls zögerten griechische Auto-

ren ab etwa dem 8. Jh., so wie Boethius im 6. Jh., die Prädestination

als Auswirkung der Allwissenheit Gottes anzuerkennen. Bezeich-

nend in diesem Kontext sind Schriften wie die Genaue Darlegung

des orthodoxen Glaubens des Johannes von Damaskus sowie der im

vorigen Kapitel genannte pseudo-photianische Traktat Über die To-

desstunde.

JOHANNES VON DAMASKUS versuchte, menschliche Willensfreiheit

und göttliches Allwissen zu versöhnen, indem er bemerkte, dass Gott

alles vorherweiß, aber nicht vorschreibt, was geschehen wird und

128 Ebenda 208 b2-222 a43. Von den Schriften des Diodor von Tarsus sind ledig-

lich spärliche Fragmente erhalten.. Vgl. auch Doll, De Diodori Tarsensis libro „Katà heimarménes“.

129 Niketas von Byzanz, Anatropē, PG 105, coll. 709; 764; 780. Vgl. auch Beck, Vorsehung und Vorherbestimmung, 49-50.

130 Bartholomäus von Edessa, Elenchos Agarēnou, col. 1393. Auf diese Stelle bezieht sich in seinem Plädoyer gegen die „heimarmenē“ auch Niketas Choniates, Thesaurus, lib. XX, cap. 9, PG 140, col. 113 D. Vgl. auch Beck, Vorsehung und Vorherbestimmung, 46-48.

63

was nicht.131 Dem Wortlaut nach ist diese Äußerung nicht präzise

genug. Es gibt mindestens zwei Lesarten: eine dezidiert indetermi-

nistische und eine gemäßigt deterministische. Die indeterministische

besagte, dass es „Prognosen“ von „Ereignissen“ gibt, die zum

Schluss gar nicht stattfinden. Die gemäßigt deterministische Lesart

besagte dagegen, dass, etwas im voraus zu wissen, nicht unbedingt

heißt, etwas hervorzubringen – eine Binsenweisheit.

Nach der indeterministischen Lesart darf gar nicht von Prognose die

Rede sein. Da Wissen per definitionem Wahres betreffen soll, stellt

eine falsche Prognose kein Wissen dar. Insofern ist eine falsche

Prognose keine „prognosis“. Gott prognostiziert gar nicht das Eintre-

ten von Sünden. Vielmehr sieht er das Gegenteil vor. Nach der ge-

mäßigt deterministischen Lesart weiß Gott im voraus, genau welche

Sünden und wann diese zustande kommen werden. Die Frage drängt

sich freilich auf, warum Gott Sünden nicht abwendet. Zieht hier

Mitwissen keine Verantwortung nach sich?

Einer der in den byzantinischen litterae selten anzutreffenden Vertre-

ter der deterministischen Lesart der damaszenischen Formel war ein

Zeitgenosse des Damaszeners, der vorgenannte Autor des bereits im

vorigen Kapitel besprochenen pseudo-photianischen Dialogs über

die Todesstunde (GERMANOS VON KONSTANTINOPEL). Zwar war

dieser wie Johannes von Damaskus der Meinung, dass Vorherwissen

und Vorherbestimmen nicht ein und dasselbe sind,132 andererseits

relativierte er diese Stellungnahme gegen die Vorbestimmung aus

folgenden Gründen:

Die Strafe der Prädestinierten ist dadurch gerechtfertigt, dass diese,

auch wenn sie Handlungen ausführen müssen, die Gott prädestiniert

hat, eine von Gottes Vorsehung unabhängige Gesinnung haben (vgl.

voriges Kapitel für Stellenverweise). Der Autor scheint nicht zu

merken, dass dies die Möglichkeit nach sich zieht, dass ein Mensch

131 Johannes von Damaskus, Expositio fidei, cap. 44, PG 94, coll. 969 B-972 A.

Tertullian, Adversus Marcionem, lib. II, cap. 7, hatte diese Losung vorweg-genommen. Johannes von Damaskus galt aber im Mittelalter als ihr Schöp-fer.

132 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars secunda, q. 149, p. 181 (außerdem: Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, cap. 9, PG 98, col. 113 A).

64

eine Tat körperlich ausführt (da er dazu prädestiniert ist), während er

ehrlich und aufrichtig die dieser Tat entgegengesetzte seelische Hal-

tung hat (da die Gesinnung von der göttlichen Prädestination unab-

hängig ist). Das wäre eine seltsame Art der Fremdbestimmung, die

impliziert, dass sich Leib und Seele dissonant verhalten könnten.

Was für die damaszenische Formel von Interesse ist: Bei diesem

Verständnis von Tat und Gesinnung nimmt unser Autor in Kauf, dass

alles vorherbestimmt ist – zwar nicht von Gott, aber immerhin von

selber. Geht man davon aus, dass alles bestimmt eintritt, was Gott

(voraus-) weiß (sonst wäre von keinem Wissen die Rede), dann hat

alles, was eintreten wird, bestimmt einzutreten. In Übereinstimmung

damit bemerkt unser Autor, dass alle Ereignisse einschließlich unse-

rer Todesstunde, die für uns noch künftig sind, Gott gegenwärtig

sind.133

Während die Strafe für begangene Sünde der von der Prädestination

unabhängigen Gesinnung gilt, zielt die Sünde selber nach unserem

Autor darauf, das Menschengeschlecht zur Besinnung zu bringen.

Das ist Theodizee.134 Selbst verheerende Kriegsverluste und Schiffs-

untergänge können von Gottes Gerechtigkeit zeugen.135 Selbst einem

Mordopfer ist der an ihm begangene Mord zuträglich. Vor Gottes

Auge wird er zum Märtyrer erhoben, während der Täter in die Ver-

derbnis hinabgestürzt wird.136

133 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars secunda, q. 149, p.

176 (außerdem: Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, cap. 9, PG 98, col. 105 C).

134 Eine allgemeine Schilderung der Theodizee von Germanos bietet Blum, Die Theodizee des Patriarchen Germanos.

135 [Germanos von Konstantinopel], Amphilochiorum pars secunda, q. 149, p. 190 (außerdem: Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, cap. 22, PG 98, col. 128 C).

136 Germanos von Konstantinopel, De vitae termino, cap. 25, PG 98, col. 132 C. Die Schlusspassagen des Dialogs, die die Theodizee befürworten, fehlen in den Handschriften, die dieses Werk Photios zuschreiben, erscheinen des-halb lediglich in der Patrologia-Edition, die aus der handschritftlichen Tra-dition hervorging, die den Dialog Germanos I. zuschreibt. Dass Photios eine emblematische Figur für die Loslösung Konstantinopels von Rom ist und dass Konstantinopels kritische Haltung zum Theodizee-Gedanken zu einer theologischen Komponente dieser Loslösung wurde, könnte eventuell diese Selektion von Passagen je nach handschriftlicher Tradition erklären.

65

Der gemäßigt deterministischen Lesart der damaszenischen Formel,

die unser Autor vertritt, haftet ohne Zweifel der dem Theodizee-

Gedanken oft zugeschriebene Zynismus an.

Dies hat die Verbreitung dieser Lesart nicht verhindert. THOMAS

VON AQUIN war z.B. auch ein Vertreter dieser Lesart. Nach Thomas

weiß Gott zwar alles vorher, was er prädestiniert, prädestiniert aber

nicht alles, was er vorherweiß. Letzteres ist z.B. mit allem Bösen der

Fall.137

Die antideterministische Lesart der damaszenischen Formel wurde

im Hochmittelalter ebenfalls vertreten. Im 12. Jh. wurde die Formel

im Osten dahingehend gedeutet, dass aus dem göttlichen Vorauswis-

sen nicht zwingend folgt, dass das von Gott Vorausgewusste zu Tage

tritt, es sei denn, Gott verursacht es.138

Die damaszenische Formel hat eine große Schwierigkeit für die Wil-

lensfreiheit menschlicherseits zur Folge. Wenn Gott Teile der Zu-

kunft zwar nicht vorherbestimmt, aber immerhin vorherweiß, dann

ist Gott zwar nicht die Ursache menschlichen Handelns, aber eine

echte Möglichkeit, nicht zu erfüllen, was Gott sowieso vorherweiß,

haben die Menschen nicht. Vorhergewusstes muss nämlich wahr

sein. Dass diese Schwierigkeiten früh bemerkt wurden und allmäh-

lich zur Abkehr der byzantinischen Theologie von der damaszeni-

schen Formel, jedenfalls von der deterministischen Lesart derselben

führten, zeigt bereits die Haltung des repräsentativsten byzantini-

schen Theologen der nächsten Generation, THEODOR VON STUDION

(† 826). Dieser versuchte die vorgenannte Schwierigkeit auf eine Art

zu lösen, die Unbehagen und Verwirrung verrät. In einem Brief an

Eudokimos Spatharios – trotz der Andeutung des Namens „spatha-

rios“ wohl doch keinen Leibwächter mit Säbel, sondern einen ehren-

halber so genannten Amtsinhaber – drückte Theodor die Meinung

aus, dass Gott menschliche Handlungen, die nicht vorsätzlich sind, 137 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De veritate, q. 6, a. 2, arg. 13. 138 Michael Glykas, Quaestiones, cap. 36, Bd. 1, pp. 387; 395. Für einen damit

verwandten, aber nicht auf Johannes von Damaskus bezogenen indetermi-nistischen Ansatz bereits im Byzanz des 11. Jh. (Psellos) vgl. vorliegende Arbeit Kap. 8.1. Diese Konzeption steht dem Meisten entgegen, was über die Beziehung zwischen göttlichem Vorauswissen und Ausgang der Zu-kunftsereignisse geschrieben worden ist, und nimmt Molinas scientia media vorweg.

66

von vornherein, vorsätzliche dagegen im nachhinein vorausweiß.139

Das Oxymoron eines nachträglichen Vorauswissens kann wohl nur

als Anzeichen der Ratlosigkeit des Autors verstanden werden.

2.5. Frühchristliche und frühmittelalterliche Eschatologie des

Weltendes in Ost und West

Der Glaube an die Vorherbestimmung sowie an die Gewissheit der

Prognosen prägte das Christentum von Anfang an. Bereits die Früh-

kirche wähnte, sich des nahenden Jüngsten Gerichts und des Endes

aller Zeiten bewusst zu sein. Gleichzeitig vertrat jedoch die neue Re-

ligion auch die Ansicht, dass Gottes Wege unerforschlich sind,140

was heißt, dass sein Wille unergründlich ist. Das Christentum be-

kannte sich also zwar zu einem Prädestinationsgedanken, grenzte

sich aber von den fatalistischen Vorstellungen des Heidentums ab,

die sich vordergründig in der Schicksals-Theologie der homerischen

Götterwelt, in der Volksfrömmigkeit141 sowie in der Astrologie äu-

ßerte.

Bereits die Kappadokier hatten den Vorherbestimmungsglauben und

die Kontingenz als ein harmonisches Ganzes darzustellen ver-

sucht.142 Diese ungewöhnliche Harmonie wurde in der sich formie-

renden christlichen Dogmatik von verschiedenen Autoren unter-

schiedlich interpretiert.

Kleine Differenzen in der Akzentuierung waren von Anfang an je

nach exegetischer Tradition zu vernehmen. Autoren vom 2. bis zum

5. Jh., die in der Tradition der alexandrinischen Schule standen

(Clemens von Alexandrien, Origenes, Didymus der Blinde, Evagrius

Pontikus, sowie die Kappadokier Basilius von Cäsarea und Gregor

von Nyssa), betonten die Allegorese beim Interpretieren der Schrift-

stellen, die Zukunftsvorstellungen betrafen und suchten Gottes Ver-

139 Theodor von Studion, Epistolae, lib. II, ep. 87, col. 1588 A-B. Das Oxy-

moron („im nachhinein vorauswissen“) ist von Theodor absichtlich benutzt worden.

140 Röm 11,33. 141 Für einen von Aristoteles aufgegriffenen und zurückgewiesenen Schicksals-

fall der Volksfrömmigkeit vgl. Kap. 2.1. 142 Vgl. Kap. 2.3 der vorliegenden Arbeit.

67

heißung an keinen bestimmten Zukunftsmomenten zu orten – viel-

mehr betrachteten sie sie als alltäglich zutreffende Allegorie.

Autoren dagegen, die in demselben Zeitraum in der Tradition der

karthagischen Kirchenväter Tertullian und Augustin standen, beton-

ten, mehr jedenfalls als die Alexandriner dies taten, die Historizität

der Eschatologie.143 Tertullian, der Vorreiter dieser Denkschule, hing

chiliastischen Ansichten an.

Augustin war an den Details der apokalyptischen Geschehnisse zwar

interessiert, er deutete jedoch die Zeitangaben des Evangeliums über

das Jüngste Gericht allegorisch,144 vermied es, das Fegefeuer als ei-

nen Schauplatz postmortaler Sühne zu verorten und gab keine Ein-

zelheiten über die Funktion desselben an.145

Spekulationen über den Moment und den Ort eschatologischer Er-

eignisse wurden im Westen erst im 6. Jh. mit Gregor dem Großen

laut, der z.B. genaue Angaben über die Dauer des Verbleibens der

Seele des Mönches Justus im Fegefeuer machte.146

Durch fehlende Bereitschaft, die eschatologischen Angaben der Jo-

hannesapokalypse zu konkretisieren, zeichnen sich die (erstaunlich

wenigen!) byzantinischen Kommentare zur Johannesapokalypse aus.

OECUMENIUS hat seinen im 6. Jh. geschrieben.147 ANDREAS VON CÄ-

SAREA und ARETHAS VON CÄSAREA haben ihre Kommentare im 7.

bzw. im 10. Jh. geschrieben. Der Kommentar des OECUMENIUS ist

die Vorlage, welche die beiden anderen benutzen. Die Aufgabe, die

143 Dies ist eine uralte Behauptung, obwohl sie in der Regel weniger pauschal

vorgebracht wird. Mausbach, Die Ethik des heiligen Augustinus, Bd. I, 38, stellte Origenes’ allegorische Bibelinterpretation dem Sinn Augustins für den „geschichtlichen Standpunkt der Bibel“ gegenüber.

144 Vgl. z.B. zur uneigentlichen Bedeutung der „tausend Jahre“ im tausendjäh-rigen Reich der Johannesapokalypse: Augustin, De civitate Dei, lib. XX, cap. 7, § 2.

145 Daley, Eschatologie, 200 ff. 146 Gregor I. [Papst], Dialogi, lib. IV, cap. 55. 147 Oecumenius, Commentarius in Apocalypsin, in: Hoskier, The Complete

Commentary, pp. 29-260. Vgl. auch ders., The New Edition of Oecumenius’ Commentary. Was Hoskier „new edition“ nennt, ist heute eine bereits alte Ausgabe. Die neueste Ausgabe von de Groote habe ich nicht konsultiert. Es sei nebenbei bemerkt, dass das Werk v. J. N. Suggit ins Englische übersetzt wurde: Oecumenius, Commentary on the Apocalypse.

68

sich diese Kommentatoren stellten, war, eine philologische Einfüh-

rung in die Johannesapokalypse zu schreiben; außerdem die Glossen,

die Allegorien, die Metaphern zu erläutern. In keinem Fall nehmen

sie Zahlen oder Zeitangaben der Apokalypse für bare Münze. Die

Johannesapokalypse deuten sie als einen allegorischen Text, bei dem

es nicht einmal feststehe, ob er über künftige Ereignisse berichte o-

der vielmehr poetische, seelische und moralisch aufbauende Bilder

enthalte, die symbolisch in ihrer Bedeutung für jedes Menschenleben

zu verstehen seien.

OECUMENIUS (6. Jh.) stellte z.B. den Charakter der Prophetie als

wörtlicher Prognose in Frage. Er verstand die Zahlenangaben der

Johannesapokalypse nicht wörtlich, sondern symbolisch.148 Nach

ihm hat die Äußerung, dass die Zeit der vorausgesagten Ereignisse

„nahe“ ist,149 eine diffuse Bedeutung, denn es seien ja bereits „mehr

als fünf hundert Jahre“ vergangen.150 „Tausend Jahre“ heißt dagegen

nicht etwa exakt tausend Jahre, sondern „für immer“.151 Die „fünf

Monate“,152 da die Sünder von Skorpionsstichen gequält werden sol-

len, ist eine Zahl mit „mystischer“ Bedeutung, sonst wäre diese Stra-

fe nicht groß genug. Oecumenius vermutet, dass der Sinn dieser Pas-

sage ist, dass die Strafen der Verdammten ewig und heftig sein wer-

den.153 Nach Oecumenius ist mit anderen Worten der Sinn der in der

Johannesapokalypse geäußerten Prognosen weder wörtlich zu neh-

men, noch sind die in diesen Prognosen genannten Angaben von

148 Podskalsky, Byzantinische Reichseschatologie, 85, kommentiert zu

Oecumenius, Commentarius in Apocalypsin, in: Hoskier, The Complete Commentary, pp. 32-33 und 22616-22 respektive: “[Dass das Jüngste Gericht] nicht lange auf sich warten lässt, bezieht sich nicht auf die Zeit, in der sich alles vervollkommnet, was zustande kommen muss, sondern auf Gottes Macht und Ewigkeit”; „[Oecumenius] hat also gezeigt, dass die Strafe des-selben [d.h. des Teufels] sowie der von ihm in die Irre geführten keine tau-send Jahre dauert, so dass danach das Ende des Bösen kommt, sondern in alle Ewigkeit“.

149 Offb 22,10. 150 Oecumenius, Commentarius in Apocalypsin, λόγος α΄, in: Hoskier, The

Complete Commentary, pp. 3227– 331. 151 Ebenda, λόγος ια΄, p. 22621-24. 152 Offb 9,5. 153 Oecumenius, Commentarius in Apocalypsin, λόγος ε΄, pp. 11220-21 und 1132-

5.

69

Zeitdauer einem exakten Verhältnis nach gebildet – geschweige

denn, dass sie selber exakte Angaben wären.

Bei ARETHAS (10. Jh.) ist das nicht anders. Den Ausdruck „die Zeit

ist nah“ versteht dieser folgendermaßen:

Die Zeit der Seligkeit ist nah. Das rührt von der brennenden Liebe aller her, die die Gebote Gottes achten. Daher erhalten sie Stärke aus diesen Werken, was weder für Zeitverlängerung noch für Erneue-rung gehalten werden darf. Davon zeugt die siebenjährige Geduld des Vaters Jakob ..., die als ein Tag zählte. D.h. die Zeit des Lohnes ist nah, wenn die Kürze dieses Lebens mit der Unendlichkeit der zu-künftigen Ewigkeit verglichen wird.154

Bis zum 11. Jh. hat der Westen die Apokalypse ebenfalls allegorisch

gedeutet. Dies hat philologische Gründe. Die Apokalypse-Exegesen

waren ein bestimmtes theologisches Genre, das sich vordergründig

mit Glossen, Wortdeutungen und Paraphrasen befasste – in Byzanz

wie im Westen.

Das in der Forschung bisher verbreitete Bild der byzantinischen und

westlichen Apokalypse-Kommentare ist freilich ein anderes. Wil-

helm Kamlah wollte sich z.B. mit der griechischen Auslegung der

Apokalypse nicht beschäftigen, da diese, so Kamlah, „ihre eigenen

Wege geht“.155 Das stimmt nicht ganz! Die Apokalypse-

Kommentare der karolingischen Theologen unterscheiden sich in

ihren Grundmerkmalen nicht von ihren zeitgenössischen byzantini-

schen Kommentaren. Alcuin, Ambrosius Autpertus, Beda, Haimo,

Bruno von Segni, die Autoren des Kommentars von Laon, Richard

von St. Viktor in seinem Traktat über das Ende der Welt (wir sind

bereits im 12. Jh.) sind keine Futurologen, sondern sie beschränken

sich wie Oecumenius, Andreas und Arethas darauf, dem Leser mit

philologischen Bemerkungen die Bedeutung der Wörter in der Jo-

hannesapokalypse beizubringen bzw. Schriftstellen aufzureihen (ca-

tenae), die von den letzten Dingen handeln. Die Voraussage in einer

bestimmten historischen Zeit zu fixieren, vermeiden sie.

154 Arethas, Brevis quaedam explicatio ex Commentariis in Apocalypsin, cap.

1, PG 106, col. 504 B-C. 155 Kamlah, Apokalypse und Geschichtstheologie, 9, Fußn. Bekannter ist der

Theologe Kamlah als Mitglied der Erlanger Schule, die besonders in den 70er Jahren eine besondere Bedeutung für die konstruktivistische Wissen-schaftstheorie erlangte.

70

Die Stelle der Johannesapokalypse156 über die Zahl 666 („die Zahl

des Tiers“) eignet sich natürlich besonders für numerologische und

okkultistische Überinterpretationen. Alles was die Johannesapoka-

lypse darüber verrät, ist, dass der Name „des Tieres“ bzw. des Anti-

christen die Quersumme 666 errechnen lässt, die gleichzeitig die

Quersumme eines Menschennamens ist. Angedeutet wird, dass die-

ser Menschenname sowie der Tiername in einer besonderen Bezie-

hung stehen oder identisch sind. Entgegen den Erwartungen eines

heutigen Lesers, der in der mittelalterlichen Eschatologie Propheti-

sches erkennen will, schweigen die byzantinischen Kommentare von

Oecumenius und Andreas vollends über die Bedeutung dieser

Zahl.157

In einer Rede vor einer Delegation der Westkirche, die Konstantino-

pel besuchte, ließ NIKETAS VON PAPHLAGONIEN (erste Hälfte des 10.

Jh.), ein Schüler von Arethas, die Zahl 666 unbeachtet und beschäf-

tigte sich, veranlasst von der Analogie der Siebentagewoche mit dem

Weltzeitalter, mit Verhältnissen der Zahl Sieben sowie mit der Zahl

Tausend (wegen des „tausendjährigen Reiches“158). Nach diversen

numerologischen Überlegungen kam er zu dem Schluss, dass die

durch diese Zahlen gesetzten Termine eines Weltendes für Gott nicht

verbindlich sind, denn:

Es müssten wie gesagt 7000 Jahre vergehen. Da aber der Herr in sei-ner erbarmungsvollen Geduld und Güte es nicht ertragen konnte, das Menschengeschlecht so lange geplagt zu sehen, erneuert er die Zeit und vor der vorbestimmten Zeit – o, furchterregendes Mysterium – senkt sich der Himmel und von der heiligen Jungfrau wird der liebe Jesus geboren.159

156 Offb 13,18. 157 Origenes, Scholia in Apocalypsem, sch. 3822-27, pp. 21-44, hatte in der Zahl

666 eine Symbolik erkennen wollen, die sich auf das Weltzeitalter bezog, galt aber bereits als Ketzer, als die Kommentare von Oecumenius und An-dreas verfasst wurden. Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass selbst Origenes (ebenda, sch. 391-7) vor der Fruchtlosigkeit des Unterfangens warnte, den Namen des Antichristen aufgrund der Quersumme (= 666) zu erraten.

158 Offb 20,6. 159 Niketas von Paphlagonien [alias Niketas David], Pros tous en tēi dysei epi-

skopous peri synteleias [An die Bischöfe des Westens über das Weltende] = Orationes duo de fine mundi, or. II57-61.

71

Trotzdem ging aber Niketas der Frage nach, wie lange auf das

Weltende gewartet werden muss, die genaue Begründung dieser

Überlegungen ist allerdings nicht klar, da die Handschrift hier viele

Lücken aufweist. In Niketas’ Symbolik besteht die weltliche Zeit

von Anfang bis Ende aus sieben Tagen. Aus den Zeichen seines

Zeitalters schlussfolgerte Niketas, dass seine Epoche die Endphase

des siebten Tages (= des letzten „Tages“ der Welt) darstellte. Aus

seinen numerologischen Überlegungen wollte Niketas ferner die Ein-

sicht gewinnen, dass von diesem letzten „Tag“ lediglich „sechs

Stunden und acht Minuten“ bis zum Weltende verbleiben.160 Das

klingt nach wenig und nach etwas Exaktem. Es ist aber weder wenig

noch exakt. Am von Niketas angegebenen Termin der „sechs Stun-

den und acht Minuten“ bis zum Weltende bezeichnen nur die „acht

Minuten“ eine exakte Zeitangabe, die „sechs Stunden“ dagegen eine

inexakte. Die Dauer einer Stunde war im Mittelalter variabel. Tag

und Nacht hatten in der mittelalterlichen Zeitrechnung genau diesel-

be Stundenanzahl zu betragen, d.h. 12. Um diese Zahl konstant zu

halten, musste die Minutenzahl, da ja die Nacht länger im Winter

und kürzer im Sommer ist, variieren. Eine Sommernachtsstunde hat-

te etwa 40 Minuten, eine Winternachtsstunde hatte jedoch 80 Minu-

ten.161 Dabei betrachtet Niketas die 9 Jahrhunderte, die von Paulus

bis zu seiner Zeit vergangen sind, als die irdische Entsprechung einer

apokalyptischen halben Stunde (Sommer oder Winter?) minus acht

Minuten. Geht man von einem (apokalyptischen) Sommertag aus,

dann entsprechen 9 irdische Jahrhunderte 32 apokalyptischen Minu-

ten. Geht man jedoch von einem (apokalyptischen) Wintertag aus,

dann sind es gar 12 apokalyptische Minuten. Das ergibt eine Zeit bis

zum Weltende nach Niketas zwischen 137 und 186 Jahrhunderten.

Das ist wirklich nicht exakt, geschweige denn wenig. Damit nicht

genug, ist es nicht gewiss, fügt Niketas hinzu, ob das Jüngste Gericht

unmittelbar nach dem Verstreichen der letzten acht Minuten kommt.

Die Vorbereitung auf das zweite Kommen des Herren soll sich auch

zu dieser letzten Zeit, meint Niketas, in nichts von dem unterschei-

den, was der Apostel Paulus verlangte, als sechseinhalb „Stunden“

160 Ebenda, or. II97-98. 161 Vgl. Boiadjiev, Die Nacht im Mittelalter, 38-39.

72

verblieben. Es ist nämlich ungewiss („adēlos“), ob Gott die verblei-

bende Zeit vielleicht doch verkürzt.162

Diese Überlegungen dürften wohl genügen, um die verbreitete An-

sicht zu zerstreuen,163 Niketas hätte sich an einem Weltende im Jahr

1028 geklammert.

Skeptisch gegenüber numerologischen und prophetischen Deutungen

der Zahl 666 waren im Frühmittelalter verschiedene westliche

Kommentatoren. Bei BERENGAUDUS VON FERRIÈRES (9. Jh.) steht:

Über diese Zahl [d.h. 666] haben sehr viele sehr viel gesagt und mehrere Namen entdeckt, aus deren Buchstaben sich diese Nummer ergibt [...], aber von einer so unsicheren Sache wage ich nichts zu bestimmen.164

Dieselbe Haltung ist bei BRUNO VON SEGNI (11. Jh.) anzutreffen:

Es soll an dieser Stelle genügen, was von den Alten gesagt wurde. Von selber fügen wir nichts hinzu, sondern wir übergeben dem Ge-dächtnis, was wir von ihnen angenommen haben [...] Den Namen [des Antichristen] setzte Johannes in Nummern, um den Verstand des Lesers zu schärfen.165

Bezüglich der Interpretation der Zahl 666 besteht bis Ende des 12.

Jh. kein wesentlicher Unterschied zwischen den griechischen und

den lateinischen Johannesapokalypse-Kommentaren. Erst so spät

markiert der Johannesapokalypse-Kommentar des JOACHIM VON FI-

ORE († 1202) einen Bruch mit der nicht futurologischen Tradition,

sowohl mit der griechischen als auch mit der lateinischen. Für

Joachim deutet z.B. die Zahl 666 die genaue Zeit an, zu der das Tier

sein Unwesen treibt. Nach Joachims Verständnis steht die Zahl 600

für das sechste Zeitalter, die Zahl 60 für die sechste Periode des

sechsten Zeitalters, die Zahl sechs schließlich für die 42 Monate der

162 Niketas von Paphlagonien, Orationes duo de fine mundi, or. II122-129. 163 Vgl. Talbot / Sullivan, The History of Leo, 56, Fußn. 8, mit weiteren Ver-

weisen auf die Sekundärliteratur. 164 [Berengaudus von Ferrières], Super septem visiones libri Apocalypsis, De

visione quarta, cap. 13, vers 18, PL 17, col. 972. Für etwas mehr Hinter-grundinformation zu Berengaudus und der Zahl 666 vgl. Visser, Apocalypse as Utopian Expectation, 7-9.

165 Bruno von Segni, Expositio in Apocalypsim, PL 165, coll. 678 D – 679 A.

73

Regentschaft des elften Königs gemäß dem Buch Daniel.166 Da

Joachim die sieben Zeitalter zeitlich mehr oder weniger absteckt, ist

das keine ganz so ungenaue Zeitangabe.167 Selbst Joachim will aber

seinen Fund nicht allzu ernst nehmen. Er fügt hinzu, über diese Deu-

tung der Zahl 666 möge das Zutreffen der Ereignisse entgültig ent-

scheiden.

Joachims (geringe) Vorbehalte über die symbolische Aussagekraft

der in der Apokalypse erwähnten Zahlen sollten später, insbesondere

von in Joachims Tradition stehenden Franziskanern, fallen gelassen

werden. Anfang des 14. Jh. konnten diese die Symbolik der Zahl 666

bereits für tagespolitische Zwecke einsetzen. Der Wortführer der

Spiritualen UBERTINO VON CASALE identifizierte Papst Benedikt XI.

(† 1304) mit dem apokalyptischen Tier aufgrund der Quersumme der

den Buchstaben der griechischen Transliteration seines Namens ent-

sprechenden Zahlen. Diese ergibt nämlich die Zahl 666.168

Die futurologische Johannesapokalypse-Exegese signalisiert ab dem

12. Jh. einen nach und nach tiefer wirkenden Bruch mit der bisheri-

gen, griechischen wie lateinischen Tradition. Begleitet wurde dieser

Bruch ungefähr zur selben Zeit von einem in der Scholastik immer

verbreiteteren diodorischen Verständnis der Möglichkeit. Demnach

gibt es keine anderen Möglichkeiten als diejenigen, die schließlich

eintreten.169 Dieser Paradigmenwechsel der Scholastik wurde in By-

zanz erst sehr spät bemerkt und vor allem von Konvertiten mit getra-

gen.170 166 Joachim von Fiore, Expositio in Apocalypsin, pars IV, f. 169 r a-b Bezug

nehmend auf Dan 7,25. 167 Zu den Zeitaltern nach Joachim von Floris vgl. Riedl, Joachim von Fiore,

147. 168 Bousset, Die Offenbarung, 79. Vgl. auch Charles, Lectures on the Apoca-

lypse, 4. Es ist hier die Quersumme der dem mit griechischen Buchstaben geschriebenen Namen „Benediktos“ entsprechenden Zahlen nach der grie-chischen Zahlennotation gemeint. D.h.: Beta = 2, Epsilon = 5, Ny = 50, Del-ta = 4, Iota = 10, Kappa = 20, Tau = 300, Omikron = 70, Sigma = 200. Da Epsilon zweimal im Namen vorkommt bzw. die Fünf noch einmal dazu ad-diert wird, ergibt das 666. Es ist also nicht die Quersumme im Sinne der Stelligkeit der Buchstaben gemeint, auf die sich die Numerologie üblicher-weise bezieht.

169 Vgl. Kap. 9.1 und 9.2 der vorliegenden Arbeit. 170 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.3.

74

3. Schlussfolgerungen aus den frühen Zeitlehren

In der griechischen Patristik gab es Autoren, die bereit waren, den

Glauben an die Realität der Zeit und damit die Realität der Vergan-

genheit aufzugeben. Diese Bereitschaft hat einen aristotelischen Un-

terton. Die Gegenwart markiert nach Aristoteles eine Grenze zwi-

schen Vergangenheit und Zukunft, stellt aber keine ausgedehnte Zeit

dar.171 Basilius von Cäsarea legte eine radikalisierte Version dieser

aristotelischen These nahe: Nur die Gegenwart ist da, aber diese ist

nicht zeitlich ausgedehnt. Was wiederum zeitlich ausgedehnt ist, ist

nicht da.

Im Anschluss an die als aristotelisch wahrgenommene These der Ir-

realität der Zeit entstand in Byzanz eine prädestinationsverneinende

Theologie.

Das war allerdings nicht die einzige richtungsweisende Zeitkonzep-

tion der griechischen patristischen Literatur. Im Gegensatz zu Basili-

us von Cäsarea verstand Johannes Chrysostomos unter Gegenwart

eine ausgedehnte Zeit, ja die gesamte Zeit, und er nahm damit den

thomistischen Eternalismus vorweg: Der göttliche Plan ist unver-

rückbar, da er aus Gottes Sicht gegenwärtig ist.172

Ansatzweise vertraten also manche griechische Kirchenväter eine

Zeitkonzeption, die später in der scholastischen Prädestinationslehre

ausgebaut wurde.

Im Übergang zum Mittelalter versuchte die griechische wie die latei-

nische Theologie mit Hilfe der damaszenischen Formel: Vorherwis-

sen ist nicht Vorherbestimmen, die von Cicero und den Aristoteles-

Kommentatoren aufgegebenen Rätsel bezüglich der Willensfreiheit

im Theismus zu lösen.

Alexander von Aphrodisias war der Meinung, dass Petrus eine reelle

Chance zum Tugendhaftwerden hat, obwohl Gott bestimmt weiß,

dass Petrus zum Schluss untugendhaft wird. Aber wie kann Petrus 171 Aristoteles, Physik, 218 a 18-19; 24-25. 172 „Thomistischer Eternalismus“ ist eine ungenaue Angabe eines Thesenge-

flechts, von dem keine Einigkeit herrscht, welche Thesen es genau enthält. Für eine Diskussion der wichtigsten Texte und interpretatorischen Ansätze vgl. Goris, Interpreting Eternity in Thomas Aquinas.

75

eine reelle Chance haben zu ändern, was Gott wissen muss? Petri

Anstrengungen können doch nicht ausschlaggebend für das Eintreten

dessen sein, was Gott weiß (und will). Das spricht natürlich gegen

eine reelle Chance. Die damaszenische Metaphysik, die im Westen

wie im Osten akzeptiert wurde, stellte sich dieser Schwierigkeit, als

sie konstatierte, dass Gott nicht vorherbestimmt, dass sein Wille ge-

schieht, auch wenn er weiß (und er weiß es stets!), dass am Ende

nichts anderes als sein Wille geschieht. Das schließt allerdings nicht

aus, dass Petrus Untugendhaftwerden, auch wenn nicht von Gott, so

im Kern trotzdem vorherbestimmt ist.

Damit schwankte die Theologie zwischen Prädestination und Unbe-

stimmtheit der Zukunft. Beide Positionen hatten ihre Probleme. Wer

einerseits die Prädestination befürwortete (offenbar ein Determinist),

musste sich lästige Fragen bezüglich Gottes Gerechtigkeit stellen

lassen. Wer andererseits die Unbestimmtheit der Zukunft befürwor-

tete (offenbar ein Indeterminist und in diesem Punkt an Aristoteles

orientiert), sah sich mit dem christlichen Gedanken der göttlichen

Allwissenheit konfrontiert.

Die zunächst von lateinischen Kirchenvätern lancierte Ablehnung

des Pelagianismus wurde wenigstens nominell auch von den griechi-

schen Theologen geteilt. Ihre letzte Konsequenz ist, dass die Kontin-

genz und die menschliche Willensfreiheit keine metaphysischen Ei-

genschaften von Sachverhalten oder Personen, sondern andere Na-

men für menschliche Ungewissheit über Sachverhalte sind. Meines

Erachtens haben griechisch schreibende Autoren diese letzte Konse-

quenz nicht vertreten, wohl aber einige Lateiner.

Augustin von Hippo betrachtete die Unbestimmtheit der Zukunft als

Gottes Allwissenheit und Allmacht entgegenstehend, die Willens-

freiheit dagegen als eine willentliche Unterordnung unter Gottes un-

bekannten Willen. Augustin und Hieronymus studierten die Rätsel,

welche die kontingenten Zukunftsereignisse für Gottes Allwissen

aufwerfen (inwiefern ist etwas weiterhin kontingent, wenn Gott be-

stimmt weiß, dass es nicht stattfinden wird?) anhand der Analysen

Ciceros. Mit der Diskrepanz zwischen Allwissenheit und Vorsehung

mussten sich die Gelehrten, deren Hauptsprache das Lateinische war

(insbesondere Augustins Griechischkenntnisse waren für eine ernst-

hafte Beschäftigung mit griechischer Philosophie nicht ausreichend),

76

wohl auch deshalb sehr rege auseinandersetzen, weil sie von Cicero

angesprochen worden war.

Cicero war natürlich ein Heide. Er konnte es sich leisten, Zweifel an

der göttlichen Allwissenheit zugunsten der göttlichen Vorsehung zu

äußern. Augustin und Hieronymus wollten beides retten, sowohl

Gottes Allwissenheit als auch dessen Vorsehung.

Vor diesem Hintergrund ist vielleicht Augustins und Hieronymus’

Absage an den aristotelischen Indeterminismus besser zu verstehen.

Was Gott vorsieht, sagten sie, sei nichts anderes als das, was er vor-

herweiß. Dagegen könne nicht einmal Gott etwas unternehmen, denn

zu wissen oder vorherzuwissen heißt: zustande Kommendes zu wis-

sen. D.h. Gott kann nichts ändern, wovon er ohnehin weiß, dass es

zustande kommen wird. Trotz Augustins und Hieronymus’ Anleh-

nung von Cicero waren aristotelische bzw. nicht prädestinationsbeja-

hende Ansätze im lateinischen Westen mindestens bis zum 9. Jh.

ebenfalls beliebt.

Entgegen Kamlahs Äußerung über „eigene Wege“ bereits der frühen

westlichen und östlichen Eschatologie kann ich bis zum 12. Jh. keine

großen Unterschiede in der Exegese der Johannesapokalypse im Os-

ten und im Westen erkennen.

Die vielen Parallelen zwischen West und Ost in der Johannesapoka-

lypse- sowie in der Aristoteles-Exegese mögen einen verwundern,

insbesondere wenn man nach der Lektüre der vorliegenden Arbeit zu

dem Schluss gelangt, dass die lateinische Theologie des Hoch- und

Spätmittelalters zum Teil exakte eschatologische Voraussagen be-

fürwortete und die Unbestimmtheit der Zukunft ablehnte.

Sie mögen ferner verwundern, wenn man zu dem Schluss gelangt,

dass im mittel- bis spätbyzantinischen Osten, dessen Tenor aber

nicht Ciceros eklektischer Stoizismus, sondern aristotelischer Inde-

terminismus prägte, die exakten eschatologischen Voraussagen ein

sehr marginales literarisches Feld darstellten.

Angesichts der Frage, warum in der jeweiligen theologischen Tradi-

tion zum Schluss die wenigen Unterschiede oder Abweichungen

(Augustins starke Betonung der Prädestination im Westen, origeni-

77

scher Semipelagianismus im Osten)173 statt der vielen Übereinstim-

mungen (Aristotelismus in den großen Fragen der Philosophie der

Zeit, Agnostizismus in den Apokalypse-Kommentaren) maßgeblich

wurden, kann nur mit Hinblick auf einen ethnokulturellen boundary

maintenance mechanism gemutmaßt werden, dass nach dem 12. Jh.

eine tiefe kulturelle Grenze in Europa gezogen wurde, so dass auch

in der Theologie Elemente hervorgehoben wurden, welche die Un-

terschiede zwischen beiden Gruppen bzw. Kulturen betonten. Semi-

pelagianismus gab es z.B. auch im Westen. Er trug aber nicht zur

Ziehung einer kulturellen Grenze bei. Die Übereinstimmungen bei-

der theologischen Traditionen wurden nach dem 12. Jh. dagegen un-

terdrückt. Hervorgegangen sind aus diesen Tendenzen zwei getrenn-

te theologische „Idiome“, die sich immer mehr abgrenzten, auch

wenn sie im Gespräch waren.

Damit die o.g. Verwunderung über die gegenseitige Abgrenzung der

scholastischen und mittel- bis spätbyzantinischen Theologie entlang

weniger ursprünglicher Unterschiede tatsächlich einsetzt, muss man

allerdings den restlichen Weg der lateinischen und byzantinischen

Philosophie- und Theologiegeschichte bzw. ihrer Mainstreams bis

zum 15. Jh. verfolgen.

173 Es ist eine verbreitete (und berechtigte) Position, dass dies Punkte der Diffe-

renz zwischen griechischen und lateinischen Kirchenvätern waren. Vgl. z.B. Schindler, Gnade und Freiheit.

78

Zweiter Teil: Hoch- und spätmittelalterliche Antworten auf die Fra-

ge, ob die Vergangenheit nachträglich geändert werden kann

79

4. Einleitende Bemerkungen

Eine seit der Antike wohlbekannte These lautet, dass die Vergangen-

heit irreversibel ist bzw. dass wahrheitsgemäße Aussagen über die

Vergangenheit notwendig wahr sind. Diese Notwendigkeit liegt aber

nicht an der Natur der Aussagen über Vergangenes, sondern sie ba-

siert auf dem kontingenten Faktum des Zeitvergehens. Sie ist eine

akzidenzielle Notwendigkeit, eine „necessitas per accidens“, wie die

Logiker des Mittelalters sagten. Lesern zuliebe, die die Logik-

Terminologie des Mittelalters irritieren könnte, nannte ich diese

Notwendigkeit: Irreversibilität der Vergangenheit. Diese terminolo-

gische Neuerung werde ich auch weiterhin verwenden.

Die antike Debatte darüber, ob Geschehenes aus einem späteren

Standpunkt notwendig ist, begann mit den Analysen von Diodor

Kronos und Aristoteles über die Bedeutung der Modalausdrücke

(„Es ist möglich, dass p“, „Es ist notwendig, dass p“), wenn sie in

Verbindung mit Zeitbestimmungen verwendet werden.174 Dass wah-

re Aussagen über die Vergangenheit zwingend wahr sind (necessitas

per accidens-These), war wohl der einzige Grundsatz, in dem Diodor

und Aristoteles übereinstimmten. Als erste Prämisse seines Meister-

arguments nahm Diodor an, dass Geschehenes nicht ungeschehen

gemacht werden kann. Aristoteles äußerte sich etwas umständlicher,

meinte aber dasselbe. Man könne, so der Stagirite, nicht beabsichti-

gen, Troia erobert zu haben.

Das Erwünschte ist nichts Geschehenes. Niemand hegt z.B. die Ab-

sicht, Troia erobert zu haben. Denn man berät nicht über schon Ge-

schehenes, sondern über Künftiges und Kontingentes. Das bereits

Geschehene aber kann nicht ungeschehen gemacht werden. Darum

ist richtig was bei Agathon steht: „Einzig dazu ist sogar Gott nicht

imstande, ungeschehen zu machen, was bereits gemacht ist.“175

Wünsche, Absichten, Beratungen, Pläne haben immer eine Zu-

kunftskomponente. Stellvertretend für all das spricht Aristoteles von

einen Wunsch nach dem Eintreten von etwas bereits Geschehenem.

Da Troia bereits erobert wurde, ist es jetzt sinnlos zu wünschen oder

zu beabsichtigen oder zu planen usw., es zu erobern, da jeder

174 Auf diese Debatte bin ich im Kap. 2.1 der vorliegenden Arbeit eingegangen. 175 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1139 b 5-11.

80

Wunsch, jede Absicht, jeder Plan nahe legt, vom gewünschten, beab-

sichtigten, geplanten Ausgang Abweichendes könnte doch auch pas-

sieren. Indem man eine Absicht hegt, will man ja das Eintreffen des

Gegenteils verhindern. Aber kein vergangenes Ereignis kann mehr

verhindert werden. Troia kann nicht mehr der Belagerung widerste-

hen, da es bereits gefallen ist.

Die bereits im von Aristoteles benutzten Agathon-Zitat expliziten

theologischen Konnotationen der Irreversibilität der Vergangenheit

sollten die im Mittelalter wiederaufgenommene Diskussion über die

necessitas per accidens prägen.

Bei der Beurteilung dieser Konnotationen kommt es natürlich darauf

an, ob sie in einem heidnischen oder in einem christlichen Kontext

wahrgenommen werden. Dass Gott Vergangenes nicht mehr rück-

gängig machen kann, führt das heidnische Gottesbild nicht ad absur-

dum. Die Griechen und die Römer erwarteten von ihren Göttern

nicht unbedingt, auf den Ausgang vergangener Ereignisse nachträg-

lich einzuwirken.

Im Kontext des christlichen Glaubens jedoch, der von einem all-

mächtigen Gott ausgeht, ist die Irreversibilität der Vergangenheit

nicht harmlos. Ein allmächtiger Gott müsste prima facie auch Ver-

gangenes (post festum!) abwenden können, wenn er denn wirklich

allmächtig ist. Der christliche Theologe muss also entweder die Irre-

versibilität der Vergangenheit fallen lassen oder diese akzeptieren

und die Allmacht so definieren, dass der Allmächtige nicht alles

könne. Erstere Lösung scheint gegen eine einleuchtende Intuition

über die Vergangenheit zu verstoßen, letztere scheint die Allmacht

preiszugeben. Die Plädoyers für die erste Lösung sind häufiger bei

mittelalterlichen Autoren griechischer Zunge anzutreffen. Kompro-

missversuche zwischen Allmacht und Irreversitbilität der Vergan-

genheit begegnen meist bei mittelalterlichen Autoren lateinischer

Zunge.

Das scholastische Paradebeispiel für die Irreversibilität der Vergan-

genheit geht auf ein Beispiel des Hieronymus zurück:176 Wenn so-

wohl die gestrige Defloration einer bestimmten Jungfrau als auch

das Ausbleiben der Defloration derselben Jungfrau (nennen wir sie

176 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 1.1.

81

Kunigunde) vorgestern Beides mögliche zukünftige Ereignisse wa-

ren, und, angenommen, Kunigunde ist gestern tatsächlich defloriert

worden, so ist es heute notwendig, dass sie gestern defloriert wurde –

in dem Sinne, dass dies nicht mehr abzuwenden ist. Dann ist der

Satz: „Kunigunde wird in t1 nicht defloriert“ in t0 kontingent, in t2

jedoch unmöglich wahr. Nun sind Sätze, die unmöglich wahr sind,

typischerweise Verneinungen von logischen Wahrheiten, was aber

beim Satz „Kunigunde wird in t1 nicht defloriert“ nicht der Fall ist.

„Kunigunde wird in t1 nicht defloriert“ ist vielmehr die Verneinung

einer zufälligen Wahrheit.

Die Reversibilität der Vergangenheit ist unter die allgemeine Rubrik

des Indeterminismus zu fassen. Sie besagt, dass die necessitas per

accidens-These falsch ist. D.h. sie besagt, dass wahrheitsgemäße Be-

hauptungen über die Vergangenheit nicht notwendig wahr sind. Das

ist aber dasselbe wie: Wahrheitsgemäße Behauptungen über die Ver-

gangenheit könnten (jetzt immer noch!) unwahr werden. Damit wird

behauptet, dass ihr eingetretener Ausgang jetzt noch ein anderer

werden könnte.

Die Vorstellung der Reversibilität der Vergangenheit kommt häufig

in Wünschen und Gebeten zum Ausdruck, in denen etwas, was be-

reits geschah, wieder ins Gute gewandt werden möge.177 Aber nicht

in jeder Gebetspraxis wird von der Reversibilität der Vergangenheit

ausgegangen. Michael Dummett meinte zu wissen, dass im orthodo-

xen Judentum Gebete über bereits Geschehenes als gotteslästerlich

empfunden werden, da Gott in solchen ersucht werde, etwas zu än-

dern, das er bereits vollbracht hat.178 Der Wunsch, Gott möge etwas

tun, was er um seiner Treue zu sich willen nicht mehr rückgängig

machen kann, wäre demnach eine Art Versuch, Gott auf die Probe zu

stellen.

177 Ein Beispiel Michael Dummetts, Bringing about the Past, 341-342 (alterna-

tiv in: ders., Truth and Other Enigmas, 335-336), lautet: „Angenommen, ich höre im Radio, dass vor zwei Stunden ein Schiff im Atlantik untergegangen ist und dass es ein paar Überlebende gibt. Mein Sohn war auf dem Schiff, wobei ich unmittelbar bete, dass er unter den Überlebenden, dass er nicht er-trunken sein möge.“).

178 Ebenda.

82

Auch Scholastiker gab es, die meinten, von Gott Kontrafaktisches zu

verlangen, grenze an Blasphemie. PETER DAMIANI griff im 11. Jh.

das Jungfrauen-Beispiel des Hieronymus auf. Er meinte, Gott konnte

den „Fehltritt“ der Jungfrau verhindern, bevor dieser geschah. Später

jedoch, nachdem die Jungfrau ihren „Fehltritt“ begangen hat, ist es

Gott unmöglich, ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen. In einem

anderen Sinne kann aber Gott nach Damiani jederzeit den „Fehltritt“

der Jungfrau verhindern, da er in der Ewigkeit weilt.

Peter Damiani sprach sich nicht klar gegen die Möglichkeit aus, dass

Gott post festum bewirken könnte, dass Kontrafaktisches der Fall

wird. Dies taten PETER ABAELARD im 12. Jh., THOMAS VON AQUIN

im 13. Jh. und WILHELM VON OCKHAM im 14. Jh.179

Die mittelalterlichen Gegner der Irreversibilitäts-These begünstigten

ein Vergangenheitskonzept, wonach Vergangenes jederzeit, d.h.

auch post festum, rückgängig gemacht werden kann. Dies impliziert

einen Widerspruch. Ist eine vormalige Jungfrau seit gestern entjung-

fert und macht Gott heute noch ihren „Fehltritt“ ungeschehen, dann

war sie gestern keine Jungfrau mehr (wegen ihres „Fehltritts“) und

sie war doch eine Jungfrau (weil Gott heute alles wieder ändert). Als

Nächstes möchte ich mich dieser paradoxen Position zuwenden. Tei-

le der mittelalterlichen Theologie sind von ihr ausgegangen.

5. Reversible Vergangenheit

Die Macht Gottes über die Vergangenheit kann als eine zwar impli-

zite aber aus vielen byzantinischen Quellen klar hervorgehende Leh-

re betrachtet werden.

MAXIMUS DER BEKENNER (7. Jh.) nahm an, dass die Sünden aus

vergangenen Zeiten aufgehoben werden können:

Vieles davon, was uns zustößt, soll uns zur Besinnung bringen oder

die Sünden aus vergangenen Zeiten aufheben oder die gegenwärtige

Unbesonnenheit richten oder die künftigen Sünden verhindern.180

179 Diese Entwicklungen in der Scholastik vom 12. bis zum 14. Jh. werde ich

im Kap. 6 der vorliegenden Arbeit zu beleuchten versuchen. 180 Maximus der Bekenner, Liber asceticus, cap. 22, PG 90, col. 928.

83

Es mag zunächst unklar sein, was eine „Aufhebung“ einer Sünde

sein kann. Ist sie etwas anderes als eine Vergebung? Folgende Stelle

trägt, im selben Zusammenhang betrachtet, zur Klärung der Position

von Maximus bei:

Die Angriffe durch die Versuchung tragen bei den einen dazu bei, bereits begangene, bei den anderen gerade geschehende Sünden auf-zuheben. Bei anderen tragen sie wiederum dazu bei, Sünden zu ver-hindern, die zu begehen wären.181

Hier geht es mit Sicherheit nicht um Vergebung. Denn es wird die

Versuchung angesprochen, eine neue Sünde zu begehen, als noch

keine Vergebung erforderlich ist. Diese Versuchung soll außerdem

zur Aufhebung vergangener Sünden beitragen. Im gesamten Kon-

text182 diskutiert Maximus die pädagogische Funktion der Versu-

chung und die durch eine begangene Sünde bedingte Läuterung. Ma-

ximus meint, dass die einsetzende Läuterung vergangene Sünden

(nicht nur ihre Wirkung in uns etwa) tilgt.

Wer aus den eigenen Sünden Lehren zieht („hamartanōn kai paideu-

omenos“), soll ein besserer Mensch werden, indem er nicht Gott und

andere Menschen für die Urheber seines Unglücks hält, sondern sich

selbst. Dieser Selbsterziehungseffekt wäre ohne Versuchung und

Sünde nicht möglich. Tritt dieser Effekt ein (alternativ hält der Un-

besonnene, so Maximus, gerade Gott und andere Menschen für die

Urheber seines Unglücks), dann war die Tat, die eine Sünde darstell-

te, fruchtbar, ja etwas Gutes. Und da sie etwas Gutes ist, wird ihre

Sündhaftigkeit durch diesen Effekt wenigstens zum Teil aufgehoben.

Das ist beim unbesonnenen Sünder nicht der Fall. Der Unbesonnene

scheitert eben daran, auf der pädagogischen Grundlage seiner ver-

gangenen Sünden sinnvoll zu handeln. Seine vergangenen Sünden

waren und bleiben einfach schlecht.

Maximus zeigte mit diesem Beispiel, dass vergangenen, abgeschlos-

senen Handlungen, denen Sündhaftigkeit zukommt, die Sündhaf-

tigkeit zuzukommen aufhört, wenn diese Handlungen durch ein neu-

es Element, das noch zustande kommen soll, die Besserung des Sün-

181 Maximus der Bekenner, Capita de caritate, centuria II, cap. 45 (PG 90, col.

1000). 182 Zu den nachfolgenden Ausführungen vgl. Maximus der Bekenner, ebenda,

cap. 42-46.

84

ders, sich als doch gut und dienlich erweisen. Denn ohne seine Sün-

den hätte der Sünder nichts gelernt. Aber wenn die Sünden aus päda-

gogischen Gründen von Gott selber erwünscht sind, dann sind sie

keine Sünden mehr. Gott will nur, was gut ist.

Wenn nun Sünden im oben dargestellten Sinn aufgehoben werden,

dann ist es tatsächlich trivialerweise möglich, auf die Vergangenheit

einzuwirken. Denn die früher schlechten Sünden werden durch die

Läuterung des Sünders gute, dienliche Sünden – so jedenfalls im

Sinn der obigen Analyse der Maximus-Passagen. Maximus der Be-

kenner behauptet damit die Reversibilität eines Teils der Vergangen-

heit. Die necessitas per accidens-These ist falsch bzw. sie stellt keine

allgemeine Wahrheit über Sätze über die Vergangenheit dar. „Es war

schlecht von Petrus, Jesus zu verleugnen“ kann am 15. Nissan wahr

sein, am 16. Nissan aber falsch, wenn Petrus ohne diese ursprünglich

schlechte Tat zu keinem besseren Menschen geworden wäre und am

16. Nissan tatsächlich zu einem besseren Menschen geworden ist.

Unter diesen Umständen verwandelt sich die Verleugnung zu einer

guten Tat.183

Außerdem behauptet Maximus in der oben zitierten Passage, dass die

Zukunft unbestimmt ist. Sollten zukünftige Sünden nämlich verhin-

dert werden können, in welchem Sinne sind sie denn dann zukünftig?

Wohl nur in dem Sinne, dass Zukünftiges sich wenden kann und da-

mit unbestimmt ist.

In der wohl nach dem 7. Jh. in Byzanz verfassten Kompilation aus

Scholien von SYRIANUS, SOPATER und MARCELLINUS zu der Rheto-

rik des HERMOGENES kommt ein Beispiel vor, nach dem auch Taten

Unrecht darstellen, die, obwohl zunächst durchaus zulässig, später

ein Verbrechen ermöglichten. Solche Taten waren rechtens, als sie

sich ereigneten, erscheinen aber später ungerecht, unter der Last ei-

nes Verbrechens nämlich, das auf diese Taten nachträglich abfärbt.

Das Beispiel lautet wie folgt:184 Der rechtschaffene X nimmt seinen

Bruder Y, das auf der Flucht befindliche schwarze Schaf der Familie,

bei sich auf. Y fällt irgendwann wegen Faulheit, Undankbarkeit und

Missbrauchs der Gastfreundschaft X zur Last. Beide Brüder streiten 183 Das Beispiel stammt von mir, nicht von Maximus selber. 184 Syrianus / Sopater / Marcellinus, Scholia ad Hermogenis librum περὶ

στάσεων, p. 36420.

85

und Y schleudert (in betrunkenem Zustand?) den Pokal, den er in der

Hand hat, gegen X. Damit verletzt er X tödlich. Obwohl nun ein Op-

fer hat X einen Fehler begangen: Er hätte, so der Kommentator, das

Verbrechen abwenden können, indem er Y nicht bei sich aufgenom-

men hätte. Das Verbrechen hätte bereits im Vorfeld verhindert wer-

den müssen. Die Vorstellung zieht die Reversibilität der Vergangen-

heit nach sich. Eine Tat, die Aufnahme des Bruders, die noch neutral

oder sogar gut war, bis sich das Verbrechen ereignete, erweist sich

rückwirkend als Fehler.

Gewiss entspricht der soeben dargestellte Fall nicht gängiger juristi-

scher Praxis. Auch in Byzanz hätte der Fehler von X nicht als stich-

haltiges juristisches Argument zu Ys Entlastung gegolten. Aber es

erscheint naheliegend, dass Ys Verteidiger mit dem Argument, X

hätte mit der Aufnahme seines Bruders einen Fehler begangen und

daher mehr aufpassen sollen, ein bestimmtes Publikum durchaus be-

einflussen konnte. Ein Redner, ein Anwalt etwa (der Text stammt ja

aus einem Rhetorik-Kompendium), muss wissen, dass umgangs-

sprachlich „Fehler“ an Taten erkannt werden, die schon längst hätten

vermieden werden sollen aber nicht mehr können.

Und es gibt noch mehr Fürsprachen für die Reversibilität der Ver-

gangenheit aus byzantinischen Texten. Der Codex Coislinus 299 des

11. Jh. überliefert einen antijüdischen byzantinischen Dialog, in dem

zwischen Vergebung und Tilgung („exaleipsis“) einer Sünde unter-

schieden wird.185

Der Ausdruck „Vernichtung der Sünde“ („hamartias exaleipsis“

bzw. „apoleipsis“ bzw. „exaphanisis“) ist im Mittelgriechischen

nicht selten. SYMEON DER NEUE THEOLOGE (10.-11. Jh.), der geisti-

ge Pionier der hesychastischen Bewegung, verwendet ihn (allerdings,

ohne zwischen Tilgung und Vergebung zu unterscheiden), um die

reinigende Kraft der Tränen zu umschreiben.186

Die wohl ausgereiftesten Bemerkungen in der byzantinischen Tradi-

tion, aus denen die Reversibilität der Vergangenheit resultiert, sind

185 Anonym, Dialogus contra Judaeos (= Dialogus 2) , cap. 610. 186 Symeon der Neue Theologe, Catecheses 1-34, or. 9,375-377.

86

wohl die Briefe des MICHAEL PSELLOS (11. Jh.) zur Todesstunde.187

Obwohl Psellos allgemein als kein religiöser Autor gilt, enthalten

seine oft unter Rückgriff auf Iamblichos, Proklos und Ammonius

gebildeten Ideen repräsentative Züge der orthodoxen Theologie, zu-

mal Psellos eine philosophische „Schule“ begründete, die zwei Jahr-

hunderte lang den Mainstream des byzantinischen Denkens bilde-

te.188

Psellos äußerte in mehreren Texten den auf den ersten Blick unprob-

lematischen Gedanken, dass Gott ein zeitloses Wissen über alles be-

sitzt. Vgl. z.B. folgende Passage:

Indem er alles auf eine gewisse und bestimmte und unvergängliche Art erkennt, besitzt Gott die Wissenschaft, die von allem handelt, was ist.189

Genauer betrachtet birgt aber dieser Gedanke eine Ungereimtheit in

sich. Diese drückt Michael Psellos in einem Brief an einen Mönch

folgendermaßen aus:

Wenn [Gott] die gesamte Zeit umfasst [...], wie könnte er dann ei-nerseits die Gegenwart erkennen, etwas vom Zukünftigen aber igno-rieren?190

Die Frage ist gerechtfertigt, denn ein zeitloses Wissen würde den

Umstand außer Acht lassen, dass der morgige Regen aus heutiger

Sicht noch unsicher ist. Gott würde diesen Regen als ein ihm gegen-

187 Zu diesem thematischen Komplex ist eine Besprechung von ein paar Quel-

len aus vordergründig Psellos und anderen Byzantinern bei Benakis, Eleu-theria, zu finden.

188 Indirekt stammen aus dieser „Schule“ wahrscheinlich die ersten Anregun-gen für die Beschäftigung der Scholastiker mit der aristotelischen Modal-syllogistik, Paradoxien- und Fehlschlusslehre. Es gibt nämlich Anzeichen dafür, dass Jakob von Venedig (12. Jh.) keine griechischen Kommentare ins Lateinische hätte übersetzen können, wenn er auf keine Handschriften aus dem Besitz des Michael von Ephesus, eines Hofschullehrers aus der Umge-bung des Psellos, hätte zurückgreifen können. Vgl. Ebbesen, Philoponus, 162. Über Michael von Ephesus und Michael Psellos als Höflinge und Mit-glieder des Lehrkörpers der Konstantinopler Hofschule vgl. den alten aber immer noch lesenswerten Artikel von Praechter, Michael von Ephesos und Psellos.

189 Michael Psellos, Philosophica minora II, op. 44, p. 15716-7. 190 Ebenda, op. 47, p. 16011-3.

87

wärtiges Ereignis erfahren. Die Unbestimmtheit der Zukunft, so wie

ein Mensch sie erfährt, wäre jedoch Gott nicht erfahrbar.

Man könnte hierauf entgegnen, diese Vorstellung von Gott wäre

durchaus vertretbar, da die Unbestimmtheit der Zukunft keine meta-

physische Eigenschaft von bevorstehenden Sachverhalten, sondern

eine epistemische Eigenschaft wäre, die – bedingt durch menschli-

ches Versagen, genau Bescheid über die Zukunft zu wissen – kontin-

genten Sätzen über die Zukunft zukäme. Gott könnte in diesem Fall

keine Eigenschaften erkennen, welche die Menschen nur wegen ihrer

Unvollkommenheit erkennen bzw. zu erkennen meinen. Dieses Ge-

genargument hätte Psellos nicht zugelassen.

[Alles Kontingente] ist von Natur aus unbestimmt, es kann nämlich sowohl zutreffen als auch nicht zutreffen.191

Diese Stelle deutet an, dass die Unbestimmtheit eine metaphysische,

keine epistemische Eigenschaft ist. Wenn das stimmt, dann müsste

Gott, dem doch keineswegs Unkenntnis der Natur der Dinge vorge-

worfen werden dürfte, die Zukunft als etwas Unbestimmtes wahr-

nehmen können. Gott müsste also einen ewigen, zeitlosen Stand-

punkt sowie einen menschlichen Standpunkt haben, von dem aus er

Gegenwärtiges als menschlich-gegewärtig und Zukünftiges als

menschlich-zukünftig erfährt.

Beide Standpunkte zusammengenommen ergeben ein schizophrenes

Gesamtbild. Wie kann es sein, dass jemand, d.h. Gott, der aus nächs-

ter Erfahrung weiß, dass es ein zeitlos wahrer Satz ist, dass es an-

dem-und-dem Dienstag regnet, doch noch eine Ahnung der Unbe-

stimmtheit hat, die dem Dienstagsregen aus der menschlichen Mon-

tagsperspektive zukommt?

Man kann alle diese Vorstellungen folgendermaßen vereinbaren (es

folgt meine Interpretation): Gottes Wahrnehmungen von einunddem-

selben Ereignis, dem Dienstagsregen, bilden eine Art Parallelwelten.

In der einen Parallelwelt ist es vorherbestimmt, dass es am Dienstag

regnet, da Gott Regen am Dienstag wahrgenommen hat, als der

Dienstag aus menschlicher Sicht noch Zukunft ist. In der anderen

Parallelwelt ist es noch unbestimmt, ob es am Dienstag regnet, da

191 Ebenda, op. 44, p. 15722-3. Meine Hervorhebung.

88

Gott die metaphysische Eigenschaft des Sachverhaltes: Dienstagsre-

gen erkennen muss, am Montag unbestimmt zu sein.

Psellos erstreckt dieses Bild auf Gottes Wahrnehmung der Vergan-

genheit:

Es ist grundlos [anzunehmen], dass Gott die Gegenwart besitzt, der Vergangenheit und der Zukunft jedoch entbehrt.192

Psellos hat gemeint: Würde wegen Gottes Allgegenwart ausschließ-

lich Präsens zur Beschreibung aller Zeit aus Gottes Sicht benutzt,

dann wäre „alle Zeit“ kein Wort für „ewig“, sondern ausschließlich

für „jetzt“. Aber dann besäße die Sprache, die Gottes Sicht adäquat

wiedergeben würde, keine Ausdrücke, aus denen sich die Semantik

der anderen Tempora (d.h. außer Präsens) erkennen ließe. Psellos

hält es aber für eine Folgerung aus der Allwissenheit, dass Gott Ver-

gangenheits- und Zukunftsausdrücke nicht undifferenziert benutzt –

er steht also in diesem Punkt, in einem wohlgemerkt, zu dem im 4.

Jh. Didymos der Blinde und Basilius der Große sich geäußert hat-

ten,193 der griechischen Patristik entgegen. Um es mit Psellos auszu-

drücken, „ist es grundlos anzunehmen, dass Gott die Gegenwart be-

sitzt, der Vergangenheit und der Zukunft aber entbehrt“.

Außerdem richtet sich das Wissen nach Psellos nicht nach dem er-

kannten Gegenstand, sondern nach der erkennenden Person.194 Wenn

Kunigunde weiß, dass es am Dienstag regnet, dann weiß sie es auf

eine Art, die ihre eigene körperliche und seelische Verfassung, ihre

eigenen Fähigkeiten usw. ihr erlauben. Es gibt kein sozusagen re-

geneigenes Wissen darüber, dass es regnet. Das sollte auch für Gott

gelten. Gott hat also nach seiner eigenen Natur ein Wissen über die

Vergangenheit, das sich nicht unbedingt damit deckt, was sich ei-

gentlich ereignete.

Nicht dass er die tatsächlichen Ereignisse ignorieren könnte. Da er

aber zukünftige und vergangene Ereignisse nach zweierlei Arten er-

kennt, einmal nach der nur ihm zukommenden Allgegenwart und

192 Michael Psellos, Theologica I, op. 8745-6. 193 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 1.3. 194 Michael Psellos, Philosophica minora II, op. 46, p. 15918-19. Vgl. auch Boe-

thius, De consolatione philosophiae, lib. V, prosa 5: „Quidquid concipitur, concipitur per modum concipientis“.

89

einmal nach der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit dieser Ereignis-

se, ist es vorstellbar, dass Gott eine temporalisierte Erkenntnis von

der jetzt nicht mehr abwendbaren Sünde hat, die Kunigunde gestern

beging, sowie eine zeitlose Vorstellung von Kunigundes Sünde, der-

art dass diese Sünde, gemäß Gottes Wunsch, alle Menschen mögen

ins Paradies einziehen, doch ins Gute umschlagen kann. Gott könnte

es z.B. zuwege bringen, dass Kunigunde etwa durch ihre Sünde ein

viel besserer Mensch würde und jeder, der Nachteil von ihrer Sünde

trug, einen viel größeren Vorteil daraus ziehen würde.

Schließlich findet sich der Ausdruck „Vernichtung der Sünde“ in den

1438 in Ferrara gehaltenen Reden des MARKUS VON EPHESUS gegen

das Fegefeuer.195 Dort handelt es sich nicht explizit um die Reversi-

bilität von vergangenen Sünden, sondern um die postmortale Reini-

gung der Seele des Sünders von den Sünden. Es ist aber bezeichnend

für die Prioritäten der byzantinischen Theologie, dass Markus dort

die aus seiner Sicht einzig mögliche postmortale Reinigung nicht in

einem Feuer sah, das noch nach dem Tod die Läuterung der Sünden

möglich machen würde, sondern in der durch die göttliche Milde

zuwege zu bringende „Vernichtung“ vergangener Sünden.196

Die Reversibilität der Vergangenheit wurde nicht nur von byzantini-

schen Autoren problematisiert. Wie über die Reversibilität der Ver-

gangenheit in der Scholastik diskutiert wurde, kann aufgrund eines

Begriffspaares gezeigt werden. Gemeint sind hier die Begriffe:

i. Gottes absolute Macht (potentia bzw. potestas absoluta)

und

ii. durch Gottes Gerechtigkeit bedingte Macht (potentia bzw. po-

testas ordinata).

Die Schwierigkeit, die diese Unterscheidung ausräumen will, liegt in

der Verbindung der Güte und der Allmacht Gottes. Wie kann jemand

allgütig und gleichzeitig allmächtig sein? Beinhaltet doch die All-

macht auch die Macht, Böses zu tun! Aber wer gütig ist, kann doch

Böses gar nicht tun. Nun klingt „etwas gar nicht tun können“ nach

einer Einschränkung der Allmacht.

195 Vgl. die ausführliche Besprechung im Kap. 11.6 der vorliegenden Arbeit. 196 [Markus von Ephesus], Oratio prima de igne purgatorio, cap. 10, p. 53.

90

Zur Rettung der Allmacht kann man argumentieren, dass solche

Handlungen, von denen Gott wegen seiner Güte absehen muss, mo-

ralische Privationen sind. Dass Gott z.B. in der Lage wäre, Böses zu

wollen oder zu lügen, würde auf kein Können seinerseits, sondern

auf einen Mangel schließen lassen. Da Gott nicht mangelhaft ist, ist

er gerade als Allmächtiger gar nicht in der Lage, Böses zu wollen

oder zu lügen.197

In der Scholastik wurde aber meist für ein anderes Verhältnis zwi-

schen Gottes Allmacht und Allgüte plädiert, das eben von der Unter-

scheidung zwischen einer potentia absoluta und einer potentia ordi-

nata ausgeht. Im Sinn seiner absoluten Macht, ist Gott in der Lage,

sich über jedes Gesetz hinwegzusetzen. Im Sinn seiner geordneten

Macht aber legt er sich in der Befolgung seiner eigenen Gesetze

fest.198 Per potentiam absolutam ist Gott z.B. in der Lage, Böses zu

wollen oder zu lügen; per potentiam ordinatam verzichtet er darauf.

Im Sinne dieser Unterscheidung sollten die Fälle bestimmt werden,

in denen Gott per potentiam ordinatam verzichtet, etwas ihm theore-

tisch Mögliches per potentiam absolutam zu tun, um zu demonstrie-

ren, dass die Gerechtigkeit für ihn selber verbindlich ist. Z.B. wäre es

Gott in seiner Allmacht absolut gesehen möglich, die Sünder mit

dem Paradies zu belohnen und die Tugendhaften in das ewige Feuer

zu verdammen. Aber seine Güte macht es Gott unmöglich, so etwas

zu tun.

Die Unterscheidung zwischen dem, was Gott absolut gesehen mög-

lich ist, und dem, was Gott unter bestimmten Voraussetzungen mög-

lich ist, findet sich zunächst bei AUGUSTIN: Gott hatte absolut gese-

hen die Macht, den gerechten Lot in Sodom untergehen zu lassen,

genauso wie er ihn retten konnte.199 Aber aus seiner Gerechtigkeit

197 Dieses Argument hat z.B. im 12. Jh. Bartholomäus von Exeter, Contra fata-

litatis errorem, cap. 21, § 5, pp. 27-28, vorgebracht.

198 Für diese Definition der potentia absoluta bzw. ordinata vgl. Johannes Duns Scotus, Ordinatio I (textus compositus), d. 44, q. unica, n. 3, Bd. 6 der Editio Vaticana (Balić), pp. 363-364.

199 Augustin, Contra Gaudentium Donatistarum episcopum, lib. I, cap. 30, § 35, PL 43, col. 707 (außerdem: Ausgabe Petschenig, p. 233) bemerkte an-hand des Beispiels Lots, dass es Sachen gibt, die Gott „ohne Zweifel aus seiner Macht heraus konnte, gemäß seiner Gerechtigkeit aber nicht konnte“ („sine dubio poterat per potentiam, sed non poterat per iustitiam“).

91

heraus konnte Gott nur letzteres tun. Mit anderen Worten gibt es sehr

viele Möglichkeiten, die Gott wegen dessen Allmacht offen stehen,

aber viel weniger Möglichkeiten unter weiteren Aspekten. Gott lehnt

wegen seiner Gerechtigkeit Vieles ab, was ihm aus seiner Allmacht

heraus offen steht.

ANSELM VON CANTERBURY († 1109) sowie die SCHULE VON LAON,

die unter seinem Einfluss stand, haben diesen Gedanken weiterent-

wickelt. Anselm von Canterbury entwarf die Skizze eines höchsten

Wesens, das bestimmt, dass nur das wahr sein kann, was aus dem

eigenen Wollen entspringt und der eigenen Natur resultiert.200 Die

Formulierung dieses Gottesbildes durch die Schule von Laon stellt

eine Entlehnung aus Augustin dar:

[Gott] vermochte es, konnte es aber wegen der Gerechtigkeit nicht tun.201

Zwar war in der lateinischen Theologie erst ab dem 12. Jh. von „po-

tentia absoluta“ und „potentia ordinata“ die Rede. Aber die Unter-

scheidung zwischen diesen göttlichen Machtarten war schon vorher

ein Bestandteil der lateinischen Theologie.202

In der byzantinischen Theologie war das nicht anders.

Bereits in der griechischen Vita Pachomii aus dem 4. Jh. wird der

Gedanke ausgedrückt, dass Gott jemanden, dem er durchaus zur Ge-

sundung verhelfen konnte (per potentiam absolutam also), aus päda-

gogischen Gründen („oikonomōn“ – per potentiam ordinatam könnte

man sagen) schließlich doch nicht gesunden ließ.203

200 Vgl. Anselm von Canterbury, Cur Deus homo, lib. I, cap. 17 sowie lib. II,

cap. 10. 201 „Poterat de potentia, non poterat de justitia“. Biblia latina cum glossa ordi-

naria, Bd. 1, In Genesim 19. 202 Zur Vorgeschichte der Unterscheidung zwischen potentia absoluta und

potentia ordinata vgl. Schröcker, Das Verhältnis, 26-29; Grzondziel, Die Entwicklung der Unterscheidung, passim. Für diese Unterscheidung in der Scholastik vgl. Courtenay, Capacity and Volition; außerdem: ders., The Dialectic of Omnipotence; Hamm, Promissio, passim; Schröcker, Das Ver-hältnis, passim. Vgl. auch die Literaturübersicht in Courtenay, The Dialectic of Omnipotence, Anm. 1.

203 Sancti Pachomii vitae Graecae, vita tertia, cap. 130, p. 337.

92

In der Lehre SYMEONS DES NEUEN THEOLOGEN († 1022) über göttli-

ches Nichtkönnen aus Nichtwollen, ist klar die Idee eines (geordne-

ten) Vermögens Gottes zu etwas wiederzuerkennen, durch das Gott

etwas anderes nicht kann.204

In einer im 11. oder 12. Jh. verfassten Vita des Symeon Stylites des

Jüngeren (6. Jh.) wird Gott gelobt, da er alles erschafft und alles um-

ändert („metaskeuazein“ – wohl per potentiam absolutam, wenn er

doch vorher alles erschaffen hatte).205

Von einer Unterscheidung zwischen Gottes potentia absoluta und

Gottes potentia ordinata ist ferner in den Lehren der Byzantiner

EUSTRATIUS VON NIZÄA (11.-12. Jh.) und JOHANNES TZETZES (spä-

tes 12. Jh.) auszugehen, in denen diese Autoren Gottes Unfähigkeit

thematisieren, Vergangenes umzuändern.206

KONSTANTIN STILBES, u.a. Autor einer antilateinischen Polemik, der

Anfang des 13. Jh. Bischof von Kyzikos war, behauptete, dass es in

der Macht Gottes lag, Jesus vor Hunger, Durst, Müdigkeit und

Schlaflosigkeit zu schützen,207 was freilich nicht immer geschah.

Ähnliche Ansichten äußerten der Kaiser MANUEL II. PALAIOLOGOS

(† 1425)208 und GEORG (GENNADIOS) SCHOLARIOS († vor 1473)209 –

wobei es bei allen drei Autoren nicht klar ist, ob sie eine echte, Gott

offenstehende Option ansprechen, oder eine theoretische Möglich-

keit, die zwar absolut genommen bestand, aber von Gott zuletzt

schon immer nicht gewünscht war.

Ein prima facie-Unterschied zwischen der scholastischen und der

byzantinischen Philosophie in diesem Punkt ist, dass in ersterer viel

öfter eine Hemmung erkennbar ist, realisiert zu sehen, was in Gottes

absoluter Macht liegt. Selbst im Scotismus, an sich einer voluntaris-

tischen Theologie, die Gottes unbegrenzte Freiheit betonte, sind

Probleme mit diesem Gedanken erkennbar.

204 Vgl. Kap. 11.7 der vorliegenden Arbeit. 205 Johannes Petrinos, Vita Symeonis Stylitae junioris, cap. 13. 206 Vgl. Kap. 6 der vorliegenden Arbeit. 207 Konstantin Stilbes, Professio religionis Christianorum, p. 263. 208 Manuel II. Palaeologus, Dialoge mit einem “Perser”, dial. 23, p. 272. 209 Georg (Gennadios) Scholarios, Quaestiones theologicae, q. 2, p. 367; ders.,

Refutatio erroris Judaeorum, p. 294.

93

Nach LANDULPH CARACCIOLO († 1351) konnte zwar Gott, bevor er

die Welt erschuf, gleichzeitig keine Welt erschaffen wollen. Er kann

sogar jetzt die Welt vernichten. Das sind allerdings, so Landulph,

Möglichkeiten, die Ereignisse betreffen, die Gott letztendlich nicht

zulässt, mit denen die Menschen also nicht zu rechnen haben. Was

Gott zuletzt nicht tut, darf der Mensch als nicht machbar ansehen

(„Non est mecum potentia ex hoc quod non facit“).210 Landulphs An-

sicht scheint zu sein, dass Gott die (absolute) Macht hat, eine andere

oder diese Welt zu erschaffen, im Endeffekt aber kraft seiner (geord-

neten) Macht determiniert, was von beiden der Fall sein soll. Lan-

dulph benutzt aber nicht die Prädikate „absolut“ und „geordnet“,

sondern er nennt stattdessen beide Mächte „potentia effectiva“. Lan-

dulphs überlieferter Sentenzenkommentar vermittelt zwar nicht ge-

rade den Eindruck eines sorgfältig korrigierten Werkes, aber mit die-

sem Sprachgebrauch deutet er an, dass Gottes absolute und Gottes

geordnete Macht sozusagen auf einer Stufe stehen, sowie dass letzte-

re immer zum Einsatz kommt. Gottes absolute Macht ist insofern, als

sie nicht gleichzeitig unter Gottes geordnete Macht fällt, keine ei-

gentliche Macht.

Was bei Landulph Caracciolo angedeutet wird, spricht WILHELM

VON OCKHAM, der ungleich bekanntere Zeitgenosse Caracciolos,

offen aus. Gott setzt nach Ockham niemals per potentiam absolutam

außer Kraft, was er per potentiam ordinatam vertreten kann.

Ockham ging davon aus, dass nach Gottes absoluter Macht viel mehr

möglich wird, als nach seiner geordneten Macht. Aber die zwei

Mächte ergeben nach Ockham keine unterschiedlichen Taten Gottes,

denn Gott übt keine zwei verschiedenen potentiae aus.211 Gott han-

210 Landulph Caracciolo, In primum Sententiarum, d. 38, a. 1, opinio propria,

conclusio 4 [fälschlich überschrieben als „Articulus tertius“], p. 315. Scha-bel befolgt die Codices, die nach jüngerer Handschriften-Tradition die kor-rigierte Lesart enthalten: „Non est in eo potentia ex hoc quod non fecit“. Das ist inhaltlich ungerechtfertigt. Landulph leugnet unmittelbar danach das heute sogenannte „principle of plenitude“: „Quicquid est possibile in Deo, est positum in actu“. Landulph kann jedoch nicht gemeint haben, dass Gott nichts kann, was er zuletzt nicht tut, um dann im Gegenteil gegen das prin-ciple of plenitude zu behaupten, nicht alles, was Gott könne, bringe dieser tatsächlich zustande.

211 Über diese Lesart von potentia absoluta und potentia ordinata bei Ockham vgl. die sehr bezeichnende und exegetisch eindeutige Stelle ebenda, pp.

94

delt, so Ockham, zunächst im Sinne seiner potentia ordinata, d.h. im

Sinne seiner Möglichkeiten im engeren Sinne, und erst dadurch im

Sinne seiner potentia absoluta.212 Nur im Sinne seiner potentia abso-

luta kann Gott nicht handeln. Der Umstand, dass etwas in Gottes

absoluter Macht steht, was nicht in dessen geordneter Macht steht,

bedeutet nach Ockham lediglich, dass dieses Etwas widerspruchsfrei

ist.213 Widersrpuchsfreiheit ist zu wenig für die Realisierung einer

Möglichkeit, da Vieles widerspruchsfrei sein kann, was per potenti-

am ordinatam nicht vertretbar ist. Als nicht vertretbar wird das im

Endeffekt niemals realisiert.

Widerspruchsfreies aber nicht Vertretbares, was daher niemals ein-

tritt, stellten auch Landulph Caracciolos bereits erwähnte Beispiele

dar: Die Möglichkeiten, dass Gott eine andere Welt erschuf sowie

dass Gott diese Welt vernichtet. Gerade letzteres Beispiel ist be-

zeichnend: Im Sinne seiner gerechtigkeitsfreien, absoluten Macht,

wäre Gott imstande gewesen, mit dieser Welt grausam zu verfahren.

Dies würde aber Gottes unter dem Gesichtspunkt seiner Gerechtig-

keit bedingte, geordnete Macht verletzen.

Ockham nennt ein anderes Beispiel:214 Gott wäre per potentiam ab-

solutam in der Lage, jemanden in das Paradies aufzunehmen, dem

die göttliche Gnade nicht zuteil wurde, da dies keinen Widerspruch

nach sich zieht, aber so etwas kann mit Sicherheit ausgeschlossen

werden. Laut Ockham kann Gott jemanden ins Paradies nur unter

Anwendung seiner geordneten Macht aufnehmen. Dass er die abso-

lute Macht hat, jemanden ins Paradies aufzunehmen, der keine gött-

liche Gnade erfahren hat, ist zwar wahr, heißt aber nicht mehr, als

dass so etwas bloß logisch vertretbar ist. Es ist aber nicht moralisch

und muss sogar kontrafaktisch sein. Die Aufnahme jemandes ins Pa-

radies ohne Gnade weist zwar keine inneren Widersprüche aber im-

merhin Widersprüche zu bestimmten Entscheidungen Gottes auf.

779232-780242. Eine ebenfalls sehr eindeutige Stelle ist in Ockhams Quodli-beta septem, quodlibet VI, q. 1, pp. 585-586, zu finden.

212 Wilhelm von Ockham, Summa logicae, pars III-4, cap. 6, p. 779. 213 Vgl. hierzu Wilhelm von Ockham, Opus nonaginta dierum, cap. 95, p. 727

sowie die Analyse dieser Passage von Schröcker, Das Verhältnis, 46-47. 214 Ebenda, pp. 779-780.

95

Folgende Figur könnte diesen thematischen Komplex bei Ockham

verdeutlichen:

Sachverhalte und Gottes Macht nach Ockham

Der Teilbereich A bezeichnet den Bereich der logischen Widersprü-

che. Das ist der Bereich der absoluten Unmöglichkeit. Die Vereini-

gung der Teilbereiche B und C bezeichnet alles Mögliche, alles also,

was Gott sowohl rein theoretisch hervorbringen als auch moralisch

vertreten kann – „absolut“ und „geordnet“ respektive. Der Teilbe-

reich B allein bezeichnet ausschließlich Kontrafaktisches. Dieses

könnte Gott per potentiam absolutam rein theoretisch hervorbringen,

er will es aber nicht. Der Teilbereich C bezeichnet schließlich alles,

was Gott sowohl hervorbringen als auch gutheißen, vertreten kann.

Insofern gehört es nicht nur in das Gebiet seiner potentia absoluta,

sondern auch in das Gebiet seiner potentia ordinata.

Die Unterscheidung zwischen Gottes potentia absoluta und Gottes

potentia ordinata wurde im Mittelalter auf die Frage nach der Irre-

versibilität der Vergangenheit angewandt. Es kristallisierten sich

zwei Vorstellungen heraus:

A. Gott kann per potentiam absolutam, nicht aber per potentiam or-

dinatam die Vergangenheit ändern.

B. Gott kann nach beiden potentiae die Vergangenheit ändern.

Dem scholastischen Mainstream entsprach die erste Alternative, in

der byzantinischen Philosophie gibt es Anzeichen für die zweite.

A B C

Keine potentia

potentia absoluta

potentia ordinata

96

Aber es gab auch in der Scholastik Ansätze, die für die zweite Alter-

native sprachen. JOHANNES DUNS SCOTUS215 wurde die Position zu-

geschrieben, dass die aristotelische Theorie nicht stimmt, nach der es

nicht mehr möglich ist, dass etwas der Fall ist, wenn (und während)

sein Gegenteil der Fall ist. THOMAS BRADWARDINE († 1349) be-

sprach diese Idee und zog daraus das Fazit, dass es möglich ist, dass

gegenwärtig wahre Sätze über die Vergangenheit nicht zwingend

wahr sind. Sie können also unwahr sein.216

WILHELM VON OCKHAM befürwortete ebenfalls die zweite Alternati-

ve. In seiner Prädestinationsschrift stellte er die Frage, ob es in der

geordneten Macht Gottes steht, auf die Vergangenheit einzuwirken.

Ockham traf in dieser Hinsicht eine wichtige Unterscheidung. Er

meinte,217 dass es

a. einerseits Aussagen gibt, die aus heutiger Sicht nur Vergangenes

betreffen (Vergangenes in diesem Sinne möchte ich „Vollvergan-

genes“ nennen)218

und

b. Aussagen andererseits, die sich aus heutiger Sicht auf Zukünfti-

ges vom Standpunkt der Vergangenheit beziehen (Vergangenes

in diesem Sinne möchte ich „Halbvergangenes“ nennen).

215 Johannes Duns Scotus, Quaestiones in liber I Sententiarum [Opus Oxonien-

se], d. 39, Opera omnia [Wadding-Ausgabe], Bd. 5, Teil 2, p. 1301. Die dis-tinctio 39 der Wadding-Ausgabe wurde in die Rekonstruktion des von Scotus benutzten Vorlesungstextes (Ordinatio I, dd. 26-48, Bd. 6 der soge-nannten Editio Vaticana (Balić) nicht übernommen. Dort folgt auf die dis-tinctio 38 die distinctio 40. Die distinctio 39 ist nur in Studentenmitschriften (als Reportatio) überliefert. Es steht allerdings fest, dass die distinctio 39 ei-nem scotistischen Standpunkt entspricht. Auf die philologische Diskussion, was genau aus dem Opus Oxoniense der Wadding-Edition Johannes Duns Scotus zuzuschreiben ist, möchte und kann ich nicht eingehen.

216 Thomas Bradwardine, De causa Dei contra Pelagium, lib. I, cap. 14; lib. III, cap 14 sowie cap. 52. Bradwardines Lehre in Zusammenhang mit Johannes Duns Scotus diskutiert Normore, Divine Omniscience, 7-9.

217 Wilhelm von Ockham, De praedestinatione et de praescientia Dei respectu futurorum contingentium, q. 2, a. 3 (dt. Übersetzung: Perler, Prädestination, 40).

218 Zu Ockhams Ansichten über Vollvergangenes vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 6.

97

Beide Aussagearten, (a) und (b), stellen Tatsachen der Vergangen-

heit dar. Erstere sind ein für allemal abgeschlossen insofern, als es

feststeht, ob sie wahr oder falsch sind. Letztere sind nicht abge-

schlossen insofern, als noch nicht feststeht, ob sie wahr oder ob sie

falsch sind, es sei denn, die Tatsachen der Zukunft, auf die sie sich

beziehen, sind unvermeidlich. Eine gestrige und – nehmen wir an –

wahre Voraussage, dass es übermorgen regnen wird, ist heute noch

nicht als notwendig wahr anzunehmen, obwohl sie in der Vergan-

genheit liegt. Es ist nämlich heute vorstellbar, dass es morgen nicht

regnet. Sollte es morgen tatsächlich regnen, dann werden wir auch

im nachhinein die heutige Vorstellung, es würde morgen doch nicht

regnen, für eine realisierbare Option und die gestrige – richtige! –

Voraussage für immer noch nicht notwendig wahr halten. Eine Än-

derung am Wahr- oder Falschsein von Aussagen der Art (a) steht

nicht in Gottes Macht, d.h. Gott hat weder die absolute noch die ge-

ordnete/bedingte Macht über diese. Aber eine Änderung am Wahr-

oder Falschsein von Aussagen der Art (b) steht in Gottes absoluter

und geordneter Macht. Ockham erkannte also den Aussagen über

abgeschlossene (voll-) vergangene Sachverhalte eine bestimmte und

irreversible Wahrheit oder Falschheit zu. Solche aber, die sich mit-

telbar auf Zukünftiges beziehen, d.h. Aussagen über noch nicht ab-

geschlossenes (Halb-) Vergangenes, hielt er für wahrheits- sowie

falschheitsfähig, noch nicht für bestimmt und irreversibel wahr oder

falsch.

Mit anderen Worten hat Ockham Gott die Macht zugeschrieben, sei-

ne gestrige Voraussage über den morgigen Regen falsch werden zu

lassen, indem er heute strahlendes Sonnenwetter für morgen anord-

net. Da die Voraussage Gottes gestern, als sie getroffen wurde, wahr

war (alle Voraussagen Gottes sind wahr), kommt das der Reversibili-

tät der Vergangenheit gleich, bei der aber Gott nichts direkt in der

Vergangenheit bewirkt. Auf die Vergangenheit (d.h. Gottes Voraus-

sage) wird erst Einfluss genommen, indem auf die Zukunft (d.h. auf

den Gegenstand der Voraussage) Einfluss genommen wird. Im we-

sentlichen handelt es sich dabei um eine Macht (potentia ordinata),

die Gott über die Zukunft, nicht um eine, die er über die Vergangen-

heit hat. Zwar stellt die gestrige Voraussage Gottes einen vergange-

nen Sachverhalt dar, aber nach Ockham einen sozusagen halbver-

98

gangenen.219 Halbvergangene Sachverhalte erkennt Gott anders als

vollvergangene – d.h. so wie er die futura contingentia erkennt.220

Dass sich die Vergangenheit dadurch ändern kann, dass in Zukunft

etwas der Fall ist, geht ebenfalls aus einem Oxforder Quodlibet (=

universitäre Veranstaltung, in der sich ein Lehrer beliebigen Fragen

stellte) des ROBERT HOLCOT († 1349) aus dem Jahr 1332 hervor.221

Holcot war zwar ein Dominikaner, scheint aber philosophisch unter

dem Einfluss des Franziskaners Ockham gestanden zu haben.222 Un-

ter anderem behauptete Holcot erstens, dass Gott mehr wissen kann,

als er weiß, zweitens, dass Gott weniger wissen kann, als er weiß,

219 Ockhams Unterscheidung zwischen „vollvergangenen“ und „halbvergange-

nen“ Sachverhalten wird in folgenden analytischen, nicht exegetischen, sondern weiterführenden Arbeiten diskutiert: Wengert, Necessity of the Past; Plantinga, On Ockham’s Way out, 245-246; Freddoso, Accidental Ne-cessity and Power over the Past; ders., Accidental Necessity and Logical Determinism. Einen Literaturüberblick über Ockhams Unterscheidung zwi-schen voll- und halbvergangenen Sachverhalten sowie über die Komplikati-onen, die Gottes Allwissenheit vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung erfährt, liefert Liske, Was leistet etc., 163, Anm.; 172-173, Anm. 18.

220 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.4 für die Schwierigkeiten, die mit Ockhams Verständnis von Gottes Erkenntnis der futura contingentia zusammenhän-gen.

221 Robert Holcot, Utrum Deus posset scire plura quam scit, zuerst ediert 1964 von Moody, A Quodlibetal Question, pp. 57-64, neuediert sieben Jahre spä-ter von Courtenay, A Revised Text, pp. 3-21. Die editorischen “Abenteuer” sind auf die Qualität der Manuskripte zurückzuführen: Balliol 246 (Balliol College, Oxford) ist lückenhaft, Royal 10.C.VI (British Museum, London) enthält inkonsequente Stellen, Pembroke 236 (Pembroke College, Cambridge) ist besser als die vorgenannten, weist aber wie diese Unge-reimtheiten in der Argumentation auf. Courtenay, A Revised Text, 2, ver-mutet, dass die drei Fassungen verschiedene Stadien der Ausarbeitung von Studentenmitschriften zu einer authorisierten Version sind, schließt aber aus, dass diese anhand des „guten“ Pembroke-Manuskripts vorliegt. Zu phi-lologischen und historischen Fragen bezüglich dieses Quodlibets vgl. Keele, Oxford Quodlibeta, 680-692.

222 Für eine Analyse der Argumente Holcots, die ich hier außer Acht lasse, zu Gottes Erkenntnis von kontingenten Zukunftsereignissen vgl. Streveler, Ro-bert Holcot on Future Contingencies; Gelber, It Could Have Been otherwise, 171-186; Tachau, Robert Holcot on Contingency. Holcots Positionen in die-sem Punkt sind mit denjenigen des Wilhelm von Ockham verwandt (vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.4).

99

drittens, dass er imstande ist, nichts zu wissen.223 In seinem „Be-

weis“224 für diese Behauptungen geht Holcot davon aus, dass es Sät-

ze gibt, die im einen Moment wahr und im nächsten falsch sind.

Holcots Beispiel lautet: „Sokrates läuft“.225 Ein Mann namens Sokra-

tes läuft in einem Moment und sitzt im nächsten. Dann ist der Satz:

„Sokrates läuft“ im ersten Moment wahr, im zweiten aber falsch.226

Seien nun im ersten Moment, so Holcots Argument weiter, der Satz:

„Sokrates läuft“ tausendmal und der Satz: „Sokrates sitzt“ nur einmal

geschrieben. Im zweiten Moment sitzt, wie gesagt, Sokrates, so dass

eintausend Vorkommnisse des Satzes: „Sokrates läuft“ falsch werden

und einer wahr. Da Sokrates im zweiten Moment nicht mehr läuft,

weiß der unfehlbare und allwissende Gott, so Holcot, tausendmal

nicht mehr, dass Sokrates liefe, und einmal dass Sokrates sitzt. Fazit:

223 Robert Holcot, Utrum Deus posset scire plura quam scit, in: Moody, A

Quodlibetal Question, p. 60; außerdem in: Courtenay, A Revised Text, p. 9. 224 Ich benutze die sogenannten „scare quotes“, weil ich Bedenken zur Beweis-

führung habe. Holcot argumentierte oft im Rahmen einer obligatio. Die ob-ligatio ist zwar ein scholastisches Beweisverfahren, aber sie ist sozusagen „paradoxietolerant“. Die Regeln für die obligationes zu analysieren, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Außerdem gab es Scholastiker, die ver-schiedene Regeln für legitim hielten. Für eine ausgezeichnete, prägnante und allgemeine Einleitung in die obligationes vgl. Spade, Medieval Theo-ries of Obligationes; ausführlicher ist die Studie von Keffer, De obligationi-bus; vgl. 99-196 in derselben für eine Besprechung verschiedener Schluss-regeln, die in obligationes in Anwendung kamen.

225 Ebenda, in: Moody, A Quodlibetal Question, p. 61; außerdem in: Courte-nay, A Revised Text, p. 10.

226 Das ist ein sehr schlechtes Beispiel. Dieser Satz gibt den Eindruck, mal wahr und mal falsch zu sein, nur weil er keine präzise Aussage darstellt. Es fehlt z.B. in demselben eine Zeitangabe bzw. es wird davon ausgegangen, dass auch implizit keine Zeitangabe in demselben zu verstehen ist. Ein bes-seres Beispiel für das von Holcot gemeinte Paradox wäre: „Cäsar hatte am Vormittag der Iden des März des Jahres 44 vor Christus das Glück, dass es ihm gesundheitlich besser ging“. Ein Glück war dies wohlgemerkt für Cäsar nur bis zur Senatssitzung, die Cäsar zu besuchen beschloss, nachdem er sich besser gefühlt hatte. Dort wurde Cäsar ermordet. Im nachhinein lässt sich also sagen, Cäsar wäre glücklicher gewesen, wenn sich sein Gesundheitszu-stand nicht verbessert hätte. Während Cäsar noch am Leben war, war der o.g. Satz in Anführungszeichen wahr: Cäsar hatte mit seiner gesundheitli-chen Besserung tatsächlich Glück. Nachdem er aber ermordet wurde, wurde der o.g. Satz in Anführungszeichen falsch: Cäsar hatte mit seiner gesund-heitlichen Besserung kein Glück in dem Sinne, dass er zu Hause geblieben und nicht ermordet worden wäre, wäre es ihm nicht besser gegangen.

100

Gott weiß im zweiten Moment weniger als im ersten. Holcots Argu-

ment funktioniert nur, wenn es jedes Mal ein anderer Erkenntnisakt

ist zu wissen, dass ein weiteres Vorkommnis eines wahren Satzes

wahr ist. Holcot lässt also Gottes Wissen von den kontingenten Wie-

derholungen von (Vorkommnissen von) wahren Sätzen abhängen.

Das mag konsequent nominalistisch sein, ist aber metaphysisch um-

stritten. Denn wie verhält sich Gottes Wissen in dieser, um es ana-

chronistisch auszudrücken, token-Theorie der Wahrheit,227 in Bezug

auf Wahres, das noch nicht formuliert worden ist? Ein Thomist

könnte natürlich sagen, dass Gott bereits seit aller Ewigkeit alle wah-

ren Sätze formuliert hat und genau weiß, wann diese zutreffen. Im

thomistischen Kontext ergibt der Umstand, ob eines oder tausend

Vorkommnisse des Satzes „Sokrates läuft“ auf einmal falsch werden,

für die Gesamtmenge an göttlichem Wissen keinen Unterschied.

Holcot vertrat jedenfalls explizit die Meinung, dass es für Gott

durchaus einen Unterschied macht, wann und wieviele Vorkommnis-

se von Sätzen mit abwechselnder Wahrheit bzw. Falschheit wahr

sind. Holcots Lehre nimmt an, dass alles, was zuzutreffen aufhört,

Gott im aktuellen Zeitpunkt erst nicht mehr bekannt ist.228 Das heißt,

dass Gottes Wissen zeitbezogen ist, während es Sätze gibt, die ihren

Wahrheitswert ändern.229 Infolge dessen erkennt Gott unterschiedli-

che Sachverhalte, je nachdem, wann er sie erkennt. Ein direktes Plä-

doyer für die Reversibilität der Vergangenheit ist das nicht. Aber es

ist eine versuchte Lösung der bereits im Meisterargument des Diodor

Kronos vorhandenen Paradoxie, nach der die Irreversibilität der Ver-

gangenheit das Zutreffen aller wahren Sätze über die Zukunft nezes-

227 Für eine Kurzbesprechung derselben vgl. Perler, Der propositionale Wahr-

heitsbegriff, 303-304. 228 Ebenda, in: Moody, A Quodlibetal Question, p. 62 (mit irreführendem

Wortlaut); außerdem in: Courtenay, A Revised Text, p. 13. 229 Das hat auch erhebliche Folgen für Gottes Wissen über die futura contin-

gentia. Da mich hier aber nur Holcots Lehre über „halbvergangene“ Sach-verhalte interessiert, werde ich nicht auf die futura contingentia-Problematik eingehen, die aus den futura-contingentia-Quaestionen Robert Holcots hervorgeht. Den interessierten Leser möchte ich direkt auf diese hinweisen: Robert Holcot, Quodlibet 3: Quaestiones de futuris contingentibus.

101

sitiert.230 Eine Lösung zudem, bei der nicht leichtfertig auf die tho-

mistische Lösung zurückgegriffen wird: Gott wüsste alles aus einer

Ewigkeitsperspektive.

PETER VON AILLY († 1420) dürfte der letzte mittelalterliche Expo-

nent der These gewesen sein, dass Gott Teile der Vergangenheit aus-

löschen kann.231

6. Irreversible Vergangenheit

6.1. Der Irreversibilitätsgedanke in der Frühscholastik

Der byzantinische theologische Mainstream und ein paar scholasti-

sche Autoren sprachen Gott eine Macht zu, die Vergangenheit zu

ändern. Die lateinische Theologie begann jedoch im 11. Jh., an einer

solchen Macht Gottes zu zweifeln. Schließlich etablierte sich Ende

des 13. Jh. in der Hochscholastik die in der Antike sowohl von Me-

garikern als auch von Aristotelikern vertretene Ansicht, wonach die

Vergangenheit irreversibel ist.

Dass Gott laut Irreversibilitätsthese die Vergangenheit nicht mehr

ändern kann, während er sie früher ändern konnte, als die Vergan-

genheit noch Zukunft war, erscheint allerdings nicht gottgemäß –

wenigstens in einem christlichen Kontext, in dem Gottes Allmacht

vorausgesetzt wird.

230 Diskussionen über diese Paradoxie sind immer noch aktuell. Vgl. Plantinga,

On Ockham’s Way out; Freddoso, Accidental Necessity and Power over the Past; ders., Accidental Necessity and Logical Determinism; Wierenga, Prophecy, 429-441, für Lösungen entlang der ockhamistischen (bei Wierenga auch der thomistischen) Tradition. Dem Ockhamismus ist auch Holcot zuzuordnen. Holcots Lösung berücksichtigen Plantinga, Freddoso und Wierenga allerdings nicht.

231 Für einen Überblick über die Ansichten von Bradwardine, Holcot und Peter von Ailly zu Gottes Macht über die Vergangenheit vgl. Normore, Divine Omniscience, 7. Richard Gaskin, Peter Damian on Divine Power, 229; 243-245; ders. Peter of Ailly and other Fourteenth-Century Thinkers, 273-291, rechnet auch Gilbert von Poitiers, Wilhelm von Auxerre und Gregor von Rimini zu den Vertretern der Irreversibilitätsthese. Speziell bei Gaskins Ur-teil über die angebliche Befürwortung der Irreversibilitätsthese durch Gre-gor von Rimini liegt wohl eine Überinterpretation oder ein Missverständnis vor. Gregor glaubte ja an eine durchgängige Prädestination aller Ereignisse durch Gott.

102

Im Mittelalter waren unter den Befürwortern der Irreversibilität der

Vergangenheit zwei Lösungen dazu im Gespräch:

1. Gott habe anders handeln können als er gehandelt hat. Er konnte

also die verlorene Jungfräulichkeit einer Frau wiederherstellen,

die den „Fehltritt“ beging, sowie Roms Gründung abwenden –

kann es aber nicht mehr im nachhinein.

2. Gott handelt aus seiner Natur heraus und damit hätte er nicht an-

ders handeln können, als seine Natur ihm eindeutig zu handeln

diktiert. Die Vergangenheit ist nicht nur jetzt bestimmt, sondern

sie war es auch dann, als sie noch Zukunft war. Weder war es al-

so Gott im vorhinein noch ist es im nachhinein möglich, die ver-

lorene Jungfräulichkeit wiederherzustellen und Roms Gründung

abzuwenden.

Die zweite Ansicht ist radikaler und wurde erst in der Hochscholas-

tik formuliert.232 Die erste Ansicht vertrat bereits PETER DAMIANI (†

1072) in seiner 1067 verfassten Schrift De divina omnipotentia in

reparatione corruptae, et factis infectis reddendis. Damiani schloss

sich der von Hieronymus angesprochenen Thematik an.233 Grund-

sätzlich stimmte er mit Hieronymus darin überein, dass Gott bereits

Geschehenes nicht nachträglich ungeschehen machen könne. Also

könne Gott laut Damiani weder die Ehre und Jungfräulichkeit einer

Frau wiederherstellen, die bereits den „Fehltritt“ beging, durch den

sie keine Jungfrau mehr ist,234 noch jetzt erst Roms Gründung ver-

hindern.235 Aber aus einer absoluten Perspektive muss Gott nach

Damiani die (doch nicht sehr beanspruchende!) Macht zugesprochen

werden, eine Jungfrau nicht den fraglichen „Fehltritt“ begehen zu

lassen und Roms Gründung abzuwenden (was etwas schwieriger

gewesen sein muss, aber jedenfalls plausiblerweise gottmöglich).

Zwar könne Gott heute, so Damiani, den „Fehltritt“ einer deflorierten

Frau nicht mehr verhindern, aber er habe es gekonnt („potuit“), als

232 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 6.2. 233 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 1.1. 234 Petrus Damiani, De divina omnipotentia, cap. 2-3, pp. 347-351 (Reindel-

Ausgabe) bzw. Epistulae, ep. 2.17 bzw. op. 36, PL 145, coll. 599 C – 601 D.

235 Ebenda, cap. 15, pp. 378-379 (Reindel-Ausgabe) bzw. Epistulae, ep. 2.17 bzw. op. 36, PL 145, coll. 618 C – 619 B.

103

sie noch eine Jungfrau war,236 wobei dieses „Gekonnthaben“ im Fall

Gottes eine zeitlos wirkende Macht darstellt.

Allgemein lässt sich sagen, dass Gott nach Damiani die Vergangen-

heit zwar nicht ändern kann (Präsens), allerdings konnte (Präteri-

tum).

Diese Vorstellung kann mit Hilfe folgender Figur veranschaulicht

werden:

Damianis Zeit- und Möglichkeitsauffassung

Vorsicht aber: Die Abbildung ist insofern inakkurat, würde Damiani

sagen, als sich Gott zu keinem Moment in ausschließlich einem

Punkt bzw. Scheidepunkt der waagerechten Zeitlinie befindet. Er

umfasst die gesamte Zeit. Gott „konnte“ die Jungfräulichkeit der

Frau immer, d.h. aus seiner Ewigkeitsperspektive wahren. Er „konn-

te“ Roms Gründung aus seiner Ewigkeitsperspektive verhindern.

Die vorgenannte ist selbstverständlich keine übliche Verwendung

von „konnte“. Ein Verb im Präteritum zeigt in der Sprache einen

temporalisierten Kontext an. Hier ist aber der Kontext wegen Gottes

Ewigkeit per Annahme nicht-temporalisiert. Nicht-temporalisierte

Kontexte sind solche, in denen entweder keine verschiedenen Tem-

poralausdrücke vorkommen, die sich auf einunddenselben Moment

aus Zukunfts-, Gegenwarts- und Vergangenheitsperspektive bezie-

hen, oder, falls sie vorkommen, semantisch indifferent sind. D.h. in

solchen Kontexten gibt es keinen Unterschied zwischen „können“

und „gekonnt haben“. Dass die verschiedenen Tempora im Alten

Testament semantisch indifferent sind, wenn sie sich in Bezug auf

Gott verwendet werden, wurde bereits in spätantiken Glossen be-

236 Ebenda, cap. 15, p. 379 (Reindel-Ausgabe) bzw. Epistulae, ep. 2.17 bzw.

op. 36, PL 145, col. 619 B.

„potuit factum infectum facere“

„non potest factum infectum facere“

factum

104

hauptet.237 Damiani muss diese Interpretation von Zeitwörtern in der

Bibel geläufig gewesen sein. Er steht jedenfalls in der Tradition die-

ser Interpretation, wenn er die Ewigkeitsperspektive Gottes behaup-

tet. Daher ist es ein Fehlgriff von Damiani zu behaupten, Gott habe

zwar den Fehltritt verhindern können, was er später nicht mehr kön-

ne. Es ist ein Fehler von ihm, einerseits zu behaupten, alle Kontexte,

in denen Gott agiert und erkennt, seien atemporal, andererseits das

„Können“ bzw. „Gekonnthaben“ Gottes als etwas zu betrachten, was

in einem temporalisierten Kontext fungiert.

Meine Interpretation der fraglichen Stellen aus Damianis De divina

omnipotentia schließt sich an die sogenannte moderne Interpretation

dieses Werkes an,238 nach der Damiani der Meinung war, dass Gott

die Vergangenheit nicht ändern kann, aber sehr wohl ändern konnte.

„Modern“ heißt sie zur Unterscheidung von der traditionellen Inter-

pretation,239 nach der Damiani angeblich genau das Gegenteil gezeigt

hätte: Dass Gott angeblich die Vergangenheit sowohl ändern konnte

als auch ändern kann.

Richard Gaskin,240 der letzte Verfechter der traditionellen Interpreta-

tion, führt als Gegenargument zur modernen Damiani-Interpretation

an, dass Gott laut Damiani alternative Ausgänge von Ereignissen

ermöglicht und zwar unabhängig vom Moment, zu dem diese Ereig-

nisse stattfinden. Gaskins „Gegenargument“ verfehlt aber sein Ziel.

Zwar ist das tatsächlich etwas, was Damiani behauptet, es stellt aber

nicht die Möglichkeit einer Einwirkung Gottes in die Vergangenheit

dar, sondern dessen Fähigkeit, anders zu handeln als er handelt.

Eine Erklärung für die Verbreitung der traditionellen Interpretation

könnte die Überschrift des Kapitels 15 von De divina omnipotentia

in der nicht-kritischen Edition in Mignes Patrologia Latina liefern.

Diese lautet: „Caput XV. Concludit asserendum esse Deum posse

237 Vgl. die Bezugnahmen auf ein paar Positionen der Theodoret von Kyros

und Nemesius von Emesa im Kap. 1.2 der vorliegenden Arbeit. 238 So nennt sie Gaskin, Peter Damian on Divine Power and the Past, 243. Für

die moderne Interpretation vgl. außerdem Resnick, Divine Power, 87-90 sowie Gaskin’s Literaturhinweise a.a.O.

239 Z.B. Normore, Divine Omniscience, 6; So nennt sie Gaskin, Peter Damian on Divine Power.

240 Ebenda, 237 f. und 242 f.

105

facta infecta facere“.241 Diese Überschrift ist nicht handschriftlich

überliefert und wohl auf die editio princeps des Konstantin Cajetan

Anfang des 17. Jh. zurückzuführen, die Migne für seine Ausgabe

herangezogen hat. Ein vorsichtiges Auge könnte sowieso in der Ar-

gumentation des besagten Kapitels erkennen, dass Petrus Damiani

dort das „Ungeschehenmachen des Geschehenen“ nur in zeitloser

Perspektive behauptet. Das ungeschehen gemachte „Geschehene“

war dort bloß eine Gott vorschwebende, vielleicht sogar sehr nahe-

liegende Option, bevor es verhindert wurde – aber kein rückgängig

gemachtes Faktum.

Damianis Ungereimtheiten sind Zeichen seiner Unentschlossenheit

zwischen der bedingungslosen Allmacht Gottes und der aus Aristo-

teles bekannten necessitas per accidens-These. Diese Unentschlos-

senheit ist charakteristisch für die Frühscholastik.

ANSELM VON CANTERBURY († 1109) war ähnlich wie Peter Damiani

unentschlossen. Einerseits drückte er im Kapitel 17 des zweiten Bu-

ches von Cur Deus homo die Meinung aus, dass es nicht richtig ist,

von Gott zu behaupten, es wäre ihm unmöglich zu bewirken, dass

Vergangenes nicht mehr vergangen ist.

Obwohl nichts mehr rückgängig gemacht werden kann, nachdem es sich mit Gottes Kraft ereignet hat, sondern immer wahr ist, dass es sich ereignet hat, wäre es nicht richtig zu sagen, dass es Gott unmög-lich ist zu bewirken, dass Vergangenes sich nicht ereignete.

Scheinbar läuft diese These Anselms der Irreversibilität der Vergan-

genheit entgegen. Jedenfalls scheut Anselm an dieser Stelle davor

zurück, die Reversibilität der Vergangenheit einen Bereich des gött-

lichen Nichtkönnens zu nennen. Aber wie würde es Gott zustande

bringen, dass ein bereits geschehenes Ereignis sich nicht ereignet

hätte? Offenbar dadurch, dass er die Kraft hätte, nachträglich Ereig-

nisse aus der Vergangenheit auszulöschen, die er noch vorgesehen

hatte, als die Vergangenheit Zukunft war. Aber gerade das verneint

Anselm an folgender Stelle aus demselben Kontext:

Diese [durch Zeitvergehen] bedingte Notwendigkeit [sequens neces-sitas] durchzieht sämtliche Zeiten auf folgende Weise: Alles was war, ist zwingend gewesen. Alles, was ist, ist zwingend und wird

241 Petrus Damiani, Epistulae, ep. 2.17 bzw. op. 36, PL 145, col. 618 B: „Kapi-

tel 15 zieht den Schluss, dass anzunehmen ist, dass Gott Geschehenes unge-schehen machen kann“.

106

zwingend gewesen sein. Alles, was sein wird, wird zwingend sein.242

An dieser Stelle behauptet Anselm u.a. die Irreversibilität der Ver-

gangenheit: Die verstrichene Zeit nezessitiert das Ereignis, das vor

dieser geschah.

Unter die restlichen zeitlogischen Sätzen, die Anselm an dieser Stelle

behauptet, gehört auch der Grundsatz, dass jeder zukünftige Sach-

verhalt seine eigene Nezessitation impliziert („Alles, was sein wird,

wird zwingend sein“).

Das ist „Notwendigkeit des Folgesatzes“, eine umstrittene und zu

starke These von Cur Deus homo (1098). In seinem späteren Traktat

über die Übereinstimmung der Allwissenheit, Prädestination sowie

Gnade Gottes mit der Willensfreiheit243 (1108) hat Anselm diese fa-

talistische These wohl als Fehler erkannt. Jedenfalls hat er sie nicht

mehr vertreten. Statt dessen behauptete er dort die Notwendigkeit der

Folgerung (nicht des Folgesatzes!), d.h. des ganzen Konditionals,

dessen Vordersatz aus der göttlichen Prophezeiung über einen zu-

künftigen Sachverhalt und dessen Folgesatz aus eben diesem Sach-

verhalt im Futur besteht. Diesen Grundsatz werde ich an geeigneter

Stelle besprechen.244 Der Unterschied zwischen beiden Thesen ist

groß. Gemäß Cur Deus homo gilt: Kunigunde wird morgen zwin-

242 Beide Stellen aus Anselm von Canterbury, Cur Deus homo, lib. II, cap. 17

lauten im Original folgendermaßen: „Et sicut cum Deus facit aliquid, post-quam factum est, iam non potest non esse factum, sed semper verum est fac-tum esse, nec tamen recte dicatur impossibile Deo esse, ut faciat quod prae-teritum est non esse praeteritum“. „Ista sequens necessitas currit per omnia tempora hoc modo: Quidquid fuit, necesse est fuisse. Quidquid est, necesse est esse et necesse est futurum fuisse. Quidquid futurum est, necesse est fu-turum esse“. Gaskin, Peter Damian on Divine Power, 229, vertritt die An-sicht, dass Anselm an der besagten Stelle die Möglichkeit der Einwirkung Gottes auf die Vergangenheit zulässt. Der interessierte Leser kann sich leicht überzeugen, ob Anselm Gottes Fähigkeit bejaht, Ereignisse aus der Vergangenheit zu streichen, wie Gaskin meint, oder ob Anselm die Reversi-bilität der Vergangenheit zwar einen Fall göttlichen Unkönnens zu nennen zögert, aber im Endeffekt als eine logische Unmöglichkeit ausweist, wie ich meine.

243 Anselm von Canterbury, Tractatus de concordia praescientiae et praedesti-nationis, pp. 260-261; alternativ: PL 158, col. 511 C.

244 Siehe meine Besprechung von Anselms Ansichten zur Prädestination im Kap. 9.1.

107

gend defloriert, wenn Gott sie morgen deflorieren lassen will (Not-

wendigkeit des Folgesatzes). Gemäß Traktat über die Übereinstim-

mung gilt aber: Dass Kunigunde defloriert wird, unter der Bedin-

gung, dass Gott sie morgen deflorieren lassen will, ist notwendig

(Notwendigkeit der Folgerung). Laut Notwendigkeit des Folgesatzes

war es Kunigunde sogar unmöglich, etwas anderes zu tun, als was

Gott wollte. Laut Notwendigkeit der Folgerung ist es aber wenigs-

tens vorstellbar, dass Kunigunde etwas anderes tut.

Der Fatalismus in der Scholastik hing oft mit einer Verwirrung über

die Notwendigkeitsarten zusammen, zwischen denen Anselm

schwankte. Boethianische245 Notwendigkeit der Folgerung in Kon-

texten wie der oben geschilderte lässt dem Menschen wenigstens

theoretisch die Willensfreiheit. Statt dessen wie etwa John Wyclif246

die Notwendigkeit des Folgesatzes anzunehmen, zieht den Fatalis-

mus nach sich.

Der „Zeitgeist“ der Scholastik befürwortete die fatalistischen Ten-

denzen. Damianis Gedanke, dass Gott alles hatte anders machen

können, wurde in der Hochscholastik verworfen. PETER ABAELARD

(† 1142) meinte eine Generation nach Peter Damiani, dass Gott

nichts anders hatte machen können, denn Gottes potentia ordinata

erstreckt sich genau auf alles, was Gott will, und Gott will nichts au-

ßer dem, worauf sich seine potentia ordinata erstreckt. Die geordnete

Macht Gottes, nach der dieser doch nicht zu allem imstande ist, was

absolut genommen möglich ist, bestimmt – so die gesamte Scholas-

tik nach dem 12. Jh. – auch in künftigen wie vergangenen Rendez-

vous zwischen Jungfrauen und ihren Liebhabern, wenn diese statt-

finden sollen, und wendet sie ab, sollten denn diese mit der Prädesti-

nation unverträglich sein. Thomas von Aquin, Wilhelm von Ockham

und andere Autoren schlossen sich in diesem Punkt Abaelard an.247

245 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.2. 246 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.5. 247 Diese Bemerkungen zum scholastischen Fatalismus sind nur vorgreifend.

Ausführlich wird darüber in den Kap. 9.2 bis 9.5 der vorliegenden Arbeit berichtet.

108

6.2. Der Irreversibilitätsgedanke im Hoch- und Spätmittelalter

Bei Peter Damiani werden die absolute und geordnete Macht Gottes

auf die Vergangenheitsereignisse wie folgt angewandt: Gott könnte

per potentiam absolutam ein vergangenes Ereignis rückgängig ma-

chen, er macht es aber wegen seiner potentia ordinata nicht mehr

rückgängig.

Der Grund aus dem sich Gott eine Beschneidung seiner absoluten

Macht bezüglich der Vergangenheit auferlegt, ist, so Peter Damiani,

dass er sich selber treu und konsequent bleiben will, damit er sich

etwa nicht nachträglich anders über bereits Geschehenes entscheidet.

Aber warum sollte Gott dies nur bezüglich der Vergangenheit tun?

Schließlich dürfte er seit aller Ewigkeit beschlossen haben, wie alle

Ereignisse der allerfernsten Zukunft ausgehen. Ein Zukunftsereignis

anders als vorgesehen ausgehen zu lassen, wäre in diesem Sinne

doch nichts anderes, als ein Vergangenheitsereignis – Gottes ur-

sprünglichen Beschluss über die Zukunft – rückgängig zu machen.

Wenn Gott kraft seiner geordneten Macht seine absolute Macht be-

schneidet, vergangene Ereignisse post festum anders ausgehen zu

lassen, als sie tatsächlich ausgegangen sind, dann sollte er eben kraft

seiner geordneten Macht auch seine absolute Macht beschneiden,

zukünftige Ereignisse anders ausgehen zu lassen, als sie ausgehen

sollen. Mit anderen Worten sollte die Beschränkung der absoluten

Macht Gottes nicht auf die Vergangenheit begrenzt sein, sondern sie

müsste auf die Zukunft ausgeweitet werden.

Abaelards Schüler JOHANNES VON SALISBURY († 1180) wies auf fol-

gende Ungereimtheit des Gedankens von einem Gott hin, der die

Vergangenheit rückgängig macht. In einem solchen Fall, meinte Jo-

hannes, hätte Gott, der doch alles vorhersieht, vorhergesehen, als die

Vergangenheit noch Zukunft war, dass er diese würde rückgängig

machen wollen. Infolge dessen hätte Gott von Anfang an dafür ge-

sorgt, dass das, was ganz zum Schluss der Ausgang des fraglichen

Ereignisses sein sollte, ohne Umschweife und Meinungswechsel ein-

tritt, so dass das Rückgängigmachen sich erübrigt.248

248 Vgl. Johannes von Salisbury, Polycraticus, lib. II, cap. 22, PL 199, col. 451

C-D. Bezeichnenderweise enthält der Titel des Kapitels 22 des zweiten Bu-ches des Polycraticus die zweite Prämisse von Diodors Meisterargument: „Aus etwas Möglichem folgt nichts Unmögliches“. Das ist ein Indiz dafür,

109

Es gab auch Byzantiner, die die Irreversibilität der Vergangenheit

befürworteten. Insbesondere Aristoteles-Kommentatoren sprachen

sich für diese aus.

Ende 11. – Anfang 12. Jh. besprach der Psellos-Schüler EUSTRATIOS

VON NIZÄA die Stelle aus der Nikomachischen Ethik, 1139 b 5-11

(„Niemand kann den Wunsch hegen, Troia (bereits) erobert zu ha-

ben“), in der die necessitas per accidens behauptet wird, ohne sich

durch die theologischen Schwierigkeiten stören zu lassen, die in ei-

nem christlichen Kontext auftreten:

Dass bereits Geschehenes nicht geschehen wäre, ziemt sich so wenig [tosouton anankē], dass man in der Lage ist, über Gott die Aussage zu wagen, dass auch er dies einzig nicht vermag, ungeschehen zu machen, was bereits geschehen ist, obwohl ihm alles möglich ist als dem Urheber von allem. Denn entweder ist er der Urheber des Ge-schehenen, als Urheber von allem, was ist oder gewesen ist, wobei er seine Urheberschaft selber rückgängig machen wird, indem er rück-gängig macht, dass das Geschehen geschah; oder er ist schlichtweg kein Urheber des Geschehens und damit nicht Urheber von allem. Beides ist unmöglich [will sagen: vorausgesetzt, dass Gott Vergan-genes ungeschehen macht].249

Man merke allerdings die vorsichtige Art, in der sich Eustratius aus-

drückt: Es sei geradezu ein Wagnis, über Gott die Aussage zu treffen,

dass er an der necessitas per accidens gebunden ist. Ein Wagnis al-

lerdings, das aus logischen Gründen einzugehen ist.

Zwei weitere byzantinische Quellen, die Gottes Macht über die Ver-

gangenheit verneinen, sind das große Lehrgedicht250 von JOHANNES

TZETZES (12. Jh.) sowie eine fast gleichlautende Stelle in einem

Brief desselben Autors.251 Beide Stellen, wie übrigens der Aristote-

les-Kommentar von Eustratios, sind außertheologisch. Sie beziehen

dass die Möglichkeitsauffassung des Johannes von Salisbury (so wie übri-gens des Peter Abaelard in der Theologia ‘Scholarium’ – vgl. Kap. 9.2) in bewusster Anlehnung an Diodors Meisterargument erfolgte. Johannes setzt außerdem die erste Prämisse von Diodors Meisterargument voraus, wonach alles vergangene Wahre notwendig ist.

249 Eustratios von Nizäa, In Aristotelis Ethica Nicomachea commentaria, p. 2874-10.

250 Johannes Tzetzes, Historiarum variarum chiliades, chilias 10, hist. 324, pp. 374-375.

251 Johannes Tzetzes, Epistolae, epist. 70, pp. 61-62.

110

sich, das kann man aus dem Kontext mit großer Wahrscheinlichkeit

schließen, auf eine ältere Quelle, die folgendermaßen lauten sollte:

Die vergangene Zeit ist es selbst Gott unmöglich umzuändern.252

Hierzu kommentiert Tzetzes:

Obwohl Gott alles vermag, bloß eines vermag er nicht seiner Kraft gemäß: Die vergangene Zeit und die abgeschlossene Handlung un-geschehen, unvergangen zu machen.253

PSEUDO-HELIODORS Kommentar zur Nikomachischen Ethik, der

manchmal als ein Werk des 14. Jh. ausgegeben wird, folgt in puncto

Irreversibilität der Vergangenheit Aristoteles ohne Skepsis – es sei

Gott unmöglich, die Vergangenheit zu ändern. Jedoch ist es nicht

klar, inwieweit der Kopist des 16. Jh., KONSTANTIN PALAIOKAPPAS,

dem auch die falsche Zuschreibung dieses Kommentars an ein paar

tatsächliche oder fiktive Autoren zu verdanken ist, in den Text ein-

gegriffen hat. Palaiokappas werden im nachhinein einige Fälschun-

gen und Interpolationen von fremden Passagen in seinen Kopien zu-

gewiesen.254

Die Aristoteles-Kommentatoren, welche die Irreversibilität der Ver-

gangenheit behaupteten, unternahmen generell nicht den Versuch,

die durch die Irreversibilität bezüglich der göttlichen Allmacht auf-

kommenden Fragen zu beantworten. So war es bei den Byzantinern

und so war es z.B. in der ersten Hälfte des 13. Jh. auch bei WILHELM

VON SHYRESWOOD, einem westlichen Kommentator, der ebenfalls

von der Irreversibilität der Vergangenheit ausging.255

252 Johannes Tzetzes, Historiarum variarum chiliades, p. 374. Es kann natür-

lich auch sein, dass Johannes Tzetzes hier auf das von Aristoteles in der Ni-komachischen Ethik, 1139 b 5-11, wiedergegebene Agathon-Zitat verweisen will, ohne es wörtlich zu übernehmen.

253 Johannes Tzetzes, Historiarum variarum chiliades, a.a.O. Vgl. auch ders., Epistolae, a.a.O.

254 [Pseudo-] Heliodor, In ethica Nicomachea paraphrasis, p. 11620-24. Palai-okappas hat den Text mal als bisher unbekannten Kommentar des Androni-kus von Rhodos, mal als Werk eines ansonsten unbekannten Heliodor von Prusa ausgegeben. Zur Kopistentätigkeit von Palaiokappas vgl. Gamillscheg / Harlfinger Repertorium der griechischen Kopisten, 1. Teil, 126; 2. Teil, 124-125.

255 Für eine Diskussion von Shyreswoods Behandlung des Themas vgl. Jacobi, Die Modalbegriffe, 88-91.

111

THOMAS VON AQUIN († 1274) stellte sich dagegen den Schwierigkei-

ten, die in der Ungereimtheit von göttlicher Allmacht und Irreversi-

bilität der Vergangenheit bestehen. In seiner Besprechung des Jung-

frauen-Beispiels von Hieronymus und Peter Damiani akzeptierte

Thomas explizit die erste Prämisse von Diodors Meisterargument –

verneinte also, dass Gott die Vergangenheit ändern kann. Er zog dar-

aus den Schluss, dass Gott keinen „Fehltritt“ einer Frau rückgängig

machen kann, nachdem diese jenen beging.256 Die Reversibilität der

Vergangenheit, das Rückgängigmachen eines coitus etwa, impliziert

nach Thomas einen Widerspruch: Zur selben Zeit würde die Jungfrau

einen „Fehltritt“ begehen und nicht begehen. Aber Gott kann keine

Widersprüche realisieren, denn die Widersprüche sind absolut gese-

hen falsch bzw. metaphysisch unmöglich. Da der Umstand, dass eine

Frau post festum bzw. post coitum nicht entjungfert worden wäre,

eine metaphysische Unmöglichkeit darstellt, muss die Jungfräulich-

keit jeder Frau, die den „Fehltritt“ beging, aus heutiger Sicht unwie-

derbringlich verloren sein. Selbst Gott kann das nicht ändern.

Zwar ist es nach Thomas rein theoretisch möglich, dass eine bereits

ehemalige Jungfrau von Anfang an keinen „Fehltritt“ begangen hät-

te. Schließlich stellt auch das, was zum Schluss nicht eintritt, eine

Möglichkeit dar, d.h. etwas, was für Gott machbar ist („eius virtuti

possibile“).257 Es ist natürlich machbar, eine Jungfrau keinen „Fehl-

tritt“ begehen zu lassen. Man muss sie nur unter einem Vorwand

hindern, zum Rendezvous mit ihrem Liebhaber zu gehen, oder ihren

prospektiven Liebhaber vorher im Duell umbringen, oder ihn ent-

mannen usw.

Nun sind viele kontrafaktische Konditionale plausiblerweise wahr,

und Gott weiß das. Gott weiß z.B., dass die Jungfrau keinen „Fehl-

tritt“ begangen hätte, wenn ihr prospektiver Liebhaber vorher ent-

mannt worden wäre. Gott weiß auch, wie er den Folgesatz eines

kontrafaktischen Konditionalsatzes hätte wahr machen können, wenn

er wollte. Jedoch kann er es nicht wahr machen. Denn der Folgesatz

eines kontrafaktischen Konditionalsatzes ist per definitionem un-

wahr. Da nur Wahres erkannt werden kann, kann Gott keinen Sach-

256 Thomas von Aquin, Summa theologiae, Ia, q. 25, a. 4; ders., Summa contra

Gentiles, lib. I, cap. 67. 257 Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, lib. I, cap. 66, n. 10.

112

verhalt erkennen, der im Folgesatz eines kontrafaktischen Konditio-

nalsatzes beschrieben wird. Und er kann auch keinen solchen Sach-

verhalt als abweichenden Einzelfall eintreten lassen, denn Gott hat

seit aller Ewigkeit ein unfehlbares Wissen von allen Einzelereignis-

sen in allen ihren Details.258 Wenn z.B. seit aller Ewigkeit Gottes

Plan feststeht, dass der Liebhaber nicht entmannt wird, vielmehr dass

die Jungfrau zu der und der Zeit einen „Fehltritt“ mit ihm begeht – so

weit und noch weiter in die Details des Einzelereignisses gehen nach

Thomas von Aquin die göttlichen Pläne seit aller Ewigkeit – kann

Gott nicht etwa in letzter Minute entgegen seinen anfänglichen Plä-

nen den Liebhaber entmannen oder die Jungfrau keinen Fehltritt be-

gehen lassen. Allgemein gesagt kann Gott nicht herbeiführen, dass

der Folgesatz eines kontrafaktischen Konditionalsatzes wahr wird,

weil er kein von seinem ursprünglichen Plan abweichendes Einzeler-

eignis in der Schwebe gelassen hat, das er auf einmal schnell ge-

schehen lassen könnte.

Vom „unfehlbaren“, wie Thomas sagt, Vorauswissen über alle De-

tails aller Einzelereignisse bis zum Fatalismus ist nur ein Katzen-

sprung. Interpretiert man nämlich „unfehlbar“ als „notwendig“, ist es

gar nicht möglich, dass irgendein vorausgewusster Plan Gottes an-

ders ausfiele. Wenn Gottes Wissen über die Zukunft nach Thomas

von Aquin nichts anderes ist, als Gottes Wissen über seine eigenen,

bereits seit aller Ewigkeit bestehenden und unausweichlichen Pläne

über die Zukunft, dann hat Thomas in der Irreversibilität der Ver-

gangenheit den Fatalismus bereits begrüßt.

Der Fatalismus ist von Thomas allerdings unerwünscht, denn er

würde jeden kontingenten Satz über die Zukunft, der nicht zutrifft,

zu einer Unmöglichkeit machen. Das ist ein Widerspruch: Kontin-

gente Sätze können eben weder unmöglich noch notwendig wahr

sein. Deshalb unterscheidet Thomas zwischen einer harmlosen, wie

er meint, durch Gottes Wissen bedingten Notwendigkeit (necessitas

conditionis), die der Wahrheit aller kontingenten (!) Sätze zukommt,

die Gott (unfehlbar) als wahr erkennt, und einer absoluten Notwen-

digkeit (necessitas simplex), die nur bestimmten wahren Sätzen zu-

258 Die These lautet: „Contingentium singularium ab aeterno Deus infallibilem

scientiam habuit“. Thomas’ Argument zugunsten dieser These in: Summa contra Gentiles, lib. I, cap. 67.

113

kommt. Wenn Boethius meine, so Thomas, Gott erkenne, dass die

menschlicherseits als kontingent erfahrenen Ereignisse notwendig

gewesen seien,259 habe das nicht den Sinn, dass alles, was Gott so

erkenne, absolut notwendig sei, sondern dabei gehe es um die be-

dingte Notwendigkeit.

Ist die bedingte Notwendigkeit aber wirklich harmlos im Sinne, dass

sie keine fatalistischen Konsequenzen hat? Man kann das mit gutem

Grund bezweifeln. Für jeden wahren Satz „p“ („p“ kann ein tempora-

lisierter Satz über Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft sein) gilt,

dass Gott weiß, dass p (Gott ist allwissend, also muss er wissen, dass

p, aufgrund dessen allein, dass „p“ wahr ist). Aber dann gilt: „Wenn

Gott weiß, dass p, dann p“ (das folgt trivialerweise aus der Wissens-

definition). Ist jetzt „p“ ein Satz im Futur, so hat Gott ein gegenwär-

tiges Wissen davon, was der Fall sein wird. Jeder temporalisierte

Satz impliziert, dass er zu der als Temporalisierung angegebenen

Zeit (das ist aber die Zeit von Gottes gegenwärtigem Wissen über das

Zutreffen jedes wahren Satzes) wahr sein muss.260 Aus diesen An-

nahmen folgt, dass jeder wahre Satz über die Zukunft notwendig

wahr ist. Folgende Stelle aus Thomas’ De veritate ist bezeichnend:

Etwas Kontingentes kann als Zukünftiges mit keinem Erkenntnis-vermögen erkannt werden, das keine Falschheit hervorbringt. Denn da die göttliche Erkenntnis Falschheiten weder hervorbringt noch hervorbringen kann, ist es Gott unmöglich, etwas von kontingenten Sachverhalten der Zukunft zu wissen, wenn er weiß, dass sie zukünf-tig sind. [...] Aber die Zeitfolge zwischen göttlicher Erkenntnis und jedweder Sache ist stets die von Gegenwärtigem zu Gegenwärtigem.

259 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De veritate, q. 2, a. 12, sed

contra 2: „Alles, was kontingent ist, ist notwendig, wenn es in Bezug auf Gottes Erkenntnis gesetzt wird, wie Boethius im fünften Buch seiner Trost-schrift sagt. Infolge dessen ist alles Kontingente Gott bekannt“; aber, fährt Thomas ebenda, q. 2, a. 12, ad 2, fort: „[Zwar] kann nichts nicht zutreffen, wenn es gerade zutrifft, denn alles, was zutrifft, trifft zwingend zu, während es zutrifft, wie im ersten Buch von De interpretatione [von Aristoteles] ge-sagt wird. Aber daraus folgt nicht, dass es absolut [„simpliciter“] notwendig ist“. Thomas’ Verweis auf Boethius gilt wahrscheinlich De consolatione philosophiae, lib. V, prosa 6. Die Begriffserklärung und die Unterscheidung der bedingten von der absoluten Notwendigkeit findet sich bei Boethius kurz davor, in lib. V, prosa 627: „Duae sunt etenim necessitates, simplex una, veluti quod necesse est omnes homines esse mortales, altera condi-tionis, ut si aliquem ambulare scias eum ambulare necesse est“.

260 Vgl. Aristoteles, De interpretatione, 19 a 23-24.

114

Wenn jemand viele Leute nacheinander auf der Straße laufen sieht und zwar für eine gewisse Zeit, dann sieht er in jedem Einzelteil der Zeit Einige, die gegenwärtig laufen. So sieht Gott in der gesamten Zeit, in der er beobachtet, alle gegenwärtig laufen. [...] Im Sinne die-ser göttlichen Perspektive, die nicht in der Zeit, sondern außerhalb derselben ist, gibt es keine Zukunft, sondern Gegenwart. [...] So wie unser Gesichtssinn keiner Täuschung unterliegt, solange er Kontin-gentes sieht, während es gegenwärtig ist, ohne dass dieses nicht auf-hören würde, kontingenterweise der Fall zu sein, so sieht auch Gott unfehlbar alles, was kontingent ist, ob Gegenwärtiges, ob Vergange-nes, ob Zukünftiges aus unserer Sicht. Denn ihm ist es nicht zukünf-tig, sondern er betrachtet es, während es ist. Dafür hört es nicht auf, kontingenterweise der Fall zu sein. [...] Es ist also angemessener zu sagen, dass Gott erkennt, was der Fall ist, als zu sagen, dass Gott er-kennen würde, was der Fall sein wird. [...] Daher ist es angemesse-ner wie Boethius im fünften Buch der Trostschrift, Gottes Erkennt-nis über zukünftige Sachverhalte Vorsehung als Vorhersehung zu nennen.261

Wieso solche zukünftigen Ereignisse weiterhin kontingent sind, ist

etwas, was Thomas nicht verrät. Wie denn auch? Das ist gerade der

schwächste Punkt in seiner Argumentation! Der Rest ist nichts ande-

res als ein Plädoyer für die Nezessitation im diodorischen Stil, auch

wenn sich Thomas von Aquin hütet, dies explizit zu sagen.

Die letzte Konsequenz der Analyse des Thomas von Aquin ist: Da

Gott alles über sein Wissen weiß, weiß er (über den epistemischen

Grundsatz der Geschlossenheit unter bekannter Implikation), dass

alle wahren Sätze über die Zukunft notwendig wahr sind – d.h. ge-

nauso wie die Boethius-Lesung von Thomas vorsieht.

„Lediglich unter einer Bedingung notwendig, d.h. unter der Bedin-

gung des göttlichen Wissens über die Zukunft“ würde hier Thomas

entgegnen. Diese Entgegnung ist keine eindeutige Absage an den

Fatalismus: Gott selber kann diese Bedingung nicht außer Kraft set-

zen. Es ist eine „Bedingung“, die unbedingt zutrifft.

7. Schlussfolgerungen aus den Vergangenheitslehren

Obwohl nicht explizit, scheinen die meisten byzantinischen Theolo-

gen davon auszugegangen zu sein, dass Gottes Macht sich über die

261 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De veritate, q. 2, a. 12, resp.

115

Vergangenheit erstreckt. Die Lehre der Aufhebung der Sünde („ha-

martiōn anhairesis“) ist für diese implizite These bezeichnend.

Wie eine Übersetzung des griechischen Ausdrucks „hamartiōn an-

hairesis“ klingt der nicht selten in lateinischen Quellen anzutreffende

Ausdruck „peccatorum infectio“. Der jeweilige Kontext, in dem der

griechische und der lateinische Ausdruck vorkommen, zeugt aller-

dings davon, dass der Unterschied zwischen den Bedeutungen beider

Ausdrücke in Wirklichkeit sehr groß ist. Während im griechischen

Ausdruck das Wort: „hamartiōn“ ein genitivus objectivus ist, ist das

Wort: „peccatorum“ im lateinischen Ausdruck ein genitivus subjec-

tivus. Mit dem griechischen Ausdruck ist mit anderen Worten ge-

meint, dass die Sünden aufgehoben werden, mit dem lateinischen

Ausdruck ist jedoch gemeint, dass die Sünden etwas anderes (die

Liebe, das Leben usw.) aufheben.

Die Aufhebung der Sünden und die dieser zugrunde liegende Rever-

sibilität der Vergangenheit werfen ein paar Fragen auf, die mit der

Logik zusammenhängen. Wie ist es z.B. möglich, dass Gott einer-

seits unfehlbar ist, andererseits aber Petrus sündigen lässt und diese

Sünde zum Schluss nachträglich doch noch aus der Vergangenheit

streicht? Diese von der byzantinischen Theologie bevorzugte Lehre

verstößt gegen den Widerspruchssatz und zwar gleich aus mehreren

Gründen. Die logischen Paradoxien, die aus dieser resultieren, wur-

den in Byzanz nicht diskutiert. Die byzantinischen Philosophen wa-

ren allerdings generell tolerant gegenüber logischen Paradoxien. Es

gibt logische Paradoxien, die sich aus Gottes Verweilen in der Zeit

ergeben, welche von byzantinischen Autoren als natürliche Antino-

mien hingenommen wurden.262

Auch in der Scholastik wurde gelegentlich die Macht Gottes über die

Vergangenheit behauptet.

Die vertretenen Positionen diesbezüglich sind im wesentlichen auf

drei reduzierbar:

262 So etwa bei Gregor von Nazianz, Orationes theologicae, or. 29 (= De filio),

§ 9, PG 36, col. 85, wo beide Sätze: „Jesus hat es nicht gegeben, bevor er entstand“ und „Jesus hat es gegeben, bevor er entstand“ als falsch bewertet werden.

116

1. Auf die Vergangenheit kann rückwirkend Einfluss genommen

werden.

2. Die necessitas per accidens-These ist falsch.

3. Es gibt Sätze über die Vergangenheit, deren Wahrheitswert von

kontingenten Sätzen über die Zukunft abhängt und daher noch

wahrheitsindefinit sind.

Die These (1) ist die stärkste und die These (3) die schwächste der

drei. Die byzantinischen Autoren, die für die Aufhebung der Sünde

plädierten, vertraten die These (1).

Scholastische Autoren, die für die Reversibilität der Vergangenheit

eintreten, vertraten eine Spielart beider schwächeren Thesen.

Viel repräsentativer für die Scholastik war allerdings der Versuch,

logische Paradoxien, die aus Gottes absoluter Macht über die Ver-

gangenheit resultieren, mit Einschränkungen an dieser Macht auszu-

räumen. Dieser Versuch zog die Irreversibilität der Vergangenheit

nach sich.

Zunächst schränkte Petrus Damiani ein, dass Gott nicht gegen die

necessitas per accidens verstoßen könne, es sei denn durch sein

Verweilen in der zeitlosen Ewigkeit. Aber auch in diesem Sinne fas-

se Gott keine alternativen, widersprüchlichen Beschlüsse.

Später schränkte die Schule von Laon noch weiter ein, Gott erlaube

sich nicht zu wollen, dass einige durchaus mögliche alternative

Weltkonstellationen einträten.

Die Hochscholastik ließ Damianis und Anselms letzte Bedenken ge-

genüber der necessitas per accidens-These fallen.

Bezeichnenderweise schränkte Abaelard, was Gott kann, auf das ein,

was Gott schließlich tut. Dass die Welt anders ausgesehen hätte, als

sie aussieht, sei unmöglich – jedenfalls in einem bestimmten Sinn

von „unmöglich“. Zum Dogma wurden diese Positionen Abaelards

erst durch, nachdem sie von Thomas von Aquin adoptiert worden

waren, und insbesondere nach der Durchsetzung des Thomismus als

offizielle Dominikaner-Theologie im 14. Jh. Thomas von Aquin er-

gänzte die Position Abaelards, nach der Gott nichts anderes tun kön-

ne, als was er tue, mit dem Zusatz: Was er tue, erlege ihm seine Na-

tur auf.

117

Im 14. Jh. gewann die thomistische Theologie Einfluss auf die by-

zantinische Theologie.263 Gleichzeitig avancierte in der Scholastik

eine franziskanische Gegenbewegung. Einen antithomistischen Te-

nor enthält z.B. in vielen Fällen, auch in der Reversibilitäts-

Irreversibilitäts-Problematik das Werk von Duns Scotus und Wil-

helm von Ockham. Als Gegenpart zum Thomismus sah sich in By-

zanz des 14. Jh. die Hesychasten-Bewegung. Die Hesychasten ver-

fügten über keine explizite Theorie für die Reversibilität der Vergan-

genheit. Sie haben aber die absolute Macht Gottes mit derartiger Ve-

hemenz hervorgehoben, dass ihnen die Überzeugungen, Sünden

könnten aufgehoben werden sowie Gott sei unberechenbar, nicht

ferngelegen haben können.

Obwohl im Westen durchaus explizit vertreten, wurde schließlich die

Lehre von der Reversibilität der Vergangenheit dort niemals von ei-

ner Denkschule adoptiert, sondern sie stellte ein von einzelnen Auto-

ren vertretenes Curiosum dar. Beide ungleichen Größen der Domini-

kaner- und der Franziskaner-Theologie, Thomas von Aquin und

Wilhelm von Ockham, befürworteten die Irreversibilität der Vergan-

genheit264 mit dem Unterschied, dass letzterer in den „halbvergange-

nen“ Sachverhalten Fakten erkannte, die ausnahmsweise nicht unter

die Irreversibilität fallen.265

263 Für den Einfluss der thomistischen Theologie auf die byzantinische Philo-

sophie vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.3. mit Literaturhinweisen dort. 264 Dass ihre Positionen bezüglich der Irreversibilität der Vergangenheit ver-

gleichbar sind, zeigt auf prägnante Weise Wierenga, Prophecy, 425-428. 265 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 5.

118

Dritter Teil: Hoch- und spätmittelalterliche Lehren über die Zukunft

119

8. Ansätze für die Unbestimmtheit der Zukunft

8.1. Gegen die Vorherbestimmung der Todesstunde

Die strittigste Frage der mittelalterlichen Analysen der futura contin-

gentia war, ob der unbestimmte Ausgang kontingenter Ereignisse

impliziert, dass nur eine oder beide in Frage kommenden (gegensätz-

lichen!) Ausgänge eines zukünftigen Ereignisses aus jetziger Sicht

bevorstehen. Diese Frage interessierte vor allem in bezug auf die

damit zusammenhängenden logischen Schwierigkeiten, etwa in

Scholien zum neunten Kapitel von Aristoteles’ De interpretatione,

sie wurde aber auch im Kontext der Diskussionen über das Fatum

sowie über die Vorherbestimmung der Todesstunde gestellt.

Bereits in der Spätantike war die Behandlung des Fatums bei Grie-

chisch und Lateinisch schreibenden Autoren jeweils anders nuan-

ciert. AUGUSTIN266

(† 430) riet von der Verwendung des Wortes „fa-

tum“ für die göttliche Vorsehung ab, da dieses Wort durch seine

Verwendung von Heiden Fehlinterpretationen nach sich ziehe. Viel

drastischer jedoch gegen die „heimarmenē“, das griechische Korrelat

zum „fatum“, wirkt die Rhetorik eines griechischen Zeitgenossen

Augustins, keines geringeren als JOHANNES CHRYSOSTOMOS († 407).

Nein, keinen Einzug ins Himmelreich findet der, der auf die heimarmenē achtet, vielmehr kann er gar nicht dem Feuer und der Hölle entgehen.267

Sieht man von einem Teil der philosophischen Produktion im By-

zanz des 15. Jh. ab, der die heimarmenē befürwortete, behielt die

byzantinische Theologie in der Polemik gegen die heimarmenē den

scharfen Ton bei, der in der Polemik JUSTINS DES MÄRTYRERS im 2.

Jh. gegen den stoischen Fatalismus begegnet. Die Polemik des PHO-

TIOS im 9. Jh. gegen die heimarmenē ist ein weiteres Beispiel dafür.

Ein immer wiederkehrendes Argument christlicher Autoren gegen

den Glauben an die heimarmenē, das bereits von Aristoteles ange-

deutet und von Justin thematisiert wurde, lautet, dass die Annahme

des Fatums das Fehlen der Verantwortung beim Handeln nach sich

266 Augustin, De civitate Dei, lib. V, cap. 1, §§ 7-9. 267 Johannes Chrysostomos, De fato et providentia, or. 2, PG 50, col. 755; bzw.

in der Ausgabe von de Montfaucon in: Opera omnia, Bd. 2, Teil 2, p. 907.

120

zieht.268 Neu zur Fatums-Thematik kam im 7. Jh. die Einsicht, dass

auch in Fällen, in denen kein Handeln besteht, etwa bei einer vom

Fatum vorgeschriebenen Todesstunde, die moralischen Folgen des

Glaubens an das Fatum verheerend wären.269 Um es mit einem By-

zantiner des 7. Jh. auszudrücken:

Wir, die wir die uns vorgesetzte Doktrin mit vernünftigen Argumen-ten überprüfen, nehmen weder eine festgesetzte Todesstunde an, die jedem zugeteilt und notwendig von Festigkeit wäre (denn das ist die griechische Doktrin, die für den Gedanken des aufgezwungenen [ty-rannikē] Schicksals [heimarmenē] charakteristisch ist, und daher der kirchlichen Ordnung fremd), noch akzeptieren wir eine diffuse Un-bestimmtheit (da der Blick in den Abgrund der Unendlichkeit der Natur durch und durch widerstreitet). [...] Sowohl die Länge des Le-bens als auch die Verkürzung desselben durch den Tod folgen unse-ren Dispositionen. Aus selbstverdienter [ep’ hēmin] Tugend bzw. selbstverschuldetem Laster wird uns der Einzug in das Reich Gottes oder die ewige Finsternis zuteil [...]270

Die Schrift des THEOPHYLAKT SIMOKATTES, aus der obiges Zitat

stammt, markiert den Anfang der byzantinischen Todesstunden-

Literatur im 7. Jh. In dieser Literatur wurde fortan bis zum 15. Jh.

sehr ausgiebig die Frage diskutiert, ob die Todesstunde eines jeden

von vornherein durch Gott bestimmt wurde. Hier beschränke ich

mich auf Ansätze von MICHAEL PSELLOS († nach 1078),271 PHI-

LIPPUS SOLITARIUS, MICHAEL GLYKAS (12. Jh.),272 NIKEPHOR

BLEMMYDES, MARKUS VON EPHESUS, GEORG SCHOLARIOS (= GEN-

NADIOS II.). Die Ansätze von GEORG GEMISTOS (= Plethon) und

BESSARION, d.h. die vorher angedeuteten Plädoyers für die heimar-

menē aus dem 15. Jh., sind eher für den frühneuzeitlichen Neoplato-

268 Vgl. z.B. Aristoteles, De interpretatione, 18 b 26-33; Justin Märtyrer, Apo-

logia major, cap. 43; Johannes Chrysostomos, De fato et providentia, or. 5, PG 50, coll. 767-770 bzw. Opera omnia, Bd. 2, Teil 2, pp. 922-925.

269 Es gibt christliche Quellen vor dem 7. Jh., die dem Gedanken einer vorge-schriebenen Todesstunde nicht abgeneigt sind. Ein paar Beispiele (darunter neutestamentliche Belege) nennt Garrison, The Graeco-Roman Context, 68-73.

270 Theophylakt Simokattes, De vitae termino, cap. 3. 271 Zur Person s. Kriaras, Psellos, sowie Kapriev, Philosophie in Byzanz, pp.

206-207. 272 Zur Person s. Beck, Geschichte der byzantinischen Volksliteratur, 108-109

– dort mit weiterer Literatur zu den sowieso spärlichen Lebenszeugnissen.

121

nismus und weniger für die byzantinische theologische Literatur cha-

rakteristisch. Deshalb bespreche ich sie in einem späteren Kontext.273

Wir hatten bisher Gelegenheit zu beobachten, dass der Begriff

„heimarmenē“ in der byzantinischen Literatur bis zum 9. Jh. negativ

besetzt war. Im byzantinischen Platonismus des 11. und 12. Jh. wur-

de er wiederaufgenommen und neubewertet. MICHAEL PSELLOS, der

erste Gelehrte dieser Strömung, bedauerte die abwertende Nutzung

dieses Begriffs „bei den meisten Autoren“ und unterstrich seine gro-

ße Bedeutung für die Philosophie sowie seine hohe Stellung bei den

„Weisesten“.274 Ein Kapitel seines kurzen naturphilosophischen

Kompendiums für den Kaiser Michael Ducas widmete Psellos der

Einwirkung der göttlichen Vorsehung auf die beseelte Welt.275 Zwar

bringt Psellos die „heimarmenē“ ins Spiel, aber seine Verwendung

dieses Terminus weicht von der Standard-Bedeutung erheblich ab.

Insbesondere erklärt Michael Psellos seinen heimarmenē-Begriff in

vier Kurzschriften zum Thema Zeit, Allwissenheit und Todesstun-

de.276 Seine dortigen Ausführungen enthalten PROKLOS- und

IAMBLICHOS-Zitate, die aber in einen christlichen, ja in einen ost-

kirchlichen Kontext gesetzt werden.

Psellos meinte,277 dass ein Glaube an die Kontingenz von einer mo-

ralischen Grundintuition vorausgesetzt ist. Wenn es keine Kontin-

genz geben würde, wäre es in keines Menschen Macht, seine Zu-

273 Vgl. vorliegende Arbeit Kap. 9.3. 274 Michael Psellos, De omnifaria doctrina, cap. 105. 275 Michael Psellos, Solutiones breves, PG 122, coll. 795-796. 276 Die in den Handschriften angegebenen Titel dieser mit Ausnahme der zu-

letzt angeführten als Korrespondenzstücke verfassten Kurzschriften lauten: „Dass nichts Kontingentes dadurch verändert wird, dass Gott mit Bestimmt-heit über es weiß“ („Hoti ouk alloioutai ta endechomena tēi hōrismenēi tou Theou gnōsei peri auta“), in: Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 44, pp. 155-158; „Über das Stattzufindende“ („Peri tou esomenou“), opusc. 46, ebenda, pp. 159-161; „Antwortbrief an einen Mönch, der nach der Bestimmung der Todesstunde fragte“ („Antigraphē pros monachon erōtēsanta peri horismou tou thanatou“), opusc. 47, ebenda, pp. 160-162; „Kommentar zum Spruch: „Alles, was war und sein wird, ist ein Teil der Zeit, in der wir sind, sowie Teil der wandelbaren Natur“ („Eis to „To gar ēn kai estai tou kat’ hemas chronou tmēmata kai tēs rheustēs physeōs““), Theo-logica I, opusc. 87, pp. 45-46.

277 Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 44.

122

kunft zu beeinflussen und dann dürfte z.B. kein Verbrecher bestraft

werden. Daher ist die Kontingenz eine Voraussetzung der Moral und

der Justiz. D.h. die Moral und die Justiz setzen voraus, dass beide

Sätze eines Widerspruchspaares, das alternative Ausgänge eines zu-

künftigen Ereignisses darstellt, aus heutiger Perspektive gleicherma-

ßen möglich sind. Aber da sowieso nur einer von beiden Ausgängen

in Zukunft eintritt und zwar in Gottes Gegenwart (alle Zeit, auch un-

sere Zukunft also, ist einem ewigen Gott gegenwärtig), scheint die

Kontingenz mit Gottes Ewigkeit unvereinbar zu sein.

Psellos versuchte in dieser Unvereinbarkeit zwischen Kontingenz

und göttlicher Ewigkeit zu „schlichten“. Er ging davon aus, dass

Gott ein Wissen über das Vorliegen beider Ausgänge hat:

Gott [bezieht in sein Wissen] eine Ahnung des Kontingenten mit ein. Er sieht nicht nur die eigentlichen Substanzen, sondern auch ihre Po-tentialität und ihre Aktualität, sowohl die naturgemäße als auch die naturwidrige.278

Gott weiß notwendigerweise sowohl was notwendig als auch was kontingenterweise geschieht.279

Wissen, dass zwei sich ausschließende Ausgänge eines Ereignisses

eintreten werden, ist ein widersprüchliches Konzept. Wissen über

etwas impliziert nämlich das Eintreten von diesem Etwas. Wissen,

dass zwei sich ausschließende Ausgänge eines Ereignisses eintreten

werden, impliziert infolge dessen, dass beide wirklich eintreten wer-

den. Das ist ein Widerspruch. Nur einer von beiden wird eintreten

und Gott weiß sogar, welcher das ist.

Wenn also Gottes Kontingenzverständnis von der Realisierung eines

Widerspruchs abhängt, wie Michael Psellos behauptet, hat Gott an-

scheinend kein solches Verständnis. Denn wie soll Gott einsehen,

dass der Ausgang eines Ereignisses kontingent ist, d.h. dergestalt,

dass er nicht eintreten muss, wenn Gott von seinem (immer-) ge-

genwärtigen Standpunkt erkennt, welcher Ausgang dieses Ereignis-

ses sich sowieso realisiert und welcher nicht? Gott müsste ja neben

dem Eintreten des aktuellen Ausgangs jedes kontingenten Ereignis-

ses, auch noch das Eintreten (!) des kontrafaktischen (!) Ausgangs

erkennen. Menschen haben zwar keine Probleme damit, solchen

278 Ebenda, p. 15717-9. 279 Ebenda, opusc. 46, p. 15919-20.

123

Ausgängen von Ereignissen Chancen einzuräumen, die sich im End-

effekt als kontrafaktisch erweisen. Im Gegensatz zu Gott wissen aber

die Menschen nicht im Voraus, welcher Ausgang zum Schluss ein-

tritt. Es scheint die menschliche, nicht die göttliche Sicht der Dinge

zu sein, die beide Ausgänge kontingent werden lässt.

Dass Gott dies zulässt, bringt ihn an die Grenze einer Persönlich-

keitsspaltung. Einerseits ist jeder kontingente Satz über die Zukunft

unbestimmt, da solche Sätze eine charakteristische Temporalisierung

aufweisen, die sie unbestimmt macht.280 Andererseits ist dem ewigen

Gott jedes Zukunftsereignis gegenwärtig. Gott erkennt z.B., dass der

Satz: „Die Nacht des 23. Juni 2053 wird in Erlangen ungewöhnlich

kalt für die Jahreszeit“ die für ein futurum contingens charakteristi-

sche Temporalisierung aufweist, durch die er keinen bestimmten

Wahrheitswert hat. Gott erkennt ebenfalls, dass der Satz: „Hier und

jetzt, in der Nacht des 23. Juni 2053 in Erlangen, ist es ungewöhn-

lich kalt für die Jahreszeit“ die o.g. Temporalisierung nicht aufweist,

daher kein futurum contingens ist und einen bestimmten Wahrheits-

wert hat, den Gott ebenfalls kennt. Die Persönlichkeitsspaltung

kommt ins Spiel, weil sich beide Sätze auf einunddenselben Sach-

verhalt beziehen, der von Gott mal als unbestimmt (oder, wenn man

will, als unterdeterminiert), mal als bestimmt (oder, wenn man will,

als durchgängig determiniert) erkannt wird.

Einige repräsentative Stellen, an denen Psellos diese Lehre vertei-

digt, sind folgende:

Das Vorherwissen ist nicht die Ursache der Ereignisse. Es ist näm-lich nicht notwendig, dass die einen lasterhaft, die anderen gerecht geworden sein werden [sic], wenn er [Gott! – S.G.] die Lasterhaf-tigkeit der einen und die Gerechtigkeit der anderen vorweggenom-men hat.281

280 In seiner kurzen Lektüre zu Aristoteles’ De interpretatione, analysiert Mi-

chael Psellos, Philosophica minora I, opusc. 52374-376, das berühmte See-schlacht-Beispiel auf eine aristotelisch orthodoxe Art: „Entweder wird mor-gen eine Seeschlacht stattfinden, oder sie wird nicht stattfinden“ ist ein Wi-derspruchspaar, aber es ist unbestimmt, welcher Satz dabei wahr und wel-cher falsch ist.

281 Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 47, 1622-4. Vgl. auch eben-da, opusc. 46, 15919-20.

124

Dadurch, dass Gott Gegenwärtiges und Zukünftiges in verbesserter Form erkennt, hat dieses nicht etwa seine eigene Natur abgelegt.282

Obwohl Gott zwingend weiß, was besser ist, bleibt das so oder an-ders auszugehende Ereignis unbestimmt und verändert sich nicht dadurch, dass Gott über ein zwingendes Vorherwissen verfügt. Aus diesem Grund weiß dieser, dass ich böse bzw. dass ich gut werde – und zwar zwingend.283

Das erste dieser drei Zitate besagt, dass das „Wissen“ Gottes über

den Ausgang eines Ereignisses nicht das Zustandekommen dieses

Ausgangs bedingt. Insbesondere die dem kontrafaktischen Ausgang

entsprechende Erkenntnis stellt nach Michael Psellos kein eigentli-

ches Wissen Gottes in dem Sinne dar, dass sie das Eintreffen dessen

impliziert, was erkannt wird. Zwar weiß Gott, wie die zukünftigen

Ereignisse ausgehen werden, wenn alles nach seinem Plan läuft. Da

er aber gleichzeitig weiß, dass böse Absichten der Menschen seinem

Plan oft entgegentreten, nimmt er in Kauf, dass manche Ereignisse

doch nicht gemäß seinem ursprünglichen Plan ausgehen. Gottes Wis-

sen über den Ausgang zukünftiger Ereignisse ist also nicht immer

derart, dass, was erkannt wird, schließlich der Fall sein wird. Im

Endeffekt kann die Welt anders aussehen als Gottes „Wissen“ über

ihren Idealzustand glauben macht. Entgegen der göttlichen Vorse-

hung (= „heimarmenē“!) kann die Realisierung des Idealzustandes

ausbleiben.

Die Verwendung von „scare quotes“ beim von Michael Psellos the-

matisierten „Wissen“ ist deshalb erforderlich, weil bei diesem „Wis-

sen“ ein für das eigentliche Wissen zutreffendes epistemisches Prin-

zip nicht zutrifft. Dieses Prinzip, das Psellos fallen lässt, besagt, dass

alles, wovon ein Wissen besteht, bestimmt auch der Fall ist.

Insofern Gott [etwas] weiß, ist es bestimmt. Insofern aber das Vor-herwissen das Stattzufindende nicht bestimmt, ist es nicht be-stimmt.284

Das Wissen richtet sich nicht nach dem Gewussten, sondern nach

dem Wissenden.285

282 Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 46, 15913-14. 283 Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 46, 15924 – 1601. 284 Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 47, 16213-14. 285 Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 46, 15918. Vgl. Boethius

(5./6. Jh.), De consolatione philosophiae, lib. V, prosa 5: „Quidquid con-

125

Parallelen zu zwei Scholastikern sind hier angebracht. Maßgeblich

für die Formung des Empfangenen ist nach Thomas von Aquin der

Empfänger und nicht der empfangene Gegenstand.286 Nicht zuletzt

drücken wir Menschen Gottes Eigenschaften, so Thomas von Aquin,

in einer dem göttlichen Wesen analogen Art, nicht aber univok aus.

Es ist bezeichnend, dass Thomas diesen Grundsatz auf menschliches

Wissen über Gott anwendet, nicht jedoch wie Psellos auf göttliches

Wissen über die Welt.287

Letzteres tat allerdings Wilhelm von Ockham. Ockham hat Gott ein

Wissen über beide möglichen Ausgänge kontingenter Ereignisse ein-

geräumt. Über die Erklärung, wie das passieren kann, lässt Ockham

nicht etwa wie Psellos das epistemische Prinzip fallen, sondern er

gesteht unbeholfen ein, er wisse es nicht.288

Die Lehre von Psellos nimmt den erst in der Barockscholastik einge-

führten Begriff des mittleren Wissens vorweg.289 Psellos geht sogar

so weit zu behaupten, dass Gottes Wissen darüber, dass etwas not-

wendig der Fall sein wird, damit verträglich ist, dass dieses Etwas

kontingent ist. Folgende Passage ist charakteristisch:

Da aber Gott tatsächlich ein Wissen über eine idealisierte [wörtlich: bessere] Natur [der kontingenten Ereignisse] vorwegnahm, erkennt er sie auf bestimmte Art. Denn er erkennt die teilbaren Dinge als un-teilbar, die umfänglichen als nicht umfänglich, die zahlreichen als Eines, die zeitlichen als unzeitlich und die Geschöpfe als unerschaf-fen. Man darf nicht denken, dass das von uns „kontingent“ Genannte

cipitur, concipitur per modum concipientis“. Auch bei Damascius (6. Jh.), De principiis, Bd. 1, p. 108-9. Stephanos (6.-7. Jh.), In Aristotelis De inter-pretatione, sec. 2, praxis 4, p. 3519-25, bemerkte unter Hinweis auf Iamblichos (3.-4. Jh.), dass das Wissen und das Gewusste ungleichartig sind.

286 Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum, lib. II, d. 15, q. 1, a. 2, resp. ad argum. 3: „Impressio alicujus agentis non recipitur in aliquo nisi per modum recipientis“ (auch an zahlreichen anderen Stellen, vor allem ebenfalls aus dem zweiten Buch seines Sentenzenkommentars).

287 Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, lib. I, cap. 32-34; ders., Summa theologiae, Ia, q. 13, ad 2.

288 Wilhelm von Ockham, In librum primum Sententiarum (Ordinatio), d. 38, q. 1, Bd. 4, p. 584 – für Ockhams Wortlaut vgl. vorliegende Arbeit, Fußn. 448.

289 Allgemein zu Molinas scientia media vgl. Mahlmann, Prädestination V, 135-136.

126

notwendig einen Ausgang haben wird, da Gott dies bestimmt weiß. Sondern da es [umgekehrt] von Natur aus kontingent ist und von un-bestimmtem Ausgang, weiß Gott, welche von beiden Alternativen notwendig geschehen wird. Und es ist nach seiner eigenen Natur kontingent, nach Gottes Wissen aber bestimmt.290

Aus diesen Passagen geht deutlich hervor, dass Michael Psellos zwar

als Verfechter des Glaubens an die heimarmenē erscheint, dass er

diese aber als keinen göttlichen Plan versteht, für dessen Realisie-

rung nur Zeit zu verstreichen hätte. Es ist nämlich möglich, meinte

Psellos, dass die göttliche Ordnung nicht eintritt. Offensichtlich be-

deutet „heimarmenē“ bei Psellos nicht Schicksal.

Gerade hier haben wir es mit einem heutigen Gelehrtenstreit zu tun.

In der Sekundärliteratur wird Psellos angesichts seiner eingehenden

Beschäftigung mit der Wahrsagerei und den Chaldäischen Orakeln

ideengeschichtlich einem kurz auflebenden Heidentum bzw. Helle-

nismus zugeordnet, wenn er nicht gar als wichtigster Vertreter einer

Gelehrtenschaft des 11. Jh. begrüßt wird, die sich von der Kirche

kritisch distanziert hätte.

Hiermit fasse ich eine Auswahl aus Stimmen der Sekundärliteratur

kurz zusammen: Polymnia Athanassiadi wirft Psellos anlässlich sei-

ner Bekenntnisse (Lippenbekenntnisse wie sie meint) für das Chris-

tentum und gegen den Neoplatonismus Heuchelei vor,291 da er mas-

siv aus Werken des Proklos und Iamblichos schöpfte, ohne dies

kenntlich zu machen. Anthony Kaldellis ist der Ansicht, dass Psellos

das Christentum denunzierte und sich davon verabschiedet hatte.292

Diese Positionen sind nicht zu halten. Zwar macht Psellos seine Pro-

klos- und Iamblichos-Entlehnungen nicht kenntlich, wofür die letzt-

genannte lange Passage charakteristisch ist (vgl. dazugehörige Fuß-

290 Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc. 44, 15723-32. Vgl. Proklos,

In Platonis Timaeum, I, 3525-8; ders., De providentia, cap. 63; ferner Boe-thius, De consolatione philosophiae, lib. V, prosa 684-94. Am wichtigsten in der Rezeptionsgeschichte dieses Gedankens von Proklos (?) erscheint mir die Bemerkung des Boethius zu sein, dass es sich bei der Notwendigkeit der aus menschlicher Sicht kontingenten Ereignisse um eine bedingte, keine ab-solute Notwendigkeit handelt. D.h. was notwendig ist, ist nichts anderes als, dass das kontingente Ereignis folgt, falls Gott das-und-das will.

291 Athanassiadi, Byzantine Commentators, 246. 292 Vgl. die Kapitel 16-18 von Kaldellis, The Argument of Psellos' Chronogra-

phia, 109-127.

127

note). Man beachte jedoch, dass er dort den Sinn der von Proklos

entlehnten Sätze ändert. Statt wie Proklos dafür zu plädieren, dass

Gottes Allwissenheit zur Annahme zwingt, Gott könne nichts Kon-

tingentes qua Kontingentes erkennen, ließ Psellos eine Einsicht Got-

tes in die Kontingenz zu.

Ausgewogener und zuletzt akkurat ist hierzu das Urteil von Dylan

Burns und Vasilios Makrides. Ersterer schreibt Psellos eine „hybri-

de“ Mischung aus orthodoxer Theologie und Neoplatonismus zu,293

letzterer meint, dass Psellos platonische Gedanken für sein „idio-

synkratisches“ Christentum adaptierte.294

Die Urteile bezüglich vermeintlicher (mehr oder weniger verkappter)

neuheidnischer Tendenzen bei Psellos basieren auf lexikalischen Be-

obachtungen und komparatistischem Textvergleich. Die innere Ko-

härenz der Lehren von Psellos wird aber dabei verkannt. Ein Bei-

spiel, auf das ich bereits aufmerksam gemacht habe:295 Die göttliche

Vorsehung ist in der Welt nicht immer wirksam. Gott sieht vor, dass

ich tugendhaft werde, weil er mich zum Tugendhaftwerden ausge-

stattet hat. Trotzdem werde ich lasterhaft. Nun nennt Psellos gele-

gentlich die göttliche Vorsehung: „heimarmenē“. So eine Verwen-

dung des „heimarmenē“-Begriffs kommt einer Neubelegung dessel-

ben gleich.296 Indem Psellos Entlehnungen aneinanderreiht, die im

neuen Kontext eine neue Bedeutung erhalten, kann er mit der Origi-

293 Burns, The Chaldean Oracles, 159-165 mit Sekundärliteratur zum „heidni-

schen“ Psellos. 294 Makrides, Hellenic Temples, 244. 295 Das Beispiel stammt aus: Michael Psellos, Philosophica minora II, opusc.

46, pp. 15924-1603. 296 Die Geschichtsphilosophie des Psellos betrachtet Rauzduel, Homme, desti-

née, 509-515. Er ist der Meinung, dass bei Psellos jedenfalls nicht Schicksal und auch nicht nur Gesetzmäßigkeit, sondern auch die Rolle der histori-schen Persönlichkeit in der Geschichte zum Ausdruck kommt. Selbst Kal-dellis, The Argument of Psellos' Chronographia, Kap. 15, 105-109, einer der Vertreter der überkommenen Ansicht über den „unorthodoxen“ Psellos, stellte zu Recht die zögernde Art seines Autors fest, Ereignisse der göttli-chen Vorsehung zuzuschreiben – was von einem im Sinne der Ostkirche schreibenden Autor zu erwarten ist.

128

nalität seiner Gedanken überraschen, die trotz heidnischer Einflüsse

schließlich ein „idiosynkratisches Christentum“297 ergeben.

Es gibt auch externe Indizien, die für meine und gegen die über-

kommene Interpretation des Psellos sprechen. ANNA KOMNENA (†

nach 1148) die Kaisertochter, die mit der Biographie ihres Vaters,

Alexios I., einen wertvollen Bericht über die Zeit des nunmehr grei-

sen Psellos lieferte, betrachtete diesen als einen frommen und res-

pektablen Lehrer. Die gerade in Bildungssachen konservative Nonne

erwähnt einerseits die Beschäftigung von Psellos mit den Chaldäi-

schen Orakeln, hält diese aber für belanglos für ihr positives Urteil

über ihn.298 Sie setzt die von ihrem Vater eingeführte, bildungspoliti-

sche Wende für mehr Bibel- und weniger Altertumskenntnisse nicht

mit dem gleichzeitigen Rückzug von Psellos aus dem öffentlichen

Leben in Verbindung.

Darüber hinaus ergab der theologische Synkretismus des Psellos

nicht einmal Komplikationen in dessen Verhältnis zur Kirche. Psel-

los verbrachte seinen Lebensabend als Mönch und einen seiner Brie-

fe über die Bestimmtheit der Todesstunde, das philosophische Opus-

kel 47, schrieb er an einen weiteren Mönch, der sich bei ihm nach

diesem Thema erkundigte.

Zwar beeinflusste Psellos die orthodoxe Theologie nicht. Theologi-

sche Autoren beziehen sich nicht auf ihn. Seine Lehre steht aber im

Einklang mit der typisch byzantinischen Haltung für die Unbe-

stimmtheit der Zukunft. Die Frage, wie sich dies mit dem Teil seines

Schriftums und Studiums über Orakel und Wahrsagerei verträgt,299

hat Psellos beantwortet. Den antiken Aberglauben hielt er für einen

historischen Lehrstoff, nicht aber für in praktischer Hinsicht nutz-

bringend.300

297 Für die Urheberschaft des Begriffs und zwar in bezug auf Psellos vgl. Mak-

rides, Hellenic Temples, 244. 298 Anna Komnena, Alexias, Bd. 2, lib. 5, cap. 8, § 3, Bd. 2. 299 Vgl. z.B. Michael Psellos, Philosophica minora I, opusc. 3. Vgl. ebenfalls

Chronographia, Bd. 1, tomus 5, cap. 1912-16. 300 Michael Psellos, Theologica I, opusc. 444-48, p. 16. Vgl. auch ders., Encomi-

um in matrem, cap. 28, v. 1766-1784.

129

Michael Psellos versah nicht zuletzt das Dogma der Ewigkeit Gottes

mit einer Korrektur:

Da Gott ein kreativer Intellekt ist und in einem Akt an alles und nicht einzeln wie die partikulären Intellekte denkt und nichts außer der eigenen Natur hat, war er „vor allem“ und ist alles. Daher son-dert er sich vom Sein ab. Denn das Sein bezeichnet nicht die Mitte aller Teile. Es wäre absurd, dass Gott das Gegenwärtige besitzt, des Vergangenen sowie des Künftigen aber entbehrt. Sondern die Ver-nunft bei Gott, die das Sein beisteuerte, machte eine weise und opti-male Zuteilung, indem sie alles Vergangene und Künftige im Ge-genwärtigen ohne Dimensionen zusammenfasste. Gott ist für etwas zu halten, was über den Zeitdimensionen steht. Ich glaube daher, dass das Prädikat „ewig“ nicht eigentlich der göttlichen Natur zuge-schrieben wird, auch wenn der große Vater301 selbst dieses Wort missbraucht hat. Ewig ist daher, was der Ewigkeit teilhat. Aber das Teilhabende ist demjenigen, dem teilgehabt wird, nachgeordnet. Wenn Gott also ewig ist, so wird er als der Ewigkeit nachgeordnet begriffen. Sollten wir uns aber der primären Bedeutungen der Dinge bedienen, so werden wir Gott weder ewig noch Ewigkeit nennen, sondern überewig, damit das Ewigsein an dritter Stelle nach diesem erfolgt.302

Fazit: Psellos plädierte für eine göttliche Allwissenheit, die alternati-

ve Zukunftsereignisse zulässt, ob schließlich einzutretende oder nicht

(„Gott entbehre nicht des Künftigen“ – er habe also eine Ahnung von

Kontingenz). Gleichzeitig plädierte Psellos für eine Allgegenwart

Gottes, die aber eine göttliche Vergangenheits- und Zukunftserfah-

rung nicht ausschließt.

Ein seinerzeit weit verbreitetes, lyrisches und gleichzeitig theologi-

sches Werk, das nachweislich 1095 verfasst wurde, die Dioptra des

byzantinischen Mönches PHILIPPUS SOLITARIUS, enthält ein Kapitel

über die Vorsehung.303 Das Werk der Vorsehung in der Schöpfung

wird dort darauf beschränkt, dass aus dem Menschen kein unverän-

derliches und unsterbliches Wesen wurde. Die Todesstunde eines

jeden ist z.B., so eine implizite Annahme im 9. Kapitel der Dioptra, 301 Gemeint ist Gregor von Nazianz, Orationes theologicae, or. 38 (= In theo-

phania), cap. 7, PG 36, col. 317, auf den sich Psellos hier bezieht. Gregor von Nazianz bezog gelegentlich das Attribut „ewig“ auf Gott. Vgl. etwa Gregor von Nazianz, ebenda, or. 44 (= In novam Dominicam), cap. 2, PG 36, col. 608; außerdem die heilige Messe nach Gregor von Nazianz, Litur-gia Sancti Gregorii Alexandrina, PG 36, col. 708.

302 Michael Psellos, Theologica I, opusc. 8742-56, pp. 344-345. 303 Philippus Solitarius, Dioptra, PG 127, coll. 842-844.

130

kein Gegenstand der göttlichen Vorsehung. Am Beispiel der Dioptra

kann man klar beobachten, dass die in Byzanz übliche theologische

Position, wonach die Zeitangaben bei der Prophezeiung des Welten-

des nicht wörtlich und tatsächlich als unbestimmt zu verstehen sind,

auch von (Teilen von) der erbaulichen byzantinischen Literatur ak-

zeptiert wurde.304

Die Briefe des MICHAEL GLYKAS (12. Jh.) an Konstantin Palaiologos

gegen die Prädestination305 und für die Unbestimmtheit der Todes-

stunde306 teilen Vieles mit dem Ansatz von Psellos.

Glykas polemisierte gegen den Glauben an die heimarmenē. Er be-

trachtete das Konzept der offenen Zukunft als vereinbar mit der The-

ologie des Johannes von Damaskus. Ich habe an geeigneterer Stel-

le307 angemerkt, dass die Lehre des Damaszeners über das göttliche

Vorauswissen sowohl gemäßigt deterministisch als auch indetermi-

nistisch gedeutet werden kann. Dass Gott, so der Damaszener, alles

vorherweiß, jedoch nicht alles vorherbestimmt, wurde im Osten wie

im Westen zu einer sehr einflussreichen Formel. Im Westen sollte sie

von einigen Autoren (etwa von Thomas von Aquin) so gedeutet wer-

den, dass gute Taten durch Gott prädestiniert sind, schlechte Taten

aber am Täter liegen. Glykas versuchte eine indeterministische Inter-

pretation der Lehre des Johannes von Damaskus. Er ging von der

(für deontische Kontexte doch sehr wichtigen!) Annahme aus, dass

das Erlassen eines Gebots nach sich zieht, dass man frei sein muss,

dem Gebot zu entsprechen. D.h. wenn etwas geboten ist, dann muss

es auch zulässig sein:

Andere lernten, sich auf andere Grundsätze zu besinnen, auf die Vorbestimmung und das Schicksal [„heimarmenē“] zu achten sowie zu behaupten, dass Tugend und Laster den Menschen, deren Ziel und gradliniger Kurs verfehlt sind, je nach ihrem Los zukommt [„apoklērousthai“]. Aber wenn jemand genötigt ist, entgegen seinem Wunsch zu stehlen, da ja die Vorherbestimmung ihn dazu mit Ge-walt drängt, aus welchem Grund schieben wir ihm, der nicht schuld ist, die Schuld zu? [...] Ich bin genötigt zu stehlen, und du, mein

304 Vgl. Paul Magdalinos Hinweis, End of Time in Byzantium, 130, auf die

Verwendung des Terminus „aoriston“ in der Dioptra. 305 Michael Glykas, Quaestiones, Bd. 1, cap. 36. 306 Michael Glykas, Quaestiones, Bd. 1, cap. 37. 307 Vgl. vorliegende Arbeit Kap. 2.4.

131

Herr, sagst „Du sollst nicht stehlen“? Ich bin von meinem Schicksal dazu verurteilt zu morden, und du erlässt das Gesetz, ich solle nicht töten? An den Füßen habe ich eiserne Fesseln und du zwingst mich dazu zu laufen? Befreie mich von den Fesseln an den Füßen und dann kannst du mich sehr wohl zu laufen zwingen. Lass die Be-stimmung von Geburt an zur Seite, und dann kannst du sehr wohl Strafen verhängen. Aber du kannst keine Strafe zu Lasten von Un-schuldigen zulassen, als wären diese die Urheber.308

Diese Annahme ist nach Michaels Dafürhalten mit der Theologie des

Damaszeners vereinbar, denn:

[d]as göttliche Vorherwissen erzeugt keine Naturanlagen, sondern es betrachtet die Absichten. Das ist, was Johannes von Damaskus sagte: „Zwar weiß Gott vorher, woran es uns liegt, er bestimmt es aber nicht im voraus“. Wenn das göttliche Vorherwissen Naturanlagen erzeugen würde; wenn es die Aposteln bekanntlich im voraus kannte und im voraus erkor, warum hat Paulus den Herrn zuerst verfolgt? Er hätte doch bereits im Leib seiner Mutter zur Verkündigung des Evangeliums prädestiniert sein sollen. Seine Natur sollte so angelegt sein, dass er hätte mit der Erfüllung der Zeit bereit sein sollen, Chris-tus beizukommen. Warum musste die Prostituierte so lange Zeit mit fremden Männern schlafen, wenn sie als eine des Königreichs Gottes würdige im voraus erkannt war? Sie sollte vielmehr, wenn sie doch prädestiniert war, seit dem Säuglingsalter rein und besonnen sein. Daraus ist zu lernen, dass nach den meisten Autoren kein göttliches Vorauswissen, geschweige denn irgendein Vorbestimmungszwang derart ist, Absichten zu ändern und Naturanlagen zu erschaffen.309

Philologisch untermauerte Michael Glykas seine Damaszener-

Interpretation unter Hinweis auf eine Stelle, an der Johannes von

Damaskus seiner Überzeugung Ausdruck gibt, dass Gott oft Rück-

zieher machte („pollakis hypanekhōrei“).310 Auch für die Eigenstän-

digkeit („autexousion“)311 menschlichen Handelns argumentiert Mi-

chael Glykas mit Autoritätsstellen.312

308 Michael Glykas, Quaestiones, cap. 36, Bd. 1, pp. 380-381. Dieses Prinzip

entspricht einer allgemein akzeptierten deontischen Intuition. Gilt das nicht, dann sind groteske moralische Gebote denkbar der Art: „Es ist geboten, die Welt zu perfektionieren“. Warum ist das grotesk? Weil dann Folgendes gel-ten würde: „Es ist verboten, die Welt nicht zu perfektionieren“. Jeder, der nicht imstande ist, die Welt zu perfektionieren, würde also unzulässiger-weise eine Pflicht unterlassen.

309 Ebenda, p. 387. 310 Ebenda, p. 411. 311 Synonyme des autexousion sind nach Michael Glykas, ebenda, p. 393, fol-

gende Bezeichnungen: herrschaftlich („archikon“), fürstlich („hēgemoni-

132

Da Gott, so Michael Glykas, stets der menschlichen Eigenständigkeit

freien Lauf lässt, bedeutet göttliches Vorauswissen nicht, dass das

Vorausgewusste zustande kommt.313 Wenn Vorauswissen mit Si-

cherheit das nach sich zöge, dann würde Jesu Vorauswissen darüber,

dass Petrus ihn verleugnen würde, die Unschuld des Petrus an der

Verleugnung von Christus nach sich ziehen.314 Da in diesem Fall der

im Vaterunser ausgesprochene Wunsch, man möge nicht in (künfti-

ge) Versuchungen geführt werden, gegenstandslos wäre, geht Mi-

chael Glykas davon aus, dass der Vorbestimmungsgedanke falsch ist

und zukünftige Sünden wie die Zukunft im allgemeinen vermeidlich

sind.315

Überhaupt erkannte Michael Glykas in der Kausalbeziehung die ein-

zige notwendige Folgebeziehung. Es besteht aber keine Kausalbe-

ziehung zwischen dem Vorauswissen und dem Vorausgewussten.

Das Vorauswissen ist nämlich nach Michael Glykas kein Ereignis,

um etwas zu verursachen, sondern ein Zeichen („sēmeion“). Seine

Beziehung zum Denotat („sēmainomenon“), zum Gewussten also, ist

keine notwendige. Das Vorausgewusste folgt also, selbst wenn es

eintritt, nicht zwingend aus dem Vorauswissen.316 Selbst unfehlbares

Wissen impliziert nicht notwendig das, worüber gewusst wird, denn

notwendig folgt ein Ereignis nach Glykas nur aus seinen Ursachen.

Notwendig folgt z.B. ein Tod aus den Todesursachen, nicht aber aus

dem Umstand, dass jemand, selbst wenn dieser jemand Gott ist, im

voraus über diesen Tod wusste. Gott wusste, dass Judas in einem

bestimmten Zeitpunkt durch den Strick sterben sollte. Dieses Wissen

war aber nicht die Wirkursache des Todes von Judas. Was den Tod

des Judas verursachte, war die Erstickung. Fasst man die Prädestina-

tion als notwendige Folgebeziehung auf, dann war Judas’ Tod durch

kon“) und die menschliche Eigenschaft, Ebenbild Gottes zu sein („eikōn“). Damit begründet Glykas das autexousion als eine basale Annahme der The-ologie.

312 Ebenda, p. 384 – unter erneuter Bezugnahme auf Johannes von Damaskus und seinem Diktum, Vorauswissen sei kein Vorherbestimmen.

313 Ebenda, p. 388. 314 Ebenda, p. 385. 315 Ebenda, cap. 37, p. 408. 316 Ebenda, p. 395.

133

den Strick kein Prädestinationsfall,317 es sei denn, man will die Ver-

ursachung „Prädestination“ nennen – d.h. man will den Terminus

„Prädestination von Judas’ Tod“ so benutzen, dass er die Wirkung

des fest gezogenen Stricks um den Hals des zwar noch lebenden,

aber am Seil hängenden und schwebenden Judas beschreibt. Aber

dann hieße „prädestinieren“: „mit Sicherheit verursachen“. Der Prä-

destinationstheoretiker würde einwenden, dass jedes Ereignis von

vielzuvielen Sachverhalten mit Sicherheit verursacht wird.

Erwartungsgemäß belegte Glykas die Unbestimmtheit der Todes-

stunde mit vielen Autoritätsstellen;318 ebenfalls seine Absage an die

Astrologie.319

Trotz augustinischer Prädestinationslehre lagen die Positionen der

westlichen Theologie noch nicht sehr weit von denjenigen der byzan-

tinischen Theologie. PETER LOMBARD († 1160) plädierte für die Wil-

lensfreiheit mit einer Entlehnung aus Augustin:

Wenn Gott mich mit Willensfreiheit ausgestattet erschuf, dann sün-digte, wenn ich gesündigt habe, kein geringerer als ich. Kein Fatum, kein Glück, kein Teufel haben mich gezwungen.320

Ungefähr zur selben Zeit (12. Jh.) bezieht sich der Pönitenz-Traktat

eines unbekannten Benediktiner auf dieselbe Augustin-Stelle, um zu

bekräftigen, dass die Beichte voraussetzt, dass der Beichtende seine

Sünde weder dem Teufel zuschiebt noch auf das fatum zurückführt,

sondern von der selbstverschuldeten Urheberschaft seiner Sünde

ausgeht.321

NIKEPHOR BLEMMYDES († 1272) plädierte in zwei Werken unter den

Titeln Apodeixis und Dialegomenos für die Unbestimmtheit der To-

desstunde. Der Tenor dieser Werke ist dezidiert antideterministisch,

ihre Prosa ist allerdings nicht argumentativ.322 Sie sind eindeutig 317 Ebenda, cap. 37, p. 437. 318 Ebenda, cap. 37. 319 Ebenda, cap. 36, p. 399. 320 Peter Lombard, Commentaria in Psalmos, PL 191, col. 320 D unter Bezu-

gnahme auf Augustin, Enarrationes in Psalmos, 31.16, PL 36, col. 268. 321 Benedictinus anonymus, De poenitentia et tentationibus religiosorum, PL

213, col. 871 A. 322 Nikephor Blemmydes, Apodeixis, cap. 1, pp. 124-23, erklärt explizit, auf die

Todesstunde-Thematik ohne Syllogistik und „sophistische“ Methoden ein-

134

exegetische Werke, keine Werke von theologischer Spekulation. Ni-

kephor bespricht Stellen von ausschließlich griechischen kirchlichen

Autoritäten, indem er sie aneinander reiht, ohne sich um eine Har-

monisierung ihrer Positionen zu bemühen.

Gerade von einem Autor eines Logikkompendiums323 ist diese Tak-

tik nicht zu erwarten. Es ist die Ansicht vertreten worden, dass

Blemmydes diese Schriften im Zuge seiner nachgewiesenen Ausei-

nandersetzung mit dominikanischen Theologen und der scholasti-

schen Theologie verfasste. Wenn das stimmt, dann liegt beiden

Kurzschriften der Gedanke zugrunde, dass die Bestimmung der To-

desstunde ein scholastisches, dominikanisches Theologumenon ist.

Der nicht argumentative Stil sowie die Verneinung der Bestimmung

der Todesstunde werden damit als antilateinische Polemik zu erklä-

ren sein.324

gehen zu wollen. An dieser Disposition hält er durch die gesamte Schrift fest. Munitiz, The Predetermination of Death, 15, fragt sich, ob man dieses Werk ernst nehmen sollte. Gleichzeitig äußert Munitiz, ebenda, 14-15, seine Verwunderung darüber, dass Blemmydes gegen die Prädestination plädiert und sich damit von einer (tatsächlich) durch Germanos von Konstantinopel sowie (angeblich) durch Johannes von Damaskus, Nikolaus von Methone und Michael Psellos geprägten Tradition absetzt. Ich glaube dagegen, dass das nicht verwunderlich ist. Wie ich bereits Gelegenheit hatte darzulegen, sind die Lehren von Johannes von Damaskus und Michael Psellos nicht prädestinationsbejahend.

323 Blemmydes’ Epitomē logikēs (kritisch immer noch unediert – benutzt wird bis dato die editio princeps, Augsburg, 1605 bzw. die auf ihr basierende Ausgabe Leipzig, 1784) wurde zu einer in der gräkophonen Bildung bis zum 19. Jh. (!) breit genutzten logischen Summe. Im Westen wurde die Schrift in der frühen Neuzeit entdeckt, um wieder schnell vergessen zu wer-den.

324 Für diese Vermutung angesichts der dominikanischen Mission in Konstan-tinopel ab 1228 sowie einer Äußerung von Blemmydes gegen die „neue Lehre vom vorherbestimmten Lebensende“ (Apodeixis, cap. 1, p. 119) vgl. Munitiz, The Predetermination of Death, 16. Ressentiments gegen die do-minikanische Mission in Konstantinopel könnten vielleicht die von Angold, Byzantium in Exile, 555, gesuchte Erklärung dafür sein, dass der byzantini-sche Kaiser Johannes III. Batatzes 1247 die Bitte an Papst Innozenz IV. äu-ßerte, keinen anderen zur Vorbereitung des Zweiten Lyoner (Unions-) Kon-zils nach Nizäa zu entsenden als den ob seines angeblichen Chiliasmus be-rüchtigten Johannes von Parma. 1249 beauftragte der Papst tatsächlich zwei Minoriten, den genannten Johannes von Parma, der bereits zum neuen Fran-ziskaner-General gewählt war, und geradezu den wichtigsten Exponenten des joachimitischen Chiliasmus im Westen, Gerhard von Borgo San Donni-

135

Blemmydes setzt mit der Losung des Johannes von Damaskus an,

wonach Gott zwar alles vorhersieht aber nichts vorherbestimmt.325

Das versteht Nikephor Blemmydes so, dass unsere Todesstunde, ja

unser ganzer Lebenswandel „unbestimmt bzw. ohne vorgeschriebe-

nes Ziel“326 bzw. nicht vorherbestimmt ist.327

Eine Polemik gegen die Bestimmtheit der Todesstunde, die ebenfalls

einen antilateinischen Charakter hat, ist der Brief des MARKUS VON

EPHESUS († 1444) an einen gewissen Priestermönch Isidor.328

Markus, ein Theologe mit einem hesychastischen geistigen Hinter-

grund, war einer der herausragendsten byzantinischen Dialektiker

des frühen 15. Jh. und dezidierter Unionsgegner auf dem Florentiner

Konzil.329 Sein Schrifttum weist viele Einflüsse der Hesychasten

Gregor Palamas und Nikolaus Kabasilas auf. Die hesychastische

Theologie zeichnet sich durch die Ablehnung des Prädestinationsge-

dankens und jeglicher Bestimmung bei der Erteilung der göttlichen

Gnade aus. Die göttliche Gnade ist laut Gregor Palamas nicht vom

göttlichen Wesen erfasst, sondern ergeht ad extra.330 Tatsächlich hat

Markus von Ephesus im Florentiner Konzil gegen die Bestimmung

von Jenseitsvorstellungen, insbesondere gegen die Annahme eines

Fegefeuers argumentiert.

Im o.g. Brief stellt Markus zwei gegensätzliche Positionen einander

gegenüber. Die erste geht von der allumfassenden Vorsehung Gottes

aus. Die zweite bejaht die Unbestimmtheit der Zukunft. Nach der

no damit, die Verhandlungen mit den Byzantinern (mit Nikephor Blemmy-des sowie mit Kaiser Johannes Batatzes) zu führen. Einer gewissen Grotes-ke entbehrte die Situation nicht. In Johannes von Parma und Gerhard von Borgo San Donnino hatten die Byzantiner Gesprächspartner, die zwar keine Dominikaner waren, aber die Prädestinationstheologie mit einer Hartnä-ckigkeit vertraten, die selbst Dominikanern zu streng wäre.

325 Nikephor Blemmydes, Dialegomenos, cap. 7, p. 2623-5. Vgl. Johannes von Damaskus, Expositio fidei, cap. 44, PG 94, coll. 969-972).

326 Nikephor Blemmydes, Dialegomenos, cap. 6, p. 2517-8. 327 A.a.O.; außerdem ebenda, cap. 9, p. 307. 328 Markus von Ephesus, Epistola ad Isidorum, PG 160, coll. 1193-1200 bzw.

Boissonade, Anecdota nova, pp. 349-362. 329 Für Markus’ Rolle im Florentiner Konzil vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 11.6. 330 Für diese Merkmale der hesychastischen Theologie in ihrer palamitischen

Fassung vgl. Kap. 8.5.

136

ersten Position könnte sich Gott nicht umhin, auch das Geringste und

Unbedeutendste, was geschieht, gewollt zu haben. Daher müsse an-

genommen werden, dass Gott darüber weiß, wann und wie ein jeder

sterben wird. Ihre Berechtigung leitet diese Position von der Theo-

dizee her. Der Terminus „Theodizee“, eine Wortschöpfung des 17.

Jh.,331 begegnet freilich nicht im Text des Markus von Ephesus. Aber

der Sache nach bespricht Markus von Ephesus den Prädestinations-

gedanken im Kontext des Theodizeegedankens. Es wäre ungerecht,

meint er, wenn das höchste und würdigste sterbliche Lebewesen wie

ein Vieh stürbe, so z.B. wenn Menschen ohne Grund Lebenszeit ab-

gezogen würde. Die Lebenszeit eines jeden scheint also von der gött-

lichen Vorsehung nach menschlichem Verdienst bemessen zu wer-

den.332

Markus wollte gegen die Bestimmtheit der Todesstunde und für die

Unbestimmtheit der Zukunft argumentieren. Ein großes Problem

stellte aber für ihn aus exegetischer Sicht der Umstand dar, dass Ba-

silius der Große, eine für einen Theologen der Ostkirche nur sehr

schwer zu ignorierende Autorität, im 4. Jh. für die Bestimmtheit der

Todesstunde plädiert hatte:

Der Tod ereignet sich, nachdem die Bestimmung des Lebens erfüllt worden ist, die Gottes gerechtes Urteil für einen jeden vorgesehen hat. Denn Gott sieht voraus, was sich einem jeden zuträgt.333

Markus optierte hierbei explizit für einen exegetischen Kompromiss

(„symbibasomen“).334 Er vermied es, die Stelle des Basilius als eine

331 Die Erstnennung des Terminus „Theodizee“ bzw. der französischen Fas-

sung desselben kommt in einem Brief Leibnizens an Etienne Chauvin aus dem Jahr 1696 vor. Darin stimmen mehrere Leibniz-Kenner überein: Bela-val, Leibniz, 214; Evers, Gott und mögliche Welten, 104, Fußn. 408 – dort auch die Quellenangaben. Erst Jahre später erschien der Terminus im Titel von Leibnizens Theodizee (Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la li-berté de l’homme et l’origine du mal, Amsterdam, 1710).

332 Vgl. ebenda die Argumente in col. 1195. 333 Zitiert bei Markus von Ephesus, Epistola ad Isidorum, PG 160, col. 1195 A.

Original bei Basilius von Cäsaria, Quod deus non est auctor malorum, PG 31, col. 333; ders., Sermones de moribus, PG 32, col. 1268. Rezipiert wor-den war die Stelle bereits im 7. und 8. Jh. von Theophylakt Simokattes, De vitae termino, cap. 1, sowie von Johannes von Damaskus, Sacra parallela, PG 96, col. 316.

334 Markus von Ephesus, Epistola ad Isidorum, PG 160, col. 1195 A.

137

klare Äußerung für die Prädestination zu deuten. Vielmehr argumen-

tierte Markus gegen die Prädestination. Gott habe zwar Schlechtes

geschehen lassen, sei jedoch dafür genauso wenig verantwortlich,

wie ein König an einem Unrecht schuld sei, das sein Präfekt verur-

sacht habe. Denn der König sei nicht direkt der Urheber des Un-

rechts, auch wenn er den Präfekten eingesetzt habe.335

Diese Argumentation erinnert an die Unterscheidung des THOMAS

VON AQUIN in der Summa contra Gentiles zwischen mittelbaren und

unmittelbaren Ursachen. Thomas hatte dafür plädiert, dass der Um-

stand, dass Gott die mittelbare Ursache aller Ereignisse ist, die Kon-

tingenz der Zukunft trotzdem zulässt.336 Nach Thomas ist Gott mit-

telbar die Ursache aller Ereignisse. Kontingent sind aber diejenigen

Ereignisse zu nennen, bei denen eine unmittelbare Ursache, die nicht

Gott ist, vor dem Ereignis wirkt. Wenn auch mit einer leicht verän-

derten Disposition findet sich dieselbe Unterscheidung in der Summa

theologiae.337 Dort gilt es, die Kontingenz menschlicher Handlun-

gen, gleichzeitig die Freiheit menschlichen Handelns zu begründen.

Die Vernunft des Menschen gilt dort als unmittelbare, die menschli-

che Natur wiederum als mittelbare Ursache jeder menschlichen Tat.

Da sie angesichts der Vernunft unmittelbare Ursachen haben, die

nicht in der Natur des Menschen liegen, sind also die menschlichen

Taten nicht durchgängig durch die menschliche Natur bedingt und

deshalb sind sie kontingent. Infolge dessen sind sie auch vermeidbar.

Die gesamte Summa contra Gentiles sowie die prima und secunda

der Summa theologiae können Markus in Übersetzungen des

DEMETRIUS KYDONES vorgelegen haben.338 Eine Beeinflussung des

Markus von Ephesus durch den doctor angelicus ist also nicht auszu-

schließen.

Allerdings vertrat Markus keine echt thomistische Theorie über die

Kontingenz, sondern eine mit einem ausgeprägten indeterministi-

schen Tenor. Glaubt man an die stoische heimarmenē und den Ne-

335 Ebenda, col. 1196 C. 336 Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, lib. I, cap. 67, n. 6. 337 Thomas von Aquin, Summa theologiae, pars IIa, lib. I, q. 75, a. 2, co. 338 Aus der Kydones-Übersetzung (= Thomas von Aquin, Summa theologikē)

sind zwischen 1976 und 2002 in Athen bloß ungefähr zwei Fünftel der secunda secundae ediert worden.

138

zessitarismus, so pflegt man, so Markus, diesen Glauben zu verheim-

lichen, indem man den etwas akzeptableren Terminus Prädestination

(„proorismos“) verwendet.339 Ein Glaube an die Notwendigkeit wür-

de aber dazu berechtigen, keine Gebete zu verrichten und bei Krank-

heit keinen Arzt herbeizurufen.340 Nachdem er dies und Ähnliches

absurd gefunden hat, lanciert Markus folgende Thesen: Die Todes-

stunde sei das aller Unbestimmteste und sie werde auch von Gott

nicht bestimmt.341 Gott sei zwar die Ursache aller Ereignisse, aber

dies sei so zu verstehen, dass er die Ursache allgemeiner Vorgänge

(„katholou“) und der wichtigsten aber nicht aller Spezialfälle sei. Die

meisten Einzelereignisse seien unbestimmt und als solche würden sie

nicht von Gott bestimmt.342 Gott bestimme zum Beispiel, dass jeder

neue Mensch durch Beischlaf zwischen einer Frau und einem Mann

entstehe, aber er bestimme nicht diesen oder jenen Liebesakt zwi-

schen Mann und Frau zu dieser oder zu jener Zeit.343 Basilius der

Große sei, so Markus, nicht so zu verstehen, dass er behaupten wür-

de, Gott würde jedem individuellen Leben einen Todestermin setzen,

sondern eher so, dass Gott die Todesstunde aller Menschen kennt,

einschließlich der Todesstunde derjenigen, denen er einen Todester-

min setzte. Aber er setzt nicht immer einen Todestermin im voraus,

339 Markus von Ephesus, Epistola ad Isidorum, PG 160, col. 1197 A. Möglich-

erweise dachte Markus bei dieser Bemerkung an zwei byzantinische Plato-nisten: Georg Gemistos und dessen Schüler, Kardinal Bessarion. Das Ge-rücht, dass diese beiden Neuheiden waren, muss, wenn man die Behauptung des Georg Scholarios in einem Brief an Joseph Exarchos, PG 160, col. 633, glaubt, lange vor den 50er Jahren des 15. Jh. kursiert haben, lange also be-vor Georg Gemistos sich explizit zum Sonnengott sowie zum Fatum be-kannte. So kann Markus, der zwar spätestens 1444, jedenfall bereits schwer krank, den Brief an einen gewissen Isidor geschrieben hat, aber sowohl Georg Gemistos als auch Bessarion gut persönlich kannte – mit letzterem hat er sogar 1438 eine Stellungnahme auf dem Florentiner Konzil mit unter-schrieben – eine direkte Kenntnis des neuheidnischen, byzantinischen Fata-lismus gehabt haben. Über das Fatum bei Georg Gemistos und Bessarion vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.3 und 9.4.

340 Das Beispiel wahrscheinlich in Anlehnung an Anastasios von Sinai (vgl. Kap. 2.1. der vorliegenden Arbeit), den Markus in seiner Epistola ad Isido-rum, PG 160, col. 1194 A erwähnt, und Michael Glykas (Kap. 8.2.).

341 Markus von Ephesus, Epistola ad Isidorum, PG 160, col. 1197 C. 342 Ebenda, col. 1200 B. 343 Ebenda, col. 1197 B.

139

wenn er die Todesstunde kennt. „Man weiß mehr voraus, als man

(vorher-) bestimmt“.344 Die Bestimmung der Todesstunden, die er

nicht bestimmt, aber wohl kennt, überlässt Gott der Natur.

AVICENNA († 1037) hatte ebenfalls die Position vertreten, dass Gott

keine Einzelereignisse vorherbestimmt. Die gemeinsame Quelle von

Avicenna und Markus von Ephesus könnte Aristoteles sein, der seine

Analyse der futura contingentia (und diese verstanden Avicenna und

Markus von Ephesus als wahrheitsindefinite Sätze) explizit auf Sätze

über zukünftige Einzelereignisse („epi tōn kat’ hekasta kai mel-

lontōn“) beschränkt hatte.345 Obwohl Avicenna diese Position nicht

sehr plakativ befürwortete, wurde ihm von AL-GHAZALI († 1111)

vorgeworfen, er (Avicenna) sei der Ansicht gewesen, dass Gott nur

über Universalien Bescheid wisse, nicht aber über Partikularien.346

Darauf lässt sich auch die Position des Markus von Ephesus hinsicht-

lich der Bestimmung zukünftiger Einzelereignisse durch Gott zu-

rückführen. Zwar behauptet Markus nichts über Gottes Wissen, son-

dern nur über die Bestimmung der zukünftigen Einzelereignisse, aber

Konsequenzen in bezug auf Gottes Wissen sind daraus zu ziehen.

Markus meint, dass Gott die Einzelereignisse unbestimmt sein lässt

und ausschließlich allgemeine Regelmäßigkeiten bestimmt. Er be-

stimmt etwa dass die meisten Menschen zwischen ihrem siebzigsten

und achtzigsten Lebensjahr sterben.347 Aber ob Dion eher mit 76 an

einem Sturz von der Treppe oder mit 77 an Herzversagen stirbt,

müsste nach Markus (und Avicenna) unbestimmt bleiben. Was wohl

heißt, dass Gott bei all seinem Wissen offen lässt, ob Dion wirklich

mit 76 oder mit 77 stirbt. Ein Allwissen kann man dies wohl nicht

nennen, da es aus dem Standpunkt des Momentes von Dions Tod

feststeht, wann Dion stirbt, und das sollte ein wirklich allwissendes

Wesen wissen.

THOMAS VON AQUIN († 1274) schrieb AVERROËS († 1198) die Posi-

tion zu, dass Gott von keinen Einzelereignissen wüsste. Die Position 344 Ebenda, col. 1198 B. 345 Aristoteles, De interpretatione, 18 a 33-34. 346 Für eine weiterführende Diskussion von traditionellen und modernen Positi-

onen über dieses Thema vgl. Acar, Reconsidering Avicenna’s Position; au-ßerdem Belo, Averroes on God's Knowledge of Particulars, 178-186.

347 Markus von Ephesus, Epistola ad Isidorum, PG 160, 1195 C.

140

wiederum, dass Gott von den Einzelereignissen zwar wüsste aber in

einer allgemeinen Wissensauffassung, schrieb Thomas AVICENNA

und AL-GHAZALI zu. Thomas selber dachte, dass Gott von Einzeler-

eignissen durchaus weiß und zwar sowohl allgemein als auch im De-

tail.348

Die Kluft zwischen den Ansichten des doctor angelicus und den ara-

bischen und byzantinischen Lehren in diesem Punkt ist unüberseh-

bar. Die Ansicht, Gott würde keine Einzelereignisse mit Sicherheit

erkennen, sondern nur allgemeine Vorgänge, verurteilte auch BONA-

VENTURA VON BAGNOREGIO († 1274) – ausgerechnet als einen fata-

listischen Irrtum!349

Markus von Ephesus hat dagegen die Reglementierung der Todes-

stunde und die Prädestinationslehre abgelehnt. Einzig vorherbe-

stimmt ist nach Markus die genaue Vergeltung von im Leben getä-

tigten Verdiensten mit einem Lohn bzw. Vergehen mit einer Strafe.

D.h. Markus erkannte an der Prädestinationslehre eine gewisse Un-

termauerung der Theodizee.

Dieselbe Stelle des Basilius des Großen zur Bestimmtheit der Todes-

stunde, die Markus von Ephesus besprach, kommentierte auch

GEORG SCHOLARIOS († nach 1472), zwar ein Thomist aber nach

Markus’ Tod im Jahr 1444 dessen Nachfolger als geistiges Ober-

haupt des romfeindlichen byzantinischen Klerus („Antiunionisten“).

Im Gegenteil zu Markus von Ephesus betrachtete Georg Scholarios

die besagte Basilius-Stelle als ein Plädoyer für die recht verstandene

Prädestination im Sinne der göttlichen Vorsehung.350 Diese Position

ist für Georgs Thomismus, nicht aber für die byzantinische Theolo-

gie charakteristisch.

348 Thomas de Aquino, Scriptum super libros Sententiarum, lib. I, d. 36, q. 1, a.

1. Vgl. auch die lange Kette von Argumenten für Gottes Wissen über Einze-lereignisse in: ders., Summa contra Gentiles, lib. I, cap. 65.

349 Bonaventura von Bagnoregio, Collationes in Hexaemeron, visio prima, collatio 3, pars 3.

350 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. III in: Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès) Bd. 1, pp. 528-530 bzw. De divina providentia, lib. III, PG 160, coll. 1126-1128.

141

An anderer Stelle behauptete Georg Scholarios,351 dass der Leugner

der Bestimmtheit der Todesstunde Gefahr läuft, Leugner der göttli-

chen Vorsehung zu werden. Schließlich habe die heimarmenē im

Sinne der Vorsehung eine positive Bedeutung (damit meint Georg

die dem Terminus „fatum“ von THOMAS VON AQUIN und anderen

lateinischen Theologen zugewiesene Bedeutung). Als einzigen Ma-

kel betrachtet er, dass „heimarmenē“ ein durch seine Verwendung im

Rahmen des stoischen Fatalismus vorbelasteter Terminus ist. Nach

Georg Scholarios stellt die göttliche Vorsehung allerdings nicht Fak-

ten her, sondern Gottes Wünsche dar, und insofern ersetzt sie nicht

den Nutzen der Gebete.352 Mit dieser Relativierung der Rolle der

Vorsehung in den menschlichen Sachen bewahrt Georg Scholarios

eine Sicherheitsdistanz vom Fatalismus seiner byzantinischen Zeit-

genossen Georg Gemistos und Bessarion.

8.2. Freiwilligkeit und Unbestimmtheit der Zukunft in den Aristo-

teles-Kommentaren in Ost und West

Zurechnungsfähigkeit und Freiwilligkeit wurden von einigen hier

bereits besprochenen Autoren als zusammenhängend betrachtet. Wer

verantwortlich handeln sollte, muss freiwillig gehandelt haben und

wer freiwillig handelt, muss für seine Handlung verantworten – so

eine basale moralische Intuition.353

Klassisch aristotelisch galt im Mittelalter, dass die freiwillige Hand-

lung dadurch gekennzeichnet ist, dass ihr Beweggrund gänzlich im

Handelnden liegt. Sünden, für die der Sünder Rechenschaft ablegen

muss, sind Handlungen, deren Beweggrund gänzlich im Sünder lie-

gen. 351 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. I in:

Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès) Bd. 1, p. 390 bzw. De divina providentia, lib. I, PG 160, col. 1105.

352 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. V, in: Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès) Bd. 1, p. 459 bzw. De divina providentia, lib. V, PG 160, coll. 1155-1156.

353 Diese Intuition ist nicht nur bei Philosophen wie dem Pseudo-Photios des Todesstunden-Dialogs (wahrscheinlich Germanos von Konstantinopel), Mi-chael Glykas und Thomas von Aquin anzutreffen (vgl. Fußn. 108). Sie be-gegnet z.B. auch beim Theologen und Mystiker Bernhard von Clairvaux, De gratia et libero arbitrio, cap. 2, § 5, PL 182, col. 1004 B.

142

Die auf das wesentliche Freiwilligkeitsmerkmal (= Beweggrund liegt

im Handelnden) bezogenen Stellen in der Nikomachischen Ethik des

Aristoteles wurden sowohl im griechischen Osten als auch im latei-

nischen Westen intensiv zitiert und kommentiert. Zusätzlich zum

Zusammenhang zwischen Freiwilligkeit und Zurechnungsfähigkeit

wurde folgende Alternative dazu diskutiert: Alle Ereignisse würden

durch und durch von Gott gelenkt, so dass kein Handelnder (außer

Gott) und kein Beweggrund (außer Gottes Beweggründe) für diese

relevant wären.

Es wurde gegen diese fatalistische Alternative argumentiert. Oft ge-

schah dies unter Rückgriff auf eine absurde Folgerung, die auch

Aristoteles indirekt aus dem Fatalismus gezogen hatte: Bei einer

Lenkung all unserer Handlungen durch Gott, würden sich Beratun-

gen in Entscheidungsfragen erübrigen.354

Das soll natürlich nicht besagen, dass alle Handlungen, die man

selbstständig ausführt, freiwillig sind. Es gibt durchaus unfreiwillige

Handlungen, die man selbst ausführt, etwa die Handlungen eines

Schlafwandlers. Die von Aristoteles und den Kommentatoren zu-

grunde gelegte Kategorisierung der Handlungsarten ist also etwas

komplizierter als das Zweier-Schema: Freiwillig mit Verantwortung

und unfreiwillig ohne Verantwortung. Man unterschied vielmehr

folgende Arten von Handlungen:

a) Nicht freiwillige Handlungen aus äußerem Zwang („bia“). Diese

ziehen keine Verantwortung nach sich, da ihr Beweggrund nicht

im Handelnden war. D.h. sie geschehen unfrei.355 Tiere oder geis-

tig gestörte Menschen handeln unfreiwillig, da sie Beweggründe

haben, die nicht in ihnen sind und sich ihnen aufdrängen.

b) Handlungen aus Unkenntnis. Hier ist der Beweggrund der Hand-

lung zwar im physischen Urheber derselben, dieser hat aber nicht

alle Konsequenzen seiner Handlung durchschaut.356 Es gibt Auto-

ren, die solche Handlungen für generell freiwillig halten,357 ande-

354 Aristoteles, De interpretatione, 18 b 26-33. 355 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1110 a; Thomas von Aquin, Sententia

libri Ethicorum, lib. III, lec. 1, n. 6. 356 Thomas von Aquin, Sententia libri Ethicorum, lib. III, lec. 1, n. 5. 357 Z.B. Johannes von Damaskus, Expositio fidei, cap. 38, PG 94, col. 953 B.

143

re wiederum, die hier Fälle der Unfreiwilligkeit erkennen.358 Das

sind insbesondere Fälle, die dem Handelnden, wenn dieser end-

lich die Konsequenzen seiner Handlung erkennt, Leid bereiten.359

c) Handlungen im Affekt. Diese geschehen gewissermaßen eben-

falls aus einem Beweggrund, der nicht voll im Handelnden war,

da sie einer irrationalen Leidenschaft entstammen, während der

Handelnde allgemein als rational und zurechnungsfähig ange-

nommen wird. Es sieht also aus, als würde bei solchen Handlun-

gen die ratio des physischen Urhebers für etwas belangt, was die-

ser nicht aus seiner ratio heraus tat. Aristoteles zieht jedoch in

Zweifel, ob Straftaten dieser Art unfreiwillig sein sollen.360

Thomas von Aquin lässt ebenfalls offen, ob in solchen Fällen

Freiwilligkeit vorliegt.361 Es gibt spätbyzantinische Kommentare,

die einen Schritt weiter gehen: der Beweggrund bei Handlungen

im Affekt sei sehr wohl im Handelnden, so dass diese als generell

freiwillig gelten sollen.362

358 Anonym, In Aristotelis Ethica Nicomachea II-V, p. 14714-16. 359 Thomas von Aquin, Sententia libri Ethicorum, lib. III, lec. 3, n. 2; [Pseudo-]

Heliodor, In Ethica Nicomachea paraphrasis, p. 4321-29. Pseudo-Heliodors Stelle klingt wie eine Kurzfassung der Analyse des Thomas von Aquin in Sententia libri Ethicorum, lib. III, lec. 3, nn. 1-2. Dieser griechische Kom-mentar ist aber keine zuverlässige Quelle, da es nicht klar ist, was in dem-selben auf das Werk eines Fälschers aus dem 16. Jh. zurückzuführen ist und was auf einer byzantinische Vorlage basiert. Der Herausgeber, Gustav Hey-lbut, meinte noch, dass es sich dabei um einen Kommentator namens Helio-dor von Prusa gegeben hat. Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Wahr-scheinlich manipulierte der Kopist des 16. Jh. Konstantin Palaiokappas (aus vielen Fällen als tüchtiger Kopist aber auch als Fälscher bekannt) ein Manu-skript des 14. Jh. und gab es als vermeintlich verloren geglaubten Kommen-tar eines gewissen Heliodor von Prusa aus (der Name klingt ja antik!), um einen höheren Erlös zu erreichen. Benakis, Hē aristotelikē ēthikē, 277, meinte, dass es hier um eine im 13. Jh. bewerkstelligte Kollation von ale-xandrinischen Scholien geht.

360 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1111 a 18. 361 Thomas von Aquin, Sententia libri Ethicorum, lib. III, lec. 1, n. 7-9. 362 Anonym, In Aristotelis Ethica Nicomachea II-V, p. 147; [Pseudo-] Heliodor,

In Ethica Nicomachea paraphrasis, p. 436-20.

144

d) Freiwillige Handlungen, deren Beweggrund im Handelnden ist.

Diese ziehen volle Verantwortung und unbedingte Zurechnungs-

fähigkeit nach sich.363

Über diese Arten von Handlungen, über die darin zum Ausdruck

kommende Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit und die Verantwor-

tung, die sie nach sich ziehen oder nicht ziehen, sind sich die Kom-

mentatoren einig. Trotz der gemeinsamen Vorlage gibt es jedoch

Spielräume für Lesarten dieser aristotelischen Lehre, in denen der

Freiwilligkeitsbegriff stärker oder schwächer ausgeprägt ist.

Eine besonders starke Ausprägung der Freiheit liegt z.B. einem ano-

nymen byzantinischen Kommentar der Nikomachischen Ethik zu-

grunde.364 Damit eine Handlung freiwillig ist, genügt es nach diesem

Kommentar, wenn zwei Bedingungen erfüllt werden: die Beweg-

gründe des Handelnden sind erstens gänzlich in ihm und zweitens

weiß der Handelnde etwas über die Konsequenzen seiner Handlung.

Wenn äußerer Zwang fehlt und ein Grundwissen über die Konse-

quenzen der Tat vorhanden ist, dann steht bereits fest, dass der Han-

delnde freiwillig agierte und voll zurechnungsfähig ist. Erst erhebli-

ches Unwissen über die Konsequenzen einer Tat, stellt eine Vermin-

derung der Zurechnungsfähigkeit dar.

Auch das berühmte neunte Kapitel von De interpretatione,365 in dem

Aristoteles u.a. das Seeschlacht-Beispiel analysiert, wurde im Mittel-

alter im Kontext der Willensfreiheit besprochen. Wenn der Ausgang

aller Ereignisse von vornherein festgesetzt und nicht zu beeinflussen

ist, so Aristoteles dort, dann sind Überlegungen und Beratungen über

zukünftiges Tun sinnlos.366 Aristoteles führt mit diesem Hinweis den

Fatalismus ad absurdum. Aber der Antifatalismus ist ein sehr weites

Feld mit gemäßigten und radikaleren Positionen. Die verschiedenen

Interpretationen dieser Aristoteles-Passage durch verschiedene Auto-

ren des Mittelalters verraten meistens mehr über diese Autoren als

über Aristoteles.

363 Anonym, In Aristotelis Ethica Nicomachea II-V, ebenda. 364 Anonym, In Aristotelis Ethica Nicomachea II-V, p. 147. 365 Aristoteles, De interpretatione, 18 a 28-19 b 4. 366 Aristoteles, De interpretatione, 18 b 26-33.

145

Auf das neunte Kapitel von De interpretatione berief sich der Byzan-

tiner MICHAEL GLYKAS (12. Jh.) um gegen die Prädestination zu ar-

gumentieren. Hätte es eine Prädestination gegeben, so Michael Gly-

kas, dann wäre jedes Ereignis zwingend und unter Zwang („bia“

bzw. „biāi“ (adverbiale Dativform)) zustande gekommen. Keine

selbstständige, eigenmächtige Handlung durch den Menschen wäre

imstande, den Lauf der Dinge oder die Entwicklung einer Krankheit

zu beeinflussen. Beratungen zu treffen und den Arzt aufzusuchen,

wären sinnlose Rituale.367 Das ist aber kontraintuitiv. Michael Gly-

kas führt Beispiele an, die belegen sollen, dass ein Medikament oder

eine Entscheidung den Lauf der Dinge veränderten. In einem Sinne

sind das keine echten Beispiele, da der „ursprüngliche“ Lauf der

Dinge kontrafaktisch und damit nicht zu rekonstruieren ist. So könn-

te jedenfalls der Determinist entgegnen.

Etwa ein Jahrhundert nach Michael Glykas sah THOMAS VON AQUIN

(† 1274) im neunten Kapitel von De interpretatione nur noch eine

sehr gemäßigte antifatalistische Position.368 Aristoteles behaupte

hier, so Thomas, dass Aussagen über kontingente Zukunftsereignisse

durchaus einen bestimmten Wahrheitswert haben, dass sie deswegen

aber nicht etwa zwingend wahr oder zwingend falsch seien. Nach

Thomas war Aristoteles kein dermaßen radikaler Indeterminist, dass

er die Zweiwertigkeit von Aussagen über kontingente Zukunftser-

eignisse in Frage stellen könnte. Im Gegenteil meinte Thomas, dass

Aristoteles die Zweiwertigkeit für Aussagen über kontingente Zu-

kunftsereignisse gelten lässt, dass entweder diese oder ihre Negatio-

nen mit Sicherheit eintreten werden. Thomas brachte damit die Lehre

des Aristoteles mit seiner eigenen im Einklang, die besagte, dass

Gott ein sicheres Vorherwissen über kontingente Zukunftsereignisse

hat. Hätten Aussagen über kontingente Zukunftsereignisse keinen

bestimmten Wahrheitswert, dann wäre ein göttliches Vorherwissen

über solche Ereignisse nicht der Fall, da nur Wahres erkannt werden

kann.

367 Michael Glykas, Quaestiones, cap. 36, Bd. 1, pp. 391, 408; cap. 37, Bd. 1,

pp. 420-421, 424. Außer Aristoteles, De interpretatione, 18 b 26-33, formu-lierte Michael Glykas das Beispiel wahrscheinlich in Anlehnung an Anasta-sios von Sinai (7. Jh.). Vgl. Kap. 2.1 der vorliegenden Arbeit.

368 Die nachfolgende Darstellung bezieht sich auf Thomas von Aquin, In Aris-totelis Peri Hermeneias, lib. I, lectio 15, n. 3.

146

In seiner Fortsetzung des knappen De interpretatione-Kommentars

von Thomas von Aquin verdrängte THOMAS CAJETAN († 1534) Fra-

gen, die Aristoteles an die Kontingenz stellte. Cajetan nahm an, dass

jede Disjunktion, die aus zwei widersprüchlichen Sätzen über die

Zukunft besteht, notwendig wahr ist.369 Es ist z.B. notwendig wahr,

dass es morgen regnen wird oder nicht regnen wird. Das ist natürlich

eine einleuchtende Annahme, die Aristoteles in der Interpretations-

schrift tatsächlich nahe legte: nichts anderes als eine Bestätigung des

Widerspruchsprinzips für Disjunktionen der obigen Art. Aristoteles

meldete aber gleichzeitig seine Bedenken gegen eine nezessitaristi-

sche Konsequenz dieser Annahme. Geht man davon aus, dass einer

von beiden Sätzen ohnehin zum Schluss wahr sein wird, und setzt

man das damit gleich, dass eben dieser auch von jedem früheren

Zeitpunkt aus ohnehin zum Schluss wahr würde, dann zieht das nach

sich, dass es keine Sätze gibt, die nicht ohnehin wahr werden. D.h. es

gibt keinen Zufall.370

Thomas Cajetan bespricht aber bezeichnenderweise nicht diese ne-

zessitaristische Konsequenz, die Aristoteles Kummer bereitete. Aus

dem Umstand, dass Aristoteles die Äußerung vermeidet, keiner der

Sätze einer Disjunktion aus widersprüchlichen Sätzen über die Zu-

kunft wäre bestimmt wahr, zieht Cajetan vielmehr den Schluss, dass

Aristoteles Disjunktionen meint, in denen der eine Teilsatz eine not-

wendige Wahrheit und der andere eine Unmöglichkeit ausdrückt.371

Das ist zwar eine mögliche Interpretation, da Disjunktionen aus zwei

Sätzen, die jeweils eine notwendige Wahrheit und eine Unmöglich-

keit ausdrücken, derart sind, dass der eine bestimmt wahr und der

andere bestimmt falsch ist. Aber bei Aristoteles steht weder, (i) dass

der eine Satz bestimmt wahr und der andere bestimmt falsch ist,

noch, (ii) dass keiner von beiden bestimmt wahr ist. Cajetan gewinnt

aus dem Fehlen der Behauptung (ii) bei Aristoteles ein Argument ex

silentio für den Determinismus und scheint nicht zu bemerken, dass

ein indeterministischer Gegner ebenfalls versuchen könnte, aus dem

Fehlen der Behauptung (i) ein Argument ex silentio zu bilden, um

369 Thomas Cajetan, Continuatio Thomae de Aquino In Peryermenias, lib. II, l.

10, n. 15, p. 125. 370 Aristoteles, De interpretatione, 18 a 34 – 18 b 17. 371 Thomas Cajetan, Continuatio, ebenda.

147

Aristoteles für sich zu vereinnahmen. Der Interpretationsversuch des

Indeterministen würde sogar naheliegender erscheinen, da Aristote-

les im ganzen neunten Kapitel von De interpretatione Zweifel am

Widerspruchssatz äußert.

Cajetan, der Thomist des 16. Jh., weicht auf ein Argument ex silentio

aus, um einer Lesart des neunten De interpretatione-Kapitels entge-

genzutreten, die im Mittelalter allgemein als die aristotelische Ortho-

doxie galt. Sie wurde von franziskanischen Scholastikern wie PETER

AUREOLI († 1322), WILHELM VON OCKHAM († zw. 1347 u. 1349)

sowie ein paar anderen propagiert, die unter dem Einfluss dieser bei-

den standen.372 Nach dieser Lesart hätten Sätze über kontingente Zu-

kunftsereignisse keinen bestimmten Wahrheitswert und das neunte

Kapitel von De interpretatione, wo Aristoteles diese Position zum

Ausdruck bringe, sei Äußerung eines radikalen Indeterminismus.373

Das ist wie gesagt eine radikale Position. Andere meinten, dass diese

Lesart der aristotelischen Lehre über die kontingenten Zukunftser-

eignisse für christliche Theologen unhaltbar ist.374 Sollte das tatsäch-

lich Aristoteles’ Position sein, dann müsste der Christ, der Aristoteli-

ker bleiben will, so wenigstens die konservative christliche Argu-

mentationslinie, entweder bereit sein zuzugeben, dass die kontingen-

ten Sätze über Zukunftsereignisse keine Behauptungen im Sinne

Aristoteles’ sind, da sie weder wahr noch falsch sind,375 und daher

372 Vgl. Kap. 8.4. der vorliegenden Arbeit für einen solchen Autor: Peter de

Rivo. 373 Vgl. Wilhelm von Ockham, Expositio in librum Perihermenias Aristotelis I,

cap. 6, § 14, p. 421; ferner: Peter Aureoli, Scriptum in primum librum Sen-tentiarum, distinctiones 38-39, d. 381002-1003, q. 64, a. 3, p. 134. Die implizi-ten Annahmen gegen die Zweiwertigkeit bzw. für unterdeterminierte Wahr-heitswerte von Sätzen über kontingente Zukunftsereignisse in Ockhams De interpretatione-Kommentar sprechen Craig, The Problem of Divine Fore-knowledge, 151, und Perler, Prädestination, 130-136, aus.

374 Vgl. etwa das Zitat aus Sentenzenkommentar des Peter von Ailly bei Boeh-ner, Ockham’s Tractatus de praedestinatione, 432, Anm. 26. Boehner, der Ockhamist der Mitte des 20. Jh., favorisiert das Aristoteles-Verständnis des Peter von Ailly gegenüber der aristotelischen Orthodoxie des Mittelalters.

375 Aristoteles, De interpretatione, 17 a 1-5.

148

nicht zu Gottes Wissensschatz gehören376 oder schon dazu gehören

aber nicht im Sinne eines zu Recht so genannten Wissens.377

Trotzdem gab es scholastische Autoren, die bestrebt waren, Christen-

tum und aristotelische Orthodoxie, Prädestination und Freiheit zu

vereinbaren. JOHANNES BURIDAN († ca. 1361) lehnte z.B. in seinem

Kommentar zur aristotelischen Interpretationsschrift die megarische

Behandlung des Möglichkeitsbegriffs ab, da diese bedeuten würde,

dass Gott letztendlich keine Wahlfreiheit hatte, ob er die Welt hatte

erschaffen sollen oder doch nicht.378 Damit widersprach er einer Po-

sition ABAELARDS, der ja meinte, dass Gott nicht mehr und nicht

weniger tun kann, als was er letztendlich tut.379

Ich fasse kurz zusammen: Bezüglich der Lehre von Aristoteles über

den Wahrheitswert der Sätze über kontingente Zukunftsereignisse

sind in den scholastischen Kommentaren im Wesentlichen zwei ver-

schiedene Auffassungen zu erkennen: Einerseits die thomistische,

die von einem bestimmten Wahrheitswert aller kontingenten Sätze

über die Zukunft ausgeht, andererseits die Auffassung Ockhams, Bu-

376 Liske, Was leistet etc., 160-162, meint, dass dies keine echte Alternative für

die scholastische Theologie war. Seine Position versucht Liske mit Einsich-ten in das Gottesverständnis der Scholastik zu belegen.

377 Zu Lösungen dieser Art gehören Psellos’ Analyse des göttlichen Zukunfts-wissens im 11. (vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.1) sowie Molinas scientia media im 16. Jh.

378 Johannes Buridan, Questiones, XIII-XIV. Über die Frage, ob Buridan im Endeffekt die Willensfreiheit bejahte, ist die Literatur unschlüssig. Buridan scheint doch etwas mit dem als „Buridans Esel“ bekannten Beispiel zu tun gehabt zu haben, das in der modernen Literatur oft als Legende dargestellt wird. Es handelt sich bei Buridan nur um keinen Esel, sondern um einen Hund, der wegen fehlender Entscheidungsbegründung für den einen oder für den anderen Fraß verhungert. Vgl. Nicholas Reschers, Choice without Preference, 109, Verweis auf die unedierten Texte. Rescher, ebenda, 109-110, sieht in Buridan einen Vertreter des „intellektuellen Determinismus“, nach dem der Wille in Fällen fehlender Entscheidungsbegründung nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen. Andere (z.B. Walsh, Is Buridan a Sceptic about Free Will?; Vos, Buridan on Contingency; Krieger, Bietet “Buridans Esel” den Schlüssel etc.) scheinen zu glauben, dass „Buridans Esel“ keine Schilderung der eigenen Position Buridans darstellt, sondern ei-ne absurde Schlussfolgerung, die Buridan, somit ein Verfechter der Willens-freiheit und der Eigenmächtigkeit des Willens, verwerfen will.

379 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 6.2.

149

ridans und Aureolis, wonach der Wahrheitswert der futura contin-

gentia unbestimmt ist.

Nun wird in den wenigen spätbyzantinischen Kommentaren zu De

interpretatione eindeutig die letzte Auffassung vertreten. Sowohl der

anonyme Autor des Parisinus graecus 2064 als auch der (in anderen

Fällen unter dem Einfluss des Thomismus stehende) Georg Scholari-

os meinen, dass Disjunktionen aus zwei widersprüchlichen Sätzen

über die Zukunft nach Aristoteles zwar bestimmt wahr sind, dass von

jedem einzelnen Teilsatz aber unbestimmt ist, ob er zutreffen wird

oder nicht.380 Ein Futursatz ist unbestimmt, selbst wenn er am Ende

zutrifft, während der Präsenssatz, der genau denselben Sachverhalt

ausdrückt, genau dann zutrifft, wenn er bestimmt zutrifft. Diese Dys-

analogie zwischen einer früheren Behauptung im Futur über einen

zukünftigen Sachverhalt und einer späteren Behauptung im Präsens

über genau denselben Sachverhalt, wenn dieser nicht mehr zukünf-

tig, sondern gegenwärtig ist, garantiert, dass die wahren Sätze über

die Zukunft nicht schon immer werden bestimmt zutreffen müssen,

denn das würde die Kontingenz („to hopoter’ etykhen“) vernich-

ten.381

8.3. Gottes Wesen und Kontingenz bei Alain von Lille und im by-

zantinischen Hesychasmus

Ein Vergleich zwischen Scholastik und byzantinischer Theologie

zwischen dem 12. und dem 15. Jh. legt vordergründig Differenzen an

den Tag. Im vorausgegangenen Kapitel war dies anhand des Ver-

gleichs zwischen der thomistischen und der byzantinischen Aristote-

les-Exegese zu erkennen. Andere Differenzen zeigten sich in Religi-

onsdialogen zwischen Vertretern der West- und der Ostkirche. Die

Dispute des 14. und 15. Jh. zur Fegefeuer-Problematik sind sehr ty-

pisch in dieser Hinsicht.382

380 Anonym, In Aristotelis De interpretatione, p. 65 5-12; Georg Scholarios,

Commentarium in Aristotelis De interpretatione, lectio 916-25. 381 Georg Scholarios, ebenda, lectio 8179-192. 382 Etwa im Zweiten Lyoner Konzil, im hesychastischen Streit und im Florenti-

ner Konzil, alles Ereignisse, die in den Kapiteln 11.4., 11.6. und 11.7. der vorliegenden Arbeit respektive behandelt werden.

150

Ungleich seltener, jedoch nicht minder interessant, sind Gemeinsam-

keiten, die ohne direkte Interaktion beider Traditionen zu Stande

kamen. Einen solchen Fall lässt ein Vergleich zwischen der Lehren

des ALAIN VON LILLE († 1202 – bekannter unter seiner latinisierten

Namensform: Alanus ab Insulis) und des byzantinischen Hesychas-

mus über das Wesen und die Handlungen Gottes erkennen.

Die Summa „Quoniam homines“, das Frühwerk des doctor universa-

lis, trennen jeweils anderthalb Jahrhunderte von den wichtigsten Äu-

ßerungen hesychastischer Theologie, d.h. dem Werk SYMEONS DES

NEUEN THEOLOGEN († 1022) und dem des GREGOR PALAMAS (†

1359). Alain hatte keine Kenntnis von den Lehren des ersteren: we-

der von der Lehre über die Erfahrung der Handlungen des Heiligen

Geistes in Form einer seligmachenden Vision („süßes Licht“)383

noch von der Lehre über die Unerfahrbarkeit der göttlichen Natur.384

Auch Gregor Palamas hatte keine Kenntnis von den Lehren des A-

lain von Lille. Dennoch ist die Übereinstimmung zwischen den He-

sychasten und Alain frappierend.

Eine gemeinsame, wenngleich entfernte Inspirationsquelle beider

Ansätze ist freilich festzustellen. Das ist die Lehre des Pseudo-

Dionysius Areopagita über die Benennung des Heiligen. Dass Pseu-

do-Dionysius die Hesychasten beeinflusste, ist sicher. Dass er Alain

beeinflusste, ist nicht auszuschließen.

Zum Zweck des Vergleichs mit der hesychastischen Lehre385 finden

hier ein paar Merkmale der Lehre des Alain von Lille über Gottes

Wesen kurz Erwähnung.

Nach Alain ist das göttliche Wesen durch drei aristotelische Katego-

rien gekennzeichnet. Es sind dies die Substanz, die Qualität und die

383 Symeon der Neue Theologe, Orationes ethicae, or. 5251-316, in: ders., Traités

théologiques et éthiques, Bd. 2 (= Sources Chrétiennes, Bd. 129), pp. 98-102. Englische Übersetzung: ders., On the Mystical Life, 5th Ethical Dis-course, Bd. 2, pp. 52-54.

384 Symeon der Neue Theologe, Orationes theologicae, or. 235-55, in: ders., Traités théologiques et éthiques, Bd. 1 (= Sources Chrétiennes, Bd. 122), pp. 132-134.

385 Im Kap. 8.5 der vorliegenden Arbeit wird die wohl bezeichnendste hesy-chastische Lehre besprochen, d.h. die Lehre des Gregor Palamas über die göttlichen Handlungen.

151

Quantität. Die restlichen sieben Kategorien schreiben Gott nichts

davon zu, was er ist. D.h. Gott ist nicht dadurch gekennzeichnet:

a. dass er in irgendwelchen Relationen zu anderen Wesen stünde;

b. dass er sich in irgendeinem Ort aufhielte;

c. dass er zu irgendeiner Zeit existierte;

d. dass er in irgendeiner Lage befände;

e. dass er irgendwelche Handlungen vollbringen würde;

f. dass er irgendetwas erlitte;

g. dass er irgendetwas hätte.

Er ist nur dadurch gekennzeichnet:

h. dass er sein muss;

i. dass er gut und gerecht ist;

j. dass er einer an der Zahl ist.386

Man vergleiche mit Alains Punkt (e) die hesychastische Lehre, nach

der Gottes Handlungen, insbesondere seine Gnadenakte, die ihn in

Bezug zu seinen Geschöpfen bringen, nicht vom Wesen Gottes her-

rühren, sondern ad extra sind. Es ist nach Gregor Palamas nicht

durch Gottes Wesen bedingt, wie Gott mit seinen Geschöpfen um-

geht. Gott ist deshalb unberechenbar.

Alain von Lille stimmte mit dieser hesychastischen Lehre überein,

als er mit „Prädestination“ ein Verhältnis Gottes zur Schöpfung und

kein Wesensmerkmal Gottes meinte. Nach Alain liegt es nicht an

Gott allein, wie die Schöpfung prädestiniert ist, sondern an dem be-

sagten Verhältnis, das wie jedes Verhältnis nicht ausschließlich vom

einen abhängig ist. Bezug nehmend auf Augustin weist Alain darauf

hin, dass die Prädestination keine Vorherbestimmung, sondern eine

Vorbereitung ist.387 Gott bereitet seine Schöpfung auf seine Gnade

386 Vgl. Alain von Lille, Summa „Quoniam homines“, lib. I, n. 108, p. 244. 387 Ebenda, lib. I, n. 108, p. 244. Vgl. auch Alain von Lille, In distinctionibus

dictionum theologicalium, PL 210, col. 909 B-C. Vgl. Augustin, De prae-destinatione sanctorum, PL 44, col. 974, sowie De dono perseverantiae, PL 45, col. 1014 für den in der Scholastik gewöhnlichen Zusatz, dass eine Prä-destination nur mit Vorherwissen möglich ist. Augustins Begriffsklärung der Prädestination als einer Vorbereitung auf die göttliche Gnade (und als

152

vor, aber die Schöpfung trägt als die andere Partei des Verhältnisses

ihr Eigenes dazu bei. Gottes Wesen ist durch keine von Gottes Hand-

lungen gekennzeichnet, sondern einzig und allein durch Gottes Sein.

Gott hätte in jeder Hinsicht anders handeln können, als er tatsächlich

handelt. Lediglich zu seinem Sein könnte es keine Alternative ge-

ben.388 Der Unterschied zum Gottesbild von Augustin, Peter Aba-

elard, Thomas von Aquin und Bonaventura von Bagnoregio, um nur

einige zu nennen, ist immens.389

AUGUSTIN setzte Gottes Sein und Handeln gleich. Alains Lesart der

Prädestinations-Lehre von Augustin betont den Vorbereitungscha-

rakter der Prädestination und ignoriert Augustins Äußerungen be-

treffs einer „sicheren Befreiung der Prädestinierten“.390

PETER ABAELARD verneinte die Frage, ob es auf Seiten Gottes Al-

ternativen geben könnte – Alain bejahte sie.

THOMAS VON AQUIN unterdrückte die Funktion der Prädestination,

auf die Gnade vorzubereiten. Statt dessen meinte Thomas, dass die

Prädestination bereits die Anteilnahme an Gottes Herrlichkeit vorbe-

reitet.391

keiner Vorherbestimmung), wurde in der Scholastik zu einem Topos: Peter Abaelard, Commentaria in Epistolam Pauli ad Romanos, 828-30, pp. 223-224; Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis, lib. I, pars 2, cap. 21, col. 213 D. Alains Augustin-Interpretation steht der gängigen Rezeption dieses To-pos im Mittelalter entgegen. Nachdem Peter Lombard († 1160), Sententiae in IV libris distinctae, lib. I, d. 40, cap. 2 (180), Bd. 1, Teil 2, p. 286 (Grottaferrata-Edition) Augustins Passage, wonach die Prädestination eine Vorbereitung auf die göttliche Gnade darstellt, in seine Sentenzen, aufge-nommen hatte, wurde diese Passage gerne als Definition der Prädestination betrachtet und entgegen Alains Interpretation deterministisch gedeutet. Vgl. weiter unten.

388 Für eine weitere, mit diesen Resultaten aus der Lektüre der Summa „Quoni-am homines“ übereinstimmende Diskussion der Prädestinationslehre des Alain von Lille vgl. Wei, Divine Simplicity, 54-61.

389 Bereits Wei, Divine Simplicity, 60-61 hat auf Unterschiede in den Auffas-sungen Alains von Lille einerseits, Augustins und des Abaelard-Schülers Peter Lombard andererseits hingewiesen.

390 Augustin, De dono perseverantiae, PL 45, col. 1014. 391 Thomas von Aquin, In Romanos [Römerbriefkommentar], IX,13, lect. 2. Zu

beachten ist hier die für Alain sehr wichtige Augustin-Stelle, die aber von Thomas fehlerhaft zitiert wird: „[P]raedestinatio est praeparatio gloriae“ statt „gratiae“. Dass die Prädestination nach Augustins besagter Stelle an-

153

Auch BONAVENTURAS Prädestinations-Lesart ist mit der thomisti-

schen Augustin-Interpretation konform. Die Prädestination schreibe

die seit aller Ewigkeit vorgeschriebene, zukünftige Herrlichkeit

vor.392

Es ist also nicht unerwartet, dass Alains für den Westen so eigenwil-

lige Summa „Quoniam homines“ eine Randstellung in der Scholastik

belegt. Dass Glorieux erst Mitte des 20. Jh. den Autor der anonymen

Schrift als Alain von Lille identifizierte und zur editio princeps

schritt, spricht nicht gerade für die zentrale Bedeutung der Schrift.

Obwohl in der Scholastik selber verkannt und ignoriert, ist die Sum-

ma „Quoniam homines“ meines Erachtens die erste Summe, die in

der sonst für Quodlibets vorbehaltene quaestio-responsio-Prosa ab-

gefasst ist. Das macht es sehr wahrscheinlich, dass Thomas von

Aquin, der Jahrzehnte später mit seiner Summa theologiae eine wei-

tere Summe in Quästionen-Form verfasste, dieses Werk kannte. In

diesem nicht unwahrscheinlichen Fall ist es sehr bemerkenswert,

dass die Thesen des Alain von Lille über Gottes Wesen und Hand-

lungen so konsequent und wirksam unterdrückt werden konnten,

dass sie im restlichen Mittelalter praktisch unbekannt blieben.

8.4. Franziskanische Freiheits-Theologie

Eine originär „franziskanische“ Theologie gibt es nicht. Die von

Franziskanern geschriebene Theologie deckt ein sehr großes Spekt-

rum ab und ergibt ein viel inhomogeneres Gesamtbild als etwa die

von Augustinern oder von Dominikanern geschriebene Theologie

aus. Pauschal lässt sich sagen, dass Autoren, die in der Frühzeit des

geblich auch noch auf die zukünftige Herrlichkeit vorbereiten würde, ist kein beiläufiger Zitationsfehler von Thomas, sondern das ist tatsächlich die Auffassung von Thomas über die Prädestination in dessen Sentenzenkom-mentar, (Scriptum super libros Sententiarum, lib. I, d. 40, q. 1, a. 1, co.), wo zu lesen ist: „[E]ffectus [praedestinationis] est gratia [praesens] et gloria [fu-tura]“; vgl. auch Summa theologiae, IIIa, q. 23, a. 1, co.: „[P]raedestinatio, proprie accepta, est quaedam divina praeordinatio ab aeterno de his quae per gratiam Dei sunt fienda in tempore“.

392 Bonaventura von Bagnoregio, Commentaria in Quatuor Libros Senten-tiarum, lib. I, d. 40, divisio textus und a. 1, conclusio, Bd. 1, pp. 701; 703.

154

Ordens dem „spiritualen“ Zweig anhingen393 bzw. deren Epigonen,

in Sachen Prädestination und Eschatologie meist radikale, chiliasti-

sche Ansichten vertraten. Als Pionier dieser Richtung der Franziska-

nertheologie gilt der Kalabrese JOACHIM VON FIORE († 1202).

Es ist behauptet worden, dass Joachims ketzerische (weil chiliasti-

sche) Ansichten durch eine vermeintliche Beeinflussung durch die

Griechen Kalabriens zu erklären sind.394 Es sind sogar Analogien

zwischen Joachims eschatologischen Ansichten über die Rolle

frommer Mönche in der Endphase der Geschichte einerseits und dem

byzantinischen Hesychasmus andererseits.395

Der Johannesapokalypse war allerdings in der byzantinischen hoch-

sprachlichen Literatur keine so rege Rezeption wie im Westen be-

schieden. In dieser Rezeption ist von keinem Plan der Zeitgeschichte

die Rede. Daher kann die Vermutung, es hätte eine Verbindung zwi-

schen der byzantinischen und der joachimitischen Offenbarungsre-

zeption gegeben, nur mit volkssprachlichen oder marginalen Äuße-

rungen griechischen religiösen Lebens im Mittelalter untermauert

werden.396 Auch wenn es in der byzantinischen Literatur Angaben 393 Zur Entwicklung der Spiritualen innerhalb des Franziskaner-Ordens vgl.

Holzapfel, Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens, 40-66; Burr, The Spiritual Franciscans, 43-136; 191-211; 261-313. Zur Theologie ihrer wichtigsten Autoritäten Joachim von Fiore, Gerhard von Borgo San Donni-no, Johannes von Parma und Peter Johannes Olivi vgl. Reeves, The Prophe-tic Sense of History in Medieval and Renaissance Europe, passim; dies., The Influence of Prophecy in the Later Middle Ages, 3-228; McGinn, Apocalyp-tic Tradition, passim; Grundmann, Neue Forschungen, passim; Renan, Joachim de Flore, passim.

394 Renan, Joachim de Flore, 95; Anitchkof, Joachim de Fiore, 125-130. 395 Clucas, Eschatological Theory, 343-345. Clucas’ Analogien zwischen

Joachimismus und Palamismus sind nicht ernstzunehmen. Die Tatsachen, dass beide „Schulen“ gewisse mystische Erfahrungen behaupteten und von „Rationalisten“ angegriffen wurden, sind zu allgemein und deswegen nicht aussagekräftig. Seine Behauptung, dass Gregor Palamas wie Joachim von Fiore drei Geschichtsstadien erkannte, in deren letztem die frommen Mön-che allein den wahren Glauben bewahren, will zudem Clucas mit einer Pas-sage aus der Gregor-Palamas-Biographie des Konstantinopler Patriarchen Philotheos Kokkinos belegt haben, die eine (wieder) zu allgemeine, sozial-kritische Äußerung enthält.

396 Anitchkof, Joachim de Fiore, 146-153, sagt nichts anderes, wenn er die Lehre des Joachim von Fiore über das Endzeitalter des Heiligen Geistes auf eine, allerdings von ihm äußerst dünn belegte und abenteuerlich kühn ge-

155

über vermeintlich bevorstehende Zukunftsereignisse gibt, sind diese

keineswegs als exakte futurologische Angaben zu verstehen, sondern

als allegorische, figürliche rhetorische Mittel.397

Nicht dass es keine Kontakte zwischen Joachimiten bzw. Spiritualen

und Byzantinern gegeben hätte. Geradezu die exponiertesten Vertre-

ter der Spiritualen, JOHANNES VON PARMA und GERHARD VON BOR-

GO SAN DONNINO, waren 1249-50 Abgesandte des Papstes in Nizäa,

dem damaligen Sitz des byzantinischen Hofes und der byzantini-

schen Hierarchie. In dieser Funktion führten sie Verhandlungen über

Themen des Glaubensbekenntnisses sowie des kanonischen Rechts

angesichts eines zukünftigen Unionskonzils zwischen West- und

Ostkirche. In diesen Verhandlungen zwischen den wichtigsten Ver-

tretern des Joachimismus und der Ostkirche kamen die zwischen

beiden theologischen Richtungen bestehenden Differenzen in der

Eschatologie nicht zur Sprache.398 Ein Kontakt, zumal ein etwas spä-

ter in der Geschichte der Spiritualen, lässt außerdem nicht unbedingt

auf eine Beeinflussung schließen.

Nicht viel später, wurden aber der Chiliasmus und das extreme Ar-

mutsideal innerhalb der Westkirche zu einem Problem für den Fran-

ziskanerorden. Gerade wegen dieser seiner Überzeugungen musste

Johannes von Parma 1257 sein Amt als Ordensgeneral an den gemä-

mutmaßte, Beeinflussung häretischer griechischer Mönche in Kalabrien zu-rückführt, die angeblich neomontanistischen Einflüssen ausgesetzt waren. Indem er eine griechische Beeinflussung Joachims nicht „a priori“, wie er sagt, ausschließen will, schwächt außerdem Bloomfield, Joachim of Flora, 283, die Vermutung über diese Beeinflussung zu einer Trivialität ab. Natür-lich kann man so etwas nicht a priori ausschließen. Die Frage ist, ob sich diese Beeinflussung a posteriori belegen lässt. Angesichts des byzantini-schen Theologie-Mainstreams sollte dies als recht unplausibel gewertet werden. Die von Bloomfield, ebenda, 287, herausgestrichenen Analogien zwischen den Bezugnahmen auf den Heiligen Geist in der joachimitischen und der etwas früheren hesychastischen Literatur sind oberflächlich und be-schränken sich auf rhetorische Topoi. Dagegen hat bereits Grundmann, Stu-dien über Joachim von Floris, Kap. I, Joachims Quellen und Vorbilder aus-nahmslos als Produkte der lateinischen Theologie identifiziert.

397 Für eine ausführlichere Diskussion dieses Punktes vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 2.5.

398 Elementares zur Mission von Johannes und Gerhard in Nizäa ist dem alten Standardwerk zu entnehmen: Pichler, Geschichte der kirchlichen Trennung, Bd. 1, 334; aus orthodoxer Sicht: Meyendorff, Theology in the Thirteenth Century, 80-82; vgl. außerdem Angold, Byzantium in Exile, 555-556.

156

ßigten BONAVENTURA VON BAGNOREGIO abtreten. Der einschnei-

dende Richtungswechsel an der Ordensspitze signalisierte ordensin-

tern eine offizielle Abkehr vom Chiliasmus sowie eine Legitimie-

rung des Teils des Klerus, der nicht in kompletter Armut lebte.399

Joachim von Fiore und Gerhard von Borgo San Donnino wurden

1263 als häretisch verurteilt.400

Franziskaner in spiritualer Tradition mussten nach diesem Rich-

tungswechsel einen Sicherheitsabstand vom Chiliasmus und vom

radikalen Armutsideal wahren. Im Wesentlichen fuhren sie aber da-

mit fort, die Prädestinationslehre als eine apodiktisch feststehende

Futurologie zu betrachten. Franziskanische Prädestinationslehren

dieser Art werden sowohl hier (im Sinne eines Kontrapunkts zur

Freiheitstheologie) als auch im Kapitel 9.4 vorgestellt.

Gegen die spirituale Richtung versuchte sich die franziskanische

Freiheitstheologie in mehreren Kompromisslösungen zwischen Prä-

destination und Freiheit. Mit dieser Richtung der Franziskanertheo-

logie werden meist Nominalisten assoziiert.401

An solchen Kompromisslösungen sind von JOHANNES DUNS SCOTUS

(† 1308) mehrere Alternativen überliefert. Die nachstehend darge-

stellte Alternative verfolgt vielleicht am konsequentesten eine inde-

terministische Linie.402

399 Eine kompakte Schilderung der Frühgeschichte dieses Zwistes findet sich

bei Gebhart, Mystics and Heretics, Kap. VI, §§ i-iii, 202-216. 400 Zur Jahresangabe 1263 vgl. Reeves, The Influence of Prophecy, 61, Anm. 3. 401 Damit ist natürlich nicht gemeint, dass „nominalistisch“ und „spiritual“

gegensätzliche Eigenschaften wären. Wilhelm von Ockham, ein Nominalist, konnte ja in Sachen Armutsstreit (allerdings nicht in Sachen Chiliasmus) auf die Tradition der Spiritualen als teilweise seine eigene zurückblicken. Wenn ich hier das sehr pauschale Bild zweier franziskanischer Grundrichtungen in Sachen Eschatologie entwerfe: der Spiritualen sowie der „Freiheitstheolo-gie“, dann hat das nicht den Sinn, dass es keine Überlappungen in Bereichen außerhalb der Eschatologie gab.

402 Johannes Duns Scotus las mehrmals über die Sentenzen vor, sowohl in Oxford als auch in Paris. Ein voluntaristischer Grundtenor in der Frage nach den futura contingentia bleibt in allen verschiedenen Versionen seiner Sen-tenzenkommentare erhalten. Je nach Version werden allerdings mal stärke-re, mal schwächere indeterministische Argumente für die futura contingen-tia vorgebracht. Die hier versuchte Darstellung basiert auf der Analyse der kontingenten Zukunftsereignisse sowie des Wissens Gottes über diese in der

157

Nach Johannes Duns Scotus erkennt Gott mit seinem Intellekt genau

das, was er durch seinen Willen geschehen lässt. Was er aber durch

seinen Willen nicht geschehen lässt, erkennt er mit seinem Intellekt

nicht – er würde sich ja irren, wenn er etwas würde erkennen wollen,

was sich nicht ereignet. Dass Gott etwas nicht geschehen lässt, kann

zwei Gründe haben.

A. Der von Gott nicht erkannte Sachverhalt ist mit einem anderen

unverträglich, von dem Gott aber bestimmt weiß, dass er gesche-

hen muss.

B. Der von Gott nicht erkannte Sachverhalt ist zwar mit keinem un-

vereinbar, von dem Gott wüsste, dass er sich ereignen würde,

aber Gott lässt diesen Sachverhalt willkürlich nicht geschehen, so

dass sein Intellekt diesen Sachverhalt zurecht ignorieren kann.

Zwar hat sich Gott nach der zweiten Alternative nicht für das Gegen-

teil des fraglichen Sachverhalts entschieden, aber er hat sich auch

nicht dafür entschieden. Er enthält sich eines Willensaktes. Zurecht

kann dann der göttliche Intellekt diesen Sachverhalt nicht als Faktum

erkennen.

Ad A: Die erste Alternative ist nicht problematisch. Dass sich der

fragliche Sachverhalt ereignen würde, ist falsch, und Falschheiten

können, wie bereits angedeutet, nicht wahrheitsgemäß erkannt wer-

den. Erkenntnis von Falschem wäre keine echte Erkenntnis, sondern

vermeintliche, falsche Erkenntnis. Eine solche kann der unfehlbare

Gott nicht haben.

Ad B: Die zweite Alternative ist problematischer. Sie besteht in der

Willensenthaltung. Um diese Alternative zu verdeutlichen, nennt

von Johannes Duns Scotus durchgesehenen Reportatio I A (Bezeichnung nach Söders Erstausgabe, Kontingenz und Wissen, 217-270), auch unter dem Titel bekannt: Reportatio Parisiensis examinata (Bezeichnung nach Söders Ausgabe samt Übersetzung in: Johannes Duns Scotus, Reportatio Parisien-sis examinata). Vgl. insb. Reportatio I A, d. 38, qq. 1-2, II, Responsio pro-pria ad quaestiones, §§ 35-44 in: Söder, Kontingenz und Wissen, pp. 233-236. Für eine ausführliche Besprechung des Indeterminismus von Johannes Duns Scotus unter Heranziehung weiterer Versionen von dessen Sentenzen-kommentaren vgl. Söder, ebenda, 166-198. Für eine Darstellung des Inde-terminismus im Opus Oxoniense, d.h. in den Quaestiones in liber I Senten-tiarum der Wadding-Ausgabe, vgl. Craig, John Duns Scotus on God’s Fore-knowledge.

158

Johannes Duns Scotus ein paar Beispiele. Im folgenden möchte ich

eines von ihnen vorstellen.

Er meint, dass die göttliche Willensenthaltung nur in Sätzen zum

Ausdruck kommt, die folgenden zwei Bedingungen genügen: Sie

sind kontingent und sie beziehen sich auf die Zukunft. Er formuliert

folgendes Widerspruchspaar: „Judas wird ein Seliger“ und „Judas

wird kein Seliger“. Bei diesem Beispiel geht es um die zukünftige

Zuweisung zweier widersprüchlicher Prädikate an ein und dasselbe

Satzsubjekt. Die Zuweisung von „Seliger“ an „Judas“, fährt Duns

Scotus fort, ist keine notwendige, d.h. sie ist kontingent. Dasselbe

gilt von der Zuweisung von „kein Seliger“ an „Judas“. Judas’ Leben

kann also auf zweierlei Art ausgehen: Indem er ein Seliger wird oder

indem er kein Seliger wird. Angenommen, Gott will Judas zu einem

Seligen machen, dann verhalten sich der göttliche Wille und der gött-

liche Intellekt, so Duns Scotus weiter, positiv zur Verbindung der

Termini „Judas“ und „Seliger“ und negativ zur Verbindung der Ter-

mini „Judas“ und „kein Seliger“. Umgekehrt verhalten sich der gött-

liche Wille und der göttliche Intellekt negativ zur Verbindung zwi-

schen den Termini „Judas“ und „Seliger“ und positiv zur Verbindung

der Termini „Judas“ und „kein Seliger“, wenn Gott Judas zu keinem

Seligen machen will. Will Gott aber gar nichts, dann verhalten sich

der göttliche Wille und der göttliche Intellekt neutral zu beiden Ver-

bindungen.

Mit der Neutralität des göttlichen Intellekts gegenüber der Realisie-

rung eines Sachverhaltes meint Scotus, dass Gott sich zur Wahrheit

bzw. Falschheit des Satzes, der diesen Sachverhalt ausdrückt, indif-

ferent verhält. Er meint ferner, dass der Satz selber neutral bleibt,

d.h. weder wahr noch falsch ist.403 In dieser Hinsicht ähnelt der gött-

liche Intellekt dem menschlichen in Bezug auf den Wahrheitswert

des Satzes „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“. Dieser und

selbstverständlich seine Verneinung sind nämlich nach Scotus eben-

falls neutral.

403 Das ist z.B. Scotus’ Position zum berühmten Seeschlacht-Beispiel des Aris-

toteles (Johannes Duns Scotus, [Reportatio], d. 39, in: Opera omnia (Balić- bzw. Vatikan-Ausgabe), Bd. 6, p. 424-432).

159

Anthony Kenny stellt fest,404 dass an dieser Position nur unter der

Bedingung festgehalten werden kann, dass es einen grundlegenden

Unterschied zwischen Wahrsein-in-der-Gegenwart und Wahrsein-in-

der-Zukunft gibt. Er fügt hinzu,405 dass Scotus diesen Unterschied

ausgeschlossen hat, indem er bemerkte, dass Sätze über die Gegen-

wart genauso wie Sätze über die Zukunft kontingent sind. Kennys

letzte Feststellung ist nicht richtig: Es gibt durchaus Unterschei-

dungsmerkmale zwischen Wahrsein-in-der-Gegenwart und Wahr-

sein-in-der-Zukunft, auch wenn in beiden Fällen ein kontingentes

Wahrsein gemeint ist.

Die richtige Interpretation von Scotus scheint mir hier folgende zu

sein: Es gibt Sätze über die Gegenwart, die in einem Sinn kontingent

sind: Beide Sätze des kontradiktorischen Paares: „Der Verfasser die-

ser Zeilen befindet sich in diesem Moment, in dem er das schreibt, in

Bayern“ und: „Der Verfasser dieser Zeilen befindet sich in diesem

Moment, in dem er das schreibt, nicht in Bayern“ sind beide kontin-

gent, obwohl der erste als zufällig wahr und der zweite als zufällig

falsch bestimmt werden konnte, da der Verfasser dieser Zeilen sich

zufallsbedingt in Bayern befindet. Und es gibt Sätze über die Zu-

kunft, die in einem anderen Sinn kontingent sind, da ihr Wahrheits-

wert gar nicht bestimmt wurde. Während falsche kontingente Sätze

über die Gegenwart nur theoretisch wahr sein könnten, besteht für

jeden kontingenten Satz über die Zukunft eine reale Möglichkeit,

wahr zu werden.

Willensenthaltung, die Voraussetzung für diese logisch unorthodoxe

Position, ist jedem Menschen aus Introspektion vertraut. Das Fehlen

eines expliziten Willens impliziert nicht immer einen expliziten Wil-

len für das Gegenteil, sondern oft gar keinen Willen. Angenommen

einerseits, Judas urteilt, dass das erstrebenswertste aller Lebensziele

es ist, ein Seliger zu werden, auch wenn das mit Armut einhergeht.

Angenommen andererseits, Judas ist der Meinung, dass die Seligkeit

ein faules Versprechen ist, da Jesus nicht Gottes Sohn wäre; auf die

Frage also, ob er sich Seligkeit in Armut oder keine Seligkeit in

Reichtum wünscht, antwortet er nach dem Motto, besser ein Spatz in

der Hand als eine Taube auf dem Dach: „Wenn ich schon kein Seli- 404 Kenny, Scotus and the Sea Battle, 153. 405 Kenny, ebenda, 151-152.

160

ger werden kann, wünsche ich mir wenigstens dreißig Silberlinge“.

Indem er die dreißig Silberlinge annimmt, wird Judas, wie wir aus

der Passionsgeschichte wissen, bestimmt kein Seliger. Trotzdem hat

Judas nicht den Wunsch geäußert, er möge kein Seliger werden, son-

dern er hat nur für einen in seinen Augen leichter zu verwirklichen-

den Wunsch optiert. Judas enthielt sich eines Wollens bezüglich des

Heiligwerdens.

Die Willensenthaltung, die neutrale Haltung des göttlichen Willens,

erweist sich aus der Sicht des Duns Scotus als sehr nützlich für das

Verständnis der kontingenten Zukunftsereignisse. Solche Ereignisse

sind nach Scotus auf Gottes Willensenthaltung zurückzuführen. Um

es mit dem vorigen Beispiel auszudrücken: Laut Prinzip des ausge-

schlossenen Dritten sollte gelten: „Entweder wird Judas ein Seliger,

oder er wird kein Seliger“. Das heißt aber: Gott weiß schon jetzt

(nehmen wir an, dass dieses Jetzt noch vor den Ereignissen in Jerusa-

lem ist, die zu Jesu Tod führten), entweder dass der erste Satz des

Widerspruchspaars wahr ist und der zweite falsch, oder, dass der ers-

te Satz falsch ist und der zweite wahr. Wir wissen zwar nicht, was

Gott genau über die Zuordnung von Wahrheit und Falschheit im Wi-

derspruchspaar weiß, aber – darüber müssten wir uns laut Prinzip des

ausgeschlossenen Dritten im Klaren sein – Gott weiß schon jetzt,

bevor Judas ein Seliger oder kein Seliger wird, genau welche der

genannten Alternativen wahr ist. Was jedoch obige Analyse des

Duns Scotus zeigt, ist, dass Gott trotz des Prinzips des ausgeschlos-

senen Dritten sich darüber hinwegsetzen kann, das Zutreffen der ers-

ten oder der zweiten Alternative genau zu erkennen. D.h. Gott ist

nach Scotus in der Lage, keinen der Sätze des Widerspruchspaars:

„Judas wird ein Seliger“ und „Judas wird kein Seliger“ als bestimmt

wahr anzusehen, falls er noch keinen Wunsch geäußert hat, welcher

von beiden wahr werden soll.

Aber Vorsicht! Das tut der Unfehlbarkeit Gottes keinen Abbruch.

Nicht Gottes Wissen ist hierbei defekt, sondern es sind die Zu-

kunftsereignisse, die die genannten Sätze bezeichnen, die aus jetziger

Sicht tatsächlich unbestimmt sind („futura contingentia in rebus“).

Über solche Ereignisse gibt es gar nichts Besseres oder Genaueres zu

wissen.

161

In diesem Sinne ist Scotus’ Bemerkung zu verstehen, dass der Prä-

destinationsgedanke nach den Bedingungen des christlichen Glau-

bens eine Berechtigung hat. Prädestiniert ist nach ihm ein kontingen-

tes Zukunftsereignis, nachdem Gott einen Willen diesbezüglich ge-

äußert hat. Es gibt durchaus unvermeidbare Zukunftsereignisse und

bei diesen weiß Gott genau, welcher Satz eines Widerspruchspaares

wahr ist und welcher nicht. Diese sind genau diese, zu denen ein ex-

pliziter Wille Gottes vorliegt. Denn, um es scotistisch auszudrücken,

ist der Wille der erste Grund der Kontingenz, und der göttliche Intel-

lekt kann dem Willen beim Erfassen des kontingenten Zukunftser-

eignisses nicht vorauseilen.

Die Analyse des THOMAS VON AQUIN,406 wonach ein Ereignis wegen

seiner unmittelbaren Ursache zwar kontingent ist,407 wegen der Un-

fehlbarkeit Gottes jedoch auf alle Fälle eintritt, führt nach Scotus zur

Nezessitation und ist insofern aus verschiedenen Plausibilitätsan-

nahmen zugunsten der Kontingenz abzulehenen. Thomas’ Position

revidierte Scotus folgendermaßen: Gott weiß zwar alles, sowohl das

notwendig als auch das kontingent Stattzufindende, aber beim letzte-

ren färbt sozusagen der Terminus „kontingent“ auf die Bedeutung

von „wissen“ ab („accipitur „scire“ ut determinatum per illum termi-

num [sc. contingens]“).408 An der göttlichen Allwissenheit geht nach

Duns Scotus die Kontingenz nur dann nicht unter, wenn Gott ein nur

unvollkommenes Wissen (was das auch immer sein soll) über kontin-

gente Zukunftsereignisse hat.

Die gerade besprochene,409 dezidiert indeterministische Lehre des

Scotus aus den Pariser Studentenmitschriften seiner Vorlesungen

406 Thomas von Aquin, Summa theologiae Ia, q. 14, a. 13, ad 1. 407 Ausführlich wird die Lehre des Thomas von Aquin über die Kontingenz im

Kap. 9.3 der vorliegenden Arbeit besprochen. 408 Für die scotistische Kritik an Thomas von Aquin in diesem Punkt vgl. Jo-

hannes Duns Scotus, Reportatio Parisiensis examinata bzw. Reportatio Ι Α, dd. 39-40, qq. 1-3, III, Responsio propria ad quaestiones, Ad secundam quaestionem, Solutio propria bzw. Improbatio opinionis Thomae, §§ 63-5, in: Söder, Kontingenz und Wissen, pp. 257-258.

409 Zum Inhalt der restlichen Studentenmitschriften aus Scotus’ Werken vgl. Schwamm, Das göttliche Vorherwissen bei Duns Scotus, 5-91. Schwamm stellt u.a. die Distinktionen 38 und 39 der Reportata Parisiensia und der Reportatio maior gegenüber.

162

betrachtet die zukünftigen Ereignisse als von ungewissem Ausgang.

Zukünftige Ereignisse sind nach Scotus Optionen, keine harten Fak-

ten und das ist auch Gottes Wahrnehmung der zukünftigen Ereignis-

se. Diese Zukunftsauffassung steht und fällt: erstens mit Scotus’

Möglichkeitsverständnis, demgemäß Sachverhalte möglich sind, die

niemals eintreten werden;410 zweitens mit Gottes Fähigkeit, sich ei-

ner Willensäußerung zu enthalten, die eines von zwei gegensätzli-

chen Ereignissen unfehlbar bedingen würde.

Die scotistische Doktrin von Gottes Willensenthaltung wurde in

Oxford bereits Anfang des 14. Jh. von ein paar franziskanischen Or-

densbrüdern des Scotus (z.B. ROBERT COWTON und RICHARD VON

CONINGTON) angegriffen.411 Verteidigt wurde sie von WILHELM VON

ALNWICK, der in Paris mit Scotus’ späten (und stark voluntaristisch

betonten) Ansätzen in Berührung gekommen war, sowie vom

Scotus-Schüler JOHANNES VON READING.412 Da der Scotismus in

Oxford auch bei Dominikanern beliebt war,413 bestand dort in der

ersten Hälfte des 14. Jh. die Trennungslinie nicht zwischen den Mög-

lichkeitskonzeptionen von Dominikanern und Franziskanern, son-

dern vielmehr zwischen denen von Deterministen einerseits, und

ockhamistischen oder scotistischen Freiheitstheologen andererseits, 410 Knuuttila, Duns Scotus’ Criticism of the Statistical Interpretation of Modali-

ty, bespricht diese Lehre von Scotus ausführlich. 411 Eine Übersicht über die „Oxforder Freiheitsdebatte 1310-1320“ unter An-

gabe längerer Textpassagen liefert Alliney, Fra Scoto e Ockham, 243-291. 412 Vgl. die Edition seiner quaestio 6, aus der ersten Distinktion seines Kom-

mentars zum ersten Buch der Sentenzen bei Alliney, ebenda, 292-368. 413 Zum Scotismus des Dominikaners Arnold von Strelley etwa vgl. Gelber, It

Could Have Been otherwise, 158-170. Dieser Scotismus hat jedoch in der Frage nach dem Wahrheitswert der futura contingentia eine sehr gemäßigte Gestalt angenommen. Arnold von Strelley, Quaestiones super quattuor lib-ris Sentenciarum, lib. I, q. 7, f. 30r (vgl. auch Gelber, ebenda, 243, Fußn. 48) vertritt Strelley folgende Positionen: i. Ein zuletzt zuzutreffender Satz über ein kontingentes Zukunftsereignis sei nur intrinsice im Stande, nicht wahr zu sein; ii. die Annahme, derselbe Satz wäre nicht wahr, impliziere nicht, dass er sowohl wahr als auch nicht wahr wäre; iii. jeder zuletzt zuzu-treffende Teilsatz eines kontradiktorischen Paares aus zwei futura contin-gentia sei ein für allemal wahr. Letzteres entspricht einer diodorischen, kei-ner orthodox aristotelischen Konzeption der Kontingenz. Gelber, ebenda, 171, 279-306 erkennt Einflüsse der scotistischen Position in puncto Gottes Wissensenthaltung über zuletzt nicht eintretende futura contingentia auf die Dominikaner Wilhelm Crathorn und Robert Holcot.

163

die eine sehr abgeschwächte Prädestinationslehre vertraten. Die Or-

denszugehörigkeit war für diese Oxforder Freiheitsdebatte nicht re-

levant.

Erst nach 1344, als in Oxford THOMAS BRADWARDINES Buch De

causa Dei erschien, das eine Form des Nezessitarismus sowie die

doppelte Prädestination propagierte (gleichzeitig griff der Neoaugus-

tinismus mit Gregor von Rimini auch in Paris um sich),414 wurden

die Überzeugungen zugunsten oder zuungunsten des logischen De-

terminismus oder Indeterminismus mehr und mehr zu einer ordens-

„ideologischen“ Angelegenheit. Meist Franziskaner und recht selten

Mitglieder anderer Orden, die sich in der Gefolgschaft Scotus’, Au-

reolis oder Ockhams verstanden, waren Indeterministen und hatten

einen sehr abgeschwächten Prädestinationsbegriff. Augustiner, Do-

minikaner und Franziskaner spiritualer Provenienz waren aber De-

terministen und plädierten für eine starre Prädestination.

Die der Ketzerei bezichtigten, englischen und tschechischen Re-

formtheologen des späten 14. und frühen 15. Jh. befürworteten eben-

falls wie die Pioniere des frühneuzeitlichen Neoplatonismus deter-

ministische, neoaugustinische Ansichten.415

Die Entwicklung des Indeterminismus vom frühen 14. Jh. an, als er

im Anschluss an Johannes Duns Scotus die aufkommende Oxforder

und Pariser Theorie ausmachte, bis kurz vor seinem Abstieg im 15.

Jh. blieb zunächst sehr spannend.

Der bereits beiläufig genannte Oxforder Franziskaner PETER AUREO-

LI416 († 1322) formulierte eine Freiheitstheologie im Sinne eines ra-

dikalen logischen Indeterminismus.417 414 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.4. 415 Vgl. weiter unten in diesem Kapitel sowie Kap. 9.4 und 9.5. 416 Die einschlägige Sekundärliteratur beider letzten Jahrzehnte zeugt von ei-

nem erhöhten Interesse an Aureolis Lehre über die kontingenten Sätze über Zukünftiges: Normore, Petrus Aureoli and his Contemporaries; Schabel, The Quarrel with Aureol; ders., Peter Aureol on Divine Knowledge; ders., Theology in Paris. Die Besprechung dieser Sekundärliteratur würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb ich mich auf Primärtexte be-schränke.

417 Der logische Indeterminismus im Sinne Kotarbinskis und Łukasiewicz’ besagt: Für jeden kontingenten Satz „p“ gilt: Angenommen, es ist in ty der Fall, dass p in ty, so gilt für x<y, dass es in tx nicht der Fall ist, dass p in ty

164

Peter Aureoli hielt partikuläre Sätze (d.h. Sätze über Einzelereignis-

se), die im Futur formuliert sind, für unbestimmt. D.h. er ordnete

ihnen weder Wahrheit noch Falschheit zu.418 Damit lehnte er wie

Scotus den logischen Determinismus für Sätze über die Zukunft ab,

die keine allgemeinen Wahrheiten darstellen; etwa für Sätze der Art:

„Der Antichrist wird kommen“ und „Sokrates wird sein“ nicht aber

für Sätze der Art: „Morgen wird die Summe von eins plus eins gleich

zwei betragen“.

Aber es gibt Einzelereignisse (wenn es nach Thomas von Aquin und

Gregor von Rimini geht, sind es geradezu alle Einzelereignisse), die

Gegenstand der göttlichen Prädestination sind. Das sind sogar die

interessantesten Fälle der Prädestination. In einem religiösen Sinne

ist es nämlich uninteressant, von der Prädestination der Summe von

eins plus eins zu sprechen. Es ist dagegen in demselben Sinne sehr

interessant, darüber zu sprechen, ob es prädestiniert ist, dass der An-

tichrist kommen wird, bzw. ob es seit aller Ewigkeit prädestiniert

war, dass Sokrates das Licht der Welt erblicken würde. Da er aber

auf partikuläre Sätze keine Anwendung findet, findet der logische

Determinismus nach Peter Aureoli keine Anwendung auf Fälle, auf

die er gemäß etwa der thomistischen Prädestinationslehre Anwen-

dung finden sollte. D.h. eine Prädestination in diesem Sinne besteht

nach Peter Aureoli nicht.

Nach Peter Aureoli besteht auch kein göttliches Vorherwissen. Da

Wahrheit bzw. Falschheit nach ihm nur Sätzen über die Gegenwart

und die Vergangenheit zuzuweisen ist, nicht aber Sätzen über die

Zukunft, ist ein Wissen über eine Zeit erst dann möglich, wenn diese

aufgehört hat, eine zukünftige zu sein.419

(meine Formulierung in Anschluss an Łukasiewicz, On Determinism, 22). Łukasiewicz meinte, dass der so formulierte logische Indeterminismus die aristotelische Position zu den futura contingentia wiedergibt oder jedenfalls das, was die Tradition als die aristotelische Position auffasste. Im Mittelalter fand diese Position in Peter Aureoli einen ihrer typischsten Vertreter.

418 Peter Aureoli, Scriptum in primum librum Sententiarum, d. 38, q. 64, a. 3, pp. 126-135. Dabei unterstellt Aureoli seinen Gegnern gelegentlich schier falsche Positionen. Vgl. z.B. die Reformulierung der gegnerischen Position auf p. 131944-949, dahin gehend, dass Wahres nur aus Wahrem folgt. Das ist natürlich falsch und stellt eine unwohlwollende Lesart der gegnerischen Po-sition seitens Aureolis.

419 Ebenda, d. 38, q. 64, a. 2, pp. 121-124.

165

Andererseits war Aureoli der Meinung, dass der physische Determi-

nismus Bestand hat. Zwar seien Futursätze, die kontingente Ereignis-

se bezeichnen, weder wahr noch falsch, aber Gegenwartssätze, die

sich auf dieselben Sachverhalte beziehen, auf die sich früher die Fu-

tursätze bezogen, sind entweder bestimmt wahr oder bestimmt

falsch.

Man könnte gegen Aureolis Lehre einwenden – und solche Vorwürfe

sind tatsächlich aus radikal-deterministischer Seite gemacht worden

– dass sie philosophisch unsinnige und theologisch unangebrachte

Positionen enthält. Über den ersten Vorwurf lässt sich streiten. Der

zweite Vorwurf erscheint aber gerechtfertigt. In der Zeit, bevor der

Hahn krähte, war folgender Satz nach Aureoli weder wahr noch

falsch: „Petrus wird Jesus verleugnen“. Aber dann hat Jesus behaup-

tet, dass etwas eintreten werde („Ehe der Hahn kräht,

wirst du mich dreimal verleugnen“420), was weder wahr noch falsch

war. Angenommen, es sollte wirklich wahr werden, dass Petrus Jesus

verleugnen würde, und Jesus hat das als Gott wegen seiner Anteil-

nahme an einem in der Ewigkeit verweilenden Wesen gewusst:

Wieso zog Jesu Wissen nicht nach sich, dass der Futursatz: „Petrus

wird Jesus verleugnen“ nicht bestimmt wahr war? Gott muss schließ-

lich in seiner Ewigkeit die zukünftigen Ereignisse, deren Bestätigung

nicht in Form von unbestimmten, kontingenten Futursätzen erfolgt,

immerhin anhand zwingend wahrer Gegenwartssätze erkennen. Au-

reolis Antwort darauf lautet:

Das Voraussehen bzw. das Vorhersagen macht die Zukunft nicht be-stimmt. Nur tatsächliches Eintreten von Ereignissen zu der Zeit, wenn diese offenkundig stattfinden, macht alles, was vorher ge-schah, im geforderten Sinne bestimmt. Diese Worte [d.h. Vorausse-hen und Vorhersagen] drücken nichts anderes aus, als dass, was ak-tuell ist, von göttlichem Wissen begleitet wird. [...] Selbst nachdem sie stattgefunden hat, macht Petri Verleugnung alles, was vorher über sie gesagt wurde, nicht in dem Sinne bestimmt, dass sie statt-finden sollte und ihr Gegenteil nicht stattfinden konnte. Es konnten vielmehr gleichermaßen das eine wie das andere passieren.421

Nach Petrus Aureoli hat die Rede von einer Prädestination nur eine

Berechtigung, insofern der von äußeren Einflüssen freie Wille Gottes

damit gemeint ist. Kraft seines von äußeren Einflüssen freien, „inne- 420 Mt 26,34. Vgl. auch Mk 14,30; Lk 22,61. 421 Ebenda, d. 38, q. 65, a. 4, pp. 208-209 sowie a.a.O., a. 3, pp. 191-193.

166

ren“ Willens will nämlich Gott aus aller Ewigkeit, dass alle Men-

schen gerettet werden.422 Die Erwählung, die den innigen Willen

Gottes zum Ausdruck bringt, gilt der Gattung Mensch als Ganzes.

Gott erwählt also alle Menschen und prädestiniert sie zur Rettung. In

zweiter Instanz rettet aber Gott nur diejenigen, zu deren Rettung kein

Hindernis besteht.423 Das ist nach Petrus Aureoli darauf zurückzu-

führen, dass Gottes Wille bezüglich der Rettung bestimmter Indivi-

duen von äußeren Einflüssen beeinflusst wird;424 z.B. dem Betragen

des zu rettenden oder zu verdammenden Menschen.

Nach Aureolis Prädestinationsbegriff ist das Individuum, wie man

sieht, frei, der allen Menschen geltenden Prädestination zu entwei-

chen, d.h. Fehler zu begehen. Gott ist aber gewissermaßen unfrei,

indem er nicht nach seinem innigen Willen, sondern nach dem han-

delt, was der Mensch getan hat. Der Hauptunterschied zur Prädesti-

nationslehre des Duns Scotus liegt darin, dass Gott bei Petrus Aureo-

li sich keiner Willensäußerung enthält, sondern stets will und weiß.

So will er alle Menschen retten und er weiß, wer gerettet wird und

wer nicht. Dass nicht alle gerettet werden, beruht nicht wie bei Duns

Scotus auf einer Willensenthaltung, sondern auf einem „zweiten“

Willen Gottes, der vorschreibt, dem göttlichen innigen Willen doch

nicht den Vorzug gegenüber dem göttlichen Wissen zu geben.425

Aureolis Position, dass es Sätze gibt, die weder wahr noch falsch

sind, war ein wichtiger Meilenstein der franziskanischen Freiheits-

theologie. Sie hat Anfang des 14. Jh. an der Pariser Universität für

eine eingehende Beschäftigung mit der Wahrheit von Widerspruchs-

paaren gesorgt, die aus Sätzen über die Zukunft bestehen.

422 1 Tim 2,4. 423 Vgl. die relevanten, kritisch noch unedierten Stellen aus dem ersten Buch

von Aureolis Sentenzenkommentar bei Halverson, Franciscan Theology, 6-7.

424 Vgl. Halverson, Franciscan Theology, 8. 425 Für dieses Verständnis der Lehre Aureolis und ihrer Beziehung zur Lehre

des Duns Scotus über die futura contingentia vgl. das dritte Kapitel von Halverson, Peter Aureol on Predestination, Kapitel 3. Ebenda, 90-91, nennt Halverson die Lehren von Duns Scotus pelagianistisch und von Aureoli ei-nen Versuch, zwischen Pelagianismus und Determinismus eine mittlere Po-sition zu beziehen.

167

Die Pariser Kritiker Peter Aureolis in der ersten Hälfte des 14. Jh.,

d.h. die Vertreter der neoaugustinischen Position, der zu Folge Gott

im voraus bestimmt, welcher Teil eines Widerspruchspaares aus kon-

tingenten Zukunftssätzen wahr und welcher falsch wird, waren

GUIDO TERRENA, ein Karmelit, ferner MICHAEL VON MASSA und

GREGOR VON RIMINI, zwei Augustinermönche.426

Aber es gab an der Pariser Artistenfakultät auch Franziskaner, die

sich explizit gegen Aureolis radikale Position wandten und diese in

ihren Sentenzenkommentaren zu widerlegen versuchten. Die einen

hielten am indeterministischen, aristotelischen Grundtenor fest, den

Duns Scotus und Peter Aureoli vorgegeben hatten, die anderen nah-

men deterministische Positionen ein. Eigentlich argumentierten

gleich alle drei direkten Pariser Nachfolger Aureolis im Amt des

Franziskaner-Sentenzen-Kommentators (sententiarii), LANDULPH

CARACCIOLO, FRANZISKUS VON MARCHIA und FRANZISKUS VON

MEYRONNES,427 gegen die Position Aureolis über die futura contin-

gentia. Die Lehre des einzigen Spiritualen unter diesen Nachfolgern,

Franziskus von Marchia, über die futura contingentia war erwar-

tungsgemäß deterministisch. Die Positionen beider anderen waren

von scotistischem Voluntarismus geprägt.

Landulph Caracciolo optierte für einen scotistischen Voluntarismus,

der es in seinen Augen zuließ, dass Gott alle kontingenten Sätze über

die Zukunft gleichgültig (neutra) sind, solange er seinen Willen be-

züglich des Ausgangs der Ereignisse noch nicht geäußert hat, die

diese Sätze beschreiben.428

Franziskus von Marchia schloss sich deterministischen Ansichten an.

Er legte fest, dass der einzige Unterschied zwischen einer kontin-

genterweise und einer zwingend verursachten Wirkung folgender ist:

426 Die Diskussion fasst Schabel, Early Carmelites, 160-161, kurz zusammen.

Für einen Überblick über die Sekundärliteratur s. a.a.O., 160, Fußnote 27. Zur neoaugustinischen Position vgl. außerdem vorliegende Arbeit, Kap. 9.4.

427 Schabel, Landulphus Caracciolo and a Sequax, 301-302, schätzt, dass Peter Aureoli 1316-18 über die Sentenzen las, während Landulph Caracciolo, Franziskus von Marchia und Franziskus Mayronnes dieser Reihe nach je ein akademisches Jahr zwischen 1318 und 1321 gelesen haben. Diese Chrono-logie ist nicht wasserdicht, hat aber eine sehr große Plausibilität.

428 Landulph Caracciolo, In primum Sententiarum, d. 38, a. 1, Opinio propria, in: Schabel, Landulphus Caracciolo and a Sequax, pp. 312-313.

168

Bei jeder kontingenterweise verursachten Wirkung gab es Momente,

in denen diese genauso wie ihr Gegenteil hatte determiniert werden

können. Es gab aber keine Momente, in denen ihr Gegenteil determi-

niert wurde. Bei jeder zwingend verursachten Wirkung gab es weder

Momente, in denen ihr Gegenteil hatte determiniert werden können,

noch Momente, in denen ihr Gegenteil determiniert wurde.429

Kontingenz kann nicht bedeuten, argumentiert er im selben Kontext

gegen Peter Aureoli, dass dieses Zukunftsereignis indeterminiert ist.

Denn, wenn das Zukunftsereignis doch eintritt, dann ist es sowohl

determiniert als auch indeterminiert gewesen. Höchstens könne Kon-

tingenz bedeuten, dass dieses Zukunftsereignis und sein Gegenteil

gleichzeitig determiniert sein können. Es kann im Rahmen der vor-

liegenden Arbeit nicht näher darauf eingegangen werden, aber es ist

dennoch erwähnenswert, dass Franziskus’ Argumente (die viel mehr

besagen, als hier angedeutet) schlüssig sind – gar beeindruckend,

wenn man bedenkt, dass sie ohne symbolisches Instrumentarium

formuliert wurden.

Allerdings musste Franziskus einen intuitiv wenig plausiblen Neben-

effekt seiner Lehre hinnehmen: Ein kontingentes Zukunftsereignis ist

determiniert, sagt er, in Anbetracht seiner Ursachen, die bereits der

Vergangenheit angehören. Diese haben sich sozusagen zu seinen

Gunsten ausgewirkt. Höchstens von den Ursachen des Zukunftser-

eignisses, die selber zukünftig sind, ist es noch unklar, ob sie eintre-

ten und dieses determinieren oder nicht. Aber auch diese sind deter-

miniert in deren Ursachen, die der Vergangenheit angehören. Eine

letzte Chance für die Indeterminiertheit wären zukünftige Ursachen,

deren Determination ins Unendliche zurückreicht. Gibt es solche?

Die Frage stellt Franziskus explizit,430 ohne sie zu beantworten. Ob-

wohl sie im Text als Aporie erscheint, darf sie keine sein. Da alle

Ursachen eine Erstursache haben (im christlichen Kontext ist dies

mit Sicherheit anzunehmen) muss die Antwort negativ ausfallen, was

alle zukünftigen Ursachen insofern determiniert macht, als deren

Ursachen der Vergangenheit angehören. Dass Franziskus hier immer

429 Franziskus von Marchia, Scriptum in primum Sententiarum, d. 35, Opinio

propria, in: Schabel, Ch., Il determinismo di Francesco di Marchia, pp. 78-84.

430 Für das ganze Argument vgl. ebenda, Contra opinionem Petri Aureoli, p. 75.

169

noch Raum für ein bestimmtes Verständnis der Kontingenz zu finden

vorgibt, schwächt seinen Determinismus nicht ab.

Ein ganzes Bündel von antideterministischen Positionen, von der

averroischen und byzantinischen Position, der zufolge Gott nur von

zukünftigen Allgemeinprozessen weiß, über die Position des Duns

Scotus, dass er etwas nicht weiß, solange er sich eines aktiven Wol-

lens enthält, bis zur Position des Peter Aureoli, dass Zukünftiges aus

Gottes Sicht weder wahr noch falsch ist, lehnt schließlich Franziskus

unter Bezugnahme auf Augustin ab:

Hätte Gott nicht mit Bestimmtheit den Teil eines Widerspruchspaa-res [aus kontingenten Zukunftssätzen] erkannt, der wahr sein wird, sondern nur, dass entweder der eine oder der andere Teil wahr sein wird, dann hätte Gott etwas Neues zu erkennen angefangen, was er früher nicht erkannt hätte. Das passt nicht zusammen, da er nach dem fünften Kapitel von Augustins Genesis-Kommentar „Eingetre-tenes nicht auf andere Art erkennt als Einzutretendes“.431

Dass Augustin hier als Autorität gegen den Aristotelismus des Peter

Aureoli ins Feld geführt wird, ist bezeichnend auch für die spätere

Polemik gegen Aureolis Lehre. Die Auseinandersetzungen um diese

Lehre sollten sich nicht auf die Sentenzenkommentare beschränken,

die Anfang des 14. Jh. an der Pariser theologische Fakultät produ-

ziert wurden. Sie erreichten ihren Höhepunkt erst ein Jahrhundert

später im Löwener Streit.432

Nicht nur Aureolis Position über die kontingenten Sätze über die Zu-

kunft war von Anfang an umstritten. Auch der scotistische Volunta-

rismus wurde von den Scotisten oft abgeschwächt.433

Eine Abschwächung des scotistischen Voluntarismus bis zur Un-

kenntlichkeit ist bei PETER THOMAE († um 1340) zu finden. Dieser

gestand zugunsten des Determinismus ein, dass der göttliche Intel-

lekt die kontingenten Zukunftsereignisse als zwingend einzutretende

Ereignisse erkennt. Von Scotus behielt Peter Thomae den Grundsatz

bei, dass das erst der Fall sein kann, nachdem Gott diese Ereignisse

431 Ebenda, p. 77. 432 Vgl. vorliegende Arbeit weiter unten in diesem Kapitel sowie Kap. 9.4. 433 Zur frühen scotistischen Literatur speziell zum Thema göttliches Voraus-

wissen und kontingente Zukunftsereignisse vgl. Schwamm, Das göttliche Vorherwissen, passim.

170

gewollt hat.434 Man kann allerdings leicht zeigen, dass das Einge-

ständnis bereits zu groß ist, um irgendetwas von Scotus echt beibe-

halten zu können.

Nach Peter Thomae will Gott vordergründig („in primo instanti“),

dass folgender Satz wahr wird: „Petrus wird morgen dort sitzen“.

Der Futursatz ist ein kontingenter Satz, der eine Tendenz des göttli-

chen Willens verrät – zwar gibt es keine andere Tendenz, aber dazu

gleich mehr. Hintergründig („in secundo instanti“) erkennt aber Gott

die Wahrheit der Konjunktion: „Petrus wird morgen dort sitzen und

Petrus sitzt dort, wenn morgen heute wird“. Dadurch werden die Be-

hauptung, dass ein Ereignis kontingenterweise zutage tritt, und die

Behauptung, dass genau dasselbe Ereignis zwingend zutage tritt

(während etwas geschieht, ist es nach Aristoteles zwingend, dass es

geschieht)435 gemeinsam wahr oder falsch und es kann nicht sein,

dass die eine Behauptung ohne die andere wahr bzw. falsch wird.

D.h. Sätze über die Ereignisse, die dem göttlichen Willen nach sco-

tistischer Manier gleichgültig sind, sind mit Sätzen äquivalent, die

zwingend einzutretende Ereignisse ausdrücken und die Gott als sol-

che natürlich erkennt. Entweder lässt man sich den Widerspruch ge-

fallen, oder man optiert für einen Kontingenzbegriff, der keine Kon-

tingenz im eigentlichen Sinne ausdrückt. Peter Thomae optierte für

die zweite Möglichkeit.

Peter Thomae spielte z.B. die von Scotus geforderte große Rolle des

göttlichen Willens für die Entscheidung kontingenter Sätze über die

Zukunft noch weiter herunter, als er dafür plädierte, dass das hinter-

gründig von Gott Gewollte, nichts anderes ist, als das, was Gott nach

seinem Wesen zutage treten lassen musste. Der göttliche Wille über

die Wahrheit oder Falschheit der Sätze der o.g. Art ist nach Peter

Thomae keine Willkür, sondern ein Wille nach den Vorgaben der

göttlichen essentia.

Exakt zur selben Zeit entstand in Byzanz eine Theologie, der Pa-

lamismus, der göttliches Handeln nicht unter der Vorgabe der göttli-

434 Peter Thomae, In primum librum Sententiarum, d. 39, pars 2, a. 2, in: Scha-

bel, Peter Thomae’s Question p. 31, [§ 87]. 435 Aristoteles, De interpretatione, 19 a 23-24. Peter Thomae zitiert diese Aris-

toteles-Stelle ebenda, d. 39, pars 2, a. 1, Contra istam distinctionem, p. 27, [§ 72].

171

chen ousia (in diesem Kontext ist die göttliche ousia damit gleichzu-

setzen, was die Lateiner „essentia“ nannten), sondern als von ihr los-

gelöst betrachtete.436

Die größte Affinität zum scotistischen Voluntarismus verlieh dem

Hesychasmus THEOPHANES VON NIZÄA († nach 1370), ein eher ge-

mäßigter Vertreter dieser byzantinischen theologischen Richtung.

Theophanes meinte, dass Gott Optionen über den Ausgang eines Er-

eignisses tatsächlich offenstehen, noch kurz bevor dieser endgültig

eintritt.437 Daraus zieht Theophanes den Schluss, dass kein Ereignis

seit aller Ewigkeit feststeht.438 Vor der Realisierung einer erhofften

Möglichkeit stellt z.B. nach Theophanes die Erfüllung der Hoffnung,

die diese Möglichkeit darstellt, kein Ereignis dar, sonst hätte Gott

dieses Ereignis aus seiner Güte heraus schon vorher realisieren müs-

sen.439 Um alle Ereignisse der Gegenwart zu realisieren, muss Gott

nach Theophanes in jeden Gegenwartsmoment eingreifen. Vor jedem

Moment hegt Gott keinen Willen über diesen Moment und vor ihrer

Realisierung ist keine Möglichkeit näher daran, sich zu realisieren,

als die gegenteilige Möglichkeit.440 Die Kontingenz macht nach

Theophanes der Umstand aus, dass Gott für jeden bevorstehenden

Moment, lauter alternative Optionen offen stehen, die als Wider-

spruchspaare formuliert sind. Erst wenn der fragliche Moment zum

gegenwärtigen wird, entscheidet sich Gott für je eine Option aus je-

der Alternative bzw. für die Wahrheit je eines Satzes im entspre-

chenden Widerspruchspaar. Erst dadurch steht die jeweils andere

Option nicht mehr offen bzw. erst dadurch ist der andere Satz des

entsprechenden Widerspruchspaares falsch.

Bei der scotistischen wie bei der hesychastischen Lehre geht es um

Theologien, die in der Bejahung der göttlichen Freiheit ein paar ver-

blüffende Gemeinsamkeiten teilen. Soviel man heute weiß, sind die-

se Gemeinsamkeiten auf keine verborgenen Kontaktlinien zwischen

436 Für eine ausführlichere Behandlung der palamitischen Lehre über das gött-

liche Handeln vgl. Kap. 8.5 der vorliegenden Arbeit. 437 Theophanes von Nizäa, Apodeixis, cap. 1. 438 Ebenda, cap. 15-16. 439 Ebenda, cap. 11-12. 440 Ebenda, cap. 3665-82.

172

beiden Strömungen zurückzuführen. Die ersten Erwähnungen von

Scotus in den griechischen litterae tauchen erst im 15. Jh. auf.441

Während aber die Hesychasten in Byzanz die palamitische Lehre von

der unberechenbaren göttlichen Freiheit mehr und mehr radikalisier-

ten, misslang es im Westen dem Scotismus, sich als Mainstream zu

behaupten. 1340-44 las GREGOR VON RIMINI († 1358) über die Sen-

tenzen in Paris, dem wichtigsten Zentrum dieser theologischen Aus-

einandersetzungen, und traf mit seinen neoaugustinischen, determi-

nistischen Ansichten zum thematischen Komplex Freiheit und Gnade

offensichtlich den Nerv der Zeit. Daraufhin wurde in Paris die neo-

augustinische Theologie zu einer sehr ernstzunehmenden Alternati-

ve.442 Es ist charakteristisch, dass PETER VON CANDIA/PHILARGI (†

1410), ein Scotist und Franziskaner kretischer Abstammung (in den

Quellen oft unter dem Namen ALEXANDER V. anzutreffen, den er als

Gegenpapst getragen hat) seinen Scotus mit eher relativistischen Äu-

ßerungen verteidigt.

Dieser Peter von Candia besprach in seinem Sentenzenkommentar443

die indeterministischen Antworten verschiedener Autoren, aus-

schließlich Franziskaner, auf die Frage, ob Gott unfehlbar und mit

Bestimmtheit über den Ausgang kontingenter Zukunftsereignisse

weiß. Diese sind die Lehren von JOHANNES DUNS SCOTUS, PETER

AUREOLI und JOHANNES VON RIPA.444 Ferner führte er Gegenargu-

mente zweier weiterer Franziskaner gegen Scotus an, diejenigen von

WILHELM VON OCKHAM (für seine Positionen gegen Scotus aber

auch über Zukunft und Willensfreiheit s. weiter unten) und RICHARD

BRINKLEY (ca. † 1379). Nachdem er gegen die antiscotistischen Po-

sitionen Ockhams und Brinkleys argumentierte, bemerkte Peter von

Candia, dass alle Positionen zwar unbefriedigend seien, die scotisti-

sche jedoch den Intellekt mehr zufrieden stelle.445

441 Georg Scholarios, Commentarium Thomae Aquinae De ente et essentia,

proem81n; ders., Epistulae contra unionem Florentinam, epist. 2, p. 13936. 442 Für mehr über das Aufblühen des Augustinismus in Paris vgl. vorliegende

Arbeit, Kap. 9.4. 443 Peter von Candia, In I Sententiarum, q. 6, a. 2. 444 Ebenda, q. 6, a. 2, §§ 31-168. 445 Ebenda, q. 6, a. 2, §§ 169-230.

173

Der politisch radikale Franziskaner WILHELM VON OCKHAM († zw.

1347 u. 1349) war zwar nicht neoaugustinischer Ansichten in der

Frage nach der Bestimmtheit der Sätze über die Zukunft, schloss

aber die von Duns Scotus herausgestrichene Willensenthaltung Got-

tes aus. In seinem Sentenzenkommentar besprach Ockham ausführ-

lich eine Lösung des Scotus in puncto Unbestimmtheit der kontin-

genten Zukunftsereignisse.446 Ockham meinte, dass das Hauptargu-

ment des Scotus darin liegt, dass Gott jederzeit zwischen Gegentei-

len wählen könne. Ockham entgegnete, Gott könne doch nicht wäh-

len, etwas anderes gewollt zu haben, als er tatsächlich wollte.447 Fer-

ner hielt es Ockham für absurd, Gott mit Duns Scotus einerseits als

ein Wesen anzunehmen, das von jedem Wissensobjekt eine sichere

und unfehlbare Erkenntnis habe, von etlichen Wissensobjekten ande-

rerseits anzunehmen, unterdeterminiert bzw. kontingent zu sein. Si-

chere und unfehlbare Erkenntnis über einen Sachverhalt gehe, so

Ockham gegen Scotus, mit der durchgängigen Bestimmtheit der

Wahrheit des Satzes einher, der den Sachverhalt ausdrückt.448

Daraus folgt, dass es keine kontingenten Sätze sein können, deren

Wahrheit Gott unfehlbar und sicher erkennt. Denn die aristotelische

Orthodoxie besagt nach Ockham, dass die kontingenten Sätze über

die Zukunft wahrheitsunbestimmt sind449 – eine Position, die mit

Ockhams eigener Lehre über die Unbestimmtheit der futura contin-

gentia aus der Summa logicae übereinstimmt.450 Bereits in seinem

Sentenzenkommentar hatte Ockham behauptet, dass es unmöglich ist

446 Wilhelm von Ockham, In librum primum Sententiarum. Ordinatio, d. 38, q.

unica, Opinio Scoti, Bd. 4, pp. 573-578. Vgl. Johannes Duns Scotus, Ordi-natio I (textus compositus), d. 38, q. 2 sowie d. 39, qq. 1-5, Bd. 6 der Editio Vaticana (Balić), appendix A, pp. 416-428. Dass der göttliche Wille sich neutral zu einem Willensobjekt verhalten könne, meint zwar Scotus auch hier, aber viel verdeckter als in der Reportatio I A.

447 Wilhelm von Ockham, In librum primum Sententiarum. Ordinatio, d. 38, q. 1, Contra opinionem Scoti, Bd. 4, pp. 578-579.

448 Ebenda, pp. 581-582. 449 Wilhelm von Ockham, Summa logicae, pars III-3, cap. 32, p. 710; ders., In

librum primum Sententiarum. Ordinatio, d. 38, q. unica, Bd. 4, pp. 584-587. 450 Auf eine Darstellung von Ockhams Lehre insbesondere muss hier verzichtet

werden. Vgl. aber Craig, William Ockham on Divine Foreknowledge.

174

zu wissen, ob Gott ein Wissen über den Ausgang der kontingenten

Zukunftsereignisse hat.451

Wenn es unmöglich ist, so etwas zu wissen, weiß es auch Ockham

nicht. Aber er stimmt mit Thomas von Aquin überein, dass Gott ein

unfehlbares und unmittelbares Wissen über alle kontingenten, zu-

künftigen Einzelereignisse auf evidente, bestimmte und notwendige

Art hat. Schließlich ist die Wahrheit des Glaubens nach Ockham eine

andere als die philosophisch begründete Wahrheit.452 Dass sich Ock-

ham angesichts des unbestimmten Wahrheitswerts der Sätze über

kontingente Zukunftsereignisse außerstande sieht zu erklären, wieso

das der Fall sein kann,453 spricht aus christlicher Sicht – vorausge-

setzt, es ergibt irgendeinen Sinn, zwischen Wahrheiten der Vernunft

und Wahrheiten des Glaubens zu unterscheiden – nicht gegen diese

Wahrheit des Glaubens.

Ohne Rücksicht auf die mit einer Trennung zwischen „Wahrheiten

der Vernunft“ und „Wahrheiten des Glaubens“ zusammenhängenden

Schwierigkeiten lässt Ockham in seinem Sentenzenkommentar fol-

gende Frage offen: Laut der Wahrheit des Glaubens soll Gott einer-

seits über ein sicheres Wissen über die zukünftigen Ereignisse verfü-

gen, das die Prädestination ermöglicht, andererseits sollen diese Er-

eignisse kontingent sein! Wie ist das möglich?

In seiner Schrift De praedestinatione454 versuchte Ockham, eine

Antwort auf diese Frage zu geben,455 und zwar eine andere als die

451 Wilhelm von Ockham, In librum primum Sententiarum. Ordinatio, d. 38, q.

unica, Opinio propria auctoris, Bd. 4, p. 584: “Deus certitudinaliter et evi-denter scit omnia futura contingentia. Sed hoc evidenter declarare et modum quo scit omnia futura contingentia exprimere est impossibile omni intellec-tui pro statu isto”. Eingehend mit dieser Stelle sowie mit den Konsequenzen aus derselben beschäftigt sich Decorte, Sed modum exprimere nescio, 158-159.

452 Wilhelm von Ockham, Summa logicae, pars III-3, cap. 32, pp. 710-712. 453 Wilhelm von Ockham, In librum primum Sententiarum. Ordinatio, d. 38, q.

unica, Opinio propria auctoris, Bd. 4, pp. 584-585: „Philosophus [dicit] quod Deus non scit evidenter et certitudinaliter aliqua futura contingentia […]. [T]enendum est quod Deus evidenter congnoscit omnia futura contin-gentia. Sed modum exprimere nescio“. Vgl. auch ebenda, d. 39, q. 1, art. 3, arg. 3.

454 Ockham, De praedestinatione, q. 1, ad 8, p. 513; dt. Übersetzung: Perler, Prädestination, 23.

175

von Thomas von Aquin. Den Propheten Jona und Nahum456 ist die

Zerstörung der Stadt Ninive mit folgender Voraussage offenbart

worden: „Wenn die Bürger Ninives nicht sühnen, wird Ninive zer-

stört“. Prophezeit ist in diesem Sinne der Folgesatz: „Ninive wird

zerstört“, falls der Vordersatz zutrifft: „Die Bürger Ninives werden

nicht sühnen“, nicht aber auf alle Fälle.

Wegen dieser Position wurde Ockham kritisiert, nach ihm würden

sich die göttlichen Voraussagen von den menschlichen kaum unter-

scheiden.457 Diese Kritik ist natürlich fehlgeleitet. Nach der soeben

geschilderten Position Ockhams über Gottes Wissen von den futura

contingentia hat die Prophezeiung: „Wenn die Bürger Ninives nicht

sühnen, wird Ninive zerstört“ zu gelten, da Gott diesen Satz als mit

Bestimmtheit wahr erkennt. Wenngleich ein logisch kontingenter

Satz, ist er daher in einem Sinne zwingend wahr.458 Aber von keiner

menschlichen Voraussage über die Zerstörung Ninives oder über

irgend ein kontingentes Ereignis, kurz: von keinem menschlicher-

seits behaupteten Konditional über die Zukunft lässt sich geltend

machen, dass es in diesem Sinne zwingend zutreffen wird.

Dass die göttliche Prophezeiung im Sinne eines Konditionals zwin-

gend wahr ist, ist zudem harmlos für die Freiheit von Ninives Bür-

ger. Laut göttlicher Voraussage, kann es nicht der Fall sein, dass die

Bürger Ninives ihre Sünden nicht einsehen, ohne dass Ninive zer-

stört wird. Aber es kann z.B. passieren, dass die Bürger Ninives ihre

Sünden einsehen und dass Ninive nicht zerstört wird. Das Konditio-

nal ist dann sowohl im Sinne von Ockhams Interpretation des Kondi-

tionals bzw. im Sinne der klassischen Logik wahr.459 Die Bürger

455 Als erster moderner Autor hat meines Erachtens Boehner, Ockham’s

Tractatus de praedestinatione, 438-441, auf diese Antwort aufmerksam ge-macht.

456 Jona 3,4; Nah 3,1-3. 457 Diese Kritik machte der Ockham-Schüler Adam Wodeham. Sie wird von

Gaskin, Peter of Ailly and other Fourteenth-Century Thinkers, 276-277, diskutiert.

458 Vgl. auch Øhrstrøm, Anselm, Ockham and Leibniz, 216. 459 Nach Boehner, Does Ockham Know etc., hat Ockham die wahrheitsfunktio-

nale Definition des materialen Konditionals vorweggenommen. D.h. das Konditional ist nach Ockham genau dann wahr, wenn der Vordersatz falsch oder der Folgesatz wahr ist. Für die Wahrheitsbedingungen des Konditio-

176

Ninives können sühnen oder nicht sühnen und Ninive kann zerstört

oder nicht zerstört werden, ohne dass die Wahrheit und die Notwen-

digkeit des Konditionals gefährdet sind.

Menschliche Voraussagen lassen natürlich mehr offen als nur das.

Eigentlich lassen sie viel zu viel offen, was die göttliche Prophetie

im Sinne Ockhams nicht offen lässt. Bei einer menschlichen Voraus-

sage über Ninive wäre nicht einmal davon auszugehen, dass Ninive

tatsächlich zerstört wird, wenn ihre Bürger nicht sühnen. Bei einer

göttlichen Prophezeiung ist davon auszugehen. Ockham vorzuwer-

fen, göttliche Prophezeiungen mit menschlichen Voraussagen

gleichzusetzen, ist also ungerecht.

Ockhams Lehre in De praedestinatione kann als ein Versuch gewer-

tet werden, die Kontingenz und göttliche Allwissenheit zu vereinba-

ren. Gott ist demnach allwissend und er offenbart uns sogar Einiges

davon, was er weiß. Er offenbart es uns aber in Form von Konditio-

nalen. Alle Konditionale, die uns Gott vermittelt, sind wahr. Welche

davon einen wahren Folgesatz haben, ist unserem menschlichen In-

tellekt aber unklar.

Gott offenbart nach Ockham sowohl (zwingend wahre) Konditionale

mit wahren Folgesätzen als auch (ebenso zwingend wahre) Konditi-

onale mit falschen Folgesätzen. Wir Menschen sind nur über unseren

Glauben in der Lage, sie als evidenterweise wahr zu erkennen,460

denn der Folgesatz des Konditionals bleibt ein kontingenter Satz

über ein Zukunftsereignis.461

Wenn Ockham mit seiner Lehre über die Prophetie den offenen Aus-

gang des Vorausgesagten zugelassen hat, scheint er mit seiner Lehre

nals, bzw. der „Wenn..., dann...“-Ausdrücke in der mittelalterlichen Logik, insbesondere bei Wilhelm von Shyreswood, Petrus Hispanus, Raymund Lull und Wilhelm von Ockham vgl. Boehner, ebenda, passim.

460 Wilhelm von Ockham, Quodlibeta septem, quodl. 4, q. 4 (= Utrum Deus possit revelare alicui notitiam evidentem futurorum contingentium), Ad du-bium 3, p. 318.

461 Wenn jede Prophezeiung bereits als der Folgesatz eines Konditionals ver-standen wird, dann brauchen prophetische Voraussagen nicht kontingent zu sein, um die Unbestimmtheit des Zukünftigen zu gewährleisten, wie Calvin Normore, Future Contingents, 372-373, richtig bemerkt. Aber natürlich muss der Folgesatz kontingent sein, wenn die Prophezeiung nicht trivial sein soll.

177

über die absolute und die geordnete Macht Gottes das Gegenteil an-

zunehmen. Ockham ließ Gott nur per potentiam ordinatam wirken.

Wenn Gott per potentiam absolutam etwas kann, was er per potenti-

am ordinatam nicht kann, findet stets das statt, was per potentiam

ordinatam möglich ist.462

Aus dermaßen dissonanten Positionen ist nicht sofort einzusehen, ob

Ockhams Prädestinationslehre die Handlungsfreiheit bejaht. Er sel-

ber bekannte sich in seinem Kommentar des ersten Buches der Sen-

tenzen des Lombardus gegen den Pelagianismus – also gegen die

Erlangung des Heils durch eigene Verdienste des Menschen.463 Es

gibt Ockham-Kenner, die dazu tendieren, in Ockhams Prädestinati-

onslehre eine Bestätigung der unverrückbaren und von Gott durch-

geplanten Ordnung zu sehen.464 Dieses Ockham-Bild ist nicht unum-

stritten. Wie bereits bemerkt, enthielt sich Ockham in seinem Sen-

tenzenkommentar eines Urteils über die Art und Weise, wie Gott die

kontingenten Zukunftsereignisse erkennt. Zwar behauptete er, dass

diese Erkenntnis eine unfehlbare und gar notwendige465 sein müsste,

relativierte aber, dass Gottes vergangene Voraussagen über Zukünf-

tiges keine notwendige Erkenntnis betreffs kategorischer Sätze, son-

dern eine betreffs Konditionalsätze darstellen.

Der Semipelagianismus-Vorwurf gegen Ockham erscheint nicht völ-

lig ungerechtfertigt. In manchen Fällen prädestiniert Gott nach Ock-

ham bestimmte Personen mit einem eigens für sie bestimmten Akt

der Gnade zum Heil, in anderen jedoch erteilt er nur denjenigen das

Heil, die sich das ewige Leben verdient haben.466 Während also der

ockhamistische Gott den erstgenannten Personen seine Gaben will-

462 Vgl. die Analyse von Ockhams potentia absoluta-Lehre in Kap. 6.2. 463 Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sentantiarum (Ordina-

tio), d. 17, q. 1, Bd. 3, pp. 454-455. 464 Dem entsprechend sehen Dettloff, Die Entwicklung der Akzeptations- und

Verdienstlehre, 268 und Perler, Prädestination, 289, in Ockham einen Anti-pelagianisten.

465 Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sentantiarum (Ordina-tio), d. 38, q. 1, Opinio propria auctoris, Bd. 4, p. 584.

466 Ebenda, d. 41, q. 1, Bd. 4, pp. 606-607.

178

kürlich erteilt, scheint er bei seinem Umgang mit letzteren ein Semi-

pelagianer-Gott zu sein.467

Dieser Ansatz Ockhams wies den Weg zu einer weder voluntaristi-

schen und scotistischen noch thomistischen Prädestinationsauffas-

sung. Bezeichnenderweise warf der Ockham-Schüler ADAM WODE-

HAM († 1358) der thomistischen Prädestinationslehre Fatalismus und

Nezessitarismus vor.468

Ihre letzten Siege aber auch eine folgenreiche Verurteilung erfuhr die

franziskanische Freiheits-Theologie in der zweiten Hälfte des 15. Jh.,

als die Löwener Universität zum Schauplatz einer Debatte wurde, in

der von den einen für die aristotelische Orthodoxie und Aureolis Un-

bestimmtheit der Zukunft, von den anderen für die neoaugustinische

Rechtgläubigkeit und die Bestimmtheit der Zukunft argumentiert

wurde.469 Im Folgenden stelle ich die Argumente vor, welche im

Rahmen des Löwener Streites für die erstgenannten Positionen vor-

gebracht wurden. Die neoaugustinischen Positionen, welche die

Gegner Aureolis und der aristotelischen Orthodoxie in diesem Ge-

lehrtenstreit bezogen, bespreche ich im Kapitel 9.4.

467 Zu Ockhams Semipelagianismus vgl. Oberman, The Harvest of Medieval

Theology, 185-217. Aber auch gegen die semipelagianische Lesart von Ockhams Prädestinationslehre fehlen die Argumente nicht. Vgl. Halverson, Franciscan Theology, 13, Fußn. 31 und 32 für eine Literaturübersicht. Das hier von Halverson als unveröffentlicht angegebenes Manuskript von Rega Wood, das „Ockhams stärkste Verteidigung gegen den Pelagianismus-Vorwurf präsentiere“ ist inzwischen unter dem Titel publiziert worden: „Ockham’s Repudiation of Pelagianism“ (s. Literaturverzeichnis).

468 Adam Wodeham macht diesen Vorwurf in seinem Sentenzenkommentar, lib. II, d. 14, q. 3, Paris 1512, f. 120 vb – zitiert bei Boehner, Ockham’s Tractatus de praedestinatione, 436, Fußn. 34. Für die thomistische Prädes-tinationslehre vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.3.

469 Die Ereignisse schildern in den Einleitungen ihrer Editionen von Original-texten des Löwener Streites Léon Baudry, La querelle, 20-46 (englische Übersetzung: The Quarrel, 10-30) und Christopher Schabel, „Peter de Rivo and the Quarrel over Future Contingents“ [erster Teil], 371-415. Schabel scheut nicht die systematischen Fragen der Philosophie, zudem vertritt er einen viel neueren Forschungsstand als Baudry. Das Augenmerk von Baud-rys Einleitung ist darüber hinaus philologisch. Seine Chronik des Streites weist viele Inkonsistenzen und Ungewissheiten auf. Außerdem ist seine Re-konstruktion nicht frei von Missverständnissen. Deshalb ist bei der Lektüre seiner Einführung in die Originaltexte sehr große Vorsicht geboten.

179

PETER DE RIVO († 1499) ein Franziskaner und Lehrer der Artistenfa-

kultät an der Löwener Universität, verteidigte in verschiedenen Quo-

dlibets, die in der zweiten Hälfte der 60er Jahre des 15. Jh. stattfan-

den, immer wieder die These von Peter Aureoli, Peter von Candia

und Epikur (und, wie er dachte, von Aristoteles),470 wonach Sätze

über kontingente Zukunftsereignisse weder wahr noch falsch sind.471

Ein Beispiel, das Peter de Rivo gerne benutzte, war die Freiheit des

Apostels Petrus, Jesus doch nicht zu verleugnen, ehe der Hahn kräh-

470 Ob nach Aristoteles die Zweiwertigkeit an den Sätzen über kontingente

Zukunftsereignisse scheitert, ist bis heute nicht geklärt. Der Wortlaut des Seeschlacht-Beispiels im neunten Kapitel von De interpretatione liefert je-denfalls Anzeichen für den Indeterminismus der aristotelischen Orthodoxie im Mittelalter. Auf die sehr lange Diskussion, ob die aristotelische Orthodo-xie Recht hatte, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Hintikka, Necessity, Universality and Time; ders., The Once and Future Sea Fight, meint, dass das Ausbleiben „statistischer“ Möglichkeiten nach Aristo-teles gar nicht möglich ist. Das ist natürlich Determinismus. Die Position, dass Aristoteles entgegen der aristotelischen Orthodoxie eine deterministi-sche Auffassung von „möglich“ und „notwendig“ vertrat, teilen ferner Hin-tikka / Remes / Knuuttila, Aristotle on Modality, 13-58, und Sorabji, Neces-sity, Cause and Blame, 91 ff. Für eine indeterministische Lesart der Mög-lichkeitsauffassung von Aristoteles argumentierten dagegen Jacobi, State-ments about Events; van Eck, Another Interpretation; van Rijen, Aspects of Aristotle’s Logic of Modalities, 117-129; Strobach, Logik für die See-schlacht. In seinen Anmerkungen zu Aristoteles, Peri hermeneias, 314, meint Hermann Weidemann in de Rivos Verteidigung des „Standpunktes des Aristoteles“ „die klarsten Zeugnisse der traditionellen Interpretation [er meint die aristotelische Orthodoxie des Mittelalters] des [neunten] Kapitels [von De interpretatione]“ zu erkennen.

471 Über die Anlehnung des Peter de Rivo an Epikur, Peter Aureoli und Peter von Candia vgl. Peter de Rivo, Alius tractatus – Probatio, in: Baudry, La querelle, p. 79 (bzw. Baudry, The Quarrel, p. 46). In seinen Randbemer-kungen (Adnotationes marginales tractatui Francisci, § 24, hg. von Scha-bel, Peter de Rivo and the Quarrel over Future Contingents“ [zweiter Teil], 377-378) zum Tractatus brevis de futuris contingentibus, in: Baudry, La querelle, pp. 113-125 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, pp. 80-89) des Franziskus della Rovere, d.h. des späteren Papstes Sixtus IV., meint Peter de Rivo, dass die Position des Peter Aureoli zu den kontingenten Sät-zen über die Zukunft als keine Häresie gewertet werden kann, nachdem sie von Peter von Candia/Alexander V., einem – wenn auch als Gegenpapst umstrittenen – Pontifex, bestätigt worden ist. Über das Verständnis von Aristoteles’ Seeschlacht-Beispiel zuungunsten der Zweiwertigkeit bei Peter de Rivo vgl. Peter de Rivo, Alius tractatus – Probatio, in: Baudry, La que-relle, p. 81 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, p. 48).

180

te.472 Jesus hatte seinem Apostel vorausgesagt, er würde ihn verleug-

nen, ehe der Hahn kräht.473 Zu der Zeit, als Jesus sie ausgesprochen

hat, genau genommen: „ehe der Hahn krähte“, war diese Aussage

Jesu, so Peter de Rivo, weder wahr noch falsch. Petrus, Christi Jün-

ger, war also in der Zeitspanne vom Aussprechen der Prophetie

durch Jesus (und noch früher) bis zum Krähen des Hahnes frei, Jesu

Aussage falsch zu machen, d.h. seinen Meister nicht zu verleug-

nen.474 Dass Sätze über kontingente Zukunftsereignisse objektiv ge-

sehen weder wahr noch falsch sind, würde heißen, dass es auch die

Personen, die eine biblische Prophetie aussprechen, nicht wissen, ob

ihre Voraussage wahr oder falsch ist,475 da sie semantisch unbe-

stimmt ist. Speziell bei Jesu Wissensstand über den Ausgang der Si-

tuation brachte allerdings Peter de Rivo Vorsicht an, denn kraft sei-

ner göttlichen Natur hatte Jesus eine Erkenntnis des fraglichen Er-

eignisses als eines Gegenwartsereignisses.476 Mit anderen Worten

hat Jesus vorausgesagt, was Petrus im Haus des Hohenpriesters tun

würde, nicht weil von vornherein feststand, was Petrus tun würde

(hier gerade besteht nach Peter de Rivo ein großes Missverständnis

bezüglich biblischer Prophetie), nicht also weil Jesus ein Zukunfts-

wissen hatte, sondern weil er ein Gegenwartswissen über die Ver-

leugnung hatte, die Petrus einige Stunden später in Freiheit begehen

würde. Der Unterschied zwischen Gegenwarts- und Zukunftswissen

ist nach Peter de Rivo immens. Jesu Zukunftswissen über seine eige-

ne Verleugnung durch Petrus im Haus des Hohenpriesters würde aus

der Verleugnung eine unfreie Tat machen, weil im voraus feststünde,

dass sie stattfinden würde. Ein Gegenwartswissen über dieselbe

Leugnung lässt dagegen Petrus frei entscheiden.

Was Jesus also im Sinne eines Gegenwartswissens wusste, verifizier-

te, so Peter de Rivo, nicht die Zukunftsaussage im voraus: „Ehe der

Hahn kräht, wirst du mich heute dreimal verleugnen“, sondern die

472 Mt 26,69-75; Mk 14,66-72; Lk 22,56-62; Joh 18,12-27. 473 Mt 26,34; Mk 14,30; Lk 22,34. 474 Vgl. Peter de Rivo, Questio quodlibetica disputata anno LXVo Lovanii,

Baudry, La querelle, p. 76 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, p. 42).

475 A.a.O. 476 A.a.O. (englische Übersetzung: The Quarrel, 42-3).

181

Gegenwartsaussage: „Petrus verleugnet Jesus zum dritten Mal heute

und der Hahn hat noch nicht gekräht“ – als wohlgemerkt bereits fest-

steht, wie sich Petrus den lästigen Fragen entzieht, ob er denn Jesus

kenne. Da er also eine göttliche Natur hat (aber nur deswegen!), äu-

ßerte Jesus ein Gegenwartswissen. Er legte aber, so Peter de Rivo,

kein Zukunftswissen auf den Prüfstand, da kein solches möglich sei.

Nur insofern konnte Petrus Jesu Voraussage nicht falsifizieren. Dar-

aus schlussfolgert Peter de Rivo, dass die im christlichen Dogma

geäußerten Zukunftserwartungen, insofern sie Zukunftserwartungen

und keine Gegenwartsfeststellungen aus dem göttlichen Standpunkt

sind, zwar als sicher geglaubt werden müssen, aber noch nicht als

wahr gelten können.477

Diese Schlussfolgerung schafft einen Unterschied zwischen dem,

was man – einschließlich Gottes! – weiß, und dem, was wahr ist.

Diesen Unterschied betonte Peter de Rivo mit folgender Position: Es

gibt zwar kontingente Zukunftsereignisse, von denen bekannt ist,

dass sie der Fall sein werden; die Sätzen über kontingente Zu-

kunftsereignisse aber, welche die o.g. Zukunftsereignisse beschrei-

ben, haben keinen Wahrheitswert. Ein Beispiel Peters lautet: Wenn

es bekannt ist, dass eine Mondfinsternis eintreten wird, dann ist der

Satz wahr: „Wenn nichts den Lauf der Himmelskörper verhindert,

dann wird eine Mondfinsternis eintreten“, nicht aber der Satz: „Eine

Mondfinsternis wird eintreten“. Sätze über die Zukunft sind niemals

simpliciter wahr, sondern höchstens ex suppositione: Unter der Vo-

raussetzung, dass ein anderer, mit „wenn“ eingeführter Satz wahr

wäre.478

Dass Gott ausschließlich konditionale Voraussagen trifft, war eine

Idee, die auch Ockham vertrat (vgl. vorliegendes Kapitel, weiter

oben), ohne deswegen gleich als Häretiker gebrandmarkt zu werden.

Dass Wissen über einen Sachverhalt aber nicht die Wahrheit des Sat-

zes impliziert, die diesen Sachverhalt ausdrückt, sondern ausgerech-

net die Wahrheit eines Konditionals, in dem der fragliche Satz ledig-

lich als Folgesatz vorkommt, ist eine logische und religiöse Extrava-

477 Peter de Rivo, Responsiones, Baudry, La querelle, p. 97 (englische Überset-

zung: Baudry, The Quarrel, p. 65). 478 Peter de Rivo, Tractatus responsalis, cap. 178-92, in: Baudry, La querelle, p.

387.

182

ganz, die Peter de Rivo klar behauptete, um das göttliche Allwissen

mit der aristotelischen (oder als aristotelisch empfundene) Lehre

über den fehlenden Wahrheitswert von kontingenten Sätzen über die

Zukunft zu vereinbaren.

Rein formell hatte aber Peter de Rivo gute Gründe, auf eine Rücken-

deckung durch die Universitätsorgane zu hoffen. An der Löwener

Universität war 1447 eine Verpflichtung der Lehrer statutarisch fest-

gesetzt worden, Gespräche über die Lehre zu unterlassen, nach der

kontingente Sätze über Zukunftsereignisse schon im voraus einen

bestimmten Wahrheitswert haben. Verboten wurde außerdem die

Äußerung, dass die Lehre über die Unbestimmtheit der Zukunft ge-

gen den Glauben wäre.479 Aber es bestand Uneinigkeit darüber, ob

mit diesen Verboten etwas zur Sache präsupponiert wurde. Peter de

Rivo hat die Verbote so verstanden, dass sich die Löwener Universi-

tät in ihrer noch kurzen Tradition doktrinär der Unbestimmtheit der

Zukunft und der Selbstbestimmung des Handelnden verschrieben

hatte.480 Und tatsächlich hat er dafür plädiert, dass nur die Unbe-

stimmtheit der Zukunft vertretbar ist.

HEINRICH VON ZOMEREN († 1472), Lehrer der Theologie und Peters

Widersacher im Löwener Streit, wies darauf hin, dass das Verbot

nicht damit begründet war, dass die Lehre über die Unbestimmtheit

der Zukunft richtig und die gegenteilige unrichtig wäre. Er deutete

das Verbot als eine Verordnung ad hoc zur Vermeidung von Be-

schuldigungen gegen die Artistenfakultät, sie würde etwas gegen den

Glauben lehren.481 Er forderte nun eine endgültige Entscheidung

über Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Lehre über die Unbestimmt-

heit der Zukunft ein.

Die Artistenfakultät stand geschlossen hinter ihrem Mitglied Peter de

Rivo in dieser Frage. Aber die Frage betraf auch die Dogmatik und

479 Statutum universitatis Lovaniensis anno 1447, in: Baudry, La querelle, p. 68

(englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, p. 34). 480 Peter de Rivo, Alius tractatus, in: Baudry, La querelle, pp. 87-88. In Rita

Guerlacs englischer Übersetzung (Baudry, The Quarrel, 55) wird die Stelle aufgrund eines syntaktischen Fehlgriffs verdunkelt.

481 Heinrich von Zomeren, Tractatus adversus sententiam Petri de Rivo de futuris contingentibus, in: Baudry, La querelle, p. 298 (englische Überset-zung: Baudry, The Quarrel, p. 256).

183

sollte endgültig (auch die Universität empfand es so) von der theolo-

gischen Fakultät entschieden werden. Diese hat den Fall geprüft und

befunden, dass die aristotelische Position bzw. die Lehre für die Un-

bestimmtheit der Zukunft die richtige sei.482 Auch die Pariser483 und

die Kölner484 Theologen, an die sich Heinrich von Zomeren ebenfalls

gewandt hatte, waren der Auffassung, dass die Sätze über kontingen-

te Zukunftsereignisse weder wahr noch falsch seien. Heinrich von

Zomeren schien in der academia auf verlorenen Posten zu stehen.

Die Ansichten des Peter de Rivo beschäftigten ab 1470 auch Rom.

Beide Hauptakteure, Heinrich von Zomeren und Peter de Rivo ver-

sorgten den einflussreichen Kardinal BESSARION († 1472), einen in

die lateinische Kirche übergetretenen Byzantiner, mit Argumenten

für und gegen die Unbestimmtheit der Zukunft respektive. Bessarion

beauftragte zwei von ihm geschätzte Theologen, die Franziskaner

FRANZISKUS DELLA ROVERE, derzeit Kardinal, sowie FERNANDUS

VON CORDOBA, Expertisen über die Thesen des Peter de Rivo zu

schreiben. Eine dritte Stellungnahme, die auf Bessarions Bitten ver-

fasst wurde, ist anonym erhalten und stammt eventuell von einem

Dominikaner. Im Gegensatz zu den universitären Gutachten wurde

die Unbestimmtheit der zukünftigen Ereignisse in diesen Expertisen

abgelehnt. Ein Dialog wahrscheinlich aus dem Jahre 1471 zwischen

Bessarion, Franziskus della Rovere, Fernandus von Cordoba und

JOHANNES FOXAL sowie dem Dominikaner JOHANNES GATTUS über

die kontingenten Zukunftsereignisse ist informativ über den Diskus-

sionsstand im Kreis der Kirchenmänner, aus dem die Expertisen ka-

men sowie über die Facetten des Neoaugustinismus des späten 15.

Jh.485

482 Für den Wortlaut der Rückendeckung der Löwener Theologen für Peter de

Rivo vgl. Determinatio theologorum Lovaniensium, Baudry, La querelle, pp. 243-248 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, pp. 199-203).

483 Determinatio theologorum Parisiensium, in: Baudry, La querelle, pp. 249-58 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, pp. 204-212).

484 Determinatio facultatis theologiae Coloniensis, in: Baudry, La querelle, pp. 240-242 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, pp. 197-198).

485 Über Roms Eingriff in den Löwener Streit, ferner über den Inhalt und den neoaugustinischen Tenor der o.g. Traktate sowie des Dialogs, nicht zuletzt über die Personen wird im Kapitel 9.4. ausführlicher berichtet.

184

1474, drei Jahre nach seiner Besteigung des Papststuhls unter dem

Namen Sixtus IV., verurteilte schließlich der vorgenannte Franziskus

della Rovere die Thesen des Peter de Rivo. Die päpstliche Entschei-

dung kam einer Verurteilung des Indeterminismus von Petrus Aureo-

li gleich.

Der Löwener Streit zeugt von einer Kluft zwischen der akademi-

schen Theologie und der vorherrschenden Tendenz in der Kurie. In

ersterer herrschte offenbar ein Aristotelismus im Sinne von Scotus

und Peter Aureoli, in letzterer ein neoaugustinischer Platonismus.

Dieser wurde mit dem Aristotelismus nur unter Neuinterpretation des

Wortlautes von Aristoteles vereinbart.486

Über die rein semantische Frage nach dem Wahrheitswert der futura

contingentia hinaus hatte der Löwener Streit wichtige Auswirkungen

auf das Gnadenverständnis. Sowohl im älteren Statut der Löwener

Universität als auch in den Erklärungen des Peter de Rivo geht es

darum, die fatalistischen Lesarten der Prädestinationslehre bzw.

Wyclifs Häresie zu widerlegen.487 Es galt mit anderen Worten zu

begründen, dass das Heil nicht etwa unabhängig von den Taten des

Einzelnen oder durch die göttliche Gnade allein erlangt würde.

Während die academia aber mit ihrer Rückendeckung für Peter de

Rivo „konservativ“ aristotelistisch blieb, orientierte sich Rom, indem

es die Thesen des Peter de Rivo verurteilte, eindeutig am Prädestina-

tionsverständnis der frühen Reformtheologie, d.h. Wyclifs und Hus-

sens. Nur 1415 waren Wyclifs und Hussens Prädestinationslehre und

Fatalismus auf dem Konstanzer Konzil verurteilt worden488 und jetzt

wurden sechs Jahrzehnte später die radikalen Argumente gegen diese

Ausformungen des Determinismus verurteilt.

486 Vgl. z.B. die thomistische Aristoteles-Interpretation von Fernandus von

Cordoba, Tractatus, in: Baudry, La querelle, p. 162 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, p. 126). Vgl. ferner die thomistische Aristoteles-Argumentation im von Bessarion in Auftrag gegebenen anonymen Tracta-tus de veritatibus futurorum contingentium, in: Baudry, La querelle, 191-192 and 197-198 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, 155-156 and 160-161).

487 Für mehr über Wyclifs Prädestinationslehre vgl. Kap. 9.5 der vorliegenden Arbeit.

488 Über mehr zu Nezessitarismus, Fatalismus, frühe Reformbewegungen vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.5.

185

Dieser „reformerische“ (und offen deterministische) Zug des scho-

lastischen Mainstreams hatte sich bereits Mitte des 14. Jh. abge-

zeichnet. Zuvor war die franziskanische Freiheitstheologie von den

Neoaugustinisten Gregor von Rimini und Thomas Bradwardine als

semipelagianisch abgestempelt worden.489 „Pelagianisch“ oder „se-

mipelagianisch“ sind Bezeichnungen von Heils-, Tugend- oder Prä-

destinationslehren, die Ursachen für die Rettung des Menschen an-

geben, welche dem göttlichen Wesen äußerlich sind: etwa menschli-

chen Verdienst. Im Sinne Gregors und Bradwardines waren nur au-

gustinisch geprägte Prädestinationslehren orthodox; solche nämlich,

die als Ursachen für die Rettung des Menschen nur solche annimmt,

die von Gott allein herrühren.490

Der Pelagianismus ist eine Häresie. Deshalb ist es nicht verwunder-

lich, dass selbst franziskanische Freiheitstheologen sich von ihm we-

nigstens äußerlich distanzierten. Sie pflegten zu verdeutlichen, dass

menschliches Heil nicht von menschlichem Verdienst, sondern von

Gott allein abhängig war.491 Aber oft überzeugten sie nicht ihre Kri-

tiker zu ihrer vom Pelagianismus gepflegten Distanz.

Allerdings ist es für die Idee des selbstständigen menschlichen Han-

delns nicht unbedingt wichtig, ob die Prädestination, d.h. das dem

Menschen im voraus zugeteilte Heil bzw. die dem Menschen im vo-

raus zugeteilte Verdammnis durch die Gnade Gottes oder durch

menschlische Verdienste bedingt ist. Bei Duns Scotus z.B. ist die

489 Für eine ausführliche Diskussion der neoaugustinischen Prädestinationsleh-

re vgl. Kap. 9.4 der vorliegenden Arbeit. 490 Für einen Überblick der Polemik Gregors und Bradwardines gegen das, was

sie als den neuen Pelagianismus von Duns Scotus, Peter Aureoli und Wil-helm von Ockham ansahen vgl: Halverson, Peter Aureol on Predestination, 158-171; Burger, Der Augustinschüler; Leff, Bradwardine and the Pelagi-ans, passim; Schüler, Prädestination, 39-69; Vignaux, Justification et prédestination. Argumente dahingehend, dass der Pelagianismus-Vorwurf gegen Ockham sachlich falsch war, bringen vor: Wood, Ockham’s Repudia-tion of Pelagianism; dies., Ockham on the Virtues, 234; Leff, William of Ockham: The Metamorphosis, 494-496.

491 Peter Aureoli meinte z.B., nicht was sich ein Mensch verdiene, prädestiniere ihn zum Heil, sondern der Wille Gottes prädestiniere, dass jeder, der sich verdient gemacht habe, zum Heil prädestiniert werde. Vgl. hierzu die von Halverson, Franciscan Theology, 12, Fußn. 29, angeführte Stelle des ersten Buches von Aureolis Sentenzenkommentar.

186

Antwort darauf nebensächlich. Da sich Gott nach Duns Scotus einer

präzisen Willensäußerung auch enthalten kann, bleibt der Mensch

frei, Taten zu vollbringen, die in Gottes Willen unbestimmt geblie-

ben sind, während er zum Rest prädestiniert ist.

8.5. Handlungsfreiheit im Palamismus

Im 14. Jh. war der Hesychasmus eine im byzantinischen Osten be-

reits alte Lehre über die Askese. Die Hesychasten waren im öffentli-

chen Leben unscheinbare Mönche, die das Gebet als einen den gan-

zen Tag dauernden, inneren Monolog verstanden. Dieses Leben-als-

Gebet-Konzept basierte auf einem expliziten Monismus in der Leib-

Seele-Problematik – deshalb sind die Körperhaltung, der Einsatz der

Atemwege sowie der Rhythmus für die richtige Ausübung des hesy-

chastischen Gebets genauso wichtig wie das mystische Erlebnis.

Im Gebet und nach der Einhaltung strenger Fastenregeln sollte den

Hesychasten die seligmachende Vision eines Lichtes gelingen, das

sie als das Taborlicht der Verklärung Christi und als direkte Got-

teserfahrung betrachteten. Anzeichen einer hesychastischen Gebets-

praxis sind bis zum 5. Jh. zurückzuverfolgen. Erste Ansätze einer

hesychastischen Theologie stellten die Werke SYMEONS DES NEUEN

THEOLOGEN († 1022) dar. Symeon fokussierte auf die Einheit von

Körper und Seele beim Gebet, an dessen Ende die seligmachende

Vision des Taborlichtes steht.

Die endgültige theologische Untermauerung dieser mystischen Rich-

tung des östlichen Christentums lieferte erst im 14. Jh. GREGOR PA-

LAMAS († 1359), ein Zeitgenosse von Wilhelm von Ockham, Gregor

von Rimini und Meister Eckhart.492 1316 siedelte der junge Konstan-

492 Die heutige orthodoxe Theologie zelebriert in Gregor Palamas den „größten

griechischen Theologen des Mittelalters“ (Meyendorff, A Study of Gregory Palamas, 115). Dieses Urteil, das die meisten, wenn nicht alle, wichtigen orthodoxen Theologen des 20. Jh. teilten: Lossky, Bulgakov, Staniloae, Flo-rofsky, Meyendorff, Zizioulas, Romanides und Yannaras, klingt viel weni-ger prätentiös als es eigentlich ist. Man beachte, dass geradezu alle mittelal-terlichen Theologen und Kirchenmänner der Ostkirche im mittellateinischen und im heute geläufigen Sprachgebrauch als Griechen gelten. Für zwei re-serviertere, weil nicht orthodox gefärbte Darstellungen der Theologie des Gregor Palamas vgl. Kuhlmann, Die Taten des einfachen Gottes sowie Wil-liams, The Ground of Union.

187

tinopler Höfling in ein hesychastisches Kloster auf der Athos-

Halbinsel über. Gregor hatte zuvor an der kaiserlichen Hofschule in

Konstantinopel ein Studium absolviert, das mit Sicherheit die Fächer

Dialektik, Bibel- und Väterauslegung, Naturlehre und Rhetorik ab-

deckte – obwohl sich über den genauen Inhalt dieser Fächer wenig

mit Sicherheit sagen lässt. Gregors Schriften verraten jedenfalls

Kenntnisse über die aristotelische Philosophie. Es gibt zudem Anzei-

chen dafür, dass Gregor mit dem Gedankengut slawischer Ketzer in

Berührung gekommen war.493

Für der Häresie verdächtig hielt den Hesychasmus BARLAAM VON

KALABRIEN († 1350), ein sowohl in der griechischen als auch in der

lateinischen Theologie bewanderter Mönch aus Süditalien. Barlaam

wird wohl ein italienischer Graecus gewesen sein. Da die Bettelor-

den in den gräkophonen und früher vom Byzanz gehaltenen Gebieten

der italienischen Halbinsel schon seit dem 13. Jh. verstärkt missio-

nierten, bedeutet das „Grieche“-sein allerdings nicht automatisch,

dass Barlaam nicht in der Westkirche aufgewachsen und erzogen

war. Barlaams Entscheidung allerdings, nach Konstantopel zu zie-

hen, lässt mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuten, dass er ein Mut-

tersprachler des Griechischen sowie ein Ostchrist von klein auf war.

In Konstantinopel stieg er zum Höfling und kaiserlichen Berater auf.

1335 gab er ebendort zwei sogenannte Antilateinische Traktate her-

aus, die aber in ihrer Form eher an quaestiones quodlibetales erin-

nern. Sie sind aus der Niederschrift seiner Disputationen mit zwei

Dominikanern ein Jahr zuvor hervorgegangen, die als Abgesandte

des Papstes in Konstantinopel fungierten.494 Erwartungsgemäß fehl-

ten in den Antilateinischen Traktaten nicht die Einwände gegen den

Papstprimat, am interessantesten sind aber Barlaams skeptische bzw.

agnostische Argumente gegen den Thomas von Aquin zugeschriebe-

nen Anspruch, über Gott Wissen zu erlangen bzw. Demonstrationen

aus Prämissen über Gott zu führen.

493 Das Wirken bulgarischer Messalianer ist für die Region des Berges

Pangaion in der Nähe des heute griechischen Kavala an der ostmakedoni-schen Küste belegt, wo sich Gregor aufhielt, bevor er nach Athos ging.

494 Lange nur aus Handschriften bekannt, wurden diese Aufzeichnungen von Barlaams Disputationen mit Francesco da Camerino, O.P. und Richard von England, O.P. endlich 1998 ediert unter den Titeln: Tractatus A und Tracta-tus B, in: Barlaam von Kalabrien, Opere contro i Latini.

188

Die Antilateinischen Traktate scheinen, sich unter dem gehobenen

Klerus und den Gelehrten schnell verbreitet zu haben.495 Gregor Pa-

lamas hat sie jedenfalls kurz nach ihrem Erscheinen gelesen.

Barlaams Skeptizismus galt nicht nur der scholastischen Theologie,

sondern jeglicher Art von Wissensansprüchen in bezug auf Gott.

Aber solche Ansprüche äußerte auch der Hesychasmus, indem er von

einer Erfahrung Gottes in der seligmachenden Vision sprach. In sei-

nem Briefwechsel mit Gregor Palamas brachte Barlaam Argumente

gegen die Erfahrbarkeit Gottes vor. Aus der Korrespondenz zwi-

schen beiden Männern wurde schnell ein Austausch von polemi-

schen Schriften mit schroffem Stil. Barlaam betrachtete in diesem

z.B. die Hesychasten nicht als gleichberechtigte aber irrende Ge-

sprächspartner, wie er etwa dominikanische Missionare ansah, son-

dern als trostlose Fälle der Unbildung. Und Gregor Palamas benutzte

das Wort „Philosoph“ in bezug auf Barlaam manchmal, indem er auf

dessen Fehler in der Aristotelesinterpretation hinwies – ironisch also.

Barlaams Kritik am Hesychasmus wurde sehr schnell von sehr ein-

flussreichen Persönlichkeiten des geistigen Lebens aufgegriffen, et-

wa von GREGOR AKINDYNOS († 1349) und NIKEPHOR GREGORAS (†

1360).

Palamas betrachtete diese Konstantinopler Zeitgenossen, allen voran

Barlaam, als selbstgerechte Philosophielehrer, welche die aristoteli-

sche Dialektik missbrauchten, um das religiöse Feld zu erkunden, wo

jene nur bedingt geeignet sei.

Nach Gregor Palamas sei der Skeptizismus in Religionssachen unge-

rechtfertigt. Die Erfahrbarkeit Gottes sei z.B. eine sichere Erkenntnis

495 Über die geistigen Voraussetzungen von Barlaams Argumentation und seine

Zuordnung in der Philosophiegeschichte lässt sich streiten. John Meyen-dorff, Introduction à l’etude de Grégoire Palamas, 323-324, 350, meinte, dass Barlaams Argumente eine nominalistische Grundhaltung voraussetzen. Diese Auffassung bestritten John Romanides, Notes on the Palamite Cont-roversy, 188, 192, 194, der in Barlaam einen neoplatonischen Neoaugusti-ner sah, und Lowell Clucas, Eschatological Theory in Byzantine Hesy-chasm, 326-327, der in seinem Werk dagegen ostkirchliche Theologie ohne nennenswerte lateinische Einflüsse erkannte. Ein gewisse Nähe der Argu-mente Barlaams zu den radikal-franziskanischen Polemiken gegen Thomas von Aquin ist ohne Weiteres festzustellen. Die Frage ist, ob diese Nähe zu-fällig ist oder etwas mit der Schulung Barlaams in Süditalien zu tun hat, von der nichts bekannt ist, außer dass sie stattgefunden hat.

189

der Theologie. Die negative Theologie, d.h. die Lehre darüber, was

Gott nicht ist, stelle keine Widerlegung der doktrinären Theologie

dar.496 Die doktrinäre Theologie sei eine legitime Wissenschaft, da

sie sich gültiger aristotelischer Demonstrationen bediene.497

Gregors Verteidigung der Wissenschaftlichkeit der Theologie ge-

genüber Barlaam von Kalabrien und Gregor Akindynos gab den An-

stoß für die bedeutende ideengeschichtliche Episode, die heute in

den byzantinischen Studien HESYCHASTENSTREIT (1336-1351)

heißt.498 Da er sich durch Argumentation und Thematik des Streites

von der Scholastik herausgefordert sah (in den byzantinischen Geg-

nern des Hesychasmus sah er Scholastiker, die eher zufällig keine

Lateiner waren), versuchte Gregor Palamas, die hesychastische The-

ologie unter Verwendung thomistischer Begrifflichkeiten wie „We-

sen Gottes“, „Eigenschaften Gottes“, „Gott als Handlung“ usw. so-

wie mit Bezugnahmen auf das Organon zu verteidigen. Bei diesem

Instrumentarium ist es unumgänglich, dass die hesychastische Theo-

logie des Gregor Palamas an vielen Stellen die Gestalt eines scholas-

tischen Widerlegungsversuchs gegen den von Barlaam vertretenen

Skeptizismus, in kleinerem Maße gegen den Thomismus annimmt.

Auf die Aristoteles- und Scholastik-Rezeption in der palamitischen

Theologie ist in der Literatur erst jüngst hingewiesen worden.499 Das

ist aber keine übliche zeitgenössische Darstellung des Palamismus.

In Palamas sieht die heutige Forschung trotz dessen Argumentations- 496 Vgl. z.B. Gregor Palamas, Physica, theologica, moralia et practica capita

CL, cap. 123, PG 150, coll. 1205-1208. 497 Ausführlicher auf Gregors Argumentation zu diesem Punkt gehe ich in mei-

nem Aufsatz: The Controversy, 163-168, ein. 498 Es wird allgemein die Meinung vertreten, dass der Hesychastenstreit den

einflussreichsten und wirkungsmächtigsten Gelehrtenstreit in der spätbyzan-tinischen Geistesgeschichte darstellt. Viele orthodoxe Theologen sind der Meinung, dass der Hesychastenstreit die Geschichte der Ostkirchen von der Spätantike bis heute so tief wie sonst nur sehr wenige historische Episoden und Debatten prägte. Ausführlich dargestellt wird der Hesychastenstreit aus theologiehistorischer Sicht bei Podskalsky, Theologie und Philosophie in Byzanz, 124-173. Für Besprechungen des historischen Umfeldes sowie der Quellen vgl. Schirò, Ai primordi; Meyendorff, Humanisme nominaliste; ders., A Study of Gregory Palamas; Sinkewicz, The Doctrine of the Know-ledge of God; Kapriev, Philosophie in Byzanz, 253-256.

499 Vgl. Gerogiorgakis, The Controversy; Demetracopoulos, Nikolaou Kabasila kata Pyrrhōnos, 67.

190

lehre, die viel mit Thomas und Aristoteles teilt, den Geist orientali-

scher Misologie bzw. orthodoxer Mystik – je nach konfessionellem

oder ideologischem Standpunkt.

So wenig es einen Zweifel gibt, dass Gregor Palamas ein Mystiker

war, so verwunderlich ist doch das fehlende Unterscheidungsvermö-

gen eines großen Teils der Forschung, der nicht längst aufgefallen

ist, dass Palamas seine Mystik zwar auf das hesychastische Gebet

aber nicht unbedingt auf alle Facetten des Hesychastenstreits geltend

machte.

Ebenfalls gegen das Unterscheidungsvermögen der heutigen Diskus-

sion über den Hesychastenstreit spricht der Umstand, dass Begriffe

wie „scholastisch“ und „palamitisch“ in dieser Diskussion im Sinne

einer Schwarz-Weiß-Malerei benutzt werden: hier die echte intellek-

tuelle Disziplin und Anstrengung, da das Scheinwissen – wer was ist,

bestimmt natürlich wieder der eigene Standpunkt. Jedenfalls tendiert

die Forschung dazu, am Hesychastenstreit die angeblich von der

Newa bis zur südlichen Adria reichende Kulturgrenze zu erkennen.

Nicht nur soll Gregor Palamas im Sinne der Kulturgrenze als ein

Exot aus scholastischer Sicht gelten. Auch Barlaam muss als „West-

ler“ abgestempelt werden. Als wichtige Indizien dafür dienen die

Ablehnung der Kirchenunion durch palamitische Theologen und

Barlaams Hinwendung zur Westkirche. Viele sehen in Barlaam trotz

dessen Kritik an der Scholastik einen von der intellektuellen Haltung

her westlichen Scholastiker – darüber sind sich meist römisch-

katholische und orthodoxe Theologen einig.500

Die Indizien gegen diese Darstellung des Hesychastenstreits sind

aber zahlreich. Meines Erachtens sind sie überwiegend. Dass die pa-

lamitische Theologie aristotelische und scholastische Züge trägt, ist

bereits gesagt. Auch die Wahrnehmung Barlaams als Scholastiker

lässt sich nicht belegen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit

den Inhalten bei Barlaam unabhängig von der gegen ihn gerichteten

Polemik aus palamitischer Sicht dürfte genügen, um zu überzeugen,

dass diese Wahrnehmung inakkurat ist. Barlaam war ein – zugege-

500 Demetracopoulos, Nikolaou Kabasila kata Pyrrhōnos, 180-183, Anm. 159,

nennt zahlreiche Beiträge zu Barlaam, die diesen als einen Thomisten dar-stellen – wahrscheinlich nur weil dieser der Ostkirche den Rücken kehrte und der Westkirche u.a. als Bischof des kalabresischen Gerace diente.

191

benermaßen ungewöhnlicher – byzantinischer Theologe, dazu ein

Fideist, der ein zu enges, weil szientistisches Verständnis der Berei-

che hatte, auf welche das aristotelische Organon Anwendung findet.

Zu diesen Bereichen gehörte nach ihm nicht die Theologie. Diese

Haltung verbindet ihn mit der Ende des 13. Jh. in der lateinischen

Theologie recht verbreiteten Thomas-Kritik, während der Szientis-

mus (aber das ist sehr pauschal) Assoziationen mit dem Nominalis-

mus hervorruft.501 Es ist jedenfalls ungewiss, ob Barlaam von diesen

Strömungen der Scholastik direkt beeinflusst wurde.

Zurück zur palamitischen Theologie: Ihre wichtigsten Lehren möchte

ich kurz zusammenfassen.

Die substanziellen Eigenschaften Gottes: Allmacht, Allwissenheit,

Ewigheit usw. bringen zum Ausdruck, was Gott beständig zukommt.

Da aber Gott nur Beständiges zukommen kann, scheint alles, was

nicht zu den substanziellen Eigenschaften Gottes gehört, keine Ei-

genschaft Gottes zu sein. Also besitzt der einfache Gott keine Akzi-

denzien.502

Soweit entspricht die Analyse des Wesens Gottes durch Gregor Pa-

lamas der Theologie des Johannes von Damaskus und auch der des

Thomas von Aquin. Thomas von Aquin hatte ebenfalls argumentiert,

Gott sei ein einfaches Wesen ohne Akzidenzien.

Thomas von Aquin hatte daraus den Schluss gezogen, dass Gott als

allgütig nicht umhin kann, dem Diktat seiner Natur zu folgen. Gott

ist seinem Wesen nach nichts anderes als reines, gutes Handeln

schlechthin.

Gregor Palamas lehnte die von Thomas von Aquin zugrunde gelegte

Einheit des Wesens und des Handelns Gottes ab. Wäre Gott nämlich

verpflichtet, dem Diktat seiner gütigen Natur zu gehorchen, dann

würde dieses als Gottheit in Gott wirken.503 Gott wäre beim Handeln 501 In einem sehr pauschalen Sinn hat Meyendorff, Humanisme nominaliste,

wie ich finde, Recht mit der Behauptung, bei Barlaam von Kalabrien gebe es ein nominalistisches Gedankengut.

502 Gregor Palamas, Physica, theologica, moralia et practica capita CL, cap. 127 und 145, PG 150, coll. 1209 und 1221 respektive (deutsche Überset-zung: Philokalie, Bd. 4, pp. 408 und 417-418 respektive).

503 Ebenda, cap. 141-143, PG 150, col. 1220 (deutsche Übersetzung: Philoka-lie, Bd. 4, pp. 415-417).

192

nicht frei, beliebig unter den ihm vorliegenden Optionen zu wählen.

Das kann aber nach Gregor Palamas nicht sein.504 Vielmehr meint

Gregor, dass Gott in inneren Widersprüchen verfangen und auch in

der Lage ist, anders zu handeln, als ihm seine gute Natur diktiert.

Das geschieht, nicht weil er einem anderen Diktat, sondern weil er

durchaus keinem Diktat, nicht einmal seinem inneren, gehorcht.

Gottes Handeln stellt eine von Gott an die Geschöpfe ausgestrahlte

Wirkung („energeia“) dar.505 Diese energeia, oder vielmehr ener-

geiai Gottes (im Plural) sind weder von Gottes Natur abhängige Ge-

schöpfe, noch Akzidenzien der göttlichen Natur, noch sind sie Teile

von Gottes Natur. Sie sind Gottes Merkmale ad extra. Das setzt vo-

raus, dass es Dinge gibt, eben diese energeiai, die weder Substanzen

noch Akzidenzien sind. Darin liegt wohl das größte ungelöste Prob-

lem der palamitischen Theologie.

Für die energeiai benutzt Gregor Palamas die Metaphern der Son-

nenstrahlen und der Sonnenwärme. Um der Wirkung der Sonne teil-

haftig zu werden, so Palamas, muss der Mensch in der Lage sein

hinauszugehen, um die Sonne auf sich wirken zu lassen. Wie bei der

Wirkung der Sonne auf die Menschen, so gibt es auch im Fall der

göttlichen Wirkung „blinde“ Augen und „schattige“ Plätze, so dass

die göttlichen Gaben an einem vorbei gehen können. Der Mensch

kann die göttliche Wirkung annehmen oder ablehnen.506 Durch diese

Wirkung allein erhält man die Gnade und wird auserwählt. In seinen

Schriften Dialog zwischen einem Orthodoxen und einem Barlaami-

ten sowie Für die heiligen Hesychasten äußert Gregor Palamas die

These, dass die Gnade Gottes kein Wesen, folglich auch nicht das

504 Ebenda, cap. 128, PG 150, coll. 1209-1211 (deutsche Übersetzung: Philoka-

lie, Bd. 4, p. 409). 505 Für den palamitischen Terminus „energeia“ sind die Übersetzungsvarian-

ten: „Akt“ und „Handlung“ im Anschluss an die scholastische Theologie die verbreitetsten, aber auch die Übersetzung: „Energie“ ist vorgeschlagen wor-den. In dieser Arbeit verwende ich je nach Kontext die deutschen Termini „Wirkung“ und „Handlung“.

506 Gregor Palamas, Physica, theologica, moralia et practica capita CL, cap. 92-94, PG 150, coll. 1185-1188 (deutsche Übersetzung: Philokalie, Bd. 4, pp. 390-491).

193

Wesen Gottes ist, sondern eine auf die Schöpfung „ausgestrahlte“

Wirkung („energeia“).507

Die Gnade ist nach Palamas kein aufgedrängtes Geschenk („donum“)

im Sinne einer Vorherbestimmung von Taten und (scheinbar frei

gefassten) Absichten, die für die Prädestination unerlässlich wäre,

wie sie bei einer Reihe von scholastischen Theologen verstanden

wurde.508 Vielmehr ist die Gnade nach Palamas ein frei zur Verfü-

gung stehendes Gut. Nicht nur der Person und Natur des Menschen

wegen erteilt Gott seine Gnade und sein Heil, sondern auch je nach-

dem, ob dieser an Jesus glaubt. Das sind nach Gregor Palamas ver-

schiedene Sachen.509 Im Urteil der Westkirche wäre das Erteilen der

Gnade nach einer eigenständig erworbenen Tugend wie z.B. der

Glaube an Jesus semipelagianisch. Aber wie bereits in dieser Arbeit

bemerkt worden ist, ist die Ostkirche zu keiner Zeit hart gegen

pelagianische Tendenzen vorgegangen.

Die scholastischen Lehren über die Erteilung des Heils betonten

entweder

i. dass es Menschen gibt, die zum Heil prädestiniert werden aber

auch Menschen, die selbstständig ihre Verdammnis heraufbe-

schwören (die reprobatio ist keine praedestinatio)510

oder

ii. dass es Menschen gibt, die zum Heil prädestiniert werden und

Menschen, die zur Verdammnis prädestiniert werden (die prae-

destinatio zum Bösen heißt reprobatio)511

oder

507 Zitiert bei Tselengides, Charē kai eleutheria, 29. 508 Peter Lombard, Sententiae, lib. I, d. 40, cap. 2; Gregor von Rimini, Lectura

super primum et secundum Sententiarum, lib. I, dd. 40 et 41, q. 1, a. 2, Con-clusiones quinque sowie: Prima conclusio probatur, Bd. 3, pp. 326-332.

509 Gregor Palamas, Homiliae, homilia 5, PG 151, col. 64 C-D. Vgl. auch Niko-laus Kabasilas, De vita in Christo, lib. VII, PG 150, col. 689 A.

510 Das ist die genuin augustinische Position. Vgl. Rottmanner, Der Augusti-nismus, 17. Für eine Diskussion zum Verhältnis zwischen praedestinatio und reprobatio s. vorliegende Arbeit weiter unten Kap. 9.3.

511 Das ist der Inhalt der Lehre der doppelten Prädestination. Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.4 und 9.5.

194

iii. dass alle Menschen zwar auserwählt sind, aber dass sie entweder

zum Heil oder zur Verdammnis neigen, so dass sie je nachdem

zum Guten „praedestinati“ (was aber nicht von aller Ewigkeit

feststeht) oder zum Bösen reprobati werden.

Der Punkt (i) gibt die thomistische, der Punkt (ii) die neoaugustini-

sche Position wieder. Der Punkt (iii) fasst die Gemeinsamkeiten der

franziskanischen Freiheitstheologie zusammen. Alle drei Positionen

sind im Westen etwa zur gleichen Zeit aufgestiegen – in der ersten

Hälfte des 14. Jh. Es ist dieselbe Zeit, als der Palamismus im Osten

aufstieg.

Zwar lagen zu dieser Zeit die Anfänge des Thomismus, das Werk

des Thomas von Aquin, fast ein Jahrhundert zurück. Aber Thomas

war im 13. Jh. noch nicht die Autorität, als die er sich im 14. Jh. her-

ausgestellt hat. Der Neoaugustinismus stellte zwar eine Exegese-

Schule dar, aber im Endeffekt brachte er im 14. Jh. etwas Neues in

die Theologie ein. Die franziskanische Freiheitstheologie war im 14.

Jh. eine neue Strömung mit total neuen Ideen, stellte aber im We-

sentlichen einen liberalen Aristotelismus dar.

Der franziskanischen Freiheitstheologie, die oben schematisch unter

(iii) zusammengefasst wurde, steht die palamitische Gnadenlehre am

nächsten, allerdings ohne gegenseitige Beeinflussungen. Auch der

Palamismus verstand sich zunächst als Exegese. Allerdings war er

etwas mehr als bloß Exegese. Wenn es einen Sinn macht, das Hege-

lianer-Klischee der „philosophischen Synthese“ zu benutzen, dann

war der Palamismus eine.512

Die Betonung der menschlichen Eigenständigkeit haben der Pa-

lamismus und die franziskanische Freiheitstheologie gemeinsam.

Dabei unterscheiden sich die Terminologien: Was Duns Scotus, Pe-

ter Aureoli und Wilhelm von Ockham „Prädestination“ nennen, hat

große Ähnlichkeiten damit, was bei Palamas „Gnade“ heißt. Auch

darüber, wie diese Gnade erteilt wird, gibt es zwischen der franzis-

kanischen Freiheitstheologie und dem Palamismus Unterschiede.

Aber der Primat der menschlichen Freiheit gegenüber der Vorbe-

stimmung ist bei beiden Schulen ähnlich.

512 Als eine „Synthese“ der byzantinischen Philosophie bezeichnet den Pa-

lamismus Kapriev, Philosophie in Byzanz, 11, 249.

195

Das soll nicht besagen, dass (i) und (ii) etwa fatalistische Lehren wä-

ren. Sie sind einfach um größere Kompromisse zu Lasten der

menschlichen Willensfreiheit und zu Gunsten der (auf Gerechtigkeit

abgestimmten!) göttlichen Lenkung bemüht. Der Thomismus und

der Neoaugustinismus verfügen durchaus über einen Freiheitsbegriff.

Dieser ist aber unseren alltäglichen Intuitionen inadäquat. Während

der Thomismus und der Neoaugustinismus die göttliche Gerechtig-

keit unterstreichen, fällt das Augenmerk der franziskanischen Frei-

heitstheologie sowie des Palamismus auf die menschliche Willens-

freiheit. Mit (iii) wird ein unberechenbarer Gott in Kauf genommen.

Die o.g. Klassifikation ist sehr schematisch. Bei dieser verbleibt sehr

viel Freiraum für feinere Differenzierungen und Schattierungen in-

nerhalb der Ansätze (i), (ii) und (iii). Eine Differenzierung des An-

satzes (iii) ist bereits erwähnt worden. Sie stammt von Ockham und

besteht darin, dass Gott neben dem Vorgang, der unter (iii) beschrie-

ben wird, durchaus in der Lage ist, Menschen ohne Rücksicht auf

jegliche menschliche Neigung zum Heil zu bestimmen.513 Ockham

meint, dass Gott im Fall der Heiligen Jungfrau Maria seine besonde-

re Gnade ausgeübt hat. Hesychastische Theologen im Osten gaben in

der ersten Hälfte des 14. Jh., in derselben Zeit wie Ockham also, der-

selben Überzeugung Ausdruck: Gott sei in der Lage, in besonderen

Ausnahmefällen die vorübergehende geistige Entführung eines Men-

schen vorzunehmen, um ihn dann erneut in seine Eigenständigkeit

herzustellen.514 Die Wiederherstellung der Eigenständigkeit des

Menschen ist wichtig in diesem Kontext. Die geistige Entführung

kann höchstens eine pädagogische Funktion haben, aber die Ent-

scheidung für oder gegen Gott soll von dem in seiner Menschlichkeit

bzw. Eigenständigkeit wiederhergestellten Menschen getroffen wer-

den.515

513 Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sentantiarum (Ordina-

tio), d. 41, q. 1, Bd. 4, pp. 606-607. 514 Die Lehre bespricht Tselengides, Charē kai eleutheria, 50-51. Dort auch

Textverweise auf Joseph Kalothetos und Nikolaus Kabasilas. 515 Für die Gleichsetzung der Eigenständigkeit mit der Menschlichkeit im He-

sychasmus vgl. Nikolaus Kabasilas, De vita in Christo, lib. V, PG 150, 638 C. Patristisch lässt sich diese Gleichsetzung bei Basilius dem Großen, Epis-tolae, epistola 233, PG 32, col. 864 C sowie bei Maximus dem Bekenner, In

196

Es darf zuletzt der Umstand nicht außer Acht gelassen werden, dass

die Auseinandersetzungen zwischen Byzantinern und Lateinern un-

mittelbar vor, auf und nach dem großen Unionskonzil von Ferrara-

Florenz (1438-39), das auf diese Entwicklungen folgte, im Wesentli-

chen Auseinandersetzungen zwischen dem dominikanischen, thomis-

tischen Standpunkt auf lateinischer Seite und dem hesychastischen

Standpunkt auf byzantinischer Seite darstellten. Andere Strömungen

wie der byzantinische Thomismus oder die franziskanische Freiheits-

theologie spielten dabei keine Rolle. Bezeichnenderweise erwähnen

die griechischen Quellen vom Florentiner Konzil als einzigen fran-

ziskanischen Theologen Bonaventura.516 Ansonsten wurde, was la-

teinische Autoritäten anbetrifft, mit Augustin, Papst Gregor I. und

Thomas von Aquin argumentiert. Die scotistische und ockhamisti-

sche Theologie blieben außer Betracht.

Die mit der scholastischen Theologie vertrauten Byzantiner sahen

sich um die Zeit des Konzils gezwungen, sich entweder zum heimi-

schen Hesychasmus zu bekennen oder sich dem thomistischen „La-

ger“ anzuschließen – ob sie von Haus aus Thomisten waren oder

nicht. Bessarion,517 eher ein Platonist als ein Thomist, teilte die Be-

denken des Dominikaners Andreas von Rhodos gegen die hesychas-

tische Theologie.518 Georg Scholarios aber, ein byzantinischer Tho-

mist, schloss sich dem Hesychasten Markus von Ephesus an. Das

mag als ein Anzeichen dafür dienen, dass die Beteiligten die Kon-

zilsarbeit als eine Auseinandersetzung zwischen Mainstreams ver-

standen haben.

Es gibt weitere Anzeichen für die letztgenannte Feststellung. Georg

Scholarios, der als Berater am Florentiner Konzil teilnahm, paralleli-

sierte die Thomisten mit den Stoikern, die Scotisten mit den Aristote-

likern519 und meinte, dass mit Duns Scotus und Franziskus Mayronis

Librum de Divinis Nominibus Scholia, cap. 5, PG 4, 308 A untermauern. Auf Maximus bezieht sich Kabasilas selber.

516 Sylvester Syropoulos, Apomnēmoneumata, lib. VI, cap. 40, p. 3388. 517 Bessarion sollte später Kardinal werden, aber in jenem Moment war er noch

ein Mitglied der Ostkirche und sollte einer der byzantinischen Delegierten auf dem Florentiner Konzil werden.

518 Vgl. vorliegende Arbeit Kap. 11.7. 519 Georg Scholarios, Tractatus de processu Spiritus Sancti I, pars VI, p. 2275-7.

197

durchaus im Sinne der byzantinischen Theologie gegen den scholas-

tischen bzw. thomistischen Mainstream argumentiert werden konn-

te.520 Georg wusste also Differenzen innerhalb der Scholastik aufzu-

zeigen und die Positionen des byzantinischen Mainstreams den sco-

tistischen Positionen anzuschließen. Es wird wohl für immer ein Rät-

sel bleiben, warum er auf dem Florentiner Konzil nicht für eine Ar-

gumentationsstrategie in diesem Sinne plädierte. Eine solche Argu-

mentationsstrategie von byzantinischer Seite wäre eine interessante

Alternative. Sie wäre vielleicht eine captatio benevolentiae. Gleich-

zeitig würde sie einen gemeinsamen Nenner darstellen, eine Theolo-

gie, in der beide Traditionen, die lateinische und die griechische,

vom Anbeginn nicht weit voneinander entfernt waren.

Dass sie nicht gewagt wurde, obwohl bei den Byzantinern genug

Wissen von der anderen, der lateinischen Seite, bestand, zeigt, dass

der hesychastische Mainstream „zu Hause“ zwar nicht unumstritten

war, jedoch zur einzig vertretbaren Alternative wurde, sobald die

Lateiner, die den Hesychasmus als Außenstehende haben angreifen

können, als Gegner wahrgenommen wurden.

9. Ansätze gegen die Unbestimmtheit der Zukunft

9.1. Prädestination in der Frühscholastik

Wir haben gesehen,521 dass Johannes Eriugena im 9. Jh., ein Gelehr-

ter also, der noch unter dem Einfluss der griechischen litterae stand,

die Prädestination im Grunde genommen verneinte. Gegen Ende der

Frühscholastik, als dieser Einfluss nicht mehr so groß war bzw. im-

mer vereinzelter auftrat, wurde die Prädestinationslehre in der latei-

nischen Theologie rehabilitiert. In diesem Kontext wurde auf Au-

gustins Auffassung des Zeitbegriffs zurückgegriffen.

In seinem Traktat über die Übereinstimmung der Allwissenheit, Prä-

destination sowie Gnade Gottes mit der Willensfreiheit522 behauptete

ANSELM VON CANTERBURY († 1109), dass aus dem (in einem wenn- 520 Georg Scholarios, Commentarium Thomae Aquinae De ente et essentia,

proem. 521 Vorliegende Arbeit Kap. 2.3. 522 Anselm von Canterbury, De concordia, PL 158, coll. 507-542 (Ausgabe

Schmitt: pp. 245-288).

198

Satz auszudrückenden) Umstand, dass Gott das Eintreten eines Er-

eignisses will oder vorausweiß, notwendig folgt, dass dieses Ereignis

eintritt (was in einem Folgesatz auszudrücken ist). D.h. Anselm be-

hauptete, dass durch Gottes Willen und Vorauswissen nicht etwa der

Folgesatz, sondern die Folgerung – d.h. das „ganze“ Konditional –

notwendig wird. Nach Anselm treten die Ereignisse selber, die ge-

mäß Gottes Vorherwissen zustande kommen, nicht zwingend ein.

In einem Sinn zieht aber Gottes Vorherwissen doch noch Notwen-

digkeit nach sich: Gesetzt den Fall, dass Gott im voraus weiß, dass

etwas zustande kommt, dann folgt notwendig, dass dies zustande

kommt – aber es folgt nicht etwa, dass dies zwingend zustande

kommt.523 Einerseits bejaht Anselm damit nicht die Nezessitation,

d.h. das zustande kommende Ereignis hat nicht notwendig einzutre-

ten, da „nur“ die Folgerung, nicht aber der zutreffende Folgesatz

notwendig ist. Andererseits behauptet Anselm mit dieser Lehre, dass

die in der Folgerung ausgedrückte Prädestiniertheit unverrückbar ist.

Anselms Verständnis von Freiheit und göttlichem Vorherwissen im-

pliziert zwar keine logische Nezessitation, sie räumt aber auch nicht

den Verdacht des Fatalismus aus.524

Lateinische Autoren und mindestens ein griechischer Autor hielten

die Notwendigkeit der Folgerung für unbedenklich bzw. sie meinten,

dass sie kein vorausgesagtes Einzelereignis nezessitiert.525 Das gilt

natürlich für gewöhnliche Voraussagen. Denn unter bestimmten Vo- 523 Anselm von Canterbury, De concordia, q. 1, cap. 2-3, PL 158, coll. 509-512

(Ausgabe Schmitt: pp. 247-252); ders., Cur Deus homo, 2.17. 524 Für eine ausführlichere Behandlung dieser Schwierigkeit bei Anselm vgl.

Craig, St. Anselm on Divine Foreknowledge, 101-104. Irreführend ist bei Craig, ebenda, 100-101, seine Behauptung, dass Anselm eine (andere) Les-art des Fatalismus erfolgreich bekämpft.

525 Boethius, De consolatione philosophiae, lib. V, prosa 631; Alain von Lille, Theologicae regulae, PL 210, 652 C ff: „Necessarium est evenire, quod Deus praevidit, necessitate consequendi, non consequentis“; Wilhelm von Ockham, De praedestinatione, q. 1, ad 8, p. 513. Der Byzantiner Michael Glykas behauptete im 12. Jh., dass die Verursachung die Notwendigkeit ei-ner Folgerung darstellt. Gottes Erkenntnis impliziert nach Glykas nicht zwingend das Zutreffen des erkannten Sachverhaltes, es sei denn, Gott wür-de das, was er erkennt, auch verursachen. Aber auch Verursachtes ist nicht notwendig, sondern es gilt notwendig: Wenn Gott das und das verursacht, dann kommt das zustande – zu dieser Lehre von Michael Glykas vgl. vor-liegende Arbeit, Kap. 8.1.

199

raussetzungen lässt sich trotz Notwendigkeit der Folgerung der Ge-

danke der offenen, unbestimmten Zukunft beibehalten. Angenom-

men, folgendes Konditional gilt notwendig: „Wenn Jesus voraussagt,

dass er von Petrus verleugnet werden wird, dann wird Petrus ihn ver-

leugnen“. Wer nun die offene Zukunft befürwortet, behauptet die

Kontingenz aller zukünftigen Ereignisse. Er muss also festhalten:

„Möglicherweise wird Petrus Jesus verleugnen und möglicherweise

wird Petrus Jesus nicht verleugnen“. Das ist natürlich selbst mit der

Wahrheit des strikten Konditionals: „Es ist notwendig: Wenn Jesus

voraussagt, dass er von Petrus verleugnet werden wird, dann wird

Petrus ihn verleugnen“ vereinbar. Dass Petrus Jesus nicht verleugnet,

bleibt möglich, wenn Jesus keine Voraussage diesbezüglich trifft.

Die sich aufdrängende Frage ist allerdings, wie eine Absage an die

Nezessitation doch noch möglich ist, wenn von notwendigen Folge-

rungen ausgegangen wird, deren wenn-Satz per Annahme wahr ist.

Voraussagen nämlich, die in der Bibel Gott zugeschrieben werden,

sind im christlichen Kontext als wahr anzunehmen. Die Wahrheit des

wenn-Satzes des Konditionals: „Wenn Jesus voraussagt, dass Petrus

Jesus verleugnet, dann wird Petrus Jesus verleugnen“ wird z.B. in

der Bibel behauptet und muss infolge dessen von jedem Christen als

wahr angenommen werden. Nachdem Jesus seine Voraussage tat-

sächlich gemacht hatte, musste der Folgesatz: „Petrus wird Jesus ver-

leugnen“ auf alle Fälle wahr sein – jedenfalls nach der traditionellen

Logik.526

Gute Argumente, die diese nezessitaristische Konsequenz ausschal-

ten, sind in den scholastischen Quellen wohl nicht zu finden.527

526 Es lässt sich aus: „Es ist notwendig: Wenn Jesus voraussagt, dass er von

Petrus verleugnet werden wird, dann wird Petrus Jesus verleugnen“ und aus: „Selbst wenn Jesus voraussagt, dass er von Petrus verleugnet werden wird, wird Petrus Jesus möglicherweise verleugnen und möglicherweise nicht ver-leugnen“ unter der Voraussetzung, dass Notwendigkeit Aktualität impliziert (einer sehr naheliegenden Voraussetzung für die mittelalterliche Theologie) sehr leicht ein absurdum ableiten.

527 Das beste unter allen schlechten Argumenten dieser Art ist meines Erach-tens dasjenige, mit dem der griechische Konvertit Bessarion, In calumniato-rem Platonis, lib. III, cap. 30, den Nezessitations-Vorwurf gegen die Lehre von der Notwendigkeit der Folgerung Mitte des 15. Jh. entkräften wollte. Er wies darauf hin, „auf alle Fälle“ würde nicht „absolut notwendig“ bedeuten.

200

Willensfreiheit beim Menschen hat nach Anselm zu bedeuten, dass

der Mensch aus seiner momentanen Zeitperspektive heraus handelt,

ohne über die ewige, seit jeher bestehende Prädestination Gottes be-

züglich seiner eigenen Handlung zu wissen.528 Die menschliche Wil-

lensfreiheit ist bei Anselm nichts anderes, als eine Bezeichnung für

die (Vorsicht! Nicht Unbestimmtheit, sondern) Ungewissheit der

Zukunft bzw. die Unkenntnis der Prädestination menschlicherseits.

Die Zukunft ist damit nicht objektiv unbestimmt, sondern menschli-

cherseits ungewiss. Beim Handeln frei sein, bedeutet keine Freiheit

von jedem Zwang. Der Sünder handelt auch dann frei, wenn er sich

in den Zwang der Sünde hineinbegibt.529

Die menschliche Willensfreiheit ist, so Anselm weiter, mit der göttli-

chen Gnade vereinbar.530 Rechter Glaube und Verstand sind Ge-

schenke der Gnade, die stets von dem in freier Entscheidung gewähl-

ten guten Willen begleitet werden, mit demselben aber nicht gleich-

bedeutend sind.531 Man kann dies als eine Replik der augustinischen

Lehre gegen Pelagius auffassen: Das Heil wird nicht durch mensch-

liche Verdienste gewonnen, sondern durch die göttliche Gnade er-

teilt. Wer kraft der Gnade Gottes richtig glaubt und denkt, kann nicht

umhin, das Richtige zu wollen. Obwohl dieses Wollen durch die

Gnade bestimmt ist,532 ist es frei – so jedenfalls Anselm. Was die

Willensfreiheit des Menschen trotz dessen Unterwerfung unter die

göttliche Gnade ausmacht, ist im Endeffekt der Umstand, dass der

Mensch sich selbst beim Wollen als frei wahrnimmt.

HUGO VON SANKT VIKTOR († 1141) propagierte wie Anselm und wie

die spätere neoaugustinische Theologie eine unausweichliche göttli-

528 Anselm von Canterbury, De concordia, q. 1, cap. 4, PL 158, coll. 512-513

(Ausgabe Schmitt: pp. 252-253). 529 Anselm von Canterbury, Dialogus de libero arbitrio, PL 158, col. 491. 530 Anselm von Canterbury, De concordia, q. 3, cap. 2 [al. 12], PL 158, coll.

522-523 (Ausgabe Schmitt: p. 265). 531 Ebenda, q. 3, cap. 2 [al. 12], PL 158, col. 523 A (Ausgabe Schmitt: p. 265). 532 Die These, dass Entscheidungen aus dem freien Willen heraus sich ebenfalls

der göttlichen Gnade verdanken wie sonstige Qualitäten eines Individuums, war auch später ein wichtiges Element der neoaugustinischen Theologie. Vgl. Gregor von Rimini, Lectura super primum et secundum Sententiarum, lib. I, dd. 40 et 41, q. 1, a. 2, Conclusiones quinque sowie Prima conclusio probatur, Bd. 3, pp. 326-332

201

che Gnade.533 Es können nach ihm alle Prädestinierten und niemand

sonst außer den Prädestinierten die Gnade annehmen. Hugo hielt

darüber hinaus das Eintreten gegensätzlicher zukünftiger Alternati-

ven für real möglich. Das ist allerdings nur ein Lippenbekenntnis

gegen den Nezessitarismus. Denn gleichzeitig stellte Hugo fest, dass

Gott in einem anderen Sinne der Möglichkeit kontingente Möglich-

keiten für nichtig hält, die zum Schluss nicht zustande kommen.534

Hugo legte damit fest, dass es keine anderen Möglichkeiten gibt au-

ßer den realisierten.

Wenn es ein [kontingentes] Ereignis gäbe, das [früher] sein konnte und sich später trotzdem nicht ereignen konnte, eines, das zwar zu-künftig wäre, wovon aber im voraus bekannt war, dass es sich in Zukunft nicht ereignen würde, dann wäre das [vorherige] Voraus-wissen über dieses zukünftige Ereignis nicht etwa [im nachhinein] geändert, sondern es wäre niemals da gewesen. Was Gott also vor-bestimmte, dies ordnete er zu geschehen an und er hat nichts vorbe-stimmt außer dem, was sich in Zukunft ereignete.535

Diese Vorstellung der Möglichkeit, wonach die möglichen Ereignis-

se, die realisiert werden, die einzigen Möglichkeiten und damit Not-

wendigkeiten darstellen, sollte später auch von Abaelard mit Hin-

blick auf das diodorische Verständnis des Möglichkeitsbegriffs be-

fürwortet werden.

9.2. Die diodorische Möglichkeitskonzeption zu Beginn der Hoch-

scholastik

PETER ABAELARD († 1142) stellte die Frage, ob sich etwas anderes

ereignen könnte, als Gott vorgesehen hat. Diese Frage verneinte er

aufgrund der Allwissenheit Gottes: Könnte sich das Gegenteil davon

ereignen, was Gott vorsah, so würde sich Gott in seiner ursprüngli-

chen Vorsehung irren, was laut einer für Christen grundlegenden

Annahme ausgeschlossen sei: Gott ist allwissend. D.h. unter der Vo-

raussetzung, dass Gott voraussagt, dass p, folgt notwendig, dass p.536

533 Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis christianae fidei, lib. I, pars 2, cap.

21, PL 176, coll. 213 D-214 A. 534 Ebenda, lib. I, pars 2, cap. 17, coll. 212 D-213 A. 535 Ebenda, lib. I, pars 2, cap. 18, coll. 213 A-B. 536 Peter Abaelard, Theologia ‘Scholarium’, lib. III, §§ 106-107; 109, pp. 543-

544.

202

Damit behauptet Abaelard die Notwendigkeit der Folgerung aus Got-

tes Allwissen bzw. Vorauswissen auf das Eintreten der Sachverhalte,

von denen Gott weiß. Daraus zieht er aber unzulässigerweise den

Schluss, dass diese Sachverhalte selber nicht umhin konnten einzu-

treten.

Abaelards Autorität in diesem Kontext ist Boethius, der in seiner

Schrift Trost der Philosophie meinte, dass alles Zufällige, was zum

Schluss zustande kommt, zwar absolut genommen kontingent ist,

aber dass es notwendig folgt, gesetzt den Fall, dass Gott weiß, dass es

zustande kommt.537 Boethius vermeidet richtig aus dieser Notwen-

digkeit der Folgerung (= Wenn Gott weiß, dass ein Sachverhalt zu-

stande kommt, folgt notwendig, dass dieser Sachverhalt zustande

kommt) den Schluss zu ziehen, auch der Folgesatz (d.h. der Folge-

satz über den zustandekommenden Sachverhalt) träfe notwendig zu.

Er weist ja explizit darauf hin, dass dieser Folgesatz kontingent ist.

Bei Abaelard ist das nicht der Fall.

Ein übliches Beispiel der mittelalterlichen Philosophie für die Not-

wendigkeit der Folgerung lautet: Prognostiziert Jesus, von Petrus

verleugnet zu werden, dann folgt notwendig daraus, dass Petrus Je-

sus verleugnen wird. Dieses Konditional bleibt selbst dann wahr,

wenn Petrus Jesus in Wirklichkeit doch nicht verleugnet und Jesus in

Wirklichkeit keine Prognose trifft, dass er verleugnet werden wird.

In diesem Fall liegen z.B. zur Bestätigung der Notwendigkeit der

Folgerung im o.g. Konditional folgende Überlegungen nahe: Hätte

Jesus diese Prognose getroffen, dann würde das mit Sicherheit nach

sich ziehen, dass Petrus ihn verleugnet hätte. Aber zum Schluss hat

Jesus diese Prognose nicht getroffen, deshalb hat ihn Petrus nicht

verleugnet.

Nun fährt Abaelard mit der Feststellung fort, Gott könnte zwar eine

andere Prognose treffen, als die Prognose, die er trifft, aber es sei

falsch zu behaupten, Gott hätte eine falsche Prognose getroffen.

Wenn also Gott etwas prognostiziert, dann kommt das zustande.

Wenn also Gott keine Prognose getroffen hat, kann man einerseits

behaupten: „Prognostiziert Jesus, von Petrus verleugnet zu werden,

dann folgt notwendig daraus, dass Petrus Jesus verleugnen wird“, 537 Ebenda, § 108, pp. 544-545 unter Bezugnahme auf Boethius, De consolati-

one philosophiae, lib. V, prosa 631.

203

andererseits: „Petrus ist im Stande, Jesus nicht zu verleugnen“. Aber

das geht nicht mehr, wenn Gott bereits eine Prognose getroffen hat.

Petrus ist nicht im Stande, Jesus nicht zu verleugnen, da nichts an-

ders ausgehen kann, als Gott prognostizierte.

Abaelard äußert die letztgenannte Idee, weil er es unter Hinweis auf

Gottes Allwissenheit als Fehler ansieht, dass etwas sich anders hätte

zutragen können, als es sich zugetragen hat.538 Das kommt der dio-

dorischen Möglichkeitskonzeption gleich.

Was Abaelard eigentlich behauptet – auch wenn das auf den ersten

Blick nicht zu erkennen ist – ist, dass Boethius’ Notwendigkeit der

Folgerung mit Hilfe von Annahmen, die im christlichen Kontext zu-

nächst plausibel erscheinen, die Notwendigkeit des Folgesatzes im-

pliziert, wenn der Vordersatz göttliches Wissen zum Ausdruck

bringt. Diese Behauptung leuchtet nicht automatisch ein, denn von

Boethius’ Notwendigkeit der Folgerung bis zu dieser Möglichkeits-

konzeption, die besagt, dass sich nichts anderes hätte zutragen kön-

nen, als sich zugetragen hat, ist der Sprung riesig.539

Es folgt eine Rekonstruktion der Gedankengänge, die Abaelard ge-

macht haben könnte: Daraus, dass Gott weiß, dass p, folgt notwen-

dig, dass p, unabhängig vom Inhalt des Satzes p. Es bestehen theolo-

gische Gründe, bestimmte Sätze aus der Bibel, die sich auf die Zu-

kunft beziehen, als dieses p zu betrachten. Das Zutreffen eines Teils

dieser Sätze bzw. Voraussagen hängt von menschlichem Tun und

Lassen ab. Es stellt sich daher die Frage, wie frei die Menschen sind,

diese Voraussagen zu falsifizieren.

Als Petrus z.B. von Jesus erfuhr, dass er ihn verleugnen würde, galt

laut Notwendigkeit der Folgerung (die ja nach Boethius feststeht):

Wenn

A. Jesus weiß, dass Petrus ihn verleugnen wird,

dann folgt daraus notwendig:

538 Peter Abaelard, Theologia ‘Scholarium’, lib. III, § 113, p. 546. Für eine

ausführliche Besprechung dieser Positionen Abaelards vgl. Martin, Aba-elard on Modality.

539 Diesen thematischen Komplex bei Boethius, De consolatione philosophiae, lib. V, prosa 631, bespreche ich im Kap. 6.2 der vorliegenden Arbeit im An-schluss an die Boethius-Interpretation von Thomas von Aquin.

204

B. Petrus wird Jesus verleugnen.

Aber A540

Also B.

B ist allerdings nach Meinung der Aristoteliker (wegen der Kontin-

genz der Zukunft!) mit dem Satz kompatibel: „Es ist Petrus möglich,

Jesus nicht zu verleugnen“. Damit wäre aber Petrus wenigstens in

der Lage, A (eine göttliche Prognose!) zu falsifizieren. Das ist un-

möglich! Es muss also gelten:

B´. Es war Petrus nicht möglich, anders zu handeln, als er gehandelt

hat.

Man kann dasselbe Beweisverfahren für jedes Ereignis wiederholen,

das nach Gottes Willen eintritt. Allgemein lässt sich dann sagen:

Nichts hätte sich anders zutragen können, als es sich zugetragen hat.

Zukünftige Ereignisse sind danach möglich nicht im Sinne der Kon-

tingenz, d.h. der zweiseitigen Möglichkeit, die ihr Gegenteil eine

Option sein lässt, sondern im Sinne der einseitigen Möglichkeit, die

mit der Notwendigkeit zusammenfällt.

Was Abaelard nach diesen Überlegungen nicht bemerkte, ist, dass er

damit vorausgesetzt hat:

A´. Jesus kann nicht umhin als wissen, dass Petrus ihn verleugnen

wird.

Denn vorauszusetzen, dass A, reicht aus logischen Gründen nicht

aus, um aus Boethius’ Notwendigkeit der Folgerung zu folgern, dass

B´. Aber zu behaupten, dass A´, ist jedem unerwünscht, der darin

eine Nötigung Jesu sieht, etwas zu prognostizieren.

Bereits Leibniz vermutete,541 dass Abaelards Möglichkeitskonzepti-

on in der Theologia ‘Scholarium’ vom diodorischen Meisterargu-

ment beeinflusst worden war. Für die Richtigkeit dieser Vermutung

spricht Einiges.

540 Mt 26,75; Mk 14,72; Joh 13,38; Lk 22,34. 541 Leibniz, Essais de théodicée, § 171, p. 215. Vgl. auch Gerogiorgakis, Wenn

die Möglichkeit in Notwendigkeit umschlägt, 28.

205

Ciceros Diskussion der diodorischen Möglichkeitsauffassung in De

fato wird Abaelard bekannt gewesen sein.542 Und es ist bereits gesagt

worden, dass Abaelard in der Theologia ‘Scholarium’, im Zusam-

menhang eines Plädoyers für die diodorische Möglichkeitsauffas-

sung eine fatalistische Lesart einer Äußerung des Boethius aus der

Trostschrift vertritt. Aber das sind nicht Abaelards einzige Quellen.

Keine von beiden Quellen enthält z.B. eine (eigenartige) These Aba-

elards, die auf die diodorische Möglichkeitsauffassung hinausläuft:

„Wenn du weißt, dass jemand läuft, dann läuft dieser zwangsläu-fig“,543

Beispiele bezüglich Kontingenz und Notwendigkeit, die das Verb

„laufen“ („ambulare“ bzw. „peripatein“) enthalten, führt die Logik-

tradition auf Chrysipp zurück. Chrysipp nannte den Ausdruck: „Dion

läuft“ einen Satz, der nicht notwendig-wahr sein kann.544 Es hat zwar

den Anschein, als würde hier Abaelard direkt gegen Chrysipp argu-

mentieren bzw. als hätte er Diogenes Laertius konsultieren können,

der das fragliche Chrysipp-Fragment überliefert. Das ist jedoch un-

wahrscheinlich. Anzeichen dafür, dass es frühe lateinische Überset-

zungen von Diogenes Laertius gab, sind zwar vorhanden, aber selbst

wenn es sie gegeben hat, werden sie nicht breit zirkuliert haben.

542 Cicero, De fato, cap. 9, §§ 13; 17. 543 Peter Abaelard, Theologia ‘Scholarium’, lib. III, § 110. 544 Chrysipp, Fragmenta logica et physica, Fragment 20110-11 bzw. Diogenes

Laertius, Vitae philosophorum, lib. VII, § 75. Chrysipp war ein Gegner der diodorischen Möglichkeitsauffassung. Ein weiteres Beispiel Chrysipps zur nichtdiodorischen Modalsemantik über den diesmal sterbenden Dion be-gegnet auch in einer anderen griechischen Quelle, die Abaelard ebenfalls nicht direkt kennen konnte: Nach Alexander von Aphrodisias, In Aristotelis Analyticorum Priorum librum I commentarium, in 34a10, p. 17728, wollte Chrysipp Diodors Meisterargument anhand folgenden Gegenbeispiels zu Fall gebracht haben: „Wenn Dion gestorben ist, so ist er gestorben“. Wie Chrysipps Gegenargument aber lautete, verrät Diogenes Laertius nicht. Wahrscheinlich hat Chrysipp auf den Unterschied zwischen bedingter und unbedingter Notwendigkeit hingewiesen, um zu verdeutlichen, dass die von Diodor thematisierte Notwendigkeit die erstgenannte, nicht die zweite war. Auch wenn Dion gestorben sein kann (was nach Diodor Nezessitation nach sich zieht) und der Folgesatz: „Dion ist gestorben“ unter der im Vordersatz ausgedrückte Bedingung: „Dion ist gestorben“ notwendig gilt (mit der Be-gründung etwa, dass Vordersatz und Folgesatz dasselbe besagen), ist es nicht zulässig zu folgern, dass Dion bedingungslos gestorben sein muss, da Dion eine noch lebende Person sein könnte.

206

Heute sind sie jedenfalls nicht überliefert. Cicero verweist zwar na-

mentlich auf Chrysipp,545 nicht jedoch auf Beispiele obiger Art.

Solche Beispiele erwähnt aber Boethius und zwar im Kontext von

Diodors Meisterargument. Allerdings nicht in der von Abaelard er-

wähnten Trostschrift, sondern an zwei Stellen seines De interpretati-

one-Kommentars.546 An beiden Stellen bringt Boethius seine

Grundintuition für die Kontingenz bzw. gegen die diodorische

Gleichsetzung der Notwendigkeit und der Möglichkeit zum Aus-

druck. Seine „chrysippischen“ Gegenbeispiele gegen Diodor besa-

gen:

Man sagt, dass es möglich ist, dass ich laufen kann, während ich sit-ze.547

Wer läuft, läuft nicht zwangsläufig. Trotzdem kann er [laufen].548

Diesen Beispielen von Boethius kann Abaelards o.g. These durchaus

nachempfunden sein – freilich eine These für das Gegenteil dessen,

wofür Boethius argumentiert. Abaelard verschweigt seine Quelle.

Sollte es tatsächlich der Fall sein, dass diese Quelle Boethius ist, so

verschweigt Abaelard gleichzeitig, dass diese Quelle für die Gegen-

position zu seiner These optiert. Noch schlimmer: Er will glauben

machen (s. oben), dass Boethius ein fatalistisches, diodorisches Mög-

lichkeitsverständnis hatte.

Wie das gesamte Mittelalter sah Abaelard in Aristoteles einen Geg-

ner der diodorischen Möglichkeitsauffassung. Er behandelte Aristo-

teles’ Seeschlachtbeispiel in De interpretatione als einen Versuch,

gegen Diodors Meisterargument zu argumentieren.549 Dadurch ließ

545 Cicero, De fato, cap. 9, § 13. Für eine Besprechung vgl. Mayet, Chrysipps

Logik, 110-111. 546 Diodors Modalsemantik erörtert Boethius in seinen Commentarii in librum

Aristotelis Peri hermeneias, secunda editio, lib. III, cap. 9 und lib. V, cap. 12, Bd. 2, pp. 23422-26 und 41216-17 (Ausgabe Meiser) – alternativ in: PL 64, coll. 511 A und 597 B respektive.

547 Ebenda, lib. III, cap. 9, Bd. 2, p. 2343-4 (Ausgabe Meiser) – alternativ in: PL 64, coll. 511 A.

548 Ebenda, lib. V, cap. 12, Bd. 2, p. 38714-15. Vgl. auch ebenda, p. 4033; außer-dem ebenda, prima editio, lib. II, cap. 13, Bd. 1, p. 1955-7 (Ausgabe Meiser).

549 Peter Abaelard, Theologia ‘Scholarium’, lib. III, §§ 98-100, pp. 540-541.

207

sich jedoch Abaelard nicht von seinem diodorischen Verständnis der

Möglichkeit abbringen.

Ein Abaelard zugeschriebener De interpretatione-Kommentar be-

zieht außerdem Stellung gegen die aristotelische und für die diodori-

sche Auffassung der futura contingentia.550

Aus all diesen Gründen erscheint es sehr plausibel, dass Abaelards

Lehre über die Notwendigkeit und die Möglichkeit unter dem Ein-

fluss der entsprechenden Lehre Diodors entstanden ist, mit der Aba-

elard über die Analysen von Cicero und Boethius vertraut war. Aba-

elard kannte aber weder Chrysipps Analyse des Meisterarguments

noch die Positionen der griechischen Aristoteles-Kommentatoren

dazu – alles Quellen, die gute Argumente gegen das Meisterargu-

ment enthalten. Auch wenn er ein Beispiel Chrysipps gegen das

Meisterargument so abzuwandeln scheint, dass es für das Meisterar-

gument spricht,551 war Abaelard nur mit der lateinischen Literatur

über das Meisterargument vertraut. Ja selbst bei dieser hat er aus-

schließlich die fatalistischen Positionen rezipiert und wiedergegeben.

Ferner führte Abaelard in seiner Logica „Ingredientibus“552 die Po-

sition ad absurdum, dass es kontingente Sätze über zukünftige Er-

eignisse gibt, die unbestimmt sind – jedenfalls dachte er, dass es ihm

gelang, sie ad absurdum zu führen. Er wies dort darauf hin, dass Sät-

ze wie: „Dieser Mensch war gerecht“ einerseits Behauptungen über

die Vergangenheit darstellen und deshalb bestimmt wahr oder falsch

sein müssen, sich andererseits auf Zukünftiges beziehen (auf das

Jüngste Gericht nämlich, bei dem Gott urteilt, ob jeder Mensch letzt-

endlich gerecht war oder nicht) und damit laut Unbestimmtheit der

Zukunft keiner endgültigen Entscheidung bezüglich ihrer Wahrheit

550 Vgl. Knuuttila, Medieval Commentators, 81-82. 551 Dass Chrysipp mit seinen Argumenten nicht seine Kritik an Diodors Mög-

lichkeitsauffassung, sondern vielmehr diese Möglichkeitsauffassung selber bestätigen würde, behauptete bereits Cicero, De fato, § 13.

552 Für meine Abaelard-Exegese an dieser Stelle stütze ich mich im Großen und Ganzen auf Peter Abaelard, Logica ‘Ingredientibus’, pp. 42139-42217. Vgl. die Neuausgabe des Abschnitts durch Lewis, Determinate Truth in Aba-elard, pp. 107-108.

208

oder Falschheit fähig sind. Das ist nach Abaelard absurd.553 Um dies

zu vermeiden kann man alternativ „unbestimmt“ epistemisch verste-

hen, d.h. als „ungewiss“.554 Das ist jedoch ebenfalls eine inakzeptab-

le Lösung. Wäre „unbestimmt“ so zu verstehen, würde man also da-

rauf bestehen, dass Behauptungen über die Zukunft nichts Gewisses

über die Zukunft ausdrücken, dann wäre der Satz: „‘Sokrates wird

essen’ ist wahr“ jetzt bestimmt, d.h. wahrheitsdefinit, weil er sich auf

die Gegenwart und zwar auf einen bekannten Ausschnitt der Gegen-

wart bezieht, der Satz aber: „Sokrates wird essen“ wäre noch unbe-

stimmt – d.h. wahrheitsindefinit.555 Und das selbst wenn beide Sätze

aus der Sicht eines Engels epistemisch gewisse Behauptungen dar-

stellen würden.556 Mit diesem Argument führt Abaelard den Gedan-

ken ad absurdum, dass Behauptungen über die Zukunft unbestimmt

im Sinne von epistemisch ungewiss wären.557

553 Es ist für heutige Leser wohl nicht sofort einsehbar, warum der Satz „Dieser

Mensch war gerecht“ sich sowohl auf die Vergangenheit als auf die Zukunft bezieht, aber meine Ausführungen haben diesen Punkt hoffentlich erhellt. Dass unbestimmte Behauptungen über (teilweise) Vergangenes keine Ab-surdität darstellen, war im Mittelalter eine verbreitete Position. Ockhams Lehre von den halbvergangenen Sachverhalten besagt, dass es wahre Be-hauptungen über Vergangenes mit der Zeit falsch werden können und um-gekehrt. Ockham führt das darauf zurück, dass die Wahrheit bzw. Falschheit solcher Sätze nicht von Anfang an bestimmt ist. Vgl. für solche Fälle die Besprechung von Ockhams Position im Kap. 5 der vorliegenden Arbeit. Normore, Future Contingents, 363-363, weist die Position, dass die Unbe-stimmtheit von Behauptungen über die Vergangenheit und die Gegenwart nicht absurd ist, sogar Abaelard zu, verfehlt dabei Abaelards Hauptposition und will ein in Wirklichkeit nicht vorhandenes Argument Abaelards für die Unbestimmtheit der Zukunft und eines Teils der Gegenwart erkennen. Dass die Unbestimmtheit der Gegenwart eine Alternative darstellt, die Abaelard selber ablehnte, zeigte Lewis, Determinate Truth in Abelard, 103.

554 Peter Abaelard, Logica ‘Ingredientibus’, 42218-36; vgl. auch die Neuausgabe des Abschnitts durch Lewis, Determinate Truth in Abaelard, pp. 108-109; vgl. ferner Peter Abaelard, Dialectica, 21213-21.

555 Peter Abaelard, Logica ‘Ingredientibus’, p. 42218-36; vgl. auch die Neuaus-gabe des Abschnitts durch Lewis, Determinate Truth in Abaelard, pp. 108-109.

556 Ebenda. 557 Die Stelle bei Peter Abaelard, Dialectica, 21213-21, lese ich nicht wie Lewis,

Determinate Truth in Abaelard, 104, als Abaelards Lösung, sondern als eine weitere reductio ad absurdum, die besagt, dass „unbestimmt“ nicht als „un-gewiss“ verstanden werden darf.

209

Gleichzeitig erbringt Abaelard den Beweis, dass alle Behauptungen

über die Zukunft bestimmt wahr oder bestimmt falsch sind. Es sei

das Widerspruchspaar: „Sokrates wird essen“ und „Sokrates wird

nicht essen“. Angenommen: „Sokrates wird essen“ ist irgendwann

eine wahre Behauptung – wir wissen nur nicht, ob sie bereits jetzt

bestimmt wahr ist. Dann ist aber bereits jetzt der Satz: „‘Sokrates

wird essen’ ist irgendwann eine wahre Behauptung“ genau dann

wahrheitsdefinit, wenn er eine wahre Aussage über die Gegenwart

darstellt. Aber die Wahrheit von: „‘Sokrates wird essen’ ist irgend-

wann eine wahre Behauptung“ impliziert (strikte!), dass Sokrates

irgendwann essen wird. Als strikte Implikation einer Aussage, deren

Wahrheit schon jetzt bestimmt ist, muss nun die Wahrheit letzterer

Behauptung, nämlich: „Sokrates wird essen“ ebenfalls bereits jetzt

bestimmt sein, wenn558 die Aussage: „‘Sokrates wird essen’ ist ir-

gendwann eine wahre Behauptung“ wahr ist. Abaelard geht davon

aus, dass jede Behauptung über die Zukunft auf obige Art mit einer

Aussage über die Gegenwart (strikte) äquivalent ist.559 Unter dieser

Bedingung müsste, wenn eine Behauptung über die Zukunft unbe-

stimmt wäre, auch die entsprechende Aussage über die Gegenwart

unbestimmt sein – was natürlich mit Schwierigkeiten behaftet ist.

Man denke nur an zwei einander widersprechende Behauptungen

über die Zukunft, die beide unbestimmt wären. Dann könnte keine

der entsprechenden Aussagen über die Gegenwart wahr sein!

Abaelard versäumt nun sowohl in Dialectica als auch in der Logica

„Ingredientibus“ explizit zu sagen, dass diese Bemerkungen seiner-

seits als reductio ad absurdum gemeint sind. Dieses Versäumnis so-

558 Nicht allerdings: „…genau dann, wenn…“. Aber dazu s. weiter unten sowie

nächste Fußnote. 559 Es sind gute (obwohl meines Erachtens keine klassischen) Argumente ge-

gen diese stillschweigende Annahme Abaelards vorstellbar. Man denke z.B. an den Satz: „Am Morgen des 13. April 2053 wird die Testfahrt eines Zuges stattfinden, mit dem die Fahrt München-Venedig auf vier Stunden reduziert sein wird“. Wenn so ein Zug tatsächlich am angegebenen Datum getestet wird, aber Venedig nicht mehr existiert, weil es zehn Jahre zuvor unterge-gangen sein wird, wird man dazu tendieren, dieser Behauptung jede Wahr-heit abzusprechen? Wohl kaum! Aber in diesem Fall ist am 12. April 2053 der Satz: „‘Am Morgen des 13. April 2053 wird die Testfahrt eines Zuges stattfinden, mit dem die Fahrt München-Venedig auf vier Stunden reduziert sein wird’ ist wahr“ klassisch betrachtet einfach falsch!

210

wie die Tendenz, Abaelard in der Nachfolge Aristoteles’ und

Boethius’ zu sehen, können bezüglich der Disposition der Bemer-

kungen Abaelards zu den futura contingentia in der Logica „Ingre-

dientibus“ sowie in Dialectica leicht zu der Missinterpretation ver-

leiten, Abaelard würde die Sätze über kontingente Zukunftsereignis-

se als unbestimmt ansehen.560 Das Gegenteil ist der Fall. Abaelards

Meinung war, dass die kontingenten Sätze über die Zukunft aus der

Natur des entsprechenden Ereignisses heraus semantisch bestimmt

sind und dass ihre epistemische Ungewissheit sich nicht als eine Art

von Unbestimmtheit ummünzen lässt.561

Wenn Abaelard damit meint, dass es keine semantische Unbe-

stimmtheit überhaupt gibt, so dass sie auch nicht aus der epistemi-

schen Ungewissheit folgen kann, dann ist das eine vertretbare deter-

ministische Position, aber einfach so behauptet stellt sie eine petitio

principii dar: Die Frage ist eben, ob die kontingenten Sätze über die

Zukunft, die eine epistemische Ungewissheit ausdrücken, semantisch

unbestimmt sind.

Wenn Abaelard aber meint, dass alle epistemisch ungewissen, kon-

tingenten Sätze über die Zukunft Möglichkeiten im Sinne der einsei-

tigen Möglichkeit ausdrücken (es ist z.B. möglich, dass das Johannis-

feuer des Jahres 2053 heiß wird, weil es notwendig ist, dass das Feu-

er heiß ist, aber es ist nicht der Fall, dass es möglich wäre, dass das

Johannisfeuer des Jahres 2053 nicht heiß wird – es gibt kein nicht-

heißes Feuer), und deswegen nicht semantisch unbestimmt sind,

dann ist das eine zwar ernstzunehmende, aber sehr starke und nicht

naheliegende Position, die zuerst begründet werden muss. Die Stan-

dardbedeutung der Kontingenz ist nicht die einseitige, sondern die

zweiseitige Möglichkeit. Ein Beispiel: Es war und es ist in Zukunft

möglich, dass eine Rede eines deutschen Staatsoberhaupts genauso

lange dauert, wie die Rede Jesu auf dem Ölberg gedauert hatte.

Gleichsam war und ist es in Zukunft möglich, dass keine Rede eines

deutschen Staatsoberhaupts genauso lange dauert wie die Rede Jesu

560 Z.B. Normore, Future Contingents, 362-363 sowie Lewis, Determinate

Truth in Abaelard, 94-95, obwohl letzterer zugibt, dass Abelard nur einen Katzensprung („short step“) von der von mir lancierten Interpretation steht.

561 Vgl. Peter Abaelard, Dialectica, p. 2117-11, sowie die Interpretation der Stel-le von Lewis, Determinate Truth in Abelard, 89.

211

auf dem Ölberg gedauert hatte. Es liegt hier eine zweiseitige Mög-

lichkeit vor. Ein orthodoxer Aristoteliker (die mittelalterlichen or-

thodoxen Aristoteliker waren allesamt Indeterministen562) und ein

Byzantiner aus der Schule des Michael Psellos etwa würden gegen

Abaelards Festlegung: Kontingenz = einseitige Möglichkeit, ein-

wenden, dass im Satz: „Eine Rede eines deutschen Staatsoberhaupts

wird in Zukunft genauso lange dauern, wie die Rede Jesu auf dem

Ölberg gedauert hatte“ die epistemische Ungewissheit semantische

Unbestimmtheit nach sich zieht. Könnte Abaelard etwas erwidern?

Sehr wohl! Mit dem Johannisfeuer-Beispiel habe ich bereits ein

mögliches Gegenargument Abaelards angedeutet: Nicht alle episte-

misch ungewissen, kontingenten Sätze über die Zukunft sind seman-

tisch unbestimmt. Der Satz: „Das Erlanger Johannisfeuer des Jahres

2053 wird heiß“ ist nicht semantisch unbestimmt, da es notwendig

ist, dass jedes Feuer heiß ist, obwohl eine epistemische Ungewissheit

besteht: Wird es 2053 in Erlangen ein Johannisfeuer überhaupt ge-

ben? Und selbst obiger Satz über die Länge der zukünftigen Reden

deutscher Staatsoberhäupter wäre nach Abaelard dieser Art. Die

Dauer einer Rede steht am Ende einer Reihe von Ereignissen, die,

jedes für sich, durchgängig bestimmt sind. Eigentlich steht jede Dau-

er jeder Rede seit jeher fest, nur den Menschen ist sie nicht bekannt.

Eine epistemische Ungewissheit bezüglich der Dauer zukünftiger

Reden zukünftiger deutscher Staatsoberhäupter ist hierbei zwar ge-

geben, sie stellt aber keine semantische Unbestimmtheit dar.

Ein orthodoxer Aristoteliker oder ein Byzantiner einerseits und Aba-

elard andererseits hätten also Beispiele für die eigene Sache parat.

Erstere müssten zugeben, dass das Beispiel: „Das Erlanger Johannis-

feuer des Jahres 2053 wird heiß“ in einem Sinn (bezogen auf die

Temperatur des Feuers) nicht semantisch unbestimmt ist. Aber der

Grund, würden sie fortfahren, ist nicht, dass die epistemische Unge-

wissheit insgesamt keine semantische Unbestimmtheit implizieren

würde, sondern dass es ein Beispiel für eine einseitige Möglichkeit

ist. Dieser Satz ist nicht in demselben Sinne kontingent, in dem er

epistemisch ungewiss ist. Insofern von heißem Feuer die Rede ist,

geht es in demselben weder um etwas Kontingentes noch um etwas

562 Damit soll nicht gesagt sein, dass sie in ihrer Aristoteles-Interpretation

Recht hatten. Für einen Literaturüberblick vgl. Fußn. 465.

212

epistemisch Ungewisses – daher auch um nichts semantisch Unbe-

stimmtes. Bezüglich der semantischen Unbestimmtheit des Satzes:

„Eine Rede eines deutschen Staatsoberhaupts wird in Zukunft genau-

so lange dauern, wie die Rede Jesu auf dem Ölberg gedauert hatte“

stünde es wiederum Aussage gegen Aussage.

Die zweiseitigen Möglichkeiten, die ein orthodoxer Aristoteliker o-

der ein Byzantiner als Beispiele für ihren Kontingenzbegriff anfüh-

ren würden, sollten, so wenigstens die Absicht, verdeutlichen, dass

die epistemische Ungewissheit semantische Unbestimmtheit impli-

ziert. Das würden der orthodoxe Aristoteliker und der Byzantiner

folgendermaßen begründen:

Der Satz: „In Zukunft wird eine Rede eines deutschen Staatsober-

haupts genauso lange dauern, wie die Rede Jesu auf dem Ölberg ge-

dauert hatte“ ist epistemisch ungewiss, weil niemand wissen kann,

wie lange Jesus auf dem Ölberg geredet hatte. Aber orthodoxe Aris-

toteliker und Byzantiner verstanden die semantische Unbestimmtheit

eines Satzes als die Unmöglichkeit, eine Begründung für den Satz zu

konstruieren („kataskeuasai“):563 Da aber die Ölbergrede Jesu in der

ersten Hälfte des 1. Jh. in Jerusalem stattfand und keine Methode

bestand oder besteht, die Dauer dieser Rede zu messen (worauf die

epistemische Ungewissheit des o.g. Satzes zurückzuführen ist), kann

der o.g. Satz weder begründet noch widerlegt werden – ergo ist keine

Begründung für ihn konstruierbar, auch keine Widerlegung, und

deshalb ist er semantisch unbestimmt.564

Ein orthodoxer Aristoteliker und ein Byzantiner hätten also durchaus

gute Argumente gegen Abaelards Behauptung, dass die semantische

Unbestimmtheit nicht aus der epistemischen Ungewissheit folgen

würde.

563 Vgl. Aristoteles, Analytica priora, 43 a 1-16. Aristoteles’ Bemerkungen in

diesem Punkt gelten empirisch nachweisbaren Sätzen wie die hier angeführ-ten und sie wurden in Byzanz rezipiert. Vgl. Michael Psellos, Theologica I, opusc. 54, p. 211; Georg von Korfu, Peri tinos pyros, p. 70 (Roncaglias französische Übersetzung auf der gegenüberliegenden Seite ist in diesem Punkt leider irreführend: Roncaglia übersetzt „kataskeuē“ mit „argumenta-tion“).

564 Selbst ein heutiger orthodoxer Aristoteliker müsste die Sache so betrachten. Er kann keinen Chronometer nachträglich in der Antike in Einsatz bringen.

213

Unter Hinweis darauf, dass Gott keinerlei epistemische Ungewissheit

kennen würde, sind diese Argumente nicht zu entkräften. Die epis-

temische Ungewissheit aus der Sicht anderer würde dazu ausreichen,

eine semantische Unbestimmtheit zu generieren. Selbst wenn Gott in

seiner Allwissenheit weiß, wie lange jede Rede dauerte oder dauern

wird, selbst wenn er etwa weiß, dass die Rede des 15. Bundespräsi-

denten zum Amtsantritt genauso lange dauert wie die Ölbergrede,

kann es sein, dass der 15. Bundespräsident noch während seiner Re-

de zum Amtsantritt nicht weiß, ob er nicht vielleicht doch eine Minu-

te länger reden will. Angenommen, dass das eine wirkliche Option

für den 15. Staatspräsidenten ist, dass er also wirklich bestimmen

kann, wie lange er redet, ist der Satz: „In Zukunft wird eine Rede

eines deutschen Staatsoberhaupts genauso lange dauern, wie die Re-

de Jesu auf dem Ölberg gedauert hatte“ epistemisch ungewiss wegen

der Unschlüssigkeit des 15. Bundespräsidenten und gerade deshalb

semantisch unbestimmt. Daher kann man sagen: Es war und es ist in

Zukunft möglich, dass eine Rede eines deutschen Staatsoberhaupts

genauso lange dauert, wie die Rede Jesu auf dem Ölberg gedauert

hatte und es war und es ist in Zukunft möglich, dass keine Rede ei-

nes deutschen Staatsoberhaupts genauso lange dauert wie die Rede

Jesu auf dem Ölberg gedauert hatte – im Sinne der zweiseitigen

Möglichkeit. Meint der orthodoxe Aristoteliker oder der Byzantiner

unter semantische Unbestimmtheit bzw. Kontingenz so etwas, dann

verfehlt die Festlegung: Kontingenz = einseitige Möglichkeit das,

worüber die Zeitmetaphysik eines orthodoxen Aristotelikers oder

eines Byzantiners spricht.

Abaelards Lehre über die Kontingenz bedeutete einen tiefen Ein-

schnitt in der Geschichte der mittelalterlichen Philosophie und Theo-

logie, da sie sich von der aristotelischen Lehre distanzierte, wonach

es noch unbestimmte Sätze über kontingente Zukunftsereignisse gibt.

Nicht nur war Abaelard kein Aristoteliker in seiner Möglichkeitsauf-

fassung, sondern er missinterpretierte auch noch die Möglichkeits-

auffassung des Boethius, der ja ein Aristoteliker war, in seinem Sin-

ne. Das sollte in der Scholastik nicht ohne Nachahmung bleiben.

Bradwardine machte etwa denselben Fehler.565

565 Wie Bradwardine die boethische Lehre bezüglich Notwendigkeit der Folge-

rung missinterpretierte, bespreche ich im Kap. 9.4 der vorliegenden Arbeit.

214

Mit Abaelards Möglichkeitsauffassung geht dessen augustinische

Prädestinationslehre einher. Nach Abaelard bereitet Gott mit der

Prädestination die Prädestinierten auf die Gnade vor und die Gnade

wird niemandem sonst als den Prädestinierten zuteil; und zwar auch

aufgrund von Verdiensten nicht, die sich der nicht Prädestinierte ei-

genständig erarbeiten würde – man denke hierbei an die Widerle-

gung des Pelagianismus durch Augustin.566 Zurückübersetzt aus dem

theologischen Idiom in das logische Idiom der Modalsemantik be-

deutet das, dass es nicht möglich ist, die Gnade zu erlangen, wenn

einem die Gnade nicht notwendig ergeht.

Abaelards Rezeption des diodorischen Möglichkeitsbegriffs stieß in

der lateinischen Kirche zunächst auf Ablehnung. 1141 verurteilte das

Konzil von Sens u.a. zwei theologische Konsequenzen seiner Mög-

lichkeitsauffassung. Diese besagen:

Dass Gott ausschließlich tun könnte, was er tut, oder damit aufhören würde, womit er aufhört und zwar nur in der Art bzw. Zeit, und in keiner anderen.567

sowie

Dass Gott Böses abwenden weder sollte noch könnte.568

Diese verurteilten Thesen sind mit Sicherheit den von mir bereits

erwähnten Kapiteln der Theologia „Scholarium“ von Abaelard ent-

nommen, die Diodors Möglichkeitskonzeption thematisieren und

begrüßen. Bezeichnenderweise ist auf dem Konzil von Sens die ge-

samte Theologia „Scholarium“ verurteilt worden.569

Trotz der anfänglichen kirchlichen Reaktion erwies sich Abaelards

Theologie in puncto offen stehende Möglichkeiten als einflussreich.

PETER LOMBARD († 1160) folgte nur seinem Pariser Lehrer Aba-

elard, als er behauptete, alles Zukünftige, was in der Heilige Schrift

eröffnet wird, sei so zu verstehen, als wäre es bereits geschehen

566 Peter Abaelard, Commentaria in Epistolam Pauli ad Romanos, [lib. III,] ad

8.28-30, in: ders., Opera theologica I, hg. v. Buytaert, E.M., CCCM 11, 223-224 (alternativ: PL 178, coll. 906-907). Vgl. Hugo von Sankt Viktor, De sacramentis, lib. I, pars 2, cap. 21, col. 213 D.

567 DH 726. 568 Ebenda, § 727. 569 Allgemein zum Konzil von Sens: Deutsch, Die Synode von Sens. Zur Datie-

rung des Konzils vgl. Mews, The Council of Sens.

215

(„quasi factum“), und daran lasse sich nicht rütteln, da Zukünftiges

nicht rückgängig („infectum“ – sic, obwohl es sich um Zukünftiges

handelt!) gemacht werden könne.570 Die Willensfreiheit ist nach Pe-

ter Lombard einerseits eine Freiheit zur Wahl einer Option, kein Ge-

horsam einem auferlegten Zwang gegenüber.571 Andererseits impli-

ziert sie nicht, dass es offen wäre, welche Äußerung der freie Wille

trifft. Dass diese offen und ungewiss ist, würden zwar alle Menschen

mit Willensfreiheit assoziieren, da so etwas bei der freien Erwählung

zwischen Alternativen durch Menschen stets eintritt.

Aus Gottes Sicht habe jedoch die Freiheit, so Peter Lombard, nie-

mals mit epistemischer Ungewissheit oder mit einem offenen Aus-

gang zu tun. Gott wisse genau alle seine Willensäußerungen und

empfinde z.B. niemals Überraschung für das, was er wolle. Deshalb

werde ihm aber nicht etwa die Willensfreiheit abgesprochen.572 Das

ist eine eigenartige Willensfreiheitsvorstellung, die mit einer Form

des Nezessitarismus kompatibel erscheint.573

Ein weiterer Schüler Abaelards, JOHANNES VON SALISBURY († ca.

1176) besprach das Seeschlachtbeispiel des Aristoteles und befand

die traditionell aristotelische Lesart dieses Beispiels inakzeptabel

angesichts der göttlichen Allwissenheit. Dagegen optierte Johannes

für eine deterministische Deutung des Seeschlachtbeispiels:

Was möglich ist, ist aus jetziger Sicht noch zukünftig. Wenn sich aber etwas Mögliches nicht zutragen kann, weil es nicht der Fall sein wird, wird es nicht mehr möglich genannt werden können. Ange-nommen, eine Seeschlacht kann genauso stattfinden wie nicht statt-finden, ist einer der beiden Ausgänge trotz allem gewiss und be-stimmt wahr und [von Gott] vorausgewusst.574

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Abaelards diodorische Möglich-

keitsauffassung einen direkten oder indirekten Einfluss auf einen

engen Freund des Johannes von Salisbury, BARTHOLOMÄUS VON

570 Peter Lombard, Commentaria in Psalmos, PL 191, col. 846 D. 571 Peter Lombard, Sententiae in IV libris distinctae, lib. II, d. 25, q. 2, col. 706. 572 Ebenda, qq. 2 und 3, col. 706. 573 Zu einem „nezessitaristischen Optimismus“ bei Peter Abaelard und Peter

Lombard vgl. Boh, Divine Omnipotence, 197-198. 574 Johannes von Salisbury, Polycraticus, lib. II, cap. 20, PL 199, col. 444 C

(alternativ: Opera omnia, Bd. III, p. 107).

216

EXETER († 1184),575 ausübte und damit nach England „exportiert“

wurde. Bartholomäus hielt die Willensfreiheit für vereinbar mit

Handlungen aus Notwendigkeit.576 Unabhängig davon polemisiert

Bartholomäus an anderer Stelle gegen den Fatalismus. Der Ausgang

aller von Gott gewollten menschlichen Handlungen sei nicht unver-

meidlich: Es finde nicht mit Notwendigkeit statt, was Gott mit Ge-

wissheit erkenne.577 Aus astrologischen Überlegungen, der Ordnung

der Dinge und der göttlichen Vorsehung folge keine „einfache und

absolute“ Notwendigkeit.578 Folgende Passage könnte Bartholomäus’

schwankende Haltung zwischen Nezessitation und traditioneller anti-

fatalistischer Polemik am besten verdeutlichen:

Notwendiges scheint menschlicherseits zu folgen oder zuzutreffen insbesondere, wenn es von etwas heißt, dass es den Menschen ge-wiss ist, dass es künftig unter allen Umständen zustande kommt. Dies ist aber nicht die Art Gottes, dem alles Künftige nicht minder ohne Zwang als mit Zwang gewiss ist, denn ihm ist ja alles gegen-wärtig und nichts ist vergangen oder künftig. Aber nicht einmal menschlicherseits folgt mit Notwendigkeit Notwendiges aus der Gewissheit.579

Bartholomäus kommt nicht auf einen Punkt. Die Frühsöcholastik

(wir befinden uns immer noch im 12. Jh.) schwankte zwischen anti-

deterministischer, aristotelischer Tradition und diodorischem Deter-

minismus.

9.3. Fatum, Prädestination und Kontingenz im Thomismus – ein-

schließlich des byzantinischen

Eine allgemein anerkannte Quelle des thomistischen Denkens ist

Aristoteles. Eine andere, zwar nicht minder anerkannte aber nicht so

oft erwähnte, ist die theologische Tradition. Vordergründig ist

575 Bartholomäus, nach 1161 Bischof von Exeter, war von alters her mit Johan-

nes von Salisbury befreundet und gehörte wie dieser dem Kreis von Thomas Becket an. Ein paar Anzeichen (aber nicht mehr) für eine Beeinflussung des Bartholomäus durch Abaelard sah Morey, Bartholomew of Exeter, 172 und 174.

576 Bartholomäus von Exeter, Contra fatalitatis errorem, cap. 26. 577 Ebenda, cap. 58, §§ 8-9. 578 Ebenda, cap. 58, § 4. 579 Ebenda, cap. 58, § 9.

217

Thomas Augustin, Johannes von Damaskus sowie der Scholastik des

12. Jh. verpflichtet.

Wie in der vorliegenden Arbeit in vielerlei Hinsicht immer wieder

konstatiert wird, leitete die scholastische Theologie des 12. Jh. meh-

rere Neuerungen ein. Eine davon war eine Neubewertung des Fa-

tums.

Der Byzantiner MICHAEL PSELLOS (11. Jh.) hatte den Begriff

heimarmenē bereits positiv aufgenommen und in einen nicht deter-

ministischen Rahmen gesetzt.580

Ein paar Jahre nachdem Michael Psellos als alter und nunmehr mü-

der Staatsmann und Lehrer den Konstantinopler Kaiserhof und die

Öffentlichkeit verlassen hatte, erblickte PETER ABAELARD in der

Bretagne das Licht der Welt. Dieser, der in seiner Theologie keine

Kontingenz einräumte, äußerte eine Sorge wegen der Nutzung des

Terminus fatum. Die Bedeutung dieses Terminus in der Astrologie

erschien ihm suspekt. In seiner Argumentation hatte Abaelard aus

der Definition der kontingenten Zukunftsereignisse (= „Ereignisse,

denen keine natürliche Ursache vorausgeht, aus der sie als zwingend

einzutreffende oder als zwingend nicht einzutreffende zu denken

sind“) gefolgert, dass diese unmöglich über Naturvorgänge wie etwa

die Position der Gestirne am Firmament im voraus zu erkennen

sind.581

Es war im Westen vermutlich die SCHULE VON CHARTRES, die als

erste das Ablegen der Berührungsängste mit dem Begriff fatum na-

hegelegt hat. Ihr Mitglied WILHELM VON CONCHIS (12. Jh.) wies

darauf hin, dass das fatum und die göttliche Vorsehung in demselben

Zusammenhang stehen, wie das Entstehende und das zuletzt Beste-

hende.582 Der Unterschied zwischen Fatum und Vorsehung ist ein

bloß aspektueller.

Der in seiner intellektuellen Entwicklung von der Chartres-Schule

abhängige ALAIN VON LILLE (Alanus ab Insulis – † 1202) setzte das

Fatum in die Nähe der christlichen Vorsehung, wollte aber dieser

580 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.1. 581 Peter Abaelard, Expositio in Hexaemeron, PL 178, coll. 754 A-755 A. 582 Wilhelm von Conchis, Glosae super Boetium, In Consolationem, lib. 4, In

prosam 6, p. 260.

218

(wohl wegen der Vorgeschichte des Terminus „fatum“ gefährlichen)

Nähe mit einer terminologischen Trennung vorbeugen:

Schicksal [fatum] heißt die Kette der Ereignisse, die gemäß der gött-lichen Vorsehung vorgehen. Daher unterscheidet Boethius in seiner Schrift über den Trost der Philosophie zwischen Vorsehung und Schicksal.583

Auch ALBERT DER GROßE († 1280), der Lehrer des Thomas von

Aquin, verstand das Fatum als etwas, was in die Nähe der göttlichen

Vorsehung zu setzen ist. Albert besprach jedoch dieses positive Ver-

ständnis des Fatumbegriffs nicht ausführlich.584

THOMAS VON AQUIN († 1274) wies zwar auf Augustins Mahnung

bezüglich des Wortes „fatum“ hin, erklärte aber, dass diese Mahnung

nur mit den Konnotationen dieses bereits durch das Heidentum für

die Sternedeutung belegten Terminus zu tun hat, nicht mit der Sache

selbst.585 An der im Fatum-Gedanken vorausgesetzten prädestinier-

ten Zukunft erkannte Thomas keine theologischen Schwierigkei-

ten.586

Ein Indiz dafür ist seine Interpretation einer Stelle aus dem Johan-

nesevangelium.587 In Kana weigert sich Jesus anfänglich, das Wasser

in Wein zu verwandeln mit der Begründung, seine Stunde sei noch

nicht gekommen. Dass Jesus seine Weigerung zum Schluss zurück-

nimmt und das Wasser doch in Wein verwandelt, scheint gegen das

Fatum zu sprechen. Denn, dass Jesu Stunde noch nicht gekommen

war, kann nur heißen, dass das Fatum anders lautete. Wenn aber Fa-

583 Alain von Lille, In distinctionibus dictionum theologicalium, PL 210, col.

786 C. 584 Albert der Große, De fato, a. 1, 12 und a. 2, 20. Palazzo, The Scientific Sig-

nificance, versteht Albert so, dass er die von der Astrologie herkommende Bedeutung des Fatums in ein nicht durch und durch negatives Licht setzt. Eine mit den Sternenbewegungen zusammenhängende Beeinflussung unse-rer „sublunaren Welt“ erkannte er gewissermaßen an.

585 Thomas von Aquin, Summa theologiae, Ia, q. 116, a. 1, sowie Summa contra Gentiles, lib. III, cap. 93, n. 6.

586 Für dieses Verständnis der Mahnung des Thomas bezüglich des Terminus „fatum“ vgl. auch Verbeke, L’homme médiévale, 146.

587 Vgl. Thomas von Aquin, Catena aurea in quattuor Evangelia, In Iohannem, cap. 2, lectio 1, p. 359, unter Bezugnahme auf Joh 2,4 sowie auf den diesbe-züglichen Kommentar des Johannes Chrysostomos (4. Jh.), In Joannem homiliae 1-88, hom. 21, cap. 3, PG 59, coll. 133-134.

219

tum und göttliche Vorsehung ein und dasselbe sind (wie doch Albert

der Große und Thomas von Aquin meinten), wie konnte Jesus dann

anders handeln? Wohl nur dadurch, dass das Fatum, sollte damit eine

göttliche Vorschrift zum Ausdruck kommen, nicht ernst zu nehmen

ist.

Thomas deutete die o.g. Stelle dahingehend, dass der an ihr ausge-

drückte Umstand, dass Jesu Stunde noch nicht gekommen war, einer

Willensäußerung entspricht, keiner göttlichen Vorschrift. Deshalb

konnte Jesus schließlich in der Hochzeit zu Kana davon absehen,

dass „seine Stunde noch nicht gekommen“ war. Es ist immer noch

möglich, in Jesu Leben ein Fatum am Werke zu sehen, eben eines,

das von Jesu Willen abhängt – so ist wohl Thomas’ Interpretation

hier zu verstehen.588

Eine andere Neuerung des 12. Jh., mit der sich Thomas von Aquin

auseinandersetzte, war die von Hugo von Sankt Viktor und Peter

Abaelard wiedereingeführte diodorische Möglichkeitsauffassung. Es

gibt demnach keine anderen Möglichkeiten außer den von Gott reali-

sierten oder prädestinierten Sachverhalten.589

Thomas wusste viel über die antike und spätantike Diskussion um

die diodorische Möglichkeitsauffassung. Er besprach die aristoteli-

sche Position, welche die Kontingenz, die Unbestimmtheit der Zu-

kunft und die Willensfreiheit bejahte; ferner die Position Diodors

und Abaelards; schließlich die stoische Position. Selber tendierte er

zur Auffassung, dass Gott die Wahrheit aller wahren Sätze über die

Zukunft seit aller Ewigkeit festgelegt hatte – einer Auffassung, die

jedenfalls mit dem aristotelischen Möglichkeitskonzept nicht ver-

träglich ist.590

Fatalistische Vorstellungen allerdings im Sinne der Astrologie und

des Kausaldeterminismus lehnte Thomas trotz seiner Auffassung der

588 Diese Interpretation stimmt mit der neutestamentlichen Wahrnehmung des

Todes Christi als einer göttlichen Vorschrift überein. Vgl. dazu Garrison, The Graeco-Roman Context, 70.

589 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.2. 590 Mehr zu diesem Thema bei Shanley, Thomas Aquinas on God’s Eternal

Knowledge.

220

Wahrheit von Sätzen über die Zukunft explizit ab.591 Er plädierte in

diesem Sinne für die moralische Eigenständigkeit des Menschen und

lieferte eine Berechtigung für die Kontingenz. Das ist aber nicht die

aristotelische Kontingenz. Mit der Kontingenz, so wie er sie ver-

stand, erschien z.B. Thomas der Fatumsglaube im Sinne der Prädes-

tination konform.

Thomas schrieb Aristoteles die Position zu, dass die kontingenten

Zukunftsereignisse ein kausales Vakuum darstellen: Sie werden nicht

durch die Gesamtheit der Ursachen bedingt, die für sie angegeben

werden können.592 Thomas sah damit in Aristoteles einen Leugner

des Fatums und gleichermaßen einen Leugner der göttlichen Vorse-

hung.593 Damit wird Thomas wohl gemeint haben, dass die aristoteli-

sche Philosophie bezüglich der kontingenten Zukunftsereignisse das

Kind (Vorsehung) mit dem Bade (Fatum) ausschüttet. Denn es war

eine wichtige These von Thomas, dass die auf die Vorsehung auf-

bauende Prädestination unausweichlich ist.594

Diodors Notwendigkeitskonzeption verurteilte Thomas von Aquin

aus einem Grund, der den diodorischen Fatalismus nicht berührt. Es

ist zwar der Fall, meint Thomas, dass notwendige Ereignisse stets

zur für sie vorgeschriebenen Zeit eintreten, wie Diodor meinte. Aber

anders als die diodorische Definition andeutet (in der Art freilich,

wie Thomas sie wiedergibt), ist nicht das Eintreten dieser Ereignisse

der Grund für ihre Notwendigkeit, sondern umgekehrt, die Notwen-

digkeit dieser Ereignisse ist der Grund für ihr Eintreten.

591 Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum, lib. I, d. 39, q. 2, a.

1, ad 5; ders., Summa theologiae, Ia, q. 116, a. 4; ders., Summa contra gen-tiles, lib. III, cap. 93.

592 Thomas von Aquin, In Aristotelis Peri hermeneias, lib. I, lec. 14, p. 71. 593 Thomas von Aquin, In Aristotelis Metaphysicorum, lib. VI, lec. 3, nn. 1203-

1204, p. 306: „[E]a quae philosophus hic tradit, videntur removere quaedam, quae secundum philosophiam ab aliquibus ponuntur, scilicet fa-tum et providentiam [...] Videntur ergo quod secundum intentionem philo-sophi non sit ponere neque providentiam neque fatum“.

594 Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum, lib. I, d. 40, q. 1, a. 2, co.: „Praedestinatio includit in intellectu suo providentiam, et aliquid ad-dit – ab ordine praedestinationis“.

221

Deshalb, weil etwas jederzeit der Fall ist, wird es nicht gleich not-

wendig. Es gilt eher, dass etwas jederzeit der Fall ist, weil es not-

wendig ist.595

Kurz oberhalb dieser Passage596 schreibt Thomas von Aquin Diodor

die Ansicht zu, dass es Möglichkeiten gibt, die de re-notwendig sind

– woran es nach den Voraussetzungen der antiken und mittelalterli-

chen Logik nichts auszusetzen gibt. Ferner, dass alles, was zum

Schluss nicht eintritt, de re-unmöglich ist. Thomas meint an dieser

Stelle, dass das Definiendum der Notwendigkeitsdefinition nicht

nach Art von Diodor a posteriori sein darf. Die diodorische Notwen-

digkeitsdefinition, so die indirekte Kritik des Thomas, betrachtet die

Notwendigkeiten de re nicht als Naturgesetzmäßigkeiten und lässt

die Notwendigkeit de dicto außer Acht. Thomas wendet aber nichts

gegen die Idee ein, dass alle in der Natur eintretenden Möglichkeiten

de re-notwendig sind, und alles, was nicht eintritt, de re-unmöglich

ist.

Das ist keine Verurteilung des Fatalismus. Allerdings verurteilte

Thomas von Aquin den Kausaldeterminismus und damit den Fata-

lismus, der auf de re-Notwendigkeiten beruht, am Beispiel von stoi-

schen Positionen. Wenn mit Fatum ein notwendiger Zusammenhang

von Ursachen und Wirkungen gemeint ist, bei dem das Zutreffen des

Vordersatzes notwendig auf das Zutreffen des Folgesatzes schließen

lässt, so lässt die stoische Fatums-Lehre keine Ereignisse ohne Ursa-

che erkennen.597 Da es im christlichen Kontext solche geben muss,

scheint hier Thomas von Aquin sowohl die diodorische als auch die

stoische Version des Fatalismus abzulehnen.

595 Thomas von Aquin, In Aristotelis Peri hermeneias, lib. I, lec. 14. 596 A.a.O.: „Quidam enim distinxerunt ea secundum eventum, sicut Diodorus,

qui dixit illud esse impossibile quod nunquam erit; necessarium vero quod semper erit; possibile vero quod quandoque erit, quandoque non erit. Stoici vero distinxerunt haec secundum exteriora prohibentia. Dixerunt enim ne-cessarium esse illud quod non potest prohiberi quin sit verum; impossibile vero quod semper prohibetur a veritate; possibile vero quod potest prohiberi vel non prohiberi. Utraque autem distinctio videtur esse incompetens. Nam prima distinctio est a posteriori: non enim ideo aliquid est necessarium, quia semper erit; sed potius ideo semper erit, quia est necessarium“.

597 A.a.O.

222

Thomas von Aquin verwirft zudem Abaelards Position, wonach Gott

nur das könnte, was er täte.598 Nach Thomas kann Gott durchaus an-

ders handeln als er handelt. Jedenfalls stellen die kontrafaktischen

Möglichkeiten eine tatsächliche Fähigkeit („virtus“) Gottes dar,599

auch wenn sie keine Realität wie diejenigen Möglichkeiten darstel-

len, die sich zuletzt realisieren werden.

Es scheint also, dass Thomas eine nicht-fatalistische Möglichkeits-

auffassung vertrat. Damit übereinstimmend ist nach Thomas alles,

was (sogar unfehlbar!) zutage tritt, kontingent. D.h. alles, was Gott

vorsieht, ist nicht logisch notwendig.600 Es ist das Fehlen geradezu

einer logischen Notwendigkeit, was nach Thomas die Kontingenz

ausmacht. Thomas sah im Kontingenzgedanken eine Widerlegung

des Kausaldeterminismus, eine Bestätigung der Willensfreiheit, die

aber der Unfehlbarkeit Gottes keinen Abbruch täte. Zu überprüfen

ist, ob Thomas’ Kontingenzbegriff all das leisten kann, was Thomas

erwartet.

Thomas revidierte den aristotelischen Gedanken, der in der Kontin-

genz ein kausales Vakuum sah. Er führte die Kontingenz eines zu-

künftigen Ereignisses darauf zurück, dass die unmittelbaren Ursa-

chen desselben noch nicht determiniert sind. Ein kontingentes Zu-

kunftsereignis (futurum contingens) ist nach seinen Worten noch

nicht gegenwärtig in mindestens einer seiner Ursachen.601 598 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De potentia, q. 1, a. 5, resp. 599 Charakteristisch für einige der hier vorgestellten Gedanken des Thomas von

Aquin ist die Stelle Summa contra Gentiles, lib. I, cap. 66, n. 10-11: „Ea enim quae non sunt nec erunt nec fuerunt, a Deo sciuntur quasi eius virtuti possibilia. Unde non cognoscit ea ut existentia aliqualiter in seipsis, sed ut existentia solum in potentia divina. Quae quidem a quibusdam dicuntur a Deo cognosci secundum notitiam simplicis intelligentiae. Ea vero quae sunt praesentia, praeterita vel futura nobis, cognoscit Deus secundum quod sunt in sua potentia, et in propriis causis, et in seipsis. Et horum cognitio dicitur notitia visionis: non enim Deus rerum quae apud nos nondum sunt, videt so-lum esse quod habent in suis causis, sed etiam illud quod habent in seipsis, inquantum eius aeternitas est praesens sua indivisibilitate omni tempori“.

600 Ebenda, lib. III, cap. 94. Diese Äußerung bezieht sich nicht auf die mathe-matischen und logischen Wahrheiten, die natürlich nicht kontingent, son-dern logisch notwendig sind. Solche Wahrheiten sieht Gott aber im eigen-tlichen Sinne nicht vor, denn er ist selber an ihnen gebunden.

601 Ebenda, lib. I, cap. 67. Eine Analyse ist zu finden bei: Prior, The Formali-ties of Omniscience, 124 (bzw. ders., Papers on Time and Tense, 38-39).

223

Es lohnt sich, zu Thomas’ Terminologie in diesem Punkt weiter aus-

zuholen: Die Behauptung in t0, dass in tn>t0 ein Waldbrand bestimmt

ausbrechen wird, wird thomistisch auf folgende, etwas eigenartige

Weise ausgedrückt: Ein Waldbrand in tn ist bereits in t0 in allen sei-

nen Ursachen gegenwärtig – daher unvermeidlich, kein futurum con-

tingens. Die Behauptung in t0 dagegen, dass ein Waldbrand in tn>t0

kontingenterweise ausbrechen wird, wird thomistisch auf folgende

Weise ausgedrückt: In t0 gibt es Ursachen des Waldbrandes, in denen

dieser noch nicht gegenwärtig ist. Ein Waldbrand bleibt also ein fu-

turum contingens genau dann, wenn (und solange) er in denjenigen

Ursachen nicht gegenwärtig ist, die ihn unvermeidlich machen, so-

bald sie eintreten.

Jeder kontingente zukünftige Waldbrand ist bereits in einigen Ursa-

chen seit langer, langer Zeit gegenwärtig, wie z.B. im Vorkommen

von Sauerstoff in der Erdatmosphäre. In anderen ist der Waldbrand

seit zwei oder drei Monaten gegenwärtig, wie z.B. im trockenen

Laub auf der Erde. Sauerstoff und trockenes Laub sind mittelbare,

entfernte Ursachen eines zukünftigen Waldbrandes und von allein

bewirken sie nicht den Waldbrand in tn. Sie bewirken ihn jedenfalls

nicht, bevor die unmittelbaren Ursachen des Waldbrandes in tn – et-

wa ein Funke und starker Wind – mit ihrer „Gegenwart“ das Ausbre-

chen des Waldbrandes unvermeidlich machen. Generell ist ein Zu-

kunftsereignis, das in tn stattfindet, genau dann kontingent in t0, wenn

seine unmittelbaren Ursachen in tj eintreten, wobei 0<j<n.

Der Satz also: „Ein Waldbrand wird in tn ausbrechen“ beschreibt un-

ter den genannten Bedingungen ein unvermeidliches zukünftiges

Ereignis nach tj, weil der Waldbrand nach diesem Zeitpunkt selbst in

seinen unmittelbaren Ursachen gegenwärtig ist, aber ein kontingen-

tes zukünftiges Ereignis in t0. Nun sind diese unmittelbaren Ursachen

ebenfalls Ereignisse, die mit Sätzen ausgedrückt werden wie: „In tx

wird es der Fall sein, dass p“. Ist ein zukünftiger Waldbrand kontin-

gent, dann darf er nach dem thomistischen Verständnis der Kontin-

genz in ti für x=i<j in diesen Ursachen noch nicht gegenwärtig sein.

Diesen Punkt vermisse ich in der sonst sehr informativen Analyse des thomasischen Prognose-Begriffs durch Wei, Predicting the Future, 28-33: Zukünftige Ereignisse mit absoluter Sicherheit zu prognostizieren heißt nach Thomas von Aquin, ihnen die Kontingenz abzusprechen.

224

Was bedeutet das für diese Ursachen? Offenbar, dass sie selber in ti

kontingent sein müssen. D.h. sie sind vor ti in ihren Ursachen noch

nicht gegenwärtig. Und so weiter und so fort bis zum Anfang aller

Zeiten. Um also ein kontingentes, zukünftiges Ereignis anzunehmen,

müsste man ein kontingentes, d.h. nicht in all seinen Ursachen ge-

genwärtiges Ereignis annehmen, das nicht mehr zukünftig ist, weil es

am Anfang aller Zeiten stattfindet. Würde das Thomas von Aquin

begrüßen? Wohl kaum, obwohl es aus seiner Analyse der Kontin-

genz hervorgeht.

Er würde es nicht begrüßen, da er selbst die Unbestimmtheit der Zu-

kunft ablehnte.

Gegen die Unbestimmtheit der Zukunft spricht nach Thomas von

Aquin der Umstand, dass Gott kontingente Zukunftsereignisse aus

einer Gegenwartsperspektive betrachtet.602

Obwohl die kontingenten Zukunftsereignisse in ihren Ursachen nicht bestimmt sind, sind sie in ihrem Wesen doch bestimmt, insofern als sie aktuell sind. Und auf diese Weise unterliegen sie der oben, in der Distinktion 38, Frage 1, Artikel 5, bereits erwähnten Sicherheit des Vorherwissens über die kontingenten Zukunftsereignisse.603

In der heutigen Thomas von Aquin-Forschung sorgt gerade dieser

Zusammenhang von Vorherwissen trotz Kontingenz für Irritation.

Thomas wird deshalb oft als „theologischer Fatalist“ betrachtet, sein

Lösungsversuch (Gott verfüge nur über eine Gegenwartsperspektive)

als nicht zufriedenstellend,604 verblüffend,605 inkohärent,606 Verle-

genheit stiftend607 usw. verworfen.

Die zeitgenössischen Argumente, die für ein antifatalistisches Ver-

ständnis der thomistischen Lehre und gegen deren moderne Kritiker

vorgebracht worden sind, halten m.E. entweder einer strengeren Prü-

602 Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum, lib. I, d. 40, q. 3, a.

1, ad 5. 603 Ebenda, lib. I, d. 40, q. 3, a. 1, ad 4, unter Hinweis auf lib. I, d. 38, q. 1, a. 5. 604 Craig, Aquinas on God’s Knowledge, 61-79; The Problem of Divine Fore-

knowledge, 103-116. 605 Iseminger, Foreknowledge and Necessity, 9-10. 606 Kenny, Divine Foreknowledge, 264. 607 Mulligan, Divine Foreknowledge, 299.

225

fung nicht stand608 oder sie sind nur philologischer Natur und para-

phrasieren lediglich das Argument des Thomas.609

Die Kausalitäts- und die Prädestinationslehre von Thomas von

Aquin ergänzen sich. In Anlehnung an Peter Lombard610 benutzte

Thomas zwei Vorherbestimmungs-Begriffe: Einerseits die Vorherbe-

stimmung Gottes darüber, dass ein Mensch gerettet werden soll

(„praedestinatio“),611 anderersetis die Vorherbestimmung eines

Menschen zur Verdammnis („reprobatio“). Thomas von Aquin er-

kannte eine Vorherbestimmung zur Rettung, die Prädestination, kei-

ne Vorherbestimmung zur Verdammnis aber. Während die Ver-

dammnis eines bösen Menschen zum ewigen Feuer nach Thomas

selbstverschuldet ist, d.h. ohne irgendwelche Vorherbestimmung, ist

die Rettung eines guten Menschen von Gott vorherbestimmt, kein

Verdienst des guten Menschen.612 Im Sinne eines augustinischen An-

tipelagianismus, der es ablehnt, dass menschliche Verdienste zur

Spendung der göttlichen Gnade beitragen, behauptete Thomas, dass

die alleinige Ursache dieser Vorherbestimmung („praedestinatio“)

die göttliche Güte ist. Das bedeutet aber nicht, dass Gott auch die

Ursache des Willens ist, den der gute Mensch bei der Ausführung

guter Taten hat. Es verhält sich hierbei, sagt Thomas, eher so wie

beim König und dem Ritter: Der König (Gott) kann willkürlich je-

608 So bestehen Burrell, God’s Knowledge, 317-318, und eigentlich selbst

Craig, Aquinas on God’s Knowledge, 60, Fußn. 61, darauf, dass Gottes Er-kenntnis keine propositionale Erkenntnis wäre. Was das Oxymoron der nicht-propositionalen Erkenntnis ist, können die Vorgenannten natürlich nicht erklären.

609 Z.B. ist dies bei McGinn, The Development, und Lawler, Grace and Free Will, der Fall.

610 Peter Lombard, Sententiae in IV libris distinctae, lib. I, d. 40, cap. 2. 611 Bei Peter Lombard, a.a.O., lautet die Definition der Prädestination: „Praede-

stinatio [est] gratiae praeparatio, id est divina electio, qua elegit quos voluit ante mundi constitutionem“. Die Wahl sollte aber nach der franziskanischen Freiheitstheologie etwas anderes als die Prädestination sein. Denn nach Pe-ter Aureoli sollten z.B. alle Menschen zwar auserwählt, aber nicht alle zum Heil prädestiniert sein (vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.4). Thomas von Aquin zitiert (mehrmals) in der Distinktion 40 des ersten Buches seines Sentenzenkommentars die Definition des Lombarden ohne den Schachtel-satz „…id est divina electio…“, wahrscheinlich weil er einem Durcheinan-derbringen von Prädestination und Wahl vorbeugen will.

612 Thomas von Aquin, Summa theologiae, Ia, q. 23, a. 2, co.

226

manden zum Ritter (zum guten, zu rettenden Menschen) schlagen. Er

gibt ihm auch ein Pferd (eine Anlage, sein Ziel, die gute Tat, zu wol-

len – „affectio volentis ad finem“). Aber der Besitz des Pferdes durch

den Ritter ist nicht durch den Ritterschlag verursacht, sondern

dadurch, dass er kein Ritter hätte sein können, wenn er kein Pferd

hätte. Menschliche Vernunft und menschlicher Wille, das Ziel zu

verwirklichen, sind allerdings notwendige Bedingungen für die Ver-

wirklichung dieses Ziels: weder durch Gottes Willkür bedingte Gna-

denakte noch durch menschliche Willkür bedingte Verdienste.613

Gott prädestiniert also (allerdings nicht direkt, sondern durch rele-

vante unmittelbare Ursachen – vgl. die Analyse des thomistischen

Kontingenzverständnisses oben) die Tugendhaften zur Rettung. Er

prädestiniert aber nicht die Verwerfung der Verdammten. Denn Gott

kann weder Böses wollen noch dazu prädestinieren.614 Thomas von

Aquin führte also eine (bei Peter Lombard noch fehlende) Disparität

zwischen praedestinatio und reprobatio ein. Die zu Verdammenden

(reprobati) würden nicht durch die Vorherbestimmung, sondern aus

eigenem Versagen verworfen.

Die einfache Prädestination (d.h. Vorherbestimmung nur zur Ret-

tung) des Thomas sollte vom viel radikaleren Augustinismus des

Gregor von Rimini und der späteren neoaugustinischen Franziskaner

zugunsten der doppelten Prädestination aufgegeben werden. Nach

dieser habe Gott den Lebenswandel und zum Schluss die Taten so-

wohl der (zum Guten und zur Rettung) Prädestinierten als auch der

zu Verdammenden aktiv gewollt.615

Die Prädestination zur Rettung und sowie die eigenverschuldete

Verdammnis ergehen aufgrund von kontingenten Ereignissen: Taten

der Vorherbestimmten und nicht-Vorherbestimmten respektive. Die

Zukunft der (zum Guten und zur Rettung) Vorherbestimmten will

613 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De veritate, q. 6, a. 2, resp. 614 Thomas von Aquin, Scriptum super libros Sententiarum, lib. I, d. 40, q. 4, a.

1, co. Vgl. auch Summa theologiae, Ia, q. 19, a. 9, ad 3. 615 Zur doppelten Prädestination vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.4. Zur Debatte:

einfache versus doppelte Prädestination unter dem Aspekt eines gemäßigten und eines radikaleren Augustinismus und mit biblischen sowie mittelalterli-chen Belegen vgl. von Moos, Das Geheimnis der Prädestination, 161-163 und 171-174.

227

und erkennt Gott zwar unfehlbar, er nezessitiert sie aber nicht, da die

Werke der Vorherbestimmten auch andere hätten sein können - lo-

gisch wohlgemerkt, nicht physisch, da Gott sie bereits zu diesen

Werken vorherbestimmt hat.

Über die Zukunft derjenigen, die zum Schluss verdammt werden,

weiß Gott auch unfehlbar vorher, denn auch diese können nicht aus

eigenen Werken, unabhängig von Gottes Prädestination (die sie aber

von vornherein nicht haben!), Gott dazu bewegen, sie in die Reihen

der Vorherbestimmten aufzunehmen (Stichwort: Antipelagianismus).

Die bösen Werke der nicht Vorherbestimmten sind in einem Sinne

von Gott nicht gewollt, und sie hätten sowohl logisch als auch phy-

sisch anders ausfallen können. In diesem Sinne sind sie kontingent,

obwohl sie auf alle Fälle stattfinden.

Die Prädestinationslehre des Thomas von Aquin setzte ab sofort den

Rahmen für die Dominikaner-Theologie.

LEONHARD VON PISTOIA, ein dominikanischer Autor, der in der ers-

ten Hälfte des 14. Jh. geschrieben hat (mit dem Maler gleichen Na-

mens aus dem 16. Jh. nicht zu verwechseln), erklärte zur Kluft zwi-

schen der Prädestination zum Guten und der fehlenden Vorherbe-

stimmung zum Schlechten, dass Gott die Prädestinierten auf die gu-

ten Werke vorbereitet, da er im voraus weiß, wer Gutes tun wird.

Nun weiß er natürlich ebenfalls, dass die zu Verdammenden in das

ewige Feuer gehen, deshalb bereitet er das ewige Feuer vor. Er weiß

im voraus, wer diese sind, er bereitet aber diese nicht auf ihre Sün-

den vor.616

Zum Thema Kontingenz meinte Leonhard, dass jede Wirkung aus

ihrer unmittelbaren Ursache notwendig hervorgeht, dass sie jedoch

aus der ersten Ursache nicht notwendig hervorgeht.617 Selbst wenn

die Trockenheit im Wald notwendig aus der Regenlosigkeit folgt und

der überspringende Funken notwendig aus dem Wind sowie dem

nahen Feuer folgt, folgt der daraus resultierende Waldbrand nicht

notwendig aus Regenlosigkeit, Wind und nahem Feuer, so wenigs-

tens Leonhards Meinung. Leonhard wollte damit sagen, dass ein

kontingentes Zukunftsereignis nicht erst dadurch kontingent wird,

616 [Leonhard von Pistoia], De praescientia et praedestinatione, cap. 2. 617 [Leonhard von Pistoia], De praescientia et praedestinatione, cap. 4, ad 1.

228

dass es logisch kontingent ist. Seine Kontingenz ist bereits damit

gegeben, dass Gott nicht die unmittelbare Ursache desselben ist.

Während Dominikaner wie Leonhard von Pistoia ihre Kontin-

genzauffassung entlang der thomistischen Kausalitätslehre verteidig-

ten, lehnten Scotisten die thomistische Kausalitätslehre vollständig

ab. Der Scotist PETER THOMAE († 1340) warf ihr ein Jahrhundert

nach ihrer Propagierung durch Thomas von Aquin vor, nur Notwen-

digkeit, keine Kontingenz zuzulassen.618 Der Kontingenzbegriff, so

die Meinung des Peter Thomae, ist weder auf der Grundlage des

göttlichen Intellekts noch auf der Grundlage der Ereignisse selber

begründet.619 Versucht man aber die Kontingenz wie Thomas von

Aquin nur aufgrund des göttlichen Intellekts und der Ereignisse zu

begründen, dann begründet man keine Kontingenz, sondern den De-

terminismus. Der göttliche Intellekt erkennt die objektiv bestehenden

kausalen Zusammenhänge zwischen den Ereignissen. Auch die un-

mittelbaren Ursachen, durch die ja der Glaube an die Kontingenz

seine Berechtigung erhalten soll, sind Ereignisse, die ihrerseits mit

anderen Ereignissen durch Kausalketten verbunden sind. So gesehen

machen selbst die unmittelbaren Ursachen von Zukunftsereignissen

diese letzten nicht wirklich zufällig.

Andere Franziskaner jedoch, die keine Scotisten waren, akzeptierten

allerdings die Kausalitäts- und Kontingenzauffassung des Thomas

von Aquin. Der Franziskaner-Generalminister BONAVENTURA VON

BAGNOREGIO hatte sie bereits früh im 13. Jh. ebenfalls vertreten.

Später, im 14. Jh. stimmten Karmeliten wie GERHARD VON BOLOG-

NA und GUIDO TERRENA sowie byzantinische Thomisten in Sachen

Kausalität und Kontingenz mit Thomas von Aquin überein.

Wie Thomas lehnte auch BONAVENTURA († 1274) die Funktion des

astrologisch verstandenen Fatums zur Prognose kontingenter Zu-

kunftsereignisse ab.620 Dieser setzte sie mit der („irrtümlichen“,

„arabischen“) Vorstellung gleich, Gott würde mit Sicherheit aus-

schließlich allgemeine Gesetzmäßigkeiten (Sternenbewegungen et-

618 Peter Thomae, In primum librum Sententiarum [aus d. 39], d. 39, pars 1,

Contra opinionem Thomae, § 38, p. 18. 619 Ebenda, d. 39, pars 2, a. 1. 620 Bonaventura von Bagnoregio, Breviloquium, pars 2, cap. 4.

229

wa) erkennen. Auf solche führt nämlich auch die Astrologie die kon-

tingenten Zukunftsereignisse zurück. Das würde aber heißen, dass

Gott nur im voraus erkennt, was notwendig der Fall sein wird, und

das erscheint Bonaventura falsch.621 Gegen diese Vorstellung wollte

Bonaventura mit Thomas von Aquin zulassen, dass Gott alles bzw.

auch die kontingenten Sachverhalte im voraus und zwar mit Gewiss-

heit erkennt.

Bonaventura folgten in seiner Übernahme thomistischer theologi-

scher Doktrinen weitere Franziskaner-Theologen. Jahrzehnte später

wiederholte WILHELM VON OCKHAM († zw. 1347 u. 1349), dass Gott

mit Sicherheit über den Ausgang kontingenter Zukunftsereignisse

wüsste. Ockham behauptete das allerdings weniger doktrinär: Er ge-

stand ein, nicht zu wissen, wie so etwas sein kann.622

Auch die Karmeliten GERHARD VON BOLOGNA († 1317) und GUIDO

TERRENA († 1342)623 bejahten die Frage, ob Gott kontingente Zu-

kunftsereignisse mit Gewissheit erkennt bzw. sie meinten, dass Gott

alles, was sich zuletzt ereignen soll, im Sinne von ewig wahren Sät-

zen erkennt.624 Diese Position, die voraussetzt, dass es keine unbe-

stimmten Sätze über die Zukunft gibt, beabsichtigt, die plagenden

logischen Fragen der franziskanischen Freiheitstheologie zu umge-

hen, die sich gerade wegen der Annahme unbestimmter Sätze über

die Zukunft aufdrängen.625 Beide Autoren argumentieren gegen

621 Bonaventura von Bagnoregio, Collationes in Hexaemeron, Visio prima,

collatio 3, pars 3. 622 Wilhelm von Ockham, In librum primum Sententiarum (Ordinatio), d. 38,

q. 1, Opinio propria auctoris, Bd. 4, p. 584. 623 Gerhard von Bologna, Summa theologiae, quaestio 25, articulus 7; Guido

Terrena, Quodlibet VI, quaestio 3. 624 Gerhard von Bologna, Summa theologiae, quaestio 25, articulus 7, Opinio

propria, pp. 177-178; Guido Terrena, Quodlibet VI, quaestio 3, a. 2, pp. 198-199.

625 Zu der Entstehung von zwei völlig verschiedenen Traditionen im Westen bezüglich des Verständnisses der kontingenten Sätze über die Zukunft nach dem 14. Jh. vgl. Schabel, Early Carmelites, 139-169. Schabel nennt die eine Tradition „dominikanisch“, die andere „franziskanisch“. Beide Bezeichnun-gen müssen cum grano salis verstanden werden, da erstere im 14. Jh. von Augustinermönchen, nicht von Dominikanern dominiert wurde und letztere nicht die einzige franziskanische Variante war. Es war die Position derjeni-gen unter den Franziskanern, die für die Unbestimmtheit der Zukunft plä-

230

Scotus.626 Guido Terrena argumentiert auch gegen Aureolis These,

nach der es kontingente Zukunftssätze gibt, die weder wahr noch

falsch sind.627

Der Einfluss der thomistischen Theologie auf einen Teil der byzanti-

nischen Theologie des 14. und 15. Jh. ist mittlerweile sehr gut er-

forscht.628 Dieser Einfluss führte zur positiven Rezeption des Fa-

tums- und des Prädestinationsgedankens durch byzantinische Gelehr-

te, die an der Scholastik orientiert waren.

Der Neuheide GEORG GEMISTOS (alias: PLETHON; † 1452) verschrieb

sich geradezu einem an stoischen Vorbildern orientierten Schicksals-

glauben. Diesen brachte er in seinem zum größten Teil nicht überlie-

ferten Lebenswerk Gesetze (Nomoi) zum Ausdruck.629 Das Kapitel

über das Schicksal aus diesem zirkulierte bereits zu Plethons Lebzei-

ten als eigenständige Schrift. Glücklicherweise gehört es zu dem

Wenigen, was aus diesem Werk bis zu uns hinübergerettet wurde.630

Gemistos brachte zweierlei Argumente für das Fatum vor: philoso-

phische und theologische. Zu den ersten gehört der Gedanke, dass

die Ablehnung des Schicksalsglaubens voraussetzt, dass es Zu-

kunftsereignisse gibt, die noch unbestimmt sind und zwar ihren Ur-

dierten. Die meisten Spiritualen waren aber, wenngleich Franziskaner, von dieser Strömung franziskanischer Theologie nicht angetan. Zur Sekundärli-teratur über die „dominikanische“ Strömung vgl. ebenda, 144-145, Fußnote 7.

626 Vgl. die vergleichende Tafel von Passagen des Scotus, Gerhards und Guidos in: Schabel, Early Carmelites, 154.

627 Guido Terrena, Quodlibet VI, quaestio 3, a. 1, p. 195. 628 Zu einer Einführung in die Thematik eignen sich folgende Arbeiten: Bena-

kis, Hē parousia tou Thōma Akinatē; Papadopoulos, Thomas in Byzanz. Weiterführend sind folgende Studien: Barbour, The Byzantine Thomism of Gennadios Scholarios; Kianka, Demetrius Cydones and Thomas Aquinas; Moutsopoulos, Thomisme et aristotélisme à Byzance; Podskalsky, Die Re-zeption.

629 Georg Scholarios zerstörte bekanntlich das Autograph der Nomoi und rief anfang der 50er Jahre des 15. Jh. – damals als Konstantinopler Patriarch – zur Zerstörung aller Exemplare des Werkes auf, wie er sich später in einem Brief an Joseph Hexarchos, PG 160, coll. 631-648, erinnerte.

630 Georg Gemistos, Peri heimarmenēs, PG 160, coll. 961-964; ediert auch in: ders., Traité des lois, lib. II, cap. 6, pp. 64-78. Beim von C. Alexandre her-ausgegebenen Traité des lois handelt es sich um eine Sammlung der Frag-mente aus den Nomoi.

231

sachen nach. Nur dann ist ein Ereignis unbestimmt, wenn es nicht

verursacht ist. Dies setzt nun Gemistos dem gleich, dass das fragli-

che Ereignis zum Schluss ohne Verursachung entstanden ist,631 wo-

mit der Satz vom zureichenden Grunde seine Gültigkeit verlieren

würde.

Ein anderes Unbestimmtheitsverständnis besagt, dass ein Ereignis

genau dann unbestimmt ist, wenn es nicht zwingend durch seine Ur-

sachen bedingt ist.632 Genau dieselben Ursachen könnten beim

nächsten Mal daran scheitern, ein Ereignis hervorzubringen, das sie

vorher hervorgebracht haben. Auch dieses Verständnis der Unbe-

stimmtheit erscheint Gemistos nicht vertretbar.

Daraus zieht Georg Gemistos den Schluss, dass die Unbe-

stimmtheitsidee absurd ist. Wer bestreitet, dass alles Zukünftige seit

jeher bestimmt ist, bestreitet das Werk der göttlichen Vorsehung633

sowie das göttliche Allwissen. Sachverhalte, die im voraus erkannt

werden, müssen von Sätzen beschrieben werden, von denen im vo-

raus bestimmt ist, dass sie sich bewahrheiten werden.634

Indem er göttliche Vorsehung und Allwissenheit thematisierte, nahm

Georg Gemistos mehrere Götter an. Seine Hauptgottheit nannte er:

Zeus. Solche Extravaganzen brachten diesem Autor bereits zu Leb-

zeiten die Charakterisierung des Heiden ein, eine Charakterisierung

die er selber stillschweigend und gelassen akzeptierte. Dabei weist

das auch heute so oft angesprochene Neuheidentum des Georg Ge-

mistos, eines Autors, dessen Schlüsselrolle für die griechischen litte-

rae unbestritten bleibt,635 eine nur oberflächliche Huldigung der alten

Götter auf, während seine Theologie stark vom Neoplatonismus,

vom Stoizismus sowie vom Thomismus geprägt ist.636 Neoplatonis-

631 Georg Gemistos, ebenda, PG 160, col. 961 B. 632 A.a.O. 633 Ebenda, coll. 961 C-963 A. 634 Ebenda, coll. 962 B-963 A. 635 Auf griffige Weise ist Georg Gemistos in den letzten Jahrzehnten als der

„letzte Hellene“ (so der Untertitel der Standardmonographie von Wood-house, Plethon) sowie als der „erste Neugrieche“ (Ihalainen-Leiwo, Geor-gios Gemistos Plēthon, 90) tituliert worden.

636 Über die Beeinflussung des Georg Gemistos durch Thomas von Aquin vgl. Demetracopoulos, Plēthon kai Thōmas Akuinatēs, passim.

232

mus, Stoizismus und Thomismus ergeben bei Georg Gemistos in

puncto Schicksalsglaube eine Lehre, die verblüffende Ähnlichkeiten

mit dem Neoaugustinismus des Spätmittelalters hat. Und tatsächlich

sind viele der neoaugustinischen Argumente, die Rom zur Entschei-

dung des Löwener Streites vorbrachte, nichts als Ideen des Georg

Gemistos, die dort durch dessen Schüler Bessarion von Nizäa in den

Dienst der Dogmatik der lateinischen Kirche gesetzt wurden.637

Unter den Kritikern des Georg Gemistos in puncto Schicksalsglaube

waren der byzantinische Thomist GEORG SCHOLARIOS sowie seine

direkten oder indirekten Schüler MATTHÄUS KAMARIOTES, THEO-

DOR AGALLIANOS und MANUEL VON KORINTH. Alle vier boten Ar-

gumente für eine gemäßigte Prädestinationslehre thomistischer Fär-

bung an. Auf das Werk des Manuel von Korinth werde ich mich hier

nicht einlassen, da es dem 16. Jh. zuzuordnen ist.

Zur Prädestination ist von GEORG SCHOLARIOS († vor 1473) eine

Kollation aus fünf unabhängig voneinander verfassten Schriften

überliefert, die oft als ein fünfgliedriger Traktat behandelt werden.638

Ich habe sie im Kontext der Todesstunden-Problematik bereits be-

sprochen. Sie enthalten aber auch Widerlegungen der Prädestination

nach Gemistos.

Es ist nach Georg Scholarios unmöglich, dass sich ein Mensch dem

Guten nicht verschreiben will, Gott aber anders vorgesehen hat.639 Es

ist unmöglich für den Menschen, anders zu wollen, als Gott vorgese-

hen hat.640 Mit anderen Worten: laut Georg Scholarios stimmen Got-

tes Wille und des Menschen Taten stets überein. Menschliche Frei-

heit und göttliche Vorsehung bedingen genau dieselben Sachverhal-

637 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.4. 638 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination (in Œuvres

complètes hg. v. Jugie / Petit / Sidéridès) bzw. De divina providentia und Epistola de praedestinatione (dieselben Urtexte in PG 160). Außerdem sind für die Prädestinations-Thematik folgende Schriften des Georg Scholarios interessant, auf die ich hier nicht näher eingehe: Kata tōn Plēthōnos aporiōn epistolē, in: Œuvres complètes (d.h. Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès), Bd. 4, pp. 1-116 sowie Kata atheōn ētoi automatistōn, ebenda, pp. 172-189.

639 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. II, cap. 13 in: Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès) Bd. 1, p. 424 bzw. Epistola de praedestinatione, PG 160, col. 561 B-C.

640 Ebenda.

233

te. Die Vorsätze („eukhai“) eines Menschen und die Prädestination

sind aufeinander abgestimmt. Man wünscht genau das, wozu man

prädestiniert ist.641 Zwar meinte Georg Scholarios, dass die göttliche

Vorsehung einem Wunsch und keiner „äußerlichen“ Handlung

gleichzusetzen ist,642 aber er dachte wahrscheinlich auch, dass Gottes

Wünsche realisiert werden, sobald sie einmal gefasst worden sind.

Von der Nezessitation grenzt Georg Scholarios diese Positionen fol-

gendermaßen ab: Alles, was prädestiniert ist, tritt unter dem Zwang

nicht seiner Natur ein, nicht absolut notwendig also, sondern es tritt

(zwar) zwingend ein unter der Bedingung, dass es eintritt.643 Er zieht

folgenden Schluss:

Einige [gottinspirierte Autoren – „entheoi“]644 nehmen zwar „Prä-destination“ als ein anderes Wort für die Notwendigkeit her, ohne genau auf die [wörtliche] Bedeutung des Wortes einzugehen, wissen aber nichtsdestotrotz sehr wohl, dass die göttliche Prädestination die Selbstständigkeit unter keine Notwendigkeit stellt sowie dass sie keine Notwendigkeit ist.645

Mit Notwendigkeit meint hier Scholarios ohne Zweifel (für diese

Interpretation s. gleich unten) die absolute, logische Notwendigkeit.

Nichts Prädestiniertes ist logisch notwendig. Aber zu etwas Prädesti-

niertem gibt es auch keine wirklich machbare Alternative. Scholarios

nennt die so verstandene Prädestination nicht ohne Recht: Naturnot-

wendigkeit („physeōs anankē“). Er sieht in der Prädestination eine

Art Zwang, allerdings keinen logischen Zwang (das wäre Nezessita-

rismus), auch keinen metaphysischen Zwang (das wäre Fatalismus),

sondern einen physischen. Gott bereitet jedem Menschenleben zwei-

641 Vgl. Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De veritate, q. 6, a. 2,

resp. 642 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. V, cap.

7 in: Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès) Bd. 1, p. 45928-34 bzw. De divina providentia, lib. V, PG 160, coll. 1155-1156.

643 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. I, cap. 19 in: Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès) Bd. 1, p. 406 bzw. De divina providentia, lib. I, PG 160, coll. 1119 C-D.

644 Es ist unklar, auf wen sich Georg Scholarios mit dieser Bezeichnung be-zieht. Vielleicht meint er Georg Gemistos und Bessarion.

645 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. I, cap. 21 in: Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès) Bd. 1, p. 40832-

25 bzw. De divina providentia, lib. I, PG 160, col. 1122 A.

234

erlei Ausgänge vor, die aus der Natur heraus zwar gleichermaßen

bevorstehen, aber nicht beide realisiert werden können. Diese Positi-

on weicht von der thomistischen Kausalitäts- und Kontingenzlehre

ab. Georg Scholarios nennt explizit das Lebensende ein Zukunftser-

eignis mit zwei Ausgängen, die durch den Zufall oder durch freie

Entscheidung bedingt sind. Die Realisierung des jeweiligen Aus-

gangs hängt allein vom freien menschlichen Willen ab.646

Georgs Thomas-Blütenlesen647 enthalten Thomas-Passagen, die

Thomas als keinen Vertreter des Fatum-Gedankens und als einen

gemäßigten Vertreter der Gewissheit der göttlichen Vorsehung er-

scheinen lassen.648 Der Herausgeber dieser Blütenlesen vermutet,

dass die Absicht von Georg Scholarios beim Abfassen bzw. Ab-

schreiben dieser Passagen war, thomistische Argumente gegen

Plethons Fatalismus zu sammeln.649 Beim Inhalt dieser Blütenlesen

ist das gut möglich. Es ist auch möglich, dass Georg Scholarios da-

mit zeigen wollte, dass der Fatalismus von Georg Gemistos oder

irgendsonsteinem von der thomistischen Theologie nicht unterstützt

wird. So etwas geht aber aus den Blütenlesen selber nicht hervor.

Die Thomas-Blütenlesen des Georg Scholarios stellen auf jeden Fall

Belege für eine sich durch die Selektion ergebende Lesart der tho-

646 Georg Scholarios, Traités sur la providence et la prédestination, lib. I, cap.

16 in: Œuvres complètes (Ausgabe Jugie / Petit / Sidéridès), Bd. 1, p. 402-403 bzw. De divina providentia, lib. I, PG 160, coll. 1116-1117.

647 Kritisch ediert in: Demetracopoulos, Georgios Gennadios II-Scholarios’ Florilegium thomisticum, pp. 124-147 (die erste Blütenlese); sowie in dess., „Georgios Scholarios-Gennadios II’s Florilegium thomisticum II, pp. 345-365 (die zweite Blütenlese). Zweifel über Georgs Urheberschaft kann in Bezug auf die zweite Blütenlese bestehen.

648 Vgl. den Auszug aus der Summa theologiae, Ia, q. 116, a. 1, hg. von Deme-tracopoulos, Georgios Gennadios II-Scholarios’ Florilegium thomisticum, pp. 133-134. Ebenfalls den Auszug aus der Summa contra Gentiles, lib. III, cap. 93, hg. von Demetracopoulos, J. in: ders., Georgios Scholarios-Gennadios II’s Florilegium thomisticum II, pp. 357-358. Ebenda, pp. 363-365, für eine Passage aus der Summa contra Gentiles, lib. III, cap. 94, nach der die göttliche Vorsehung das Ausbleiben von ansonsten vorgesehenen Ereignissen zulässt.

649 Demetracopoulos, Georgios Gennadios II-Scholarios’ Florilegium thomisti-cum, 163-164; ders., Georgios Scholarios-Gennadios II’s Florilegium tho-misticum II, 342-343.

235

mistischen Prädestinationslehre dar, die an den byzantinischen Theo-

logie-Mainstream angepasster erscheint.

Zwei interessante Punkte der Prädestinationslehre des Georg Schola-

rios sind folgende. Erstens verdankt sich diese eindeutig der thomis-

tischen Lehre über die Kontingenz. Zweitens hat aber Georg Schola-

rios die thomasische Theorie, die ihm als Vorbild diente, dahinge-

hend überinterpretiert, dass die kontingenten Ereignisse einen unbe-

stimmten Ausgang haben. In diesem Ergebnis entfernt sich seine

Lehre von seinem Vorbild und ähnelt der orthodox aristotelischen

Lehre über die Unbestimmtheit der Sätze über die Zukunft. Den

Synkretismus des Scholarios bedingte wohl der Umstand, dass dieser

in zwei Traditionen zuhause war: im Thomismus sowie im byzanti-

nischen Aristotelismus.

Bei seiner sehr gemäßigten Prädestinationslehre, ja bei seiner Vor-

liebe für „offene Ausgänge“ von Zukunftsereignissen ist es wohl

kein Zufall, dass Georg Scholarios einen seltenen Fall unter den by-

zantinischen Thomisten darstellte: den seltenen Fall eines nicht zum

Katholizismus konvertierten byzantinischen Thomisten. Vielmehr

wurde Georg Scholarios Mitte des 15. Jh. zu einer emblematischen

Gestalt des (überaus zahlenstärkeren) Teils des radikalen byzantini-

schen Klerus, der vehement gegen die Union mit Rom polemisierte.

Gegen Plethons Plädoyer für das Fatum gab es auch Einwände.

MATTHÄUS KAMARIOTES († ca. 1490) dachte, dass die „heiligen

Lehrer der Wahrheit“ es kategorisch verboten, vom Fatum auch nur

zu sprechen.650 Matthäus kann nur an Byzantiner gedacht haben,

denn sein Urteil trifft auf sehr große Autoritäten der westlichen The-

ologie wie Albert den Großen und Thomas von Aquin nicht zu. Au-

gustin und später Thomas von Aquin warnten zwar vor dem Ge-

brauch des Terminus „fatum“ durch Christen, falls unter „fatum“ die

heidnische bzw. stoische Vorherbestimmung gemeint ist, von der die

Astrologie lehrt, das ist aber ein bedingtes, kein kategorisches Ver-

bot.651

650 Matthäus Kamariotes, [Ende der Schrift] In Plethonem de fato, in: Astruc,

La fin inedite, p. 257. Vgl. auch Matthäus Kamariotes, Orationes duae in Plethonem de fato, p. 120.

651 Mir ist nicht klar, warum Demetracopoulos, Georgios Scholarios-Gennadios II’s Florilegium thomisticum II, 328, eine Anlehnung ausgerechnet an Au-

236

THEODOR AGALLIANOS († vor 1474) versuchte sich in seiner Vorse-

hungsschrift in einer Verteidigung sowohl der göttlichen Vorsehung

als auch der offenen Zukunft. Dabei vergleicht er Gott mit einem

Schützen, der immer gut zielt – d.h. sein Vorsehungswerk so einrich-

tet, dass alles zum Besten prädestiniert ist – aber mit krummen Pfei-

len ausgerüstet ist, deren Treffsicherheit deswegen niemals voraus-

zusagen ist.652 Eine berechtigte Frage wäre dabei, warum Gott, der

gute Schütze, beim Schießen nicht die Krümmung des Pfeils mitbe-

rechnet. Diese Frage stellt Theodor nicht. Er denkt, mit dieser Ana-

logie die göttliche Vorsehung mit der Kontingenz des Zukünftigen

vereinbart zu haben.

Eine thomistische Lesart von Theodors Pfeil-Analogie liegt auf der

Hand. Auch Thomas war, wie wir gesehen haben, der Meinung, dass

Gott alle Ursachen zukünftiger Ereignisse, vergangene, gegenwärtige

und zukünftige Ursachen, bekannt und damit nicht mehr abzufäl-

schen sind; dass ferner kontingente Ereignisse (etwa das Verfehlen

des Zieles durch ein Pfeil) dadurch kenntlich zu machen sind, dass

Gott bei diesen eine nur mittelbare und entfernte Ursache darstellt

(als „Schütze“) bzw. dass ihre nächsten und unmittelbaren Ursachen

(die Krümmung des Pfeiles) ihnen unmittelbar vorausgehen.

Wie man sieht, entwickelte sich in Byzanz um die Zeit des Florenti-

ner Konzils (1438-39) herum eine Schule, welche die traditionell

indeterministische, jedenfalls gemäßigte, byzantinische Vorsehungs-

lehre mit dem Thomismus vereinbarte. Bezeichnenderweise waren es

keine Konvertiten, die diesen Synkretismus vertraten.

Zu den byzantinischen Konvertiten nun: Byzantinische Dominikaner

wie die GEBRÜDER KYDONES im 14. Jh., die sich als Thomas-

Übersetzer hervorgetan haben, und ANDREAS CHRYSOBERGES im 15.

Jh.653 lancierten eine nicht-synkretistische Theologie. Sie waren

mehr um die Verbreitung des thomistischen Buchstabens bemüht.

gustin, De civitate Dei, lib. V, cap. 1, §§ 7-9, erkennen will. Augustin mahnte zwar auch, Vorsicht sei bei der Verwendung des Terminus „fatum“ angebracht, aber das ist ein zu allgemeiner Berührungspunkt zwischen Mat-thäus Kamariotes und Augustin, um eine Anlehnung darzustellen.

652 Theodor Agallianos, Peri pronoias, coll. 425 a 45-b 5. 653 Für eine Besprechung der Ansichten des Andreas Chrysoberges über Gottes

Natur im Rahmen der mit dem Florentiner Konzil zusammenhängenden an-

237

Durch einen Synkretismus aus Elementen der augustinischen und der

neoplatonischen Theologie gerade in puncto Fatum zeichnet sich die

Theologie eines weiteren Konvertiten, BESSARION († 1472),654 aus.

Als Schüler von Georg Gemistos war Bessarion den neoplatonischen

Einflüssen seines Lehrers schon sehr früh ausgesetzt. Und wie sein

Lehrer, so vertrat auch Bessarion in seiner Prädestinationslehre sehr

radikale neoaugustinische Positionen. Später wurde er zum politi-

schen und geistigen Widersacher von Georg Scholarios. In den

1440ern verteidigte er, der Neoplatoniker, als frisch ernannter Kardi-

nal die Union der Ostkirche mit Rom, während Georg Scholarios,

der eigentliche Thomist, den kollektiven Ungehorsam des breiten

byzantinischen Klerus gegen ebendieselbe Union anführte. Aus die-

ser Zeit stammt ein Brief Bessarions an Georg Gemistos, in dem er

bestätigt, Fatum und Vorsehung als Synonyme zu verstehen.655

Gleichzeitig vertrat Bessarion aber die Position, dass es Gott möglich

war, die Welt nicht entstehen zu lassen.656 Das widerspricht zwar

einer bekannten Position Abaelards,657 Bessarion findet aber, dass

die Kontingenz der Welt der „Präferenz unserer Theologen“ nicht

widerspricht. Mit „unsere Theologen“ meint Bessarion mit Sicher-

heit nicht die Griechen, sondern die Lateiner. Den Ausdruck „unsere

Theologen“ verwendete der in diesem Zeitpunkt658 bereits konver-

tipalamitischen Polemik der Westkirche vgl. Kap. 11.7 der vorliegenden Arbeit.

654 Die byzantinischen Quellen erwähnen ihn meist als „Bessarion von Nizäa“, wegen seines Amtes als (ostkirchlicher) Bischof von Nizäa vor 1439 (prak-tisch ein Titularbischof, weil das vormals byzantinische Nikaia, nachdem es vor einem Jahrhundert als İznik von den Osmanen erobert worden war, eine nur noch geringe Zahl von Christen aufwies – Gregor Palamas, Epistolē pros tēn heautou ekklēsian, cap. 19, p. 178, berichtet das bereits für die Jah-re 1355-56, als er in der Gegend für mehrere Monate als Geisel festsaß). Die lateinischen Quellen nach 1439 erwähnen ihn meistens als „Kardinal Bessa-rion“; seltener als „Bessarion von Konstantinopel“ wegen seines (lediglich titularischen) Bischofsamtes als lateinischer Konstantinopler Patriarch nach dem Jahr 1463.

655 Bessarion, [Brief an Plethon], PG 161, coll. 713-718. 656 Bessarion, In calumniatorem Platonis, lib. III, cap. 21, § 4, pp. 350-352. 657 Abaelards Position wird im Kap. 9.2 der vorliegenden Arbeit geschildert. 658 Am Werk In calumniatorem Platonis hat Bessarion ab 1456 gearbeitet. Seit

1439 gehörte er dem Kardinalskollegium an und verfocht die gerade unter-zeichnete (aber niemals wirklich zustande gekommene) Union zwischen

238

tierte Kirchenmann in seinem späten Schrifttum nur noch in bezug

auf lateinische Theologen.

Plethon und Bessarion vertraten also in Sachen Prädestination und

Fatum neoaugustinische Positionen, die sich mit ihrer insgesamt an-

tiaristotelischen Philosophie deckten.

9.4. Willensfreiheit und Prädestination in der neoaugustinischen

Theologie vom 13. bis zum 15. Jh.

Die Spiritualen-Bewegung innerhalb der Franziskaner stellte die

Forderung, die Kirche als Ganzes solle einen Lebenswandel in Ar-

mut pflegen. Diese Forderung ging mit einer Futurologie einher, mit

einer Vision darüber, welche Rolle die zur Armut und Frömmigkeit

prädestinierten Mönche im göttlichen Plan spielten.

Die Dialoge über das göttliche Vorauswissen und die Prädestination

der Auserwählten des JOACHIM VON FIORE († 1202) bilden einen

Grundstein der Spiritualen-Theologie und gleichzeitig der futurolo-

gischen Prädestinationslehre. Die Priorität von Gottes potentia ordi-

nata gegenüber dessen potentia absoluta wird im Werk implizit an-

genommen. Gott hätte zwar anders verfahren wollen, als diese Men-

schen zum Paradies zu bestimmen und jene an ihren Versuchungen

verderbt werden zu lassen. Da aber seine seit aller Ewigkeit getroffe-

ne Entscheidung feststeht und nicht mehr geändert werden kann, be-

steht nicht das Risiko, dass ihm vorgeworfen würde, er würde (ge-

meint, obwohl nicht explizit gesagt, ist: kraft seiner absoluten Macht)

einen Teil der ersteren doch in die Hölle schicken, einen Teil der

letzteren aber doch noch ins Paradies aufnehmen. Denn so etwas

wird Gott, obwohl er es rein theoretisch vermag, unter keinen Um-

ständen tun.659 Die Unveränderlichkeit der göttlichen Entschlüsse

spricht aus Joachims Sicht für Gottes Gerechtigkeit, nicht dagegen.

Der menschlichen Willensfreiheit weist Joachim einen Platz im gött-

lichen Plan zu, nicht allerdings die Fähigkeit, den prädestinierten

Gang der Ereignisse ändern zu können. Gott hätte genauso die Men-

West- und Ostkirche, die in manchen dogmatischen Fragen das Einlenken der letzteren nach sich zog.

659 Joachim von Fiore, Dialogi de prescientia Dei et predestinatione electorum, [dialogus I], pp. 10827-10914.

239

schen mit einem freien Willen nur zum Guten ausstatten können. Das

einzige Problem, das Joachim in dieser Vorstellung sieht, ist, dass in

diesem Fall Gott kein Lob ausgesprochen werden könnte, weil er das

Gute dem Bösen vorgezogen hat.660

Bis in das Spätmittelalter hinein gab es eine konservative scholasti-

sche Aversion gegen diese Prädestinationslehre, auch gegen die Fu-

turologie von Joachims Epigonen.661 Diese konservative Haltung

kam z.B. in den Oxforder und Pariser Thesenverurteilungen des Jah-

res 1277 zum Ausdruck. Dort richtete sie sich gegen das Kontin-

genzverständnis von Abaelard und Thomas von Aquin. Diese The-

matik berührt nicht nur die Modalontologie und die Zeitlogik, son-

dern auch die Prädestinationsproblematik.

Zunächst etwas zur Thematik selbst: Die diodorischen Konsequen-

zen aus den Lehren von Abaelard und Thomas von Aquin, wonach

von Anfang an nur das möglich war, was sich zum Schluss ereignet,

scheinen die Möglichkeiten zu beschneiden, die Gott offen standen,

als dieser die Welt erschuf bzw. den Ausgang (damals) künftiger

Ereignisse gestaltete. Zwar widersprechen die o.g. diodorischen

Konsequenzen nicht der biblischen Aussage, Gott sei alles möglich.

Denn, wenn ausschließlich die tatsächlichen Ereignisse möglich wa-

ren, dann war alles, was sich sowieso ereignete, natürlich Gott mög-

lich. Allerdings schienen Peter Abaelard und Thomas von Aquin

damit einen Gott vorzustellen, der keine Wahl hatte.

Ob richtig oder falsch, wurde diese Lesart der Lehren von Abaelard

und Thomas im Westen zunächst verurteilt.662 These 21 der Pariser

Verurteilung des Jahres 1277 lautet:

660 Ebenda, pp. 75-77. 661 Die wichtigsten Nachfolger Joachims waren Gerhard von Borgo San Don-

nino und Johannes von Parma. 662 Zur indirekten Bezugnahme der Pariser Thesenverurteilung auf Thesen des

Thomas von Aquin vgl. Wippel, Thomas Aquinas and the Condemnation of 1277; Hissette, L’implication de Thomas d’Aquin. Zu einer endgültigen Be-antwortung der Frage, ob nach der Pariser Thesenverurteilung ein Prozess speziell gegen Thomas von Aquin geplant war, reichen die Indizien zwar nicht völlig aus. Sie sind aber genug, um den meisten Experten Grund zur Annahme zu liefern, dass dies tatsächlich die Absicht des Pariser Bischofs war. Die Forschungslage zu dieser Frage besprechen Wippel, Bishop Ste-

240

[Es ist irrtümlich,] dass sich nichts zufällig ereigne, sondern alles ge-

schehen müsse sowie dass alles Künftige, was der Fall sein werde,

der Fall sein müsse, was aber nicht der Fall sein werde, unmöglich

der Fall sein könne, dass sich [schließlich] nichts kontingenterweise

ereignet, wenn die Gesamtheit der Ursachen berücksichtigt wird. Irr-

tümlich [ist all das], weil der Zusammenhang der Ursachen von

vornherein als ein zufälliger anzunehmen ist, wie Boethius in seiner

Trostschrift sagt.663

Bereits die Bezugnahme auf Boethius zeigt, dass die Verurteilung

dieser These vom Standpunkt eines konservativen Aristotelismus

erfolgte.664

Unter Androhung von Sanktionen verbot der Erzbischof von Canter-

bury und Schirmherr des Merton College ROBERT KILWARDBY (†

1279) noch im selben Jahr der Pariser Thesenverurteilung unter an-

derem die Vertretung von zwei für das Zukunftswissen sehr interes-

santen Thesen an der Universität Oxford. Es sind dies die Thesen 8

und 9 auf Kilwardbys Liste „In logicalibus“:

8. Ferner [ist es verboten zu lehren], dass jeder wahre Satz über die Zukunft zwingend zutrifft.

phen Tempier and Thomas Aquinas sowie Thijsen, 1277 Revisited. Vgl. auch Thijsens Literaturübersicht ebenda, 72, Fußn. 1 und 2.

663 Denifle / Chatelain, Chartularium, Nr. 473, p. 545: „Quod nichil fit a casu, sed omnia de necessitate eveniunt, et, quod omnia futura que erunt, de necessitate erunt, et que non erunt, impossibile est esse, et quod nichil fit contingenter, considerando omnes causas. - Error, quia concursus causarum est de diffinitione casualis, ut dicit Boethius libro De Consolatione“. Hinter den Verurteilungen kann man neben der Hand des Pariser Bischofs STE-

PHAN TEMPIER († 1279), die des HEINRICH VON GENT († 1293) erkennen. Auf eine Darstellung der nicht immer kohärenten und durchsichtigen Ar-gumentation des konservativen Theologen gegen den Nezessitarismus ver-zichte ich hier. Mit der Gegenüberstellung von Heinrich und Thomas von Aquin in diesem Punkt beschäftigte sich Porro, ‘Possibile ex se’. Heinrich war inkonsequent in seiner Haltung zu Prophetie, Zukunft und Notwendig-keit. Genaue Voraussagen über die Zukunft hielt er etwa aus moraltheologi-scher Sicht für unbedenklich, obwohl er in vielen theologischen Neuerungen das Gespenst des Fatalismus erkennen wollte. Vgl. die Besprechung dieser seiner Ansichten bei Wei, Predicting the Future, 22-28.

664 Thomas von Aquin und Peter Abaelard wurden in der Verurteilung nicht namentlich erwähnt. Es war ja keine Verurteilung von Personen, sondern von Thesen.

241

9. Ferner [ist es verboten zu lehren], dass sich [Ausdrücke bestehend aus] Nomen und Verb im Präsens bei allen Unterschieden der Tem-pora überall Anwendung finden [distribuitur]“.665

These 9 impliziert, dass jeder gegenwärtige Satz über die Zukunft

mit einem zukünftigen Satz über die Gegenwart gleichbedeutend

ist.666 These 8 bringt eine Konsequenz von These 9 zum Ausdruck:

Laut Aristoteles, De interpretatione, 19 a 23-24 (= wenn etwas der

Fall ist, dann ist es notwendig der Fall zu der Zeit, in der es der Fall

ist), sind alle wahren Sätze über die Gegenwart notwendig wahr.

D.h. auch alle zukünftigen wahren Sätze über die Gegenwart sind

notwendig wahr. Über die nun verbotene These 9 folge, dass die ge-

genwärtigen wahren Sätze über die Zukunft notwendig wahr seien.

Ob mit Absicht oder ohne läuft das Verbot Kilwardbys der Auffas-

sung des Thomas von Aquin über göttliches Zukunftswissen entge-

gen. Zukunftswissen im allgemeinen, das deutet das Oxforder Verbot

der genannten Thesen an, kann mit keinem zukünftigen Gegen-

wartswissen deckungsgleich sein. Das gilt auch für Gottes Zu-

kunftswissen. Gegenwärtiges Zukunftswissen und zukünftiges Ge-

genwartswissen betreffen immer unterschiedliche Sachverhalte. Um

es anhand eines Beispiels auszudrücken: Angenommen, heute regnet

es. Dann ist laut Kilwardbys Thesenverbot der Satz „Heute regnet

es“ heute notwendig wahr, aber nicht gleichbedeutend mit dem ges-

tern ausgesprochenen Satz: „Morgen wird es regnen“, der wegen der

in demselben ausgedrückten Futurität nicht notwendig wahr war – ja

einen anderen Sachverhalt ausdrückte.

Es ist richtig bemerkt worden, dass die Oxforder Logiker mit Kil-

wardbys Verurteilung der Thesen: „In logicalibus“ 8 und 9 von der

Theologie gezwungen wurden, einen Forschungsansatz aufzugeben,

d.h. die Umformulierung des Futurums in Präsens und Präteritum,667

665 Denifle / Chatelain, Chartularium, Nr. 474, p. 559: „8. Item quod omnis

propositio de futuro vera est necessaria“; „9. Item quod terminus cum verbo de presenti distribuitur pro omnibus differentiis temporum“.

666 Für die Vorgeschichte dieser These vgl. Uckelman, Logic and the Condem-nations, 223-224.

667 Vgl. die von Lewry, The Oxford Condemnations; ders., Grammar, Logic and Rhetoric, 424-425, zusammengetragenen Belege. Vgl. ebenfalls Uckelman, Modalities in Medieval Logic, 39; dies., Logic and the Condem-

242

zu dem sie, unter ihnen Kilwardby selbst, Einiges beigetragen hatten.

Das Verbot wurde aber bereits nach wenigen Jahren ignoriert, so

dass die theologische Vorgabe den Kurs der Logikgeschichte letzt-

endlich nicht beeinflusst hat. Ein paar Forschern erscheint das eher

unspektakulär,668 ist es aber nicht. Kilwardby versuchte, einer sich

nach und nach durchsetzenden thomistischen (und diodorischen)

Tendenz im Verständnis temporalisierter Sätze entgegenzuwirken.

Die Tendenz, die Robert Kilwardby zu bannen suchte, erkannte in

Gottes Wahrnehmung der Zukunft gleichzeitig die Aspekte des Ge-

genwärtigen und des Vergangenen. Aber Kilwardby stand auf verlo-

renem Posten. Die thomistischen Neuerungen wurden zum scholasti-

schen Mainstream. Zunächst mussten sie freilich die Oberhand über

die bereits genannten Einwände von Konservativen wie Stephan

Tempier sowie Heinrich von Gent in Paris und Robert Kilwardby in

Oxford gewinnen; ebenfalls über die Einwände der Spiritualen, de-

nen ich mich gleich zuwenden möchte.

Als der Franziskaner WILHELM DE LA MARE († 1285) seine heftige

Thomas-Kritik unter dem Titel Correctorium fratris Thomae („Bru-

der Thomas’ Berichtigung“) in Umlauf brachte, tat er dies unter dem

unmittelbaren Eindruck der Thesenverurteilung des Jahres 1277.669

1282 verordnete das Generalkapitel der Franziskaner, den von Fran-

ziskanern kopierten Exemplaren der Summa theologiae sollte das

Correctorium fratris Thomae angehängt werden.670 Die Summa, so

die Absicht hinter der Anordnung, sollte von Franziskanern kritisch

gelesen werden, wozu die angehängte Kritik des Wilhelm de la Mare

anspornen sollte.

Wilhelm de la Mare kritisierte unter anderem die thomistische Lehre

über die kontingenten Zukunftsereignisse. Er betrachtete das Ver-

ständnis der Kontingenz bei Thomas als einen Fehler. Seine Kritik

konzentrierte sich im Wesentlichen auf folgende Punkte: Sollten

nations of 1277, 223-224; Thom, Logic and Ontology in the Syllogistic of Robert Kilwardby, 85.

668 Uckelman, Modalities in Medieval Logic, 38-39; dies., Logic and the Con-demnations of 1277, 224; Lewry, Grammar, Logic and Rhetoric, 425.

669 Pini, Being and Creation in Giles of Rome, 400; Hoenen, The Literary Re-ception, 39; 42.

670 Hoenen, Thomismus, Skotismus und Albertismus, 89-90, mit Literaturhin-weisen zu diesem Punkt.

243

kontingente zukünftige Ereignisse dadurch gekennzeichnet sein, dass

sie in ihren unmittelbaren Ursachen nicht gegenwärtig sind, so dass

vom Wirken solcher Ursachen nicht bestimmt auszugehen ist671 (be-

reits hier haben wir es mit einer Missinterpretation zu tun: Thomas

meinte eher, dass das Wirken der unmittelbaren Ursachen kontingen-

ter zukünftiger Ereignisse aus menschlicher Sicht noch bevorsteht

und dass diese Ereignisse nur in diesem Sinne in ihren Ursachen

nicht gegenwärtig sind), dann kann Gott kontingente Zukunftsereig-

nisse ihrer (kontingenten) Natur nach nicht erkennen. Denn Gottes

Erkenntnis eines kontingenten Ereignisses müsste um wenigstens

eine Ursache ergänzungsbedürftig sein. Dies würde aber heißen, dass

sich Gottes Wissen von äußeren Umständen bedingen lässt. Das fin-

det Wilhelm absurd.672 Vielmehr setzt Gottes Wissen über ein Ereig-

nis die Gegenwart aller Ursachen dieses Ereignisses in Gott vo-

raus.673 „Kontingent“ und „in all seinen Ursachen bekannt“ sind nach

Wilhelm widersprüchliche Eigenschaften eines Ereignisses.

Wilhelms Kontingenzauffassung sieht dagegen vor, dass Gott ein

Wissen über kontingente Ereignisse durch Selbstkenntnis erlangt.

Die Offenbarung zukünftiger Ereignisse durch Prophetie stelle ein

sicheres, kein kontingentes Wissen dar. Bei einer wahren Prophetie

erkenne der Prophet, so Wilhelm weiter, sogar alle unmittelbaren

Ursachen des kontingenten Zukunftsereignisses auf sichere Art.674

Die Position des Wilhelm de la Mare ist deterministisch. Sie zieht

nach sich, dass die wahren Sätze über die Zukunft zwingend wahr

sind, auch wenn sie aus menschlicher Sicht kontingent erscheinen.

Nach Wilhelm de la Mare ist die Kontingenz nicht auf die Natur des

Ereignisses, sondern auf ein menschliches Defizit zurückzuführen.

Dieses besteht in der Unkenntnis der das Ereignis bedingenden Prä-

destination.

Der Vorwurf des Wilhelm de la Mare an Thomas lautete, dass dieser

die Prädestination gegenüber der Kontingenz unterbewertet. Zusätz-

671 Wilhelm de la Mare, Correctorium fratris Thomae, In primam partem, a. 3,

p. 23. 672 Ebenda, pp. 20-21. 673 Ebenda, p. 18. 674 Ebenda, pp. 23-24.

244

lich zu seinen Ansichten zu Thomas von Aquins Kausalitäts- und

Kontingenzlehre bezog Wilhelm de la Mare eine radikale Position in

Sachen Armutsstreit. Gerade diese Position ließ das Werk des Wil-

helm de la Mare in der Gunst von Spiritualen-Franziskanern steigen.

Eine weitere repräsentative Gestalt der Spiritualen war PETER VON

JOHANNES OLIVI (bzw. PETRUS JOHANNIS OLIVI – † 1298). Häresie-

verdächtig, wie es üblich war bei Spiritualen,675 und gestützt auf eine

Interpretation biblischer Prophetien, glaubte er dem Weltende nahe

zu stehen. Er kam sowohl in der Armutsfrage als auch in puncto de-

terministisches Prädestinationsverständnis mit Wilhelm de la Mare

überein.676

In seinem Sentenzenkommentar plädierte Olivi zwar für die Willens-

freiheit („liberum arbitrium“), darunter verstand er aber die Unge-

wissheit über die Folgen der Entscheidung.677 Willensfreiheit, meinte

er,678 kann nicht bedeuten, dass vor dem Moment der Entscheidung

ein Ereignis sowie sein Gegenteil bewirkt werden könnten. Ange-

nommen, es gäbe Willensfreiheit in diesem Sinne, dann müsste unter

Anwendung der Willensfreiheit eines Menschen das eine von zwei

sich ausschließenden Ereignissen („opposita“) geschehen, das andere

ausgeschlossen werden. Dass lediglich die Entscheidung für das erste

675 Zu Petrus von Johannes Olivi innerhalb der Spiritualen-Bewegung vgl.

Manselli, Pietro di Giovanni Olivi spirituale; außerdem Flood, The Francis-can and Spiritual Writings of Peter Olivi. Zum Häresievorwurf insbesondere in bezug auf chiliastische Voraussagen vgl. Lewis, Peter John Olivi, 140-144. Lewis stellt Fakten dar, verteidigt allerdings ebenda, 142, Olivi vor dem Häresievorwurf, indem er auf Olivis groteske (und kaum ernstzuneh-mende) Relativierung hinweist, nicht zu wissen, ob es wahr ist, was er be-haupte.

676 Zur antithomistischen Argumentation Olivis bezüglich des Armutsstreits anhand des Werkes von Wilhelm de la Mare vgl. Burr, The Correctorium Controversy, 336 ff.

677 Dieses Merkmal des „freien Willens“ nach Peter von Johannes Olivi ver-gisst Pasnau, Olivi on Human Freedom, 23-25, wo er ein Plädoyer Olivis für die sich selbst bewegende, menschliche Willensfreiheit rekonstruiert, während Olivi keine eigentliche Willensfreiheit, sondern eine menschliche Ungewissheit meint, die zu Taten zu veranlassen scheint.

678 Hier paraphrasiere ich ein langes Argument von Peter von Johannes Olivi, Quaestiones in secundum librum Sententiarum, q. 57, Solutio objectorum, ad X, Bd. 2, pp. 352; Nickls deutsche Übersetzung in: Peter von Johannes Olivi, Über die menschliche Freiheit, pp. 133-135.

245

Ereignis und gegen das zweite den Ausgang zugunsten des ersten

bestimmen würde, könnte festgestellt werden, wenn beide Ereignisse

in all ihren natürlichen Ursachen gegenwärtig wären. Erst dann

könnte die Willensfreiheit (keine natürliche Ursache!) dafür aus-

schlaggebend sein, was passiert.

Dass aber zwei Ereignisse in all ihren natürlichen Ursachen gegen-

wärtig wären, wovon aber nur eines passiert und zwar aufgrund einer

nicht natürlichen Ursache (der Willensfreiheit), die das andere Er-

eignis verhindert, lässt Ereignisse, die in allen ihren natürlichen Ur-

sachen gegenwärtig sind, ausbleiben. Das ist absurd. So kann die

Willensfreiheit nicht funktionieren.

Nachdem er diesen Sinn der Willensfreiheit ausgeschlossen hat, fährt

Olivi mit einer Alternative fort, die Willensfreiheit Sinn ergeben zu

lassen. Diese besteht darin festzulegen, dass die Willensfreiheit die

Realisierung eines Ereignisses lediglich beschleunigen würde. Durch

die Willensfreiheit würden die Ereignisse früher realisiert, als sie

unter der Einwirkung lediglich natürlicher Ursachen realisiert wor-

den wären. Ein auf dem Wege einer Handlung aus freiem Willen

beschleunigtes Ereignis könnte sogar seinem oppositum vorangestellt

werden. D.h. eine freie Entscheidung würde ein Ereignis früher ge-

schehen lassen, als dessen Gegenteil aus natürlichen Ursachen allein

erfolgen würde. Die Willensfreiheit würde den Ausgang verkürzen.

Aber auch diese Idee ist nach Olivi nicht plausibel. Entweder würde

der Ausgang auch ohne den freien Willen irgendwann geschehen,

und dann würde die Verkürzung des Ausgangs zuletzt nicht bestim-

men, was ohnehin zustande käme, oder die Verkürzung würde tat-

sächlich ein Ereignis einem anderen voranstellen. Aber selbst dann

gäbe es keinen Grund, nicht anzunehmen, dass Gott die Verkürzung

angeordnet hätte. Insofern würde dem freien Willen nicht mal offen

stehen, ob er den Ausgang verkürzt.

Olivis Zwischenergebnis lautet: Die Annahme eines so verstandenen

freien Willens hat entweder absurde Konsequenzen oder ist obsolet.

Irgendeine Willensfreiheit muss aber nach Peter von Johannes Olivi

vorliegen. Von ihr wird im Alltag ständig ausgegangen. Das zeigt

der Zorn wegen angetanen Übels. Ohne die Annahme, dass der Übel-

täter sich frei entscheiden konnte, wäre dieser Zorn nicht zu erklä-

246

ren.679 Ebenfalls wäre Mitleid mit jemandem nicht zu erklären, dem

ungebührliches Schicksal zukam trotz guter Taten aus freier Wil-

lensäußerung. Außerdem wären die Sympathie und die Antipathie

gegenüber einer Person wegen ihrer Taten und die Dankbarkeit für

angetanes Gut sowie ein paar andere Gefühle nicht zu erklären.680

Wie man sieht, sind die von Olivi angegebenen Fälle der Willens-

freiheit keine tatsächlichen Optionen, sondern sie stellen Gefühle

dar, die zeigen, dass ihre Träger an offene Ausgänge von Ereignissen

glauben – was natürlich nicht bedeutet, dass diese Ausgänge tatsäch-

lich offen sind.

MICHAEL VON MASSA († 1337), THOMAS BRADWARDINE († 1349)

und GREGOR VON RIMINI, († 1358), drei Augustin-Verehrer,681 ge-

stalteten die rigorose neoaugustinische Vorherbestimmungslehre aus.

In ihren Prädestinationswerken gehen sie im Gegensatz zur traditio-

nellen Rezeption der aristotelischen Lehre davon aus, dass die Zu-

kunft nicht offen ist.

MICHAEL VON MASSA wandte sich gegen die franziskanische Frei-

heitstheologie bzw. gegen Aureolis Verständnis der kontingenten

Sätze über die Zukunft.682 Aureoli war der Meinung, dass solche

Sätze weder wahr noch falsch sind.683 Michael von Massa hielt die-

ser Auffassung entgegen, es könne nicht sein, dass Gott lediglich

weiß, dass es morgen entweder regnet oder nicht regnet.684 Gott

muss wissen, ob es morgen regnet, da sein Willen stets realisiert wird

und da er einen Willen über das morgige Wetter hegen muss. Ferner

muss Gott jemanden sündigen lassen wollen, damit dieser sündigt.

679 Peter von Johannes Olivi, Quaestiones in secundum librum Sententiarum, q.

57, Ad quaestionem respondeo, pp. 316-319; dt. Übersetzung: Über die menschliche Freiheit, pp. 55-59.

680 Peter von Johannes Olivi, Quaestiones in secundum librum Sententiarum, q. 57, Ad quaestionem respondeo, 319-323; dt. Übersetzung: Über die menschliche Freiheit, pp. 59-69.

681 Zu Bradwardines Augustinismus vgl. Oberman, Archbishop Thomas Brad-wardine, passim; Michael von Massa und Gregor von Rimini waren Mit-glieder des Augustinerordens, letzterer wurde auch dessen General.

682 Michael von Massa, In I Sententiarum, d. 35, pp. 176-194, 201-208. 683 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 8.4. 684 Michael von Massa, In I Sententiarum, d. 35, p. 187.

247

Gott muss auch jemanden der Absolution würdig sein lassen wollen,

damit dieser in der Lage ist, die Absolution zu empfangen. Zu sagen,

dass wenigstens die Würdigkeit, die Absolution zu erhalten, von Gott

weder gewollt noch nicht gewollt wird, impliziert Widersprüche,

wenn man bereits angenommen hat, dass Gott Regenfälle und Sün-

den im voraus will. Es gäbe keinen Grund, Vorgänge der einen Art

(Würdigkeit zur Absolution) aus Gottes Willen auszuklammern,

wenn Vorgänge anderer Art (Regenfälle; Sünden) Gegenstand dieses

Willens sind. Fazit: Gottes Wille determiniert sowohl das Stattfinden

natürlicher Ereignisse wie Regenfälle als auch mentale Ereignisse

wie das Eintreten der Reue – diese ist es nämlich, die die Absoluti-

onswürdigkeit ausmacht. Alles, was Gott über die Zukunft will, kann

nicht umhin zu geschehen. Nur rein theoretisch ist das Gegenteil

möglich.685

BRADWARDINES Werk De causa Dei contra Pelagium et de virtute

causarum setzt die antike antipelagianische Polemik fort. Zum

Pelagianismus im engen Sinne, einer seit der Spätantike ausgelösch-

ten Häresie, bekannte sich wohl niemand von denjenigen, an die

Bradwardines Kritik adressiert war.

Als „moderne Pelagianer“ brandmarkte Bradwardine die Vertreter

der Ansicht, dass es am Menschen liege, der Sünde zu verfallen,

ebenfalls die Vertreter der Ansicht, dass es in der Macht des Men-

schen lag, Gutes zu tun. Mit seinem Angriff auf den „modernen

Pelagianismus“ setzte Bradwardine die doppelte Prädestination (zum

Guten für die zu Rettenden, zum Schlechten für die zu Verdammen-

den) voraus.

Dass Bradwardine ausgerechnet die Bezeichnung „Pelagianer“ für

die Vertreter der vorgenannten Positionen benutzte, hat den Hinter-

grund, dass er sich auf Augustins Autorität berief, der seinerzeit ge-

gen tatsächliche Pelagianer polemisierte. Bradwardines Polemik war

vordergründig gegen Ockham und Holcot gerichtet. Aber auch die

einfache Prädestination nach Art des Thomas von Aquin würde unter

Bradwardines Pelagianismus-Vorwurf fallen. Thomas hatte den Ein-

gang ins Paradies der göttlichen Vorherbestimmung, die Verdamm-

685 Ebenda, p. 189.

248

nis in der Hölle aber keiner Vorherbestimmung, sondern menschli-

chem Verschulden zugeschrieben.

Im Gegensatz zu Thomas von Aquin sah Thomas Bradwardine hier

eine Vorherbestimmung sowohl zur Rettung („praedestinatio“ – die

einfache Prädestination des Thomas von Aquin hat nur diese aner-

kannt) als auch zur Verdammnis („reprobatio“). Da sie auch Versa-

gen, nicht nur Tugendhaftes vorsieht, reglementiert Bradwardines

doppelte Prädestination weitaus mehr als die einfache.686

Bradwardines Lehre über die Wahrheit oder Falschheit kontingenter

Sätze über die Zukunft ist einem sehr radikalen Determinismus zu-

zuordnen. Bradwardine behauptete im Endeffekt die Nezessitation.

Das erscheint auf den ersten Blick als ein tiefer Bruch Bradwardines

mit der scholastischen Tradition, ist aber in Wirklichkeit keiner. Mit

Hinblick auf Boethius meinte Bradwardine, dass Gottes Wissen über

die Zukunft die Zukunftsereignisse notwendig stattfinden lässt:

Der Grund, den Boethius an der erwähnten Stelle [der Trost-schrift687] angibt, aus dem die zukünftigen Zukunftsereignisse ge-mäß dem göttlichen Wissen und Willen notwendig sind, nicht aber vom Standpunkt der untergeordneten Ursachen, ist, dass jene gemäß dem göttlichen Wissen gegenwärtig sind sowie, dass alles, was ist, notwendig ist, solange es ist.688

Boethius behauptete in der von Bradwardine angeführten Passage

nicht, dass es zwingend ist, dass die Zukunft qua Zukunft zwingend 686 Die doppelte Prädestination, d.h. der Gedanke, dass Gott nicht nur zum

Guten, sondern auch zum Bösen prädestiniert, stellt eine durch GOTT-

SCHALK DEN SACHSEN († etwa 869) radikalisierte Fassung der augustini-schen Prädestinationslehre dar. Vgl. von Moos, Das Geheimnis der Prädes-tination, 165; Marenbon, Early Medieval Philosophy, 55-56. Ein früher Gegner der doppelten Prädestination Gottschalks (und der Prädestination im allgemeinen) war im Westen JOHANNES SCOTUS ERIUGENA (vgl. vorliegen-de Arbeit, Kap. 2.3). Die doppelte Prädestination befürwortete aber AN-

SELM VON CANTERBURY, Tractatus de concordia praescientiae et praedes-tinationis nec non gratiae Dei cum libero arbitrio, q. 1, cap. 2, [al. 9], PL 158, col. 520 A-B zurückzuführen. Thomas Bradwardine, De causa Dei, lib. III, cap. 28, pp. 715, bezieht sich auf Anselm und erklärt sich mit dessen Worten einverstanden: „Wenn Gott etwas weiß, dann ist es notwendig, dass sich [dies und dies] zutragen wird“. Vgl. auch von Moos, Das Geheimnis der Prädestination.

687 Boethius, Consolatio philosophiae, lib. V, prosa 6. 688 Thomas Bradwardine, De causa Dei, lib. III, cap. 28, p. 717 C. Der letzte

Satz in Anlehnung an Aristoteles, De interpretatione, 19 a 23-24.

249

bestimmt ist. Vielmehr behauptete er, dass die Folgerung aus Gottes

Wissen auf das Zutreffen eines von diesem Wissen implizierten

Sachverhaltes notwendig wahr ist (necessitas consequentiae). Das

kann sehr wohl die Zukunft betreffen, bedeutet aber nicht, dass die-

ser Sachverhalt zwingend eintritt. Bradwardine argumentiert zum

Schluss mit der Notwendigkeit von Gegenwartsereignissen in der

Zeit, zu der diese stattfinden („Alles, was ist, ist notwendig, solange

es ist“) in der (fehlgeleiteten) Meinung, dass dieses aristotelische

Postulat die gewünschte Überleitung von der Notwendigkeit der Fol-

gerung zur Notwendigkeit des Folgesatzes liefert. Das stimmt natür-

lich nicht. Ein Satz, der ein Gegenwartsereignis ausdrückt, ist ein

anderer Satz als derjenige, der (zwar) dasselbe Ereignis (allerdings)

als Zukunftsereignis ausdrückt. Die Notwendigkeit des einen trifft

beim anderen nicht zu. Die Notwendigkeit jeder Folgerung mit ei-

nem Satz über Gottes Wissen über einen beliebigen Sachverhalt im

Vordersatz und mit einem Folgesatz, der denselben Sachverhalt aus-

drückt, war, wie wir bereits gesehen haben, eine übliche Behauptung

im Mittelalter.689 Aber richtig verstanden zieht sie keine Nezessitati-

on des Folgesatzes nach sich. Wie Abaelard vor ihm690 hat Bradwar-

dine diesen Defekt seiner Argumentation nicht bemerkt.

Der Defekt lässt sich nur unter der Annahme beheben, dass Gott

notwendig weiß, was er tatsächlich weiß. Und tatsächlich funktio-

niert unter dieser Annahme Bradwardines nachfolgendes Argu-

ment:691 Gott erkennt alle Wahrheiten und es reicht, wenn Gott etwas

nicht erkennt, damit dies eine Falschheit ist. Der Satz „Gott weiß,

dass es morgen regnen wird“ ist genau dann wahr, wenn der Sach-

verhalt eintritt, der nach dem „dass“ zum Ausdruck kommt, andern-

falls falsch. Aber ebendieser Sachverhalt wird z.B. im Folgesatz der

notwendigen Folgerung ausgedrückt: „Daraus, dass Gott weiß, dass

es morgen regnen wird, folgt notwendig, dass es morgen regnen

wird“. Damit gilt diese Folgerung auch in umgekehrter Richtung.

D.h. daraus, dass es morgen regnen wird, folgt notwendig, dass Gott

689 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 9.1. 690 Auf entsprechende Art hat auch Abaelard diese Boethius-Stelle missinter-

pretiert, wie ich bereits im Kap. 9.2 der vorliegenden Arbeit Gelegenheit hatte darzulegen.

691 Thomas Bradwardine, De causa Dei, lib. III, cap. 28, 719 A-B.

250

weiß, dass es morgen regnen wird. Eine notwendige Folgerung obi-

ger Art stellt also eine Äquivalenz dar. So weit so gut. Nun ist Brad-

wardines Schlussfolgerung daraus nicht ohne Weiteres zu rechtferti-

gen. Diese lautet: Alle wahrheitshalber einzutretenden Zukunftser-

eignisse (nicht also nur die Gegenwartsereignisse wie Aristoteles

behauptete) müssen notwendig eintreten. Das Argument ist folge-

richtig, wenn Gott notwendig weiß, was er tatsächlich weiß.

Auf Bradwardines Werk hat GREGOR VON RIMINI, der andere große

Vertreter des Neoaugustinismus des 14. Jh., zurückgegriffen, als er

1343-44692 an der Pariser Universität über die Lombardensentenzen

las. Gregor von Rimini radikalisierte die augustinische Prädestinati-

onslehre im Sinne einer deterministischen Philosophie und einer an-

tipelagianischen Theologie.693

Nach Gregor beziehen sich Prädestination und göttliches Vorherwis-

sen auf genau dieselben Ereignisse: Gott prädestiniert nur dazu, was

er im voraus erkennt, und umgekehrt erkennt er nur das im voraus,

wozu er prädestiniert.694 Damit konnte Gregor seine These für die

doppelte Prädestination untermauern: Prädestiniert sind nicht nur die

Gerechten zu ihrer von Gott her gewollten Rettung, sondern auch die

Ungerechten sind zur Verdammnis über die reprobatio vorherbe-

stimmt.695

Trotz seiner Prädestinationslehre unternahm Gregor den Versuch,

der Willensfreiheit eine Berechtigung zuzuweisen. Dabei hielt er an

692 Zu dieser Datierung s. Marcolino, Der Augustinertheologe, 168-174. Dieser

Aufsatz enthält auch die wichtigsten Daten zu Gregors Pariser Zeit. 693 Zum in Paris und Oxford fast zeitgleich aufkommenden Neoaugustinismus

bzw. Antipelagianismus vgl. Oberman, Tuus sum, 350. Schabel, Early Car-melites, 160, mutmaßt allerdings eine Beeinflussung Gregors durch Michael von Massa. Abgesehen davon, ob Schabel in der Sache der Beeinflussung Recht hat oder nicht, zeigt der Umstand, dass das Werk des Michael von Massa, eines Pariser Doktors, dem Werk Bradwardines um etwa 15 Jahre vorausging, dass der Neoaugustinismus in Paris, nicht in Oxford seinen Ur-sprung hatte.

694 Gregor von Rimini, Super primum Sententiarum, dd. 40-41, q. 1, ad opposi-tum, ad primum.

695 Ebenda, dd. 40-41, q. 1, a. 2.

251

nominalistischen Vorbildern fest:696 Die Erfahrung lehrt, dass der

Mensch frei ist, dieses zu tun oder zu unterlassen.697 Aber er ist nicht

imstande, seiner Sündhaftigkeit insgesamt zu entgehen.698 Obwohl

jede einzelne Sünde ein kontingentes Ereignis darstellt, das genauso

ausbleiben konnte, sündigt der Mensch zwingend.

Denn dadurch, dass der Mensch sündhaft ist, ist es zwingend, dass

einige der an und für sich kontingenten Sünden doch zwingend ein-

treten. Gott weiß sogar welche diese sind. Aufgrund des Vorauswis-

sens Gottes über den Ausgang der entsprechenden Ereignisse haben

alle kontingenten Sätze über die Zukunft seit aller Ewigkeit einen

bestimmten Wahrheitswert.699 Auch Aristoteles’ Meinung ist nach

Gregor, dass den wahren bzw. falschen Sätzen über die Zukunft un-

ausweichlich („inevitabiliter“) Wahrheit bzw. Falschheit zukommt.

Peter Aureoli („moderni magni doctores“) missinterpretiere angeb-

lich Aristoteles dahingehend, dass Sätze über die Zukunft nach Aris-

toteles nicht bestimmt wahr bzw. falsch wären.700

Gregors Prädestinationslehre lässt keinen Spielraum für die Kontin-

genz. Das hat er selber eingesehen.701 Es erschien ihm aber harmlos:

Es sei ja bekannt, dass sich doch letztendlich jeder, ob Geretteter

oder Verdammter, dem Zwang („necessitas“!) des göttlichen Willens

füge. Aus menschlicher Sicht sei doch davon auszugehen, dass kein

zum Paradies Prädestinierter verdammt bzw. kein zu Verdammender

zum Paradies prädestiniert werden könne.702

Wie weit sich der Neoaugustinismus durch diese Positionen Gregors

von Autoritäten der frühen lateinischen Kirche entfernte, kann man

696 Zu Gregors Nominalismus in diesem Punkt vgl. Santos Noya, Die Sünden-

und Gnadenlehre, 123-125. 697 Gregor von Rimini, Super secundum Sententiarum, dd. 24-25, q. unica, a. 1,

ad oppositum. Vgl. auch ders., Super primum Sententiarum, d. 10, q. 1, a. 1, ad 3.

698 Gregor von Rimini, Super secundum Sententiarum, dd. 26-28, q. 2, a. 1. 699 Gregor von Rimini, Super primum Sententiarum, d. 38, q. 2, a. 1. 700 Ebenda, d. 38, q. 1, a. 1. 701 A.a.O. 702 Ebenda, dd. 40-41, q. 1, a. 3.

252

erkennen, wenn man bedenkt, dass Tertullian im 4. Jh. eine Ver-

dammung im voraus wegen künftiger Sünden klar ablehnte.703

Einem Fatalismus-Vorwurf vorbeugend schränkt Gregor ein, dass

die Prädestinierten und die zu Verdammenden (in einem Sinne) nicht

notwendig solche sind. Obwohl die Menschen selber ihre Bestim-

mung nicht ändern könnten, hätte Gott Anderes mit ihnen vorhaben

können.704

Die Bedeutung der neoaugustinischen Theologie und Metaphysik

erreichte ihren Höhepunkt etwa hundertdreißig Jahre, nachdem Gre-

gor von Rimini in Paris über die Sentenzen gelesen hatte. Zwar nicht

in Paris selber, aber immerhin in Rom, wo der LÖWENER STREIT

(1465-1474) mit einem Machtwort des Papstes beendet wurde.

Zum Löwener Streit, einem Gelehrtenstreit über die Bestimmtheit

kontingenter Zukunftsereignisse, der sich vordergründig an der Lö-

wener Universität abspielte, gaben, wie im Kapitel 8.4 kurz bemerkt

wurde, die Ansichten des Lehrers der Freien Künste PETER DE RIVO

(† 1499) für die Unbestimmtheit der Zukunft den Anlass. In den

Streit wurden nach und nach außer der Löwener Universität weitere

akademische und kirchliche Autoritäten hineingezogen. Es wurde

bereits im Kapitel 8.4 erwähnt, dass die theologischen Fakultäten in

Löwen, Paris und Köln für die Lehre des Peter de Rivo und eo ipso

des Peter Aureoli Partei nahmen. Damit zeichnete sich eine klare

Tendenz in der akademischen Theologie zugunsten der Unbestimmt-

heit der Zukunft ab. Aber 1474 verurteilte PAPST SIXTUS IV. (†

1484) die Lehre über die Unbestimmtheit der Zukunft. Sechs Jahr-

zehnte früher hatte das Konstanzer Konzil dagegen für die Unbe-

stimmtheit der Zukunft optiert sowie die Theologien WYCLIFS und

HUSSENS als nezessitaristisch verurteilt.705 Auch 1277 war eine Form

des Nezessitarismus verurteilt worden.706 Wie konnte es zu dieser

Wende zugunsten der Bestimmtheit der Zukunft und des Nezessita-

rismus kommen? 703 Tertullian, Adversus Marcionem, lib. II, cap. 23. 704 Gregor von Rimini, Super primum Sententiarum, d. 38, q. 1, ad 3. Für wei-

tere, dem Fatalismus-Vorwurf vorbeugende Einschränkungen Gregors vgl. Santos Noya, Die Sünden- und Gnadenlehre, 171-174.

705 DH 1177. 706 Denifle / Chatelain, Chartularium, Nr. 473, p. 545.

253

Diese Frage beantwortet die nachfolgende Schilderung neoaugustini-

scher Lehren über die kontingenten Zukunftsereignisse im Rahmen

des Löwener Streits. Als Exponenten des Neoaugustinismus fungier-

ten vorwiegend Franziskaner in der Tradition der Spiritualen, nicht

in scotistischer oder ockhamistischer Tradition.

HEINRICH VON ZOMEREN († 1472), ein am Neoaugustinismus des

Gregor von Rimini707 orientierter Franziskaner, Lehrer der Theologie

in Löwen, griff die von Peter de Rivo propagierte Lehre der Unbe-

stimmtheit der Zukunft mit der Begründung an, das Fehlen eines

Glaubens an Zukunftserwartungen, die im Dogma verankert sind,

werde in der Kirche sanktioniert. Infolge dessen müsse das, woran

doch geglaubt werden müsse, als wahr angenommen werden. Hein-

richs Argument ist plausibel vor dem Hintergrund der pragmatischen

Annahme, die besagt, dass wenigstens diejenigen, die das Fehlen des

Glaubens an die christliche Prophetie sanktionieren, selber daran zu

glauben haben.

Heinrich argumentierte aber nicht lediglich mit der Pragmatik des

christlichen Glaubens. Er warf Peter de Rivo Unglauben an das

Jüngste Gericht und Pelagianismus vor. Sätze über kontingente Zu-

kunftsereignisse, so Heinrich, hätten einen bestimmten Wahrheits-

wert, die Kontingenz bestehe darin, dass dieser Wahrheitswert uns

Menschen unbekannt sei. Es sei eine direkte Folgerung aus Gottes

Allwissen, dass Gott diesen Wahrheitswert weiß. Wenn aber die Zu-

kunft unbestimmt ist, so Heinrich weiter, dann sind weder das Jüngs-

te Gericht noch die Gnade Gottes sicher. Im Fall der Gnade wäre es

den Menschen freigestellt, ihr zukünftiges Handeln nach Belieben zu

lenken.

Wie im Kap. 8.4 bereits erwähnt, bestätigten die von Heinrich ange-

forderten Stellungnahmen der theologischen Fakultäten in Löwen,

Köln und Paris die Unbestimmtheit der Zukunft. Aber Heinrich hatte

sich auch an Rom gewandt. Dort hatte er von Kardinal BESSARION (†

1472) Unterstützung erhofft. Bessarion, ein Byzantiner aus Trape-

zunt an der Schwarzmeerküste, war 1437 von der Ostkirche zum Bi-

schof von Nizäa ernannt worden, fungierte aber seit der kurzlebigen

707 Heinrichs von Zomeren Verpflichtetheit gegenüber Gregor von Rimini in

puncto göttliches Vorherwissen und Freiheit unterstreicht Ramelow, Gott, Freiheit, Weltenwahl, 71.

254

Kirchenunion von 1439 als Kardinal. Als Heinrich sich an ihn wand-

te, genoss er den Ruf des belesensten unter den Kardinälen und des

angehenden Papstnachfolgers. Darüber hinaus war Bessarion ein Pla-

toniker und hatte an der Debatte der Frührenaissance über Platons

oder Aristoteles’ Überlegenheit teilgenommen. Wie sein Lehrer, der

bekennende Neuheide GEORG GEMISTOS, genannt PLETHON (†

1452), war Bessarion ein Platonist.

Sowohl PLETHON, der Lehrer, als auch BESSARION, der treue Schü-

ler, waren dafür bekannt, das Fatum zu akzeptieren. Bessarion war

anscheinend der geeignetste Kirchenmann, um de Rivos (und Aureo-

lis) Lehre, die am augustinischen Prädestinationsgedanken rüttelte

und als aristotelisch galt, zu verurteilen.708

Spätestens seit 1458, als er Kardinalprotektor der Franziskaner wur-

de,709 ließ sich Bessarion vorwiegend von Minoriten umgeben. Seine

enge Freundschaft mit dem einflussreichen FRANZISKUS DELLA RO-

VERE (1446-1448 socius des Franziskaner-Generalministers; 1459

Bessarions Beichtvater; 1464-1469 selber Generalminister des Fran-

ziskanerordens; 1471 zum Papst unter dem Namen SIXTUS IV. ge-

wählt; † 1484)710 weist ebenfalls auf eine minoritische Geisteshal-

tung hin.711 708 Dass Aristoteles den Widerspruchssatz übertrete, war ein älterer Vorwurf,

den Plethon bereits 1438 in seinem Werk De differentiis, cap. 7, col. 900 B (PG 160) bzw. p. 3269-16 (Lagarde), äußerte, einer in der Frührenaissance sehr bekannten Verteidigung der platonischen gegenüber der aristotelischen Philosophie. Zu diesem Vorwurf hatten in den 1440er Jahren Plethon, der Platonist, und Georg Scholarios, der die aristotelische Position verteidigte, ein paar Kurztraktate ausgetauscht (d.h. Georg Gemistos, Pros ērōtēmena hatta apokrisis; Georg Scholarios, Kata tōn Plēthōnos aporiōn; Georg Ge-mistos, Contra Scholarii etc.). Heinrich könnte diese Debatte unbekannt gewesen sein, obwohl er aus seinem früheren Kontakt zu Bessarion auch zu o.g. Kurztraktaten Zugang gehabt haben dürfte. Die in De differentiis aus-gedrückte Kritik an Aristoteles wegen Nichtbeachtung des Widerspruchs-satzes war ihm jedenfalls bekannt. Zwar ist die Behauptung, ein Satz sei weder wahr noch falsch, an der Heinrich Anstoß nahm, etwas anderes als eine nicht Beachtung des Widerspruchssatzes, was Plethon Aristoteles vor-warf, aber Plethon, Bessarion und Heinrich haben – richtig im Rahmen der scholastischen Logik – beide Behauptungen als äquivalent angesehen.

709 In dieses Amt wurde Bessarion am 10. September 1458 eingeführt. Vgl. Setton, The Papacy and the Levant, 209, Fußn. 36.

710 Über den frühen Lebenslauf von Franziskus della Rovere berichtet ausführ-licher Strnad, Sixtus IV. In einer anonymen Lebensbeschreibung von Fran-

255

Zwischen 1457 und 1460 hatte Heinrich von Zomeren als noch jun-

ger Minorit einen Sekretärsposten bei Bessarion inne.712 Nachdem

Heinrich an die Universität zu Löwen gegangen war, war der Kon-

takt erhalten geblieben, so dass Bessarion sein Werk In calumniato-

rem Platonis Heinrich zukommen ließ – vielleicht 1470, ein Jahr

nach dem Erscheinen dieses Werkes. Ungefähr zur selben Zeit wird

ihm Heinrich über den Streit in Löwen berichtet haben.

Bessarion war erst recht als Platonist von der christlichen Prädestina-

tionslehre überzeugt. Dass die Zukunft Gott durch und durch bekannt

sein soll, betrachtete er als einen Punkt, in dem die platonische Phi-

losophie und die christliche Religion übereinstimmen. Diesen Punkt

versuchte er gegenüber indeterministischen Abschwächungen der

Prädestinationslehre zu verteidigen, die etwa durch Duns Scotus,

Petrus Aureoli und eben Peter de Rivo, den Miturheber des Löwener

Streites, vertreten wurden.

Diese Autoren vertraten Prädestinationslehren, die eindeutig näher

zu den Annahmen der Kirche lagen, aus der Bessarion kam. Aber

Bessarion war nicht als Botschafter ostkirchlichen Gedankengutes

nach Rom gekommen. Im Gegenteil. Er war jemand, der die ost-

kirchliche Theologie, mitunter die Gnadenlehre sowie die Zeitmeta-

ziskus della Rovere/Sixtus IV., die wahrscheinlich von BARTHOLOMÄUS

PLATINA, einem frühen Weggefährten Bessarions, stammt, wird eine eher zu enge gegenseitige Beeinflussung und Abhängigkeit Bessarions und Fran-ziskus’ voneinander angedeutet. Der Autor behauptet mit Hinweis auf JO-

HANNES ARGYROPOULOS († 1487), wie Bessarion ein griechischer Emig-rant, („meinen Lehrer“ nennt ihn der Autor – und Bartholomäus Platina war eben ein Schüler des Argyropoulos), dass Bessarion und Franziskus unter demselben Dach wohnten, wobei Bessarion in Franziskus’ Abwesenheit nichts herausgeben wollte – oder doch nichts essen wollte? Die Wortwahl lässt beides zu (Bartholomäus Platina [?], De vita Christi ac omnium Ponti-ficum, cap. 220 (215), p. 40014-20). Es ist allerdings bekannt, dass Argyrop-oulos und Bessarion ein schwieriges Verhältnis hatten – vgl. die von Mon-fasani, Greek and Latin Learning, 63-71, erwähnte Episode.

711 Vgl. Lee, Sixtus IV and Men of Letters, 17-18. Das erste Kapitel schildert die Laufbahn des Franziskus della Rovere von Bessarions Binnenkreis zum Papststuhl. Die freundschaftliche Beziehung zwischen Franziskus und Bessarion nimmt in dieser Darstellung eine besondere Stellung ein.

712 Zu Heinrichs Zeit bei Bessarion vgl. Ijsewijn, The Coming of Humanism, 226; Miethke, Zur Bedeutung der Ekklesiologie, 379; Ullmann, Reformato-ren vor der Reformation, 343.

256

physik, die den ostkirchlichen Zukunftsvorstellungen zugrunde la-

gen, abgelehnt hatte – als Platonist wie als Lateiner.

1470 beauftragte Bessarion zwei Minoriten, den bereits erwähnten

Franziskus della Rovere und FERNANDUS VON CORDOBA († 1486),

ferner einen befreundeten Pariser Theologen namens WILHELM

BAUDIN713 und schließlich einen höchstwahrscheinlich dominikani-

schen Theologen714 damit, Expertisen über den Streitfall zwischen

Peter de Rivo und Heinrich von Zomeren, über den Löwener Streit

also, zu schreiben.715 Die Vorliebe Bessarions für die Minoriten-

Theologie kam in diesem Punkt einer Vorwegnahme einer Entschei-

dung im Streit gleich. Bereits während des Löwener Streites deutet

der anonyme Verfasser eines Verteidigungstraktats für Peter de Rivo

an, dass Heinrich von Zomeren in seiner Polemik gegen Peter de Ri-

vo eine „Minoriten“-Theologie betrieb – damit wird wohl eine Theo-

logie mit spiritualen Zügen gemeint sein.716

In allen von Bessarion in Auftrag gegebenen Expertisen wird für die

These argumentiert, dass Sätze über kontingente Zukunftsereignisse

bereits vor dem Eintreten dieser Ereignisse einen bestimmten Wahr-

heitswert haben. In Rom bzw. in Bessarions Kreis zeichnete sich also

eine Ablehnung der Ansichten des Peter de Rivo und eine Billigung

der Ansichten des Heinrich von Zomeren ab.

713 Erst 1996 gelang es Schabel, Peter de Rivo and the Quarrel [erster Teil],

367, 401-404, den Autor zu identifizieren. 714 In seinem Urteil, wer der Autor dieser dritten Expertise sein konnte,

schwankt Monfasani, Fernando of Cordova, 36, zwischen dem Dominika-ner JOHANNES GATTUS († 1484) und dem Franziskaner JOHANNES FOXAL († 1475), mit denen Bessarion nachweislich Unterredungen über den Fall hatte (über diese s. weiter unten). Schabel, Peter de Rivo and the Quarrel [erster Teil], 400, äußert die sehr wahrscheinliche Mutmaßung, dass es sich beim Autor um Johannes Gattus handeln dürfte, weil die thomistische Ar-gumentation in diesem Traktat für einen Dominikaner-Autor spricht.

715 Diese Traktate sind 1950 von Baudry kritisch herausgegeben worden: Fran-ziskus della Rovere, Tractatus brevis de futuris contingentibus, in: Baudry, La querelle, pp. 113-125; [Johannes Gattus?], Tractatus de futuris contin-gentibus, ebenda, pp. 126-133; Fernandus von Cordoba, Tractatus, ebenda, pp. 134-170; [Wilhelm Baudin], Tractatus de veritatibus futurorum contin-gentium adversus Petrum de Rivo, ebenda, pp. 171-208. Ein weiterer Trak-tat von Fernandus von Cordoba ist verloren gegangen.

716 Anonymi defensio sententiae universitatis, in: Baudry, La querelle, p. 433 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, p. 397).

257

Es blieb nicht bei den Expertisen. Ein von Bessarions Sekretär JURAJ

DRAGIŠIĆ717 (alias GEORG BENIGNUS SALVIATI) niedergeschriebener

philosophischer Dialog aus derselben Zeit gibt den Inhalt von Kon-

sultationen zwischen BESSARION, den Franziskanern FRANZISKUS

DELLA ROVERE, FERNANDUS VON CORDOBA, JOHANNES FOXAL und

dem Dominikaner JOHANNES GATTUS über die Unbestimmtheit der

Zukunft wieder. Unter den Personen des Dialogs sind die Autoren

der drei o.g. Traktate gegen Peter de Rivo.718

Zum Inhalt des Dialogs: Man erfährt erstaunlich wenig über den

Löwener Streit selbst. Am meisten wird gegen DUNS SCOTUS und

PETER AUREOLI argumentiert. Die größten Meinungsunterschiede

kommen zwischen dem Dominikaner Johannes Gattus und dem eng-

lischen Franziskaner Johannes Foxal auf. Ersterer vertritt im Dialog

eine neoaugustinische Interpretation der thomistischen Theologie,

letzterer plädiert für die scotistische Theologie.719

Trotz dieser Meinungsunterschiede besteht der Grundtenor des Dia-

logs in der Ablehnung der aristotelischen Lehre über die kontingen-

ten Zukunftsereignisse sowie über ihre theologischen Konsequenzen

– vor allem über die von Duns Scotus und Peter Aureoli angespro-

chenen; außerdem in der Untermauerung einer platonischen Vorse-

hungslehre gegen die Unbestimmtheit der Zukunft. Besonders nach-

drücklich vertreten diese Lehren drei der fünf Gesprächspartner,

Bessarion, Franziskus della Rovere und Fernandus von Cordoba.

Damit drücken diese drei eine neue Tendenz in der scholastischen

Theologie aus.

717 Zum Leben und Wirken dieser im Dialog schweigenden Person vgl. Banić-

Pajnić, Croatian Philosophers II. 718 Diese Niederschrift bzw. Wiedergabe der Konsultation wurde 1997 unter

dem Autorennamen Bessarion und dem Titel: De arcanis Dei, von Girard Etzkorn herausgegeben. Obwohl unbekannt ist, inwiefern Juraj Dragišić in den Inhalt der Akten dieses Gesprächs eingegriffen hat (wenn es überhaupt welche gegeben hat), sehe ich nicht Bessarion, sondern jenen, den Schreiber also, als Autor an, so wie es doch im Genre des philosophischen Dialogs üb-lich ist. Bessarion als Autor zu betrachten, würde jedenfalls andeuten, dass der Kardinal für die schriftliche Fassung der Argumente auch der anderen Dialogteilnehmer verantwortlich wäre – was aller Wahrscheinlichkeit nach nicht stimmt.

719 [Juraj Dragišić], De arcanis, lib. III, cap. 19, pp. 172-175.

258

Die Traditionslinien, in die Bessarion und seine Dialogpartner ver-

schiedene Lehren über die kontingenten Zukunftsereignisse einord-

nen, sind im Wesentlichen dieselben, die Peter de Rivo dafür an-

gibt.720 Demnach stünden Heinrich von Zomeren in der Tradition

CHRYSIPPS und CICEROS, Peter de Rivo aber in der Tradition EPI-

KURS, ARISTOTELES’, AUREOLIS und des PETER VON CANDIA. Letz-

terer Tradition wird noch DUNS SCOTUS zugerechnet.721

Der Dialog bemüht sich ferner, die katholische Lehre vom Nezessita-

rismus722 sowie von der Unbestimmtheit der Zukunft abzugrenzen.

Alle Personen des Dialogs sehen ein, dass die Bestimmtheit der Zu-

kunft gegenüber dem Nezessitarismus nur dann abzugrenzen ist,

wenn sie mit kontingenten Zukunftsereignissen vereinbar ist. Sie

verstehen diese als Ereignisse, die verhindert werden können.723

Nicht alle definieren aber das, was verhindert werden kann, im Sinne

der kontingenten Ereignisse gemäß dem orthodoxen Aristotelismus.

Die meisten tendieren zur Auffassung, dass ein kontingenter Aus-

gang niemals anders kommen kann, als er tatsächlich kommen wird.

Selbst den Kontingenzbegriff des Thomas von Aquin, nach dem die

Kontingenz in den unmittelbaren Ursachen eines Ereignisses liegt,

die Gott nur indirekt steuert, deutet BESSARION so, dass diese unmit-

telbaren Ursachen in Wirklichkeit durch Gottes Willkür und nur

deswegen „kontingent“ bestimmt seien.724 Dies drückt Bessarion

plakativ folgendermaßen aus: „Gott handelt nach außen hin nicht

frei“.725

Mit Bessarion übereinstimmend zieht FRANZISKUS DELLA ROVERE

das Fazit, dass Gott ein kontingentes Wissen über Zukünftiges habe,

720 Petrus de Rivo, Quaestio quodlibetica disputata anno LXVo Lovanii, in:

Baudry, La querelle, pp. 71-72 (englische Übersetzung: Baudry, The Quar-rel, pp. 37-38); ders., Probatio opinionis Aristotelis qua dicit neutram con-tradictoriam de futuro contingenti determinate esse veram etc. in: Baudry, La querelle, p. 79 (englische Übersetzung: Baudry, The Quarrel, p. 46).

721 FRANZISKUS MAYRONIS und NIKOLAUS BONNET sind zwei weitere Vertre-ter dieser Richtung. Auf diese Autoren werde ich nicht eingehen.

722 [Juraj Dragišić], De arcanis, lib. III, cap. 11, p. 158. 723 Ebenda, lib. II, cap. 3, p. 110. 724 Ebenda, lib. II, cap. 11, p. 127. 725 Ebenda, lib. II, cap. 11, p. 126: „Deus non [agit] libere ad extra“.

259

insofern als sein Wissen über das Zukünftige nicht aus Definitionen

allein gewonnen wird – es ist eben ein Wissen über Tatsachen.

Gleichzeitig hat Gott aber, so Franziskus weiter, ein notwendiges

Wissen darüber, da nichts anders ausgehen kann, als Gott sich

wünscht. 726 Auch der Dominikaner JOHANNES GATTUS stimmt den

Ausführungen Bessarions zu und setzt die kontingenten Ereignisse

dem von Gott frei Determinierten gleich.727

Die Standardbedeutungen der Termini „kontingent“ und „notwen-

dig“ sind gegensätzlich, aber bei Bessarion, Franziskus und Johannes

Gattus ist das nicht der Fall. Alle drei gehen von einer eigenartigen

Konzeption des Kontingenten aus, von einer nämlich, nach der kon-

tingent zwar nicht „de dicto notwendig“, immerhin „de re notwen-

dig“ heißen kann. Im Endeffekt verändern Bessarion, Franziskus und

Gattus die gängige Bedeutung des Terminus „kontingent“. Insofern

argumentieren sie nicht mehr für die Kontingenz, sondern für die

Verwendung des Wortes „Kontingenz“.

JOHANNES FOXAL, der gegenüber der scotistischen Freiheitslehre

positiv eingestellt ist, bringt die Defekte der Argumentation seiner

drei Gesprächspartner zur Sprache. Er wendet ein, dass seine Ge-

sprächspartner die Kontingenz so verstehen, dass Gott alles gelinge,

was er wolle; dass Gott ferner nicht anders könne als wollen, was

schließlich der Fall sein werde. Er wendet schließlich ein, dass seine

Gesprächspartner die Kontingenz so verstehen, dass das, was der Fall

sein werde, schon vorher der Fall zu sein habe, so dass Gott von

vornherein den richtigen und nicht etwa den falschen Ausgang wol-

len könne. Aber all das würde nach Johannes Foxal heißen, dass Gott

auch Verbrechen gelingen.728 Noch schlimmer: Es würde heißen,

dass es Gott gelingt, Widersprüche gleichzeitig zu realisieren.

Dieser letzte Punkt etwas analytischer: Es ist laut Bibel Gottes Wille,

dass alle gerettet werden.729 Da es aber bekannt ist, dass sogar viele

nicht gerettet werden, wird Gott auch diese Wahrheit wissen und

auch wollen, dass sie realisiert wird. D.h. es ist Gottes Wille, dass

726 Ebenda, lib. II, cap. 12, p. 132. 727 Ebenda, lib. II, cap. 12, p. 128. 728 Ebenda, lib. III, cap. 19, p. 173. 729 Ebenda, lib. III, cap. 26, p. 184-5 unter Hinweis auf 1 Tim 2,4.

260

nicht alle gerettet werden. Nun stellen beide Sätze: „Es ist Gottes

Wille, dass alle gerettet werden“ und „Es ist Gottes Wille, dass nicht

alle gerettet werden“ von allein noch keinen Widerspruch dar. Das

Wollen von Widersprüchlichem zieht keinen Widerspruch nach sich.

Aber wenn nichts, was Gott will, ausbleiben kann, dann müssen laut

dem Willen Gottes Widersprüche realisiert werden. Johannes Foxal

schlussfolgert daraus, dass das Kontingenzverständnis seiner Ge-

sprächspartner falsch ist.

Gegen dieses Argument von Johannes Foxal versucht Franziskus

della Rovere die Gleichsetzung von göttlichem Willen und Determi-

nieren zu retten, indem er einschränkt, Gott wolle einerseits, dass alle

gerettet werden, bevor einige ihre Chance vertun, sich zu bewähren

(voluntate antecedenti); Gott wolle andererseits, dass nicht alle geret-

tet werden, nachdem einige ihre Chance vertan haben, sich zu be-

währen (voluntate consequenti).730

Bessarion stimmt dieser Lösung zu und sieht sie bei Augustinus be-

stätigt.731 Bessarions und Franziskus’ Lösung ist zwar ad hoc (an-

sonsten plädieren ja die Theologen für Gottes Ewigkeit und Unver-

änderbarkeit), aber sie liefert eine platonistische (nur bedingt eine

christliche) Antwort, die Gott alles unter Kontrolle haben lässt. Jo-

hannes Foxal erscheint diese Antwort nicht zufrieden stellend, des-

halb ergreift er das Wort und wendet ein, dass die scotistische Lö-

sung wenigstens keinen Widerspruch nach sich zieht.732 Nach Scotus

kann Gott nämlich dieser Kontrolle entsagen, indem er sich enthält,

einen Willen für oder gegen eine Sache zu hegen. Bessarion antwor-

tet nicht auf den Einwand, sondern hält ein langes Plädoyer für die

Prädestination.733

Am Ende des Dialogs734 stellt Bessarion seinen Gesprächspartnern

ein eigenes Diagramm (figura) vor, das drei verschiedene Zeitkon-

zeptionen schildert: (i) eine Ewigkeit ohne Zeitwandel; (ii) eine um-

fassende Auffassung der Zeitgeschichte aus Gottes Sicht; (iii) eine

730 Ebenda, p. 185. 731 Ebenda, cap. 27, p. 185. 732 Ebenda, p. 187. 733 Ebenda, cap. 28, p. 187-9. 734 Ebenda, epilogus, p. 206.

261

menschliche Auffassung des Zeitwandels. Das Diagramm soll zei-

gen, dass diese Zeitkonzeptionen keine Gegensätze bilden.

Bessarions Diagramm

Adam

Noah

Moses Jesus

wir

Weltge-schichte, Anfang und Ende

Endlose Zeit

Zeitlose Ewigkeit

GLORIE

Abraham

262

Der äußere Kreis von Bessarions Diagramm stellt Gottes Wahrneh-

mung der Ewigkeit dar. Bessarion erklärt, die Ewigkeit sei nicht mit

den Relationen „nach“ und „vor“ ausgestattet. Gott schaut also die

Ewigkeit als einen Moment an, einen freilich, der alle Ereignisse be-

inhaltet. Um den äußeren Kreis also gottähnlich zu betrachten, muss

man ihn ganz mit einem Blick betrachten.

Der mittlere Kreis verfügt im Gegensatz zum äußeren Kreis über

einen „privilegierten“ Moment, das Jetzt. Da dieses Jetzt jeweils ein

anderer Moment ist, sollte man sich das als einen sich kontinuierlich

bewegenden Knoten am mittleren Kreis vorstellen. So betrachtet ist

die Zeit eine physikalische Größe. Es ist der innere Kreis, der An-

fang und Ende der Geschichte im Sinne einer Eschatologie ausweist.

Das Jetzt hat in diesem Kreis einen Start und ein Ziel.

Im Dialog De arcanis Dei erscheint Bessarion um die rechte Lehre

der Kirche bemüht. Sein Verständnis dieser Lehre hängt unmittelbar

mit dem zusammen, was er unter Bildung verstand. Eindeutig ver-

stand er darunter, möglichst vielen Primärtexten der Kirchentradition

Genüge zu tun unter Beibehaltung möglichst vieler Annahmen aus

der philosophischen Tradition. Beide Bedingungen halte ich für cha-

rakteristisch für den Humanismus. Dabei ließen Bessarion, Franzis-

kus della Rovere und Ferdinandus von Cordoba konsistente Argu-

mentation links liegen und sie optierten für synkretistische und ad

hoc-Lösungen, welche die Lehre von der Bestimmtheit der Wahrheit

über Zukünftiges vor dem Zusammenbruch bewahren sollten. In ge-

ringerem Ausmaß gilt das für Johannes Gattus und Johannes Foxal,

die vordergründig an einer konsistenten Lesart von Thomas von

Aquin und Johannes Duns Scotus interessiert sind.

Bessarions Positionen, und damit die Positionen des laut Gerhard

Podskalsky wichtigsten byzantinischen Humanisten,735 lagen der

ostkirchlichen Theologie fern. Podskalsky meint zwar, dass eine hu-

manistische Bildung theologisch neutral ist. Man kann als Humanist

sowohl Positionen der Westkirche als auch Positionen der Ostkirche

vertreten.736 In dieser Allgemeinheit wird Podskalskys Behauptung

wohl stimmen.

735 Podskalsky, Von Photios zu Bessarion, 18. 736 Ebenda, 70-76.

263

Es erscheint mir aber unplausibel, dass man gleichzeitig Hesychast

und Humanist sein kann. Bessarion selber verstand sich jedenfalls

nicht als Vermittler zwischen dem byzantinischen, damals hesychas-

tischen Mainstream und der Scholastik. Seine Präferenz lag nicht in

der Betonung der Gemeinsamkeiten der vorherrschenden theologi-

schen „Idiome“ der Ost- und der Westkirche. Die Theologien von

Gregor Palamas einerseits und von Alain von Lille sowie Duns

Scotus andererseits hätten ihm als Vergleichs- und Kompromissbasis

zur Verfügung gestanden, falls er dieses Ziel vor Augen gehabt hätte.

Alternativ hätte er die Gemeinsamkeiten zwischen dem Thomismus

und dem byzantinischen Thomismus beleuchten können. Im Dialog

De arcanis Dei erscheint er stattdessen als Befürworter eines stren-

gen Augustinismus, der auch aus thomistischer Sicht nicht ohne

Weiteres vertretbar war.

Franziskus della Rovere, Bessarions enger Vertrauter, war 1471, im

Jahr also, aus dem De arcanis Dei datiert, noch Generalminister der

Franziskaner. Drei Jahre später sollte er als Papst SIXTUS IV. die

Thesen des Peter de Rivo offiziell verurteilen. Damit wurde die or-

thodoxe Aristoteliker-Position in puncto futura contingentia an der

Schwelle zur Renaissance im Westen per Dekret verurteilt.

9.5. Prädestination in den frühen Reformbewegungen

Mit “frühen Reformbewegungen” sind hier zwei Bewegungen des

14. und 15. Jh. gemeint: die englischen Lollarden, deren Theologie

auf JOHN WYCLIF zurückzuführen ist, sowie die böhmischen Hussi-

ten, deren Theologie auf den Prager Magister und Prediger JAN HUS

zurückgeht. Wyclif war für Jan Hus eine ständige Inspiration. Die

Hussiten-Theologie entstand also unter dem direkten Einfluss der

Lollarden-Theologie. Dieser Einfluss sollte beständig werden, als

PETER PAYNE, nach Wyclif der wichtigste Theologe für die Lollar-

den, nach Prag übersiedelte und dort den Hussitismus mitprägte.

Weitere Engländer folgten Payne. Über diese wissen wir heute recht

wenig, aber was wir wissen, bestätigt die Abhängigkeit der Hussiten-

Theologie von der Lollarden-Theologie.737 Beide Bewegungen hat 737 Zur inneren Beziehung zwischen Wyclifs Theologie und dem Hussitismus

sowie zur geschichtlichen Entwicklung von der einen zum anderen vgl. Benrath, Wyclif und Hus, passim; Loserth, Hus und Wiclif, passim. Hussens

264

die Westkirche bereits im 15. Jh. als zusammenhängende Häresien

betrachtet. Wyclifs Theologie wurde vom Jahr 1377 an mehrmals

und auf verschiedenen Synoden verurteilt und einer der Anklage-

punkte auf dem Konstanzer Konzil, die Hus 1415 auf den Scheiter-

haufen brachten, lautete, dass dieser Wyclifs Lehren propagierte.

Kirchenhistorisch werden Wyclif und Hus als Luthers Wegbereiter

betrachtet. Wichtige Momente ihrer Theologie sind der Antipapis-

mus und die Laien-Emanzipation – Momente, die später in Luthers

Reformtheologie erscheinen sollten. Die spätere Reformtheologie

zeichnet sich wie Wyclifs und Hussens Theologie durch eine beson-

ders stark akzentuierte Prädestinationslehre aus.

JOHN WYCLIF († 1383) vertrat wie sein Lehrer Bradwardine sowie

Gregor von Rimini die doppelte Prädestination.738 Nach Wyclif sind

die einen zum Guten, die anderen zur Sünde prädestiniert. Eine Kon-

sequenz aus Bradwardines doppelter Prädestination wollte aber Wyc-

lif relativieren: Gott finde kein Gefallen am Zutreffen der vorherbe-

stimmten Sünde.739 Die Frage, ob die göttliche Vorherbestimmung

die menschlichen Handlungen erzwingt, beantwortete Wyclif auf

uneindeutige Art. Wenn es denn der Fall wäre, meinte er, dass der

seit ewigen Zeiten bestehende Ratschluss Gottes, einen Sünder die-

und-die Sünde begehen zu lassen, die Sünde direkt nach sich ziehen

würde, dann wäre alles laut Gottes Ratschluss notwendig. Aber das

ist nicht der Fall, denn Gott weiß durch seinen Ratschluss lediglich

„in esse intelligibili“, dass es zu einer bestimmten Zeit, die noch

kommen muss, so einen geben wird, der so-und-so ordinatus, prä-

destiniert also, sein wird. Und da wir wissen, dass der Sünder nicht

Bedeutung für die Reformtheologie wird natürlich nicht dadurch gemindert, dass man darauf hinweist, dass er selber von Wyclif beeinflusst worden war. Dass ich darauf aufmerksam machen muss, hat den Grund, dass Hus gerade in Tschechien lieber als ein von Wyclif unabhängiger Denker angesehen wird. Glaubt man Patschovsky, Ekklesiologie bei Johannes Hus, Fußn. 5, so wurde Loserth nur wegen dessen Hinweise auf den Einfluss, den Wyclif auf Hus ausübte, unterstellt (ungerecht, wie Patschovsky a.a.O. meint), mäh-risch-deutschnationales Ressentiment gegen die tschechische Sache zu äu-ßern.

738 Zur Prädestination bei Bradwardine und Wyclif vgl. Laun, Die Prädestinati-on bei Wyclif und Bradwardin [sic], 63-68.

739 John Wyclif, Trialogus, lib. III, cap. 4, p. 143.

265

unmittelbar nach Gottes Ratschluss entsteht, ist dies etwas weniger

als die Nezessitation – so wenigstens Wyclif.740

Eine sehr bezeichnende Position aus dem Plädoyer Wyclifs gegen

(aber in Wirklichkeit, wie ich meine, für) den Nezessitarismus lautet,

dass Gott sich nichts Kontrafaktisches denken kann.741 Er kann sich

also nicht vorstellen, was der Fall gewesen wäre, wenn Cäsar nicht

ermordet worden wäre. Das ist eine Position, die Thomas von Aquin

und Wilhelm von Ockham, zwei Vertreter von viel gemäßigteren

Prädestinationslehren, explizit ablehnten.

Eine weitere Äußerung Wyclifs, die unter bestimmten theologischen

Prämissen nezessitaristische Konsequenzen hat (bezeichnenderweise

wurde sie auch von Peter Payne, dem Hauptexponenten von Wyclifs

Theologie im hussitischen Prag explizit vertreten – für mehr darüber

vgl. weiter unten in diesem Kapitel), findet sich in dessen Universa-

lienschrift. Wyclif behauptet dort, dass alle Folgerungen bzw.

„wenn-dann“-Ausdrücke folgender Art notwendig sind: „Wenn Gott

vorschreibt, dass etwas der Fall wird, dann wird zur angemessenen

Zeit zustande kommen, dass dies der Fall wird“.742

Wie ich bisher Gelegenheit hatte festzustellen, wurde in der lateini-

schen Tradition oft (und in der byzantinischen vereinzelt) behauptet,

dass wahre Folgerungen, deren Vordersatz eine Aussage über Gottes

Wissen ist, dass ein Sachverhalt eintrete, und deren Folgesatz eine

Aussage über das Eintreten eben dieses Sachverhaltes ist, notwendi-

ge Wahrheiten darstellen. Peter Abaelard und Thomas Bradwardine,

Wyclifs Lehrer, meinten im Endeffekt, dass in solchen Folgerungen

ein wahrer Vordersatz impliziert, dass der Folgesatz ebenfalls not-

wendig wahr ist – auf deren Argumente bin ich im vorangegangenen

Kapitel eingegangen.

Auch Wyclif behauptete, dass die wahren Folgerungen bestehend aus

einem Vordersatz über Gottes Willen, dass p, und dem Folgesatz p,

notwendig wahr sind.743 Ferner behauptete er die Notwendigkeit aller

740 Ebenda, lib. II, cap. 15, p. 123. 741 A.a.O. Das Beispiel stammt von mir. 742 John Wyclif, De universalibus, cap. 14302-303 (p. 162 in Kennys englischer

Übersetzung). 743 Ebenda, cap. 14304-305.

266

wahren Vordersätze über Gottes Willen und schloss die Notwendig-

keit des entsprechenden Folgesatzes daraus.744 Sätze aus der Heiligen

Schrift können z.B. nicht falsch sein.745 Aber dann sind Sätze aus der

Heiligen Schrift, die sich auf Gottes Willen beziehen, dass bestimmte

Sachverhalte eintreten, notwendig wahr. Werden solche Sätze in

Folgerungen als Vordersätze benutzt, auf die Sätze folgen, welche

die fraglichen Sachverhalte ausdrücken, dann ist „jede Wahrheit, die

daraus folgt, nicht von geringerer Bestimmtheit als der Vorder-

satz“.746 Bezeichnenderweise exemplifizierte Wyclif diesen themati-

schen Komplex anhand des Jungfrauen-Beispiels, das ja einen Fall

der necessitas per accidens, d.h. der Irreversibilität der Vergangen-

heit, darstellt (um das Beispiel etwas zu vereinfachen, nenne ich die

Jungfrau Kunigunde): „Wenn Kunigunde nach Gottes Willen deflo-

riert wurde, dann ist sie notwendig defloriert“.747 Da sich der Vor-

dersatz auf die Vergangenheit bezieht, ist er notwendig wahr, wenn

er wahr ist. Ist er aber notwendig wahr, dann ist eo ipso der Folge-

satz: „Kunigunde ist defloriert“ ebenfalls notwendig wahr – so we-

nigstens Wyclifs Behauptung über Konditionale der genannten Art.

Wyclif weitete ferner sein Resultat auf alle Äußerungen des göttli-

chen Willens aus. Unabhängig davon, ob sich der Wille Gottes auf

die Vergangenheit, auf die Gegenwart oder auf die Zukunft bezieht,

stellen Gottes Willensäußerungen aus Wyclifs Sicht Fälle dar, die

mit der necessitas per accidens verwandt sind.

Wyclif betrachtete die Notwendigkeit des Folgesatzes der o.g. Folge-

rungen als vereinbar mit der Kontingenz.748 Es ist zunächst nicht ein-

leuchtend, wieso er daran glaubte. Sein Argument über Vordersätze,

welche die Vergangenheit betreffen (die Sache mit den Vordersätzen

über die Gegenwart und die Zukunft ist komplizierter und es ist

zweifelhaft, ob Wyclifs Ausweitung des Resultats auf letztere über-

haupt gerettet werden kann) setzt eine implizit angenommene

Schlussregel voraus, die unserem heutigen modallogischen K-Axiom

744 Ebenda, cap. 14318-319. 745 Ebenda, cap. 14410-413 (p. 163 in Kennys englischer Übersetzung). 746 Ebenda, cap. 14391-399. 747 Ebenda, cap. 14417-419. 748 Ebenda, cap. 14410-413 (p. 163 in Kennys englischer Übersetzung).

267

entspricht. Dieses besagt in etwa: Wenn eine Folgerung notwendig

ist, dann impliziert die Notwendigkeit des Vordersatzes die Notwen-

digkeit des Folgesatzes dieser Folgerung. Aber die Notwendigkeit

des Vordersatzes ist dadurch gegeben, dass er ein wahrer Vordersatz

aus der Heiligen Schrift über einen in der Vergangenheit getätigten

Willensakt Gottes ist. Ergo ist die Notwendigkeit des Folgesatzes

auch gegeben.

An all das kann Wyclif gedacht haben. Aber er kann das K-Axiom

mit Mitteln der aristotelischen Modalsyllogistik, soweit wir wissen,

nicht produziert haben. Die verschiedenen Modi der Modalsyllogis-

tik von Aristoteles lassen sich zwar im Sinne von modallogischen

Systemen modellieren, die das (basale) K-Axiom selbstverständlich

enthalten,749 aber Aristoteles selber war dieses Axiom unbekannt.750

Eine aristotelische „Annäherung“ des K-Axioms kann mit Hilfe des

modalsyllogistischen Modus Barbara mit zwei apodiktischen Prä-

missen und apodiktischer Konklusion konstruiert werden. Nehmen

wir den Obersatz an:

„Gottes Wille, demgemäß Kunigunde defloriert wurde, zog notwen-

dig Kunigundes Defloration nach sich“;

ferner den Untersatz:

„Gott kann nicht umhin, Kunigundes Defloration gewollt zu haben“.

Der Schlusssatz lautet dann:

„Kunigunde kann nicht umhin, defloriert worden zu sein“.

Auf diesem Weg lässt sich die Notwendigkeit überhaupt jedes Sach-

verhaltes aus einem Postulat folgern derart, dass aus dem Willen

Gottes hinsichtlich eines Sachverhalts dieser Sachverhalt, egal wel-

cher, zwingend folgt, sowie unter der Bedingung, dass Gottes Wille

749 Vgl. Nortmann, Modale Syllogismen, 15. 750 Knuuttila, Modalities in Medieval Philosophy, 43-44, 168, 176, behauptet

zwar, dass Aristoteles das K-Axiom und eine entsprechende Schlussregel kannte, aber laut seinen Angaben, die sich auf die Analytica priora, 34 a be-ziehen, lässt sich lediglich eine viel schwächere Behauptung belegen. Laut Knuuttila, ebenda, 183, leuchtete eine Schlussregel, die einer deontischen Version des K-Axioms entspricht (d.h.: Wenn A zwingend zu B führt, und Petrus zu A verpflichtet ist, dann ist Petrus zu B verpflichtet), Robert Holcot und Gregor von Rimini nicht unmittelbar ein – Gregor von Rimini habe so-gar Gegenbeispiele parat gehabt.

268

hinsichtlich dieses Sachverhaltes bereits eintrat. Das gilt für die Ver-

gangenheit – bezüglich der Gegenwart oder der Zukunft würde die

Bedingung lauten, dass Gottes Wille zwingend eintritt oder eintreten

wird, was viel schwerer zu begründen ist. Man kann etwa behaupten,

dass die Notwendigkeit ein Merkmal des göttlichen Willens ist. Je-

denfalls lässt sich unter der Bedingung, dass Gott Kunigundes Deflo-

ration wollte (bzw. notwendig will oder wollen wird), folgern, dass

Kunigunde notwendig defloriert wurde (bzw. defloriert wird oder

defloriert werden wird).

Hat Wyclif eingesehen, dass jedes Konditional der Art:

„Wenn Gott wollte (bzw. zwingend will oder wollen wird), dass es

der Fall ist, dass p, dann war es bereits der Fall (und heute kann das

nicht mehr geändert werden bzw. es ist zwingend der Fall oder es

wird zwingend der Fall sein), dass p“

im Sinne des modalsyllogistischen Modus Barbara umformulierbar

ist? Vielleicht! Im Zukunftsfall würde der Syllogismus jedenfalls

folgendermaßen lauten:

Obersatz:

„Gottes Wille, demgemäß Kunigunde defloriert wurde, wird not-

wendig Kunigundes Defloration nach sich ziehen“;

Untersatz:

„Gott wird nicht umhin können, Kunigundes Defloration zu wollen“.

Schlusssatz:

„Kunigunde wird nicht umhin können, defloriert zu werden“.

Dass Kunigunde nicht umhin kann, defloriert worden zu sein, oder

dass Gott nicht umhin kann, Kunigundes Defloration gewollt zu ha-

ben, sind verteidigbare Positionen. Aber, dass Kunigundes Deflorati-

on, sollte sie eintreten, notwendig eintreten wird, läuft offensichtlich

einer Intuition entgegen: Dass Kunigunde defloriert werden wird, ist,

wenn überhaupt eine Wahrheit, so jedenfalls keine notwendige. Der

Defekt liegt vielleicht beim Untersatz des Syllogismus. Die Aufgabe,

ihn zu begründen, ist nicht leicht. Was z.B. laut Untersatz vorausge-

setzt wird, ist, dass es eine notwendige Beziehung zwischen Gottes

Willen und insbesondere Kunigundes zukünftiger Defloration gibt.

Man könnte natürlich diesen Defekt folgendermaßen zu korrigieren

269

versuchen: „Es ist der Fall, dass Gott Kunigundes Defloration will“

(statt: „Gott kann nicht umhin, Kunigundes Defloration zu wollen“

und dergleichen). Aber aus einem apodiktischen Obersatz und einem

assertorischen Untersatz folgt kein apodiktischer Schlusssatz, wie es

Wyclif lieb wäre, wenn die im Spiel stehende Notwendigkeit als de

dicto interpretiert wird. Um Wyclifs Resultat zu bekommen, muss

man also die Notwendigkeit als de re interpretieren. Dann wäre der

o.g. Syllogismus folgendermaßen zu verstehen:

Obersatz:

„Gottes Wille, demgemäß Kunigunde defloriert wird, prädetermi-

niert physisch Kunigundes Defloration“;

Untersatz:

„Es ist der Fall, dass Gott Kunigundes Defloration will“.

Schlusssatz:

„Es ist der Fall, dass Kunigundes Defloration physisch prädetermi-

niert ist“

oder einfacher:

„Kunigundes Defloration ist physisch prädeterminiert“.

Es ist zweifelhaft, ob der Obersatz im christlichen Kontext er-

wünscht ist. Dass Gottes Wille, dass p, und p gleichbedeutende Aus-

drücke sind (das wäre der Fall bei einer de dicto-Interpretation der

Notwendigkeit) ist noch annehmbar – es ist ja eine sprachliche Kon-

vention. Aber dass Gott tatsächlich alles selber zustande brachte, was

zum Schluss geschah, dagegen haben große Autoritäten wie Johan-

nes von Damaskus und Thomas von Aquin argumentiert. Die Argu-

mente habe ich an geeigneteren Stellen dieser Arbeit besprochen.

Vielleicht hat aber Wyclif gar nicht an den modalsyllogistischen

Modus Barbara gedacht, sondern eine modale Schlussregel Ock-

hams zugrunde gelegt,751 die sein Resultat durchaus rechtfertigen

könnte. Diese besagt: „Wenn der Vordersatz [eines zu konvertieren-

den Konditionals] notwendig ist, dann ist der Folgesatz auch not-

751 Entdeckt und ausformuliert hat sie Lagerlund, Modal Syllogistics, 101, bei:

Wilhelm von Ockham, Summa logicae, pars II, cap. 24, pp. 327-328.

270

wendig“.752 Ockhams Schlussregel rechtfertigt zwar im Sinne Wyc-

lifs die Nezessitation von Sätzen wie: „Kunigunde wird notwendig

defloriert werden“, aber schon wieder unter der Bedingung, dass

Gott so etwas bereits wollte (bzw. notwendig will oder wollen wird)

– vgl. die Untersätze der o.g. Syllogismen.

Die Prädestinationslehre Wyclifs hat bereits JAN HUS († 1415) beein-

flusst, wurde aber in ihrer kompromislosesten, nezessitaristischen

Form vom englischen Theologen Peter Payne, einem etwas späteren

Anhänger Wyclifs vertreten, der nach Prag zog, um dort den Hus-

sitismus weitgehend zu prägen. Zwei Traktate Paynes werden weiter

unten diskutiert. Aber zunächst zu Hussens Prädestinationslehre.

Im Anschluss an Wyclif vertrat Jan Hus die Vorstellung von der Kir-

che als der Gemeinschaft der Prädestinierten in Vergangenheit, Ge-

genwart und Zukunft.753 Das ist eine verstärkte Fassung (vielleicht

aber nur eine Erläuterung?) von Wyclifs Kirchenverständnis. Wyclif

nannte die Kirche „Gemeinschaft der Prädestinierten“.754 „Prädesti-

nierte“ nannte er die am Leben befindlichen Glieder der Kirche so-

wie die Verstorbenen, die noch im Fegefeuer ihre Sünden büßen

müssen. Die Seligen aber, die bereits „in der [himmlischen] Heimat

ruhen“ sind von dieser Bezeichnung ausgenommen. Denn Hus be-

hauptete, dass die Glieder der Kirche sich dadurch auszeichnen, dass

sie in allen drei Zeitdimensionen solche sind. Niemand kann heute

ein Glied der Kirche sein, morgen aber aufgrund einer Sünde von

derselben abfallen.755 Ein zum Schlechten Vorherbestimmter war

niemals Glied der Kirche – d.h. auch damals nicht, als er tugendhaft

752 Lagerlund, ebenda, behandelt sie als eine Schlussregel, welche Sätze eines

deduktiven Systems verbindet, und dann ist sie natürlich harmlos. Die tradi-tionelle Philosophie behandelt allerdings keine Sätze, die Teile eines deduk-tiven Systems sind. Wie man Ockhams Schlussregel für beliebige natur-sprachliche Sätze begründen kann, die in diese eingesetzt werden, sehe ich nicht ein. Aber Wyclif brauchte sie zugegebenermaßen nicht für beliebige Sätze, sondern nur für Konditionale der Art: „Wenn Gott wollte (bzw. zwingend will oder wollen wird), dass es der Fall ist, dass p, dann war es bereits der Fall (und heute kann das nicht mehr geändert werden bzw. es ist zwingend der Fall oder es wird zwingend der Fall sein), dass p“.

753 Jan Hus, Tractatus de ecclesia, cap. 1. 754 John Wyclif, Trialogus, lib. IV, cap. 22, p. 325. 755 Jan Hus, Super IV Sententiarum, lib. I, d. 40, Bd. II.1, pp. 165-168.

271

lebte. Damit ließ die hussitische Prädestinationslehre dem Einzelnen,

ob einem zum Guten Prädestinierten oder einem zum Schlechten

„Vorausgewussten“, keinen Rahmen für Abweichungen von Gottes

Absicht zu.

Nach Hussens Hinrichtung auf dem Konstanzer Konzil radikalisier-

ten sich weite Teile des böhmischen Klerus sowie der Laien. Weni-

ge, aber einflussreiche englische Lollarden, die einen sehr strikten

Wyclifismus vertraten, traten ihnen bei. PETER PAYNE († 1456) war

der wichtigste unter ihnen. Seine noch unedierten Prädestinations-

traktate tragen in den mir bekannten Handschriften die Titel: De pra-

edestinatione und Quod omnia de necessitate eveniant futura.756

Der letztgenannte stellt eine Verteidigung von Wyclifs These dar,757

dass alles, was sich ereignet, in einem Sinne absolut notwendig ein-

tritt. Payne meint das nicht in dem Sinne, dass die Vorherbestim-

mung einer Sünde durch Gott die Sünde verursacht. Er meint z.B.,

dass der Grund, aus dem Gott eine bestimmte Sünde zulässt, kein

anderer ist als der Umstand, dass diese stattfindet.758

Paynes Argumente für die Notwendigkeit aller Ereignisse konzent-

rieren sich auf die Gleichsetzung von „sich ereignen“ und „sich nicht

756 Es handelt sich um die in der tschechischen Nationalbibliothek (Národní

knihovna České Republiky – Prag) aufbewahrten Handschriften: Peter Pay-ne, De praedestinatione, cod. V.G. 15, ff. 16v-21r; ders., Quod omnia de necessitate eveniant futura, cod. V.F. 9, ff. 68v-75r. Letzterer Traktat findet sich auch in dem von mir nicht durchgesehenen codex latinus 4937, 28r-34v der Wiener Nationalbibliothek.

757 Peter Payne, Quod omnia de necessitate eveniant futura, f. 68v. Peter Pay-ne nennt Wyclif zwar nicht namentlich, aber er kann mit seiner Bezugnah-me auf einen „venerabilis doctor“, nach dem alle Ereignisse aus Notwen-digkeit geschehen, niemanden sonst meinen. Paynes Verweis gilt wahr-scheinlich der Stelle aus John Wyclifs De universalibus, cap. 14295-428 (= pp. 162-164 in Anthony Kennys englischer Übersetzung).

758 „Non est verum quod quia Deus permittit hominem peccare, ideo peccat; sed [...] quia homo peccat, ideo Deus permittit hominem peccare“ (Peter Payne, Quod omnia de necessitate eveniant futura, f. 75r). Cook, John Wycliff [sic] and Hussite Theology, 337, verweist auf dieselbe Passage aus dem cod. Lat. Vien. 4937, f. 34r. Cook meint dazu, dass diese Passage die Grundthese des Werkes relativiert, wonach „die Menschen wie Marionetten vom ewigen Puppenspieler gelenkt werden“. Selbst das, was Cook als Rela-tivierung ansieht, ist in Wirklichkeit keine – vgl. meine nachfolgende Ana-lyse.

272

anders ereignen können“. Gott kann z.B. nichts anderes hervorbrin-

gen, als was er hervorbringt, da für ihn, als jemanden, dessen Wille

sich stets und unfehlbar realisiert, die Möglichkeit nicht besteht, ei-

nen unerfüllten Wunsch zu hegen.759 Das folgt auch daraus, dass

Gott, wohlgemerkt jemand, der alles hervorbringt, wofür er optiert,

aus aller Ewigkeit Gründe hat (damit sind wohl hinreichende Gründe

gemeint), für jedes Ereignis und nicht für sein Gegenteil zu optie-

ren.760 Da Gott nichts anderes als das Beste wollen kann, kann er

weder Gegensätzliches, noch etwas anderes wollen, als was er tat-

sächlich will. Daraus folgt, dass er notwendig will, was er will.761 Er

kann auch nicht kraft eines Willens „zweiter Ordnung“ wollen, dass

ein Effekt eintritt, den er kraft seines Willens „erster Ordnung“ nicht

wollte.762 Mit „Freiheit“ versteht sich in bezug auf Gott keine Frei-

heit für das Gegenteil.763

Diese ausgewählten Aussagen können davon überzeugen, dass Peter

Payne die im diodorischen Möglichkeitsverständnis übliche Gleich-

setzung von (in einem Sinne) „möglich“ und (in einem Sinne) „ein-

tretend“ als die einzig vertretbare Bedeutung von „möglich“ und

„eintretend“ betrachtet. Nichts ist möglich, es sei denn es tritt tat-

sächlich ein. Das ist natürlich nicht neu. Abaelard hatte z.B. diese

Idee bereits im 12. Jh. propagiert. Der einzige Traditionsbruch, den

Peter Payne durchführt, ist die ungenierte Art, auf die er seine diodo-

rische „Möglichkeit“ „Notwendigkeit“ nennt. Dass der auf Abaelard

zurückgehende scholastische Mainstream im Wesentlichen dieselbe

Konzeption vertrat, ist in dieser Arbeit bereits oft behauptet worden.

Die diodorische Lehre aber unverhohlen zu befürworten, ist eine

Tendenz, die sich erst mit den frühen Reformbewegungen in Gang

setzt.

In Sachen Prädestination folgt Peter Payne die neoaugustinische

Lehre von der doppelten Prädestination, die von Gregor von Rimini

und Thomas Bradwardine ausgestaltet wurde. In De praedestinatione

759 Peter Payne, Quod omnia de necessitate eveniant futura, ff. 68v-69r. 760 Ebenda, ff. 69v-70r. 761 Ebenda, f. 70v. 762 Ebenda, f. 71r. 763 Ebenda, f. 73r.

273

argumentiert Peter Payne gegen die (thomistische) einfache Prädesti-

nation zum Guten, der nach Thomas keine Vorherbestimmung zum

Schlechten entgegensteht. Gegen Thomas von Aquin behauptet Peter

Payne, dass Gott jeden Sünder sündigen lassen will.764 Eine Unter-

scheidung zwischen einem Willen erster Ordnung, wonach Gott will,

dass alle Menschen gerettet werden, und einem Willen zweiter Ord-

nung, wonach nur die Prädestinierten gerettet werden und die repro-

bati verdammt werden, erkennt hier Payne zwar an, er räumt aller-

dings ein, dass der Wille zweiter Ordnung maßgeblich ist.765

Es scheint, dass die hussitische Theologie insgesamt die Konsequen-

zen zu Ende dachte, die aus der neoaugustinischen Lehre über die

Kontingenz zu ziehen sind. Zudem sprach sie diese Konsequenzen

offen als nezessitaristisch an – was freilich im Sinne der hussitischen

Theologie kein negativ besetztes Wort ist. Es steht dem Menschen zu

keinem Zeitpunkt wirklich offen, anders zu handeln, als er handeln

würde.

10. Schlussfolgerungen aus den Zukunftslehren

Beide theologischen Traditionen, die byzantinische wie die scholas-

tische, sind selbst in Fällen kompatibel, in denen sich ihre Termino-

logien unterscheiden. Wenn im Osten von der Unbestimmtheit der

Todesstunde die Rede ist, dann ist das im westlichen Sinne dem

gleichzusetzen, dass die reprobatio (die Todesstunde ist als Strafe

ein Teil davon) von Gott nicht gewollt ist.

Nicht nur sind die Traditionen vergleichbar, sondern sie haben zum

Teil äquivalente Positionen hervorgebracht. Wie in Byzanz so wurde

auch vom Thomismus die These propagiert, dass die Todesstunde

(eigentlich das Böse insgesamt, wie die Thomisten meinten) nicht

vorherbestimmt ist. Die „Äquivalenz“ zweier Thesen ist natürlich

eine starke Behauptung und es gibt im Umgang mit Originaltexten

immer wieder hermeneutische Schwierigkeiten. Es ist nicht einmal

klar, ob der Thomismus konsequenterweise zugunsten obiger These

argumentierte. Aber es gibt auch weitere Indizien für Positionen im

Westen und im Osten, die wenigstens in derselben Absicht lanciert 764 Peter Payne, De praedestinatione, f. 17r. 765 Ebenda, f. 18r.

274

wurden. Hier wie da wurden z.B. von Teilen der Gelehrtenschaft

radikale antideterministische Positionen in bezug auf die logische

Frage nach der Unbestimmtheit der futura contingentia vertreten,

auch eine auf den Antideterminismus abgestimmte Prädestinations-

auffassung.

In Byzanz bildeten antideterministische Positionen den Mainstream.

Man erkennt das an der Art, in der die byzantinischen Theologen in

einem Atemzug gegen die heimarmenē (= fatum) und die Prädestina-

tion polemisierten. Gegen die heimarmenē wurde in Byzanz unter

Hinweis auf den Fatalismus und die Astrologie polemisiert. Damit

wurde aber nicht ausschließlich gegen die Astrologie, sondern auch

gegen die Prädestination polemisiert. Gott hält nach byzantinischem

Dafürhalten (auf die Ausnahmen habe ich gesondert hingewiesen)

nur sehr allgemeine „Richtlinien“ ein, die Details werden aber den

Sterblichen überlassen. Dem Menschen wird damit die Möglichkeit

eingeräumt, die ihrem Ausgang nach offenen und von Gott nicht im

voraus bestimmten Ereignisse selbstständig zu gestalten.

Diese Position stimmt mit einem in manchen Quellen, westlichen

wie östlichen, anzutreffenden Gottesverständnis überein, nach dem

Gott in der Lage ist, sich eines Urteils oder einer Willensäußerung zu

enthalten.

In Byzanz wurde dieses Gottesverständnis nach der Erklärung des

Hesychasmus zum ostkirchlichen Dogma im 14. Jh. durch eine Lehre

über das göttliche Handeln ergänzt, die letzteres zu völlig unbere-

chenbarem Handeln erklärte. Gott steht beim Handeln über seinen

eigenen Wesensbestimmungen. Wenn aber Gott sich die Freiheit

nimmt, nicht auf die Beachtung seiner eigenen Regeln Wert zu le-

gen, kann es sein, dass alle richtig vorgenommenen Maßnahmen ei-

nes Einzelnen, die im Normalfall ins Paradies führen, doch nicht ins

Paradies, sondern in die Hölle führen. Der theologische Mainstream

in Byzanz hat, um es scholastisch auszudrücken, Gottes potentia ab-

soluta zu Lasten dessen potentia ordinata betont.

Während deutlich ist, was in Byzanz als Mainstream galt und welche

Merkmale dieser hatte, ist es nicht leicht, entsprechende Feststellun-

gen bezüglich der Scholastik zu treffen.

Einerseits gab es dort eine neue Tendenz, die in der Frühscholastik

vorbereitet wurde, um von Abaelard recht kompakt eingeführt zu

275

werden. Andererseits gab es auch die westliche Entsprechung zum

byzantinischen Mainstream. Letztere war die Traditionslinie, die in

der Scholastik als orthodox aristotelisch galt. Peter Aureoli, wohl der

repräsentativste Fall eines Aristotelikers in der Kontingenzfrage,

meinte, dass alle kontingenten Sätze über die Zukunft unbestimmt

sind.

Scotus, der mit seinem Voluntarismus eigene Wege ging, entsprach

dem Geist des orthodoxen Aristotelismus, als er meinte, dass Gott

wie Mensch Widersprüchliches wollen können. Also kann Gott in

einunddemselben Moment das Zutreffen sich widersprechender kon-

tingenter Sätze über die Zukunft wollen. Gott will in erster Instanz,

dass ein zukünftiges Ereignis zustande kommt, und doch will er

auch, dass es nicht zustande kommt. Widersprüchliches zu wollen ist

völlig problemlos. Widersprüchliches Wissen ist natürlich wiederum

unmöglich, aber es ist eben nicht Gottes Vorherwissen, sondern Got-

tes Wollen, das nach Scotus das Zutreffen kontingenter Sätze über

die Zukunft bedingt. Wenn Gott in erster Instanz etwas sowie sein

Gegenteil will, dann enthält er sich in zweiter Instanz einer Willens-

äußerung über das betreffende zukünftige Ereignis und lässt es offen

– genauso wie der dem Aristoteles zugeschriebene Indeterminismus

vorsah. Mit solchen Argumenten bejahte Scotus die unbegrenzte

Handlungs- und Willensfreiheit Gottes. In Übereinstimmung damit

vertrat er eine indeterministische Möglichkeitsauffassung.

Andere Argumente für die Handlungs- und Willensfreiheit begegnen

bei Ockham. Laut Ockhams Lehre der sich gabelnden Zeit haben

Sachverhalte, die sich im Endeffekt nicht ereignen sollten, als zu-

künftige Möglichkeiten zu gelten – und zwar selbst wenn Gott weiß,

dass sich diese Möglichkeiten nicht realisieren werden. Ockham

meinte sogar, dass es Gott möglich ist, eine Wahl zwischen Personen

mit denselben Anlagen zu treffen. Gottes Wahl für Jakob aus seiner

Liebe für ihn heraus, obwohl Esau objektiv gesehen in keiner Weise

schlechter war, exemplifiziert nach Ockham die Eigenschaft Gottes,

eine Entscheidung ohne vorherige Begründung zu treffen. Gott hatte

nicht vorgesehen, dass Jakob seiner Liebe würdiger wäre als Esau –

er liebte ihn aber mehr. Das entspricht in etwa der byzantinischen,

hesychastischen Idee, nach der Gott sich nicht einmal dem treu blei-

ben muss, was nach seiner Vorsehung und seinem Wesen der Fall

276

sein sollte. Im Westen blieben solche (eher zufälligen) Übereinstim-

mungen mit der byzantinischen Theologie Randerscheinungen.

Diesen entgegen und neben der antideterministischen aristotelischen

Tradition tauchten im Westen nach dem 12. Jh., insbesondere nach

Abaelard, rigorose Vorsehungs- und Prädestinationslehren auf. In

ihrem Rahmen wurden Willens- und Handlungsfreiheit nicht mehr

als metaphysische Gegebenheiten (wie stillschweigend im Osten),

sondern als kognitive oder emotionale Einstellungen des Handelnden

gedeutet. Die Prädestinationslehren der Scholastik wurden desto ri-

goroser je mehr diese Augustin neu entdeckte. Aber bereits im 14.

Jh. sahen die meisten Scholastiker (einschließlich Ockhams!) in Got-

tes potentia absoluta eine bloß theoretische Möglichkeit, in dessen

potentia ordinata dagegen die einzig machbare Möglichkeit.

Es setzte sich allmählich in einem Teil der Scholastik ein Verständ-

nis der zukünftigen Kontingenz durch, das nichts anderes als zukünf-

tig ansah, als das, was sich schließlich ereignen würde. Dieses Ver-

ständnis war 1277 an seinem Ursprungsort verurteilt worden: in Pa-

ris, wo die Artistenfakultät im Verruf stand, „aristotelische“ Lehren

zu verkünden. „Aristotelisch“ stellt hier eine willkürliche und irre-

führende Etikette dar, denn der orthodoxe Aristotelismus des Mittel-

alters zeichnete sich tatsächlich durch Indeterminismus aus. „Diodo-

risch“ wäre die richtige Etikette gewesen.

In der spätmittelalterlichen Scholastik standen beide verschiedenen,

sich widerstreitenden Ansätze zu den futura contingentia, der diodo-

rische und der aristotelische, auf gleicher Höhe. Das war auch mit

zwei Prädestinationsauffassungen der Fall, der thomistischen und der

neoaugustinischen (Thomas von Aquin selber war diodorisch in sei-

nem Kontingenzverständnis und – natürlich – thomistisch in seiner

Prädestinationslehre). Auch in Byzanz wurden im 15. Jh. das diodo-

rische Möglichkeitsverständnis und eine rigorose Prädestination ver-

treten, allerdings viel schwächer als in der Scholastik.

Obwohl insbesondere nach dem 13. Jh. im Westen diodorische, je-

denfalls nicht orthodox aristotelische Thesen zur Modalontologie

zum Mainstream wurden, gab es bis ins 15. Jh. hinein ebendort gele-

gentliche, orthodox aristotelisch motivierte Verurteilungen solcher

Thesen unter Hinweis auf ihre fatalistischen Lesarten. Als die Löwe-

ner Universität z.B. statutarisch verboten hat, „Chrysipps“ Tradition

277

zu lehren (aber damit war die Position gemeint, dass Sätze über die

Zukunft schon immer einen Wahrheitswert hatten), hat sie das unter

Hinweis darauf getan, dass Wyclif, ein häretischer Fatalist doch, ge-

nau dieses Möglichkeitsverständnis vertreten hatte. Auch Peter de

Rivo versuchte mit der Zuordnung Wyclifs zu Chrysipp für den or-

thodoxen Aristotelismus zu überzeugen.

Die Zielsetzung hinter dieser Zuordnung ist, wie ich gezeigt habe,

kein Brunnenvergiften. Eine Reihe von in den Augen Roms „recht-

gläubigen“ Autoren war tatsächlich Wyclifs „Fehler“ – sollte seine

Modalsemantik so einer sein – verfallen. Wyclif war eindeutig von

Bradwardine beeinflusst worden und zog wie dieser nezessitaristi-

sche Konsequenzen aus einem Möglichkeitsverständnis, das viele

„rechtgläubige“ Autoren vor ihm vertreten hatten. Obwohl sie einen

kanonischen und kirchlichen Bruch mit Rom nach sich zogen, stell-

ten die frühen Reformbewegungen keinen Bruch mit der Scholastik

in voller Front dar. Sie stellten vielmehr den Triumph des Neoaugus-

tinismus und des Nezessitarismus dar, zweier Ansätze, die in der

Scholastik bereits lange existierten.

Im aristotelischen „Lager“ haben im Spätmittelalter viele Epigonen

des Peter Aureoli, des Duns Scotus und des Wilhelm von Ockham

den othodoxen Aristotelismus sowie die Handlungs- und Willens-

freiheit dieser Autoren relativiert. Die Pariser und Oxforder Scotisten

waren bereits Mitte des 14. Jh. bemüht, die aus Scotus’ Lehre resul-

tierende, unbeschränkte Freiheit Gottes bezüglich zukünftiger, offen-

stehender Optionen nicht zu sehr zu betonen, und sie vertraten die

Ansicht, dass Sätze, die gegensätzliche zukünftige Optionen ausdrü-

cken, seit jeher wahr oder falsch sind.766 Das ist natürlich keine or-

thodox aristotelische, sondern eine diodorische Position.

Spätestens im 15. Jh. wurde der Scotismus vom Neoaugustinismus

verdrängt. Andere radikale indeterministische Ansichten, wie die von

Peter Aureoli und Peter de Rivo, wurden von Papst Sixtus IV. verur-

teilt.

766 So ein „Scotist“ mit deterministischen Tendenzen war z.B. der Oxforder

Dominikaner Arnold Strelley, dessen Kontingenzlehre ich kurz in Fußn. 408 schildere.

278

11. Ein mit der Prädestinationslehre zusammenhängendes Fallbei-

spiel: Fegefeuer

Metaphorische Äußerungen in biblischen und patristischen Quel-

len767 sowie Volksfrömmigkeit prägten schon in frühchristlicher Zeit

die Vorstellung über ein Fegefeuer (lat: ignis purgatorius; gr: ka-

thartērion pyr),768 die im Westen insbesondere nach dem 13. Jh.

dogmatisch untermauert wurde.

Von der frühen Kirche bis zum Spätmittelalter war es unter Byzanti-

nern wie unter Lateinern eine verbreitete Vorstellung, dass sich die

Seelen nach dem Ableben in einem mittleren Zustand befinden.769

Anfangs war sie die Vorstellung eines reinigenden Feuers, das die

Reinigung der (im mittleren Zustand befindlichen) Seelen der Toten

von nicht gesühnten Sünden bewirkt – eine Wirkung, die die Fürbit-

ten der Lebenden veranlassen.

Bei PAULUS wird die Seele mit durch verbrennbare Fremdmateria-

lien vermischtem Gold verglichen.770 Um pures Gold (sozusagen nur

die Güte der Seele) zu erhalten, verbrennt bei der Prüfung das reini-

gende Feuer die anderen Materialien (Stroh wird z.B. explizit ge-

nannt) und bringt pures (geschmolzenes) Gold hervor.

CLEMENS VON ALEXANDRIEN († vor 215) verglich die Sühne nach

dem Tod mit einem „Besinnungs“-Feuer, das durch die Seele hin-

767 Die wichtigsten Belege sind: 2 Makk 12,42-45; Mt 12,32; 1 Kor 3,12-15;

Augustin, De civitate Dei, lib. 21, cap. 13 sowie 24; Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione (PG 46, coll. 97 C-100 A); Cyprian, Epistulae 1-57, ep. 55,20. Zur Frühgeschichte des Fegefeuers vgl. Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, 72-155 sowie Merkt, Das Fegefeuer, passim. Zur Begriffsge-schichte vgl. Le Goff, ebenda, 442-446. Einen größeren Überblick über die Quellen der Fegefeuerlehre bietet Hübner, Über das christliche Totenreich. Diesem Überblick fügt er allgemeine Fragestellungen bezüglich Zeitlichkeit der reinigenden Strafe sowie Räumlichkeit des Purgatoriums hinzu.

768 Zur Frühgeschichte des Fegefeuergedankens vgl. außer den hier nachfol-genden Ausführungen: Le Goff, Die Geburt, 72-155; zu dessen Begriffsge-schichte vgl. ebenda, 442-446.

769 Vgl. z.B. Irenäus von Lyon, Adversus haereses, lib. V, cap. 31-32, pp. 389-404. Ebenfalls die Zusammenfassung eines breiten Spektrums von patristi-schen und byzantinischen Thesen zum mittleren Seelenzustand bei Constas, ‘To Sleep’.

770 1 Kor, 3,12-15.

279

durch gehe.771 Clemens betrachtete den Feuertest als schmerzhafte

Heilung für diese Verstorbenen, die Sünden zu bereuen haben – nach

seinem Sprachgebrauch: in deren Seelen „Brennstoff“ („hylē deo-

menē analousthai“) beigemischt ist. Er betrachtete aber diesen Test

als schmerzlosen Vorgang für Verstorbene, die keinen „Brennstoff“

in sich aufgeladen haben.772

GREGOR VON NYSSA († nach 394) spricht von einem reinigenden

Feuer, das den der Seele beigemischten „Schmutz“ („rhypos“) ver-

brennt und sie auf diese Art davon befreit.773 Das reinigende Feuer

soll im Jenseits zum Zweck der Sühne der Fehler wegen eingesetzt

werden, die im Diesseits nicht durch „Aufmerksamkeit und Philoso-

phie“ eingesehen werden konnten, als der Sünder noch am Leben

war.774

Diese ersten Fassungen der Fegefeuer-Lehre können noch als Alle-

gorien über den Weg der Seele zur Läuterung verstanden werden,

genauso wie die viel diffusere Lehre vom mittleren Seelenzustand.

Bereits im 5. Jh. wurde jedoch die Fegefeuer-Lehre von Papst GRE-

GOR I. († 604) etwas konkretisiert. So stand es für diesen fest, dass

von den reinigenden Qualen des materiell verstandenen Fegefeuers

nur kleine Sünder betroffen seien.775

771 Clemens von Alexandrien, Stromata, lib. VII, cap. 6, § 34, 4. 772 Origenes, Contra Celsum, lib. V, cap. 15. Vgl. auch Hennesey, The Place of

Saints; Crouzel, L’exégèse origénienne. Vgl. auch Anrich, Clemens und O-rigenes.

773 Gregor von Nyssa, De mortuis non esse dolendum, p. 56. 774 Ebenda. 775 Fleischhack, Fegfeuer, 32-39. Gregor I., Dialogi, lib. IV, cap. 39. Der Bei-

name „der Große“ für Papst Gregor I. kann für Verwirrung sorgen. Die in den byzantinischen Quellen begegnende Bezeichnung: „Gregor der Große“ gilt Gregor von Nazianz († 390). Lateiner wie Byzantiner vermieden die Zweideutigkeit, indem sie konsequent den jeweils eigenen Gregor „den Großen“ nannten, den jeweils anderen aber als „Gregorius Nazianzenus“ (die Lateiner) oder als „Gregorios Dialogos“ (die Byzantiner) bezeichneten. Ich optiere für die Bezeichnungen: „Gregor von Nazianz“ für den Kirchen-vater griechischer Zunge und „Papst Gregor I.“ für den wichtigen Pontifex und vermeide für diese beiden Personen die zweideutige, wertende Be-zeichnung: „der Große“.

280

Nach dem 12. Jh. erfuhr die Vorstellung des reinigenden Feuers in

der lateinischen Theologie eine durchgehende Präzisierung bezüglich

der Art und Dauer der postmortalen Feuerqualen. Diese Präzisierung

sowie die darauf aufbauende Fegefeuerlehre der scholastischen The-

ologie hat die Ostkirche ignoriert oder abgelehnt.

Die kleine Akzentverschiebung beider Denkschulen vergrößerte sich,

wie zu zeigen sein wird, zu einer breiten Kluft. Dadurch, dass die

alexandrinische Schule im griechischen Sprachgebiet, die karthagi-

sche aber im lateinischen Sprachgebiet entstand und dominierte,

zeichnete sich die jeweilige der sich weitgehend entfremdenden

Schulen durch eine besondere Sprache aus: Die griechischsprachige

Theologie wurde Alleinvertreterin der allegorischen Interpretation in

alexandrinischer Tradition. Das wörtliche Verständnis von Altem

und Neuem Testament wurde dagegen Sache der Theologie der

Westkirche, die sich lateinisch ausdrückte.

Die allegorische Interpretation der Fegefeuerquellen, d.h. die byzan-

tinische Exegese, ist bequem. Denn, wenn die Fegefeuerlehre wört-

lich zu verstehen ist, dann besagt sie, dass die Seele von einem kör-

perlichen Feuer gequält wird, bis sie von nicht gesühnten, lässlichen

Sünden gereinigt ist. Aber die Seele und der Körper wurden im Mit-

telalter als eine Gesamtheit verstanden. Zwar gab es Formen des

Volksglaubens bzw. Aberglaubens, wonach es unabhängig vom

Körper herumwandernde menschliche Seelen bzw. Gespenster und

dergleichen geben sollte. Selbst Augustin hat an Spukgeschichten

geglaubt. Aber zu glauben, dass ein Gespenst, angenommen es gibt

mindestens eines, die tote Person wäre, ist nach den Bedingungen

der aristotelischen Seelenlehre falsch, denn der gesamte Mensch ist

nach derselben die aus Leib und Seele bestehende Gesamtheit. Der

aristotelischen Seelenlehre, jedenfalls einem Abglanz davon, fühlte

sich aber die mittelalterliche Philosophie verbunden – ob aus griechi-

scher oder lateinischer Feder.776

Die Byzantiner PSEUDO-ATHANASIUS (6. Jh.(?)), NIKETAS STETHA-

TOS (11. Jh.) und MICHAEL GLYKAS (12. Jh.) meinten, die im mittle-

776 Für eine Besprechung der Schwierigkeiten, die die aristotelische Seelenleh-

re der Fegefeuer-Lehre insbesondere im thomistischen Kontext bereitet, vgl. Hershenov / Koch-Hershenov, Personal Identity and Purgatory, 439-445.

281

ren Zustand befindlichen Seelen der Toten hätten nur traumähnliche

Vorstellungen von ihren Lebenswerken. Pseudo-Athanasius meinte:

Es erscheint naheliegend, dass die Seelen der Sünder in der Unter-welt ausschließlich an ihre bevorstehende Strafe denken.777

Niketas Stethatos hielt die vom Körper losgelöste Seele für des

Träumens fähig und zwar sowohl bezüglich ihrer vergangenen Taten

als auch bezüglich bevorstehender Sachverhalte.778 Michael Glykas

lancierte eine weitere These, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit

der Position aufweist, die ein Jahrhundert später der Lateiner WIL-

HELM VON AUVERGNE († 1249) einnahm: Die Seelen der Mörder

würden im mittleren Zustand dadurch ihrer Verbrechen erinnert, dass

ihnen die Gesichter ihrer Opfer wie im Traum erschienen.779

Dass die Ostkirche der Fegefeuerlehre verschlossen blieb, war also

gewissermaßen eine Ungereimtheit, denn die Ostkirche erkannte wie

die Westkirche einen mittleren Seelenzustand an, sie akzeptierte au-

ßerdem die Fürbitten für die Verstorbenen, sie akzeptierte sogar, dass

die Seelen im mittleren Zustand zum Versühntwerden befähigt sind.

All das legt nahe, dass auch nach byzantinischem Verständnis etwas

mit den Verstorbenen aufgrund der Fürbitten geschehen sollte.

Aber hat der mittlere Seelenzustand etwas mit einem Feuer zu tun?

Die dafür als Belege angeführten Stellen sind nicht unbedingt wört-

lich zu verstehen. In Mt 12,32 ist z.B. von keinem Feuer die Rede. In

1 Kor 3,12-15 ist zwar von Feuer die Rede, aber es liegt die Vermu-

tung nahe, dass Paulus dort metaphorisch spricht. Denn er schreibt

der Seele Inhalte wie Stroh und Gold zu. Dort wo die Rede von Stroh

und Gold eindeutig nicht wörtlich gemeint ist, braucht die Rede vom

Feuer wohl nicht wörtlich zu sein.

Zunächst sprach sich auch die Theologie lateinischer Zunge gegen

ein körperliches Feuer aus, das die Seele bestrafen und zur (passiven)

Sühne bewegen würde. Nach Wilhelm von Auvergne ist die Seele

eine immaterielle, spirituelle Form.780 Ein körperliches Feuer kann

777 Pseudo-Athanasius, Quaestiones ad Antiochum, q. 32, PG 28, col. 616 D. 778 Niketas Stethatos, Über die Seele, § 73. 779 Michael Glykas, Quaestiones, cap. 20, Bd. 1, p. 242. 780 Wilhelm von Auvergne, De anima, cap. 4, pars 1, pp. 86-87.

282

aber eine immaterielle Form nicht verbrennen.781 Die Schlussfolge-

rung daraus ist natürlich, dass es kein körperliches Feuer gibt, durch

das die Seele im Purgatorium bestraft wird. Gleichzeitig hielt Wil-

helm von Auvergne an der Existenz des Fegefeuers fest. Er verstand

es als eine Strafe, die darin besteht, dass der in einem traumähnlichen

Zustand befindlichen Seele die Vorstellung einer Feuerstrafe einge-

flößt wird.782

Im Gegensatz zu seinen byzantinischen Vorläufern in puncto post-

mortaler, traumähnlicher Vorstellungen bestimmte Wilhelm seine

Lehre bezeichnenderweise nicht für das Laienpublikum. Er befür-

wortete weiterhin die Lehre vom körperlichen Feuer für die Predigt,

behauptete aber im Sinne des akademischen Diskurses, dass Gott die

Pönitenten jede Strafe, und sei sie nur imaginativer Natur, wie eine

Feuerstrafe empfinden lassen kann.783

THOMAS VON AQUIN († 1274) war in seiner Seelenlehre ein noch

besserer Aristoteliker als die Vorgenannten.784 Er meinte, dass ein

Denkvermögen ohne Ernährungsvermögen unmöglich ist. Eine Kon-

sequenz, die Thomas daraus hätte ziehen können, ist, dass die Seelen

der Verstorbenen nicht sühnen können – da sie sich nicht ernähren

und daher nicht denken können. Das würde sowohl der aristoteli-

schen Seelenlehre als auch der Theologie des Johannes von Damas-

kus entsprechen, nach der ein Toter nicht mehr sühnen kann.785 Es ist

wohl nur sein Wunsch, das Fegefeuer, dieses Element der Volks-

frömmigkeit, gegen Aristoteles und den Damaszener zu behaupten,

die Thomas zur – obendrein mit schwachen Argumenten und Analo-

gieschlüssen untermauerten – Lehre führt, dass die Seele nach dem

Tod auf eine andere, durch und durch abstrakte, engelhafte Art den-

781 Wilhelm von Auvergne, De universo, p. 681 b B-C. 782 Ebenda, p. 682 a G-H. 783 Ebenda, p. 682 a H. Für diese Diskrepanz zwischen Pastoraltheologie und

Dialektik bei Wilhelm von Auvergne in puncto mittlerer Seelenzustand vgl. Bernstein, Esoteric Theology, 514-516, 530-531.

784 Thomas von Aquin, In Aristotelis librum De anima, lib. I, lec. 14, n. 12: “Vegetabile potest esse sine sensibili et intelligibili, sed haec non possunt esse sine vegetabili”.

785 Johannes von Damaskus, Expositio fidei, cap. 18, PG 94, coll. 877C-878 C.

283

ken sowie durch Abstraktion gewissermaßen über Einzelereignisse

wissen und insofern sühnen kann.786

Dagegen mag das – fürwahr aristotelische – Argument des Byzanti-

ners MARKUS VON EPHESUS787 aus einer Sitzung des Konzils von

Ferrara/Florenz im Jahr 1438 Anwendung finden: Das Fegefeuer

könne einem Menschen, der sühnen müsse, nichts anhaben, denn

weder die Seele noch der Körper würden von sich allein die Be-

zeichnung „menschliches Wesen“ verdienen, sondern von einem

Menschen könne nur als eine Gemeinschaft von Körper und Seele

die Rede sein.788

Unabhängig davon also, ob Gott stets eine Satisfaktion im Sinne der

lateinischen Theologie verlangt, oder ob er im Sinne der byzantini-

schen Theologie willkürlich über Heil und Verdammnis eines Men-

schen urteilt, scheint bereits die aristotelische Psychologie, die den

mittelalterlichen Vorstellungen von der Seele zugrunde liegt, auszu-

schließen, dass eine immaterielle, vom Körper abgetrennte Seele,

bestraft werden und sühnen könnte.

Für die Vorgeschichte, die kulturelle Prädisposition sowie die wich-

tigsten Meilensteine der Ideen-, Religions- und Dogmatikgeschichte,

aus denen die Fegefeuerlehre resultierte, bleibt seit den frühen Acht-

zigern Jacques Le Goffs Darstellung klassisch.789 Le Goff weist AU-

GUSTIN die „wahre Vaterschaft“ des Fegefeuers zu790 und lässt die

Äußerungen des GREGOR VON NYSSA zugunsten des Fegefeuers aus.

Das tut er wohl zu Recht. Gregors Aussagen zugunsten des Fegefeu-

ers weisen viele Merkmale nicht auf, die Le Goff im doktrinären Ge-

halt sowie in der sozialen Funktion der hochmittelalterlichen, scho-

lastischen Fegefeuerlehre beobachtet. Wie die biblischen Quellen

können die Äußerungen des Gregor von Nyssa allegorisch gedeutet

werden. Keine explizite Raum- und Zeitmetaphysik, sondern höchs- 786 Thomas von Aquin, Quaestiones disputatae, De veritate, q. 19, a. 1, resp; a.

2, resp, ad 1 und ad 2. 787 Für eine ausführlichere Darstellung dieser Argumentation von Markus auf

dem Florentinum s. Kap. 11.6. 788 Markus von Ephesus, Oratio altera, p. 5571-72. 789 Le Goff, Die Geburt des Fegefeuers, zuerst 1982 als La naissance du pur-

gatoire in Paris erschienen. 790 Le Goff, Die Geburt, 84-107.

284

tens eine Raum- und Zeitmetaphorik ist aus ihnen herauszulesen.

Das sind auch die Gründe, aus denen Le Goff meint, dass das 12. Jh.

die entscheidende Wende in die Geschichte des Fegefeuergedankens

bringt. In der Volksfrömmigkeit wie in den Klosterkreisen und der

scholastischen Theologie (Le Goff führt HUGO VON ST. VICTOR,

BERNHARD VON CLAIRVAUX, GRATIAN VON BOLOGNA, PETER

LOMBARD und PETER VON POITIERS an791) scheint sich die Vorstel-

lung des Fegefeuers als eines Ortes durchzusetzen. Nach Peter Lom-

bard wurde das Fegefeuer fast von jedem Scholastiker in den für die

Erlangung des Magistergrades obligatorischen Kommentaren über

die Lombardensentenzen behandelt und zwar stets in der 21.

(manchmal auch in der 41.) Distinktion des 4. Buches.

Bei den Frühscholastikern spielten die biblischen Belege eine wich-

tige Rolle. Genauso wichtig erschien ihnen aber, dass das Jenseits

nach einer von Augustin eingeführten Kategorisierung der Verstor-

benen aufgebaut sein muss: So wie es nach AUGUSTIN: i. vollkom-

men gute, ii. nicht vollkommen gute, iii. nicht vollkommen böse und

iv. vollkommen böse Menschen gibt, die nun auf das letzte Urteil

warten, müsste es, so wenigstens ein paar in diesem Zusammenhang

von Le Goff genannte Autoren, im Jenseits Teilbereiche bzw. Warte-

anstalten für jede einzelne Klasse von Verstorbenen geben, insbe-

sondere wenn man denkt, dass die nicht vollkommen guten Men-

schen auf ihr endgültiges Urteil noch vorbereitet werden müssen. Ihr

Teilbereich muss nämlich mit der Möglichkeit einer Sündenreini-

gung ausgestattet sein.

PETER VON POITIERS meinte zwar, dass es nur ein Reinigungsfeuer

für alle gibt, er forderte zudem die Angemessenheit von Sünde und

Strafe bzw. die Einhaltung der Regel: Gleiche Strafe für gleiche

Sünde unabhängig vom Sünder.792 Grundlegend bleibt in seiner Ana-

lyse die Existenz von intermediären Klassen von Sündern, d.h. von

Sündern mit lässlichen Sünden, sowie von Regeln im Jenseits, nach

denen gesühnt wird. An diesen Regeln ist nach Peter von Poitiers

auch Gott gebunden. Der Analyse des Peter von Poitiers liegt, wie

man leicht feststellen kann, eine ganze Palette von augustinischen

791 Ebenda, 173-81; 185. 792 Peter von Poitiers, Sententiarum libri quinque, lib. 3, cap. 10, PL 211, col.

1064 A-C.

285

Gedanken zugrunde: Glaube an einen mittleren Seelenzustand zwi-

schen Leben und Tod, Auffassung der Eschatologie als einer Ge-

schichtsschreibung des Jenseits, positive Rezeption des fatum-

Gedankens.

Le Goff hält die Lokalisierung des Fegefeuers für das ausschlagge-

bende Moment, das der Fegefeuerlehre nach dem 12. Jh. eine neue

Dynamik verleiht. Die Untermauerung des Fegefeuers mit Vernunft-

gründen hält Le Goff allerdings für nicht besonders wichtig. Das ist

verblüffend, weil gerade die Vernunftgründe in den scholastischen

Diskussionen des Fegefeuers sehr ins Gewicht fielen und ebenso viel

zur Ausgestaltung des Fegefeuers als eines sehr kühnen Theologu-

menons beitrugen. Nach dem 12. Jh. wurde die Fegefeuerlehre stets

unter Angabe von Vernunftgründen weiter präzisiert.

11.1. Das Fegefeuer bei Albert dem Großen

In seinem Mitte des 13. Jhs. entstandenen Sentenzenkommentar793

behandelt ALBERT DER GROßE († 1280) die Fegefeuerfrage ausführ-

lich. Alberts Bemerkungen über die griechischen Ansichten zum Fe-

gefeuer sind für den Vergleich zwischen der scholastischen und der

byzantinischen Eschatologie besonders interessant.794 Zunächst ver-

sucht er in einem langen Argument darzulegen, dass es aus griechi-

scher Sicht inkonsequent sei, einen mittleren Seelenzustand zwi-

schen Leben und Tod anzunehmen, und trotzdem die Sühne bei läss-

lichen Sünden bzw. die Strafe bei Todsünden erst nach dem Jüngsten

Gericht anzusetzen. Dieser Ansatz macht den mittleren Zustand ob-

solet. Albert untermauert ferner einige Facetten der Fegefeuerlehre

mit Hilfe von Argumenten aus Plausibilitätsannahmen. Einer seiner

Gedankengänge ist sehr interessant: Die Griechen, sagt Albert, wei-

sen auf die Möglichkeit hin, dass die Tugenden und die Sünden erst

im Jüngsten Gericht vergolten werden müssen und zwar nachdem die

793 Albert der Große, Super sententias, lib. IV, dd. 21 & 41. 794 Ebenda, d. 21, a. 10. Le Goff, Die Geburt, 317, führt Alberts Behandlung

der byzantinischen Theologie in diesem Punkt auf die Aktualität des The-mas: Griechen und Fegefeuer zurück. Albert schrieb an seinem Sentenzen-kommentar tatsächlich zu einer Zeit, als das Fegefeuerdogma zum Gegen-stand des Dialogs bzw. zum zusätzlichen Einigungshindernis zwischen West- und Ostkirche geworden war. Vgl. Kap. 11.4.

286

toten Kirchenglieder kollektiv in bestimmte Löhne und Strafen ein-

gewilligt haben. Nun ist es ungerecht, wendet Albert gegen die grie-

chische Vorstellung ein, Arbeiter nicht sofort nach geleisteter Arbeit

zu entlohnen. Auch den kollektiven „Tarifvertrag“ für die Belohnung

bzw. die Strafen findet Albert ungerecht. Ein guter Arbeitgeber solle

gute Arbeiter mit einer besonderen Auszeichnung bzw. extra Beloh-

nung bedenken. Gott sei aber der gerechteste aller Arbeitgeber.

Albert der Große versteht Lohn, Strafe und Fegefeuer als ein himm-

lisches Analogon des irdischen Finanzrechtes. Dass diese Bemer-

kungen genau in Gegenüberstellung zur griechischen Position ge-

macht wurden, die angeblich die finanzrechtliche Dimension der

Thematik ignoriert hätten, ist sehr bezeichnend.795

11.2. Das Fegefeuer bei Thomas von Aquin

Auch Alberts berühmtester Schüler, THOMAS VON AQUIN († 1274)

behandelte das Fegefeuer in seinem Sentenzenkommentar. Das war

Mitte des 13. Jahrhunderts nicht in allen Sentenzenkommentaren der

Fall. ROBERT KILWARDBY († 1279), der wie Thomas von Aquin in

den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts über die Sentenzen las (aller-

dings in Oxford, während Thomas in Paris wirkte), behandelte z.B.

die Fegefeuerfrage nicht.796

Thomas ging bei seiner Behandlung des Themas von rechtlichen In-

tuitionen aus. Wer sich durch Sünde strafbar machte bzw. eine reatus

poenae auf sich lud, ist nach Thomas Gott gegenüber zwei Sachen

schuldig. Erstens muss der Sünder seinen Fehler (culpa) einsehen,

ihn bereuen und insofern sich bessern. Dadurch ist aber noch nicht

die Gesamtschuld, sondern nur der Fehler in bezug auf die konkrete

Situation der Sterblichen getilgt. Zweitens hat der Sünder durch den

Fehler zusätzlich Gott gelästert. Er hat ihn nämlich ignoriert. Er

muss also wegen der Lästerung sühnen, die er Gott durch seinen

Fehler angetan hat. Selbst wenn der Sünder aber für seinen Fehler,

einen äußeren Tatbestand also, moralische Zermürbung (contritio)

zeigt, tut er Gott noch lange kein Genüge (satisfactio) für die Schuld,

795 Mehr zur „finanziellen“ Dimension des Fegefeuers im Kap. 11.8. 796 Der Leser von Robert Kilwardbys Quaestiones in librum quartum Sententi-

arum wird umsonst nach einer Bezugnahme auf das Fegefeuer suchen.

287

einen inneren Makel wohlgemerkt, die er, der Sünder, auf sich gela-

den hat. Um Gott die nötige Satisfaktion wegen der Schuld zu leis-

ten, muss er doch noch im Fegefeuer bestraft bzw. gereinigt werden.

Da das Fegefeuer die Satisfaktion garantiert, kommt eine Leugnung

des Fegefeuers einer Leugnung der göttlichen Gerechtigkeit

gleich.797 Der von Thomas geschilderte Satisfaktionsgedanke, insbe-

sondere die Vorstellung, dass ohne Fegefeuer die göttliche Gerech-

tigkeit zunichte gehen würde, begegnen bereits bei Anselm von Can-

terbury.798 Dass das Fegefeuer vordergründig der Satisfaktion dient,

propagierte Thomas von Aquin durch sein gesamtes Schaffen hin-

durch sehr konsequent. Er vertrat diesen Gedanken, wie wir gesehen

haben, in seinem Frühwerk, dem Sentenzenkommentar,799 und blieb

dabei auch später, als nunmehr angesehener magister actu regens. In

der Summa contra Gentiles nennt er die Fegefeuerstrafen „poenas

satisfactorias“.800 Das ist ein wichtiger Punkt für den Vergleich mit

der byzantinischen Philosophie. Denn das Konzept der Gott mensch-

licherseits anzubietenden Satisfaktion ist der griechischen Patristik

und der byzantinischen Theologie fremd.801 797 Thomas von Aquin, Scriptum super Sententiis, lib. IV, d. 21, q. 1, a. 1, qc 1,

resp. 798 Anselm von Canterbury, Cur Deus homo, lib. I, cap. 11; 19; 24. 799 An den mittelalterlichen theologischen Fakultäten war die Verfassung eines

Sentenzenkommentars eine nötige Vorleistung des jungen Baccalaureus, um zum Magister der Theologie ernannt zu werden.

800 Vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, lib. IV, cap. 91, n. 6: “Purgatio autem haec fit per poenas, sicut et in hac vita per poenas satisfac-torias purgatio completa fuisset: alioquin melioris conditionis essent negli-gentes quam solliciti, si poenam quam hic pro peccatis non implent, non sustineant in futuro. Retardantur igitur animae bonorum qui habent aliquid purgabile in hoc mundo, a praemii consecutione, quousque poenas purgato-rias sustineant. Et haec est ratio quare Purgatorium ponimus.”

801 Der Satisfaktionsgedanke („hikanopoiia“) beeinflusste die Theologie der Ostkirche erst Ende des 16. Jh. mit dem Werk des Konstantinopler Patriar-chen Jeremias. Vgl. hierzu Wendebourg, Mysterion und Sakrament, 274-275, insb. Fußn. 16 und 20; Karmiris, Heterodoxoi epidraseis, 64, Anm. 3. Jeremias verstand allerdings die Satisfaktion nicht juristisch, sondern medi-zinisch. Der Terminus war ins Griechische zwar bereits im 15. Jh. im Kon-text der Florentiner Kirchenunion eingeführt worden (vgl. Gill, Quae super-sunt, p. 46310; dieselbe Quelle unter dem Titel Definitio concilii (coll. 1025-1038), findet sich auch bei Mansi, Sancta generalis Florentina synodus, coll. 1029-1030; vgl. auch Jugie, Theologia dogmatica Christianorum ori-

288

Thomas von Aquin räumte zwar ein, dass Vieles, was das Fegefeuer

anbetrifft (z.B. die Örtlichkeit Purgatorium sowie deren Einteilung)

weder aus Quellen noch aus zwingenden Vernunftgründen erschlos-

sen werden kann.802 Wie Thomas selber zugab, basierten seine Ar-

gumente zu diesen Punkten auf Wahrscheinlichkeitsannahmen. Sie

waren also dialektische und damit rhetorische Argumente. Thomas

von Aquin verstand seine eigenen Argumente zugunsten des Fege-

feuers als keine wissenschaftlichen, unanfechtbaren Demonstratio-

nen.

In Contra errores Graecorum, einem Memorandum über „Irrtümer“

der Ostkirche, beschwerte sich Thomas von Aquin, dass die „Grie-

chen“ (womit er seine oströmischen Zeitgenossen meinte, die Byzan-

tiner also), die Bedeutung der Eucharistie vermindern, indem sie das

Fegefeuer leugnen.803 Auch hier ist das Argument ein dialektisches.

Eine wichtige Prämisse desselben lautet, dass die Teilnahme der An-

gehörigen der Toten an der Eucharistie und die Fürbitten für letztere

diesen zugute kommen. Diese Prämisse ist natürlich kein erstes Prin-

zip im aristotelischen Sinne, sondern lediglich ein „endoxon“, eine

etablierte Meinung. Sie wurde ja sowohl von den Griechen als auch

von den Lateinern akzeptiert. Die Schlussfolgerung wird unter der

(doch gemeinsam akzeptierten) Voraussetzung gezogen, dass das

endoxon stimmt. Sieht der Gegner (in diesem Fall die Griechen) die

folgerichtig gezogene Schlussfolgerung immer noch nicht ein, ob-

wohl er der Voraussetzung zustimmte, dann muss er zugeben, dem

endoxon nicht wirklich Treue zu schenken. Wenn er seine Überzeu-

gungen in keinem Punkt ändert, ist er irrational.

Die Griechen (und das ist eine pauschale Feststellung über den by-

zantinischen theologischen Mainstream, so wie sich dieser im Flo-

entalium, Bd. 3, 356-357), aber im Fall der Florentiner Union kann von kei-ner Beeinflussung einer originären ostkirchlichen Theologie durch den Sa-tisfaktionsgedanken die Rede sein, da die Delegierten der Ostkirche in Flo-renz lateinische theologische Formeln sozusagen automatisch, als Folge ih-res vorübergehenden Übertritts zur lateinischen Kirche übernahmen.

802 Thomas von Aquin, Scriptum super Sententiis, lib. 4, d. 21, q. 1, a. 1, qc. 2, responsio.

803 Thomas von Aquin, Contra errores Graecorum, pars 2 cap. 40: „Minuitur autem virtus huius sacramenti ab his qui Purgatorium negant post mortem. Nam in Purgatorio existentibus praecipuum remedium ex hoc sacramento confertur.“

289

rentinum bzw. in den Disputationen zwischen byzantinischen und

lateinischen Theologen im Sommer 1438 in Ferrara äußerte804) sahen

sich nicht zur Annahme des Fegefeuers gezwungen. Nicht dass sie

leugneten, dass die Fürbitten den Toten zugute kommen. Diese Vor-

stellung stellte ein endoxon dar, gleichzeitig eine wichtige Prämisse

des Thomas und der Kardinäle in Ferrara. Vielmehr haben sie auf

den Mangel an empirischer Evidenz für die restlichen für das Fege-

feuer vorgebrachten Prämissen hingewiesen und sich eines Urteils

darüber enthalten.805

Die weitgehende Präzisierung, welche die Fegefeuerlehre durch Al-

bert den Großen und Thomas von Aquin erfuhr, streute auf diese Art

theologischen Dissens zwischen dem christlichen Orient und dem

Okzident. Von wenigen Ausnahmen abgesehen befürworteten nach

dem 13. Jh. Dominikaner- wie Franziskaner-Theologen die Fegefeu-

erlehre geschlossen.806 Über zwei Dominikaner des 13. Jh., Albert

den Großen und Thomas von Aquin, ist bereits berichtet worden. Der

bekannteste Franziskaner-Theologe dieser Zeit, Bonaventura von

Bagnoregio, dachte in puncto Fegefeuer nicht anders als sie.

11.3. Das Fegefeuer bei Bonaventura

BONAVENTURA († 1274) besprach das Fegefeuer in seinem Sen-

tenzenkommentar.807 Dort führt er Johannes von Damaskus als Ver-

treter der Fegefeuer-Skepsis an und argumentiert gegen diese Skep-

sis.

JOHANNES VON DAMASKUS hatte argumentiert, der Tod sei für die

Menschen wie der Fall für die Engel; und es sei bekannt, dass die

gefallenen Engel nicht sühnen können. Daraus schloss Johannes von

804 Auf eine dieser Disputationen gehe ich im Kap. 11.6 der vorliegenden Ar-

beit ein. 805 Eine ausführliche Darstellung und kritische Besprechung der Argumentati-

on findet sich in der vorliegenden Arbeit im Kap. 11.6. 806 Zum Beitrag der Mendikanten zur Verbreitung und Gestalt der Fegefeuer-

lehre vgl. Le Goff, Die Geburt, 297-337. Auch die in den byzantinischen Quellen erwähnten Fegefeuer-Missionare waren, wie sich in der Folge zei-gen wird, entweder Dominikaner oder Franziskaner.

807 Bonaventura von Bagnoregio, Commentaria in quatuor libros Sententiarum, lib. IV, d. 21, a. 2, qq. 1-3, Bd. 4, pp. 539-545.

290

Damaskus, dass die Menschen nach ihrem Tod ebenfalls nicht süh-

nen können.808 Ferner meinte der Damaszener, dass der freie Wille

nach dem Tod weder dem Guten zugewandt sein noch lässliche Sün-

den begehen könne, was dafür spreche, dass sie sich auch nicht von

Fehlern und lässlichen Sünden reinigen könne.809 Diese Argumente

bekämpfte Bonaventura mit Hinweis darauf, dass die Lage der Seele

nach dem Tod nicht der Willensfreiheit, sondern der Gnade Gottes

zu verdanken sei.810 Zwar habe Johannes von Damaskus Recht,

meint Bonaventura, wenn er meint, dass, wer tot sei, keinen Willen

hat.811 Aber ein aktiver freier Wille, fährt er fort, ist nicht mehr für

das Heil vonnöten, sondern dieses wird von der Gnade Gottes ge-

spendet. Also ist die Existenz des Fegefeuers, schlussfolgert Bona-

ventura, von Johannes von Damaskus nicht widerlegt worden.

Eine postmortale Befreiung von den Folgen einer lässlichen Sünde

sei also nach Bonaventura möglich. Wer tot ist und nur lässliche,

keine Kapitalsünden zu sühnen hat, qualifiziert sich für das Reini-

gungsverfahren, das aus der (sogar für Gott selber verbindlichen und

unabwendbaren) göttlichen Gnade resultiert und weder gewählt noch

abgewählt werden kann.

Bei Bonaventura finden sich auch Argumente für die Materialität des

Fegefeuers812 sowie gegen die „idiotische“ Meinung „einiger Grie-

chen“, die meinten, die Seelen warten auf das Jüngste Gericht.813 Es

ist für Bonaventura dagegen klar, dass die Seelen noch vor dem

Jüngsten Gericht mittels eines körperlichen Feuers gereinigt und er-

höht werden. Dem Jüngsten Gericht bleibt vorbehalten, die Erhö-

hung der nunmehr verkörperten Seelen mitsamt ihrem Körper zu

leisten.814

808 Zitiert und besprochen ebenda, q. 1, contra, 2, pp. 539-540 unter Bezug-

nahme auf Johannes von Damaskus, Expositio fidei, cap. 18, PG 94, coll. 877C-878 C.

809 Bonaventura von Bagnoregio, Commentaria in quatuor libros Sententiarum, lib. IV, d. 21, a. 2, q. 1, contra, 4-5, Bd. 4, p. 540.

810 Ebenda, d. 21, a. 2, q. 1, ad obiecta, 2; 4-5, p. 541. 811 Vgl. ebenda, d. 21, a. 2, q. 2, ad obiecta, 5, p. 544. 812 Ebenda, d. 21, a. 2, q. 2, pp. 542-544. 813 Ebenda, d. 21, a. 3, q. 2, resp., pp. 546-547. 814 Ebenda, d. 21, a. 3, q. 2, ad obiecta, 3.

291

Bonaventura setzte damit voraus, dass tote Personen der passiven

Sühne fähig sind. In Übereinstimmung damit hat er die Toten als

moralische Personen betrachtet. Als moralische Personen wohlge-

merkt, denen aufgrund ihres Todes Willensakte und Freiheit abzu-

sprechen sind. Aber die Gnade ist laut Bonaventura wichtiger für die

moralische Relevanz einer (toten) Person als etwa das Vorhanden-

sein eines freien Willens in dieser Person.

In Byzanz sollte ein paar Jahrzehnte später gerade die Gnade zu ei-

nem der wichtigsten Begrifflichkeiten des Palamismus werden. Der

Unterschied jedoch zwischen hesychastischer Gnade und Gnade in

Bonaventuras Sinne ist sehr groß. Erstens setzt die Erteilung der

Gnade nach hesychastischem Verständnis meistens eine aktive An-

nahme derselben durch den (wohl lebendigen) Menschen voraus. Bei

Bonaventura ist die Gnade dagegen eine von Gott in den Menschen

wirkende (gratia operans) oder mit dem Menschen mitwirkende

(gratia cooperans) Vorbereitung des menschlichen Willens zum Gu-

ten.815

Zweitens ging Bonaventura bei der Beschreibung der Funktion der

Gnade beim Anzünden des Fegefeuers eindeutig zu sehr ins Detail.

Er gab z.B. an, dass selbst die Engel beim Anblick der Funktions-

weise des reinigenden Feuers erschrecken würden.816 Solchen Detail-

lehren über das Jenseits begegneten byzantinische Theologen meist

mit Verachtung.817 815 Bonaventura von Bagnoregio, Commentaria in quatuor libros Sententiarum,

lib. II, d. 26, cap. 1, Bd. 2, p. 627. Nicht anders ist das Gnadenverständnis des Thomas von Aquin, In II. Sententiarum, dd. 26-28; vgl. auch Thomas von Aquin, Summa theologiae, Ia IIae, qq. 109-114.

816 Bonaventura von Bagnoregio, Breviloquium, pars 7, cap. 4: „Et quia nihil intensius et velocius et horribilius in agendo commovet alia elementa quam ignis hinc inde ex omni parte concurrens hinc est quod necesse est quod ipsius iudicis faciem ignis praecedat non ex una parte tantum sed ex omni parte mundi ut sit ibi concursus ignis elementaris et terrestris ignis purgato-rii et etiam infernalis ut per infernalem reprobi adurantur per purgatorium iusti purgentur per terrestrem haec terrae nascentia consumantur per ele-mentarem elementa subtilientur et ad innovationis faciem disponantur et simul cum hoc cetera conturbentur ut non solum homines et daemones verum etiam angeli videntes terreantur.“

817 Vgl. z.B. den vom Augenzeugen des Florentiner Konzils Sylvester Syropou-los, Apomnēmoneumata, lib. V, cap. 34, p. 28810-16 bzw. Vera historia, lib. V, cap. 16, p. 137, erwähnten Eklat anlässlich der von Kardinal Juan de

292

11.4. Erste Auseinandersetzungen zwischen Byzantinern und Latei-

nern über das Fegefeuer im 13. Jh.

Einen griechisch-lateinischen Austausch zum Fegefeuer überlieferte

zu allererst GEORG VON KORFU,818 genannt Bardanes – in den 30er

Jahren des 13. Jh. Bischof ebendort.819 Georg schildert,820 wie er im

Herbst 1231 während eines Aufenthaltes im Kloster Casole821 in der

Nähe des süditalienischen Otranto (einer Region, in der lateinisches

und griechisches Brauchtum zusammenkamen) von einem Franzis-

kaner namens Bartholomäus, von dem nichts mehr bekannt ist, nach

der griechischen Auffassung über die Strafe für diejenigen befragt

wurde, die gestorben sind, ohne für ihre Sünden zu sühnen. Georg

stellte den griechischen Glauben so dar, dass es einen Wartezustand

Torquemada geäußerten Frage, aus welchem Stoff Gott das Gehenna-Feuer entfachen lässt, der ein byzantinischer Beobachter sarkastisch begegnete: Mit ein wenig Geduld würde der Kardinal dies selber erleben.

818 Georg von Korfu (bzw. Georg Bardanes), Peri tinos pyros (griechischer Urtext und französische Übersetzung in: Roncaglia, Georges Bardanès, 55-71). Die Episode ist in der heutigen Literatur über das Fegefeuer im Mittel-alter bekannt (sie wird etwa von Ombres, Latins and Greeks, 1-3 und von Le Goff, Die Geburt, 341-343, geschildert, die auf den schriftexegetischen Disput eingehen, den Georg von Korfu darstellt), die dialektischen Argu-mente des Georg von Korfu sind allerdings unbeachtet geblieben.

819 Georg von Korfu war ein hochgelehrter Mann und offenbar ein Vertrauter des Despoten (Herzogs) von Thessaloniki und Epirus Manuel Komnenos Dukas (1230-1240). In Italien befand er sich auf diplomatischer Mission bei Friedrich II. und dem Papst Gregor IX. im Dienst seines Herzogs. Diese Mission brachte er allerdings nicht zum Schluss, da er krankheitsbedingt nicht weit über Otranto hinauskam, bis er nach Griechenland zurückbeordert wurde.

820 Georg von Korfu, Peri tinos pyros, pp. 56-59 (gerade Seiten: griechischer Urtext; ungerade Seiten: französische Übersetzung).

821 Obwohl sein Abt 1226 den Gehorsamseid vor dem (lateinischen) Erzbischof von Otranto leistete, betrachtete sich Kloster Casole als zur Ostkirche gehö-rig zu einer Zeit, als Apulien intensiv von Mendikanten missioniert wurde. Der Abt von Casole zu der Zeit von Georgs Besuch, der auch als Schriftstel-ler astrologischer (!) und apologetischer Werke, außerdem als Übersetzer der Basilius-Liturgie ins Lateinische bekannte NIKOLAUS VON OTRANTO († 1235 – vgl. seine Darstellung von Hoeck / Loenertz, Nikolaos-Nektarios von Otranto), war mehrmals als Diplomat und Dolmetscher zwischen Rom und Nizäa (der damaligen byzantinischen Hauptstadt) zum Zweck der Kirchen-union unterwegs.

293

für die Seelen gibt, in dem die Ungerechten einen Vorgeschmack der

Höllenqualen, die Gerechten Ruhe „im Haus des Vaters“ haben.

Daraufhin wurde Georg vom Franziskaner über die im Fegefeuer für

bestimmte Zeit vorgenommene Reinigung des Makels von „Dieben,

Ehebrechern, Mördern und allen, die lässliche Sünden begehen“ in-

formiert.822 Georg wandte ein, die Fegefeuerlehre erinnere an Orige-

nes und somit an Ketzerei,823 und fuhr mit Textpassagen aus der Bi-

bel fort, die belegen sollten, dass die Befreiung vom Makel der Sün-

de schon bei der Beichte, dem Sündenerlass, der Eucharistiefeier

oder aufgrund der göttlichen Indulgenz erfolge.824 Für letzten Punkt

argumentierte Georg von Korfu nicht exegetisch, auf der Grundlage

von Autoritätstexten, sondern ex analogia aus dem gängigen Rechts-

verständnis. Das Argument ist ein dialektisches.

Georgs Opuskel schließt mit einem weiteren dialektischen Argument

gegen das Fegefeuer ab, das wahrscheinlich nicht im aktuellen Ge-

spräch benutzt, sondern später hinzugefügt wurde:

Es gibt aktuell bestehende Gegenstände („hyphestēkota“) und Ge-genstände, die lediglich aus bloßen Begriffen bestehen („monais psilais epinoiais keitai“). Wir geben euch, den Philosophen („so-phois“) also folgendes dialektisches Rätsel auf. Das reinigende Feu-er, an das ihr glaubt, ist ein aktuell bestehender Gegenstand, oder?825 Wenn es nun [von etwas anderem] bewirkt wird, dann ist es eine Wirkung und, wenn es eine Wirkung ist, dann wird es zu wirken aufhören als Akzidens. Also ist euer reinigendes Feuer ein Akzidens. Das ist ein hypothetischer Syllogismus, weil er mit wenn-dann-Sätzen formuliert wird.826 Wenn aber das Purgatorium selber wirkt,

822 Ebenda, pp. 58-61. 823 Ebenda, pp. 60-61. 824 Ebenda, pp. 64-69. 825 Das ist die Hauptannahme des Syllogismus. Im Klartext: „Angenommen,

das Fegefeuer ist ein aktuell bestehender Gegenstand und nicht nur ein Ge-dankenkonstrukt“. Georgs Frage ist rhetorisch.

826 Es ist mir unklar, warum Georg hier eine Bemerkung über die Form des Syllogismus einfügt. Auch der ganzen Passage geht eine zwar richtige aber oberflächliche Bemerkung voraus dahingehend, dass die Begründung eines Satzes („kataskeuē“ – vgl. Aristoteles, Analytica Priora, 43 a 1-16) in der Logik nichts anderes ist als die Vergewisserung über einen Sachverhalt bzw. dass die Widerlegung eines Satzes nichts anderes ist als das Abspre-chen eines Sachverhaltes. Vielleicht will Georg damit nur bekräftigen, dass die dialektischen Argumente legitime Instrumente für die Theologie sind –

294

dann besteht es im Sinne einer Substanz, wie ihr wahrscheinlich meint. Aber schon wieder werde ich euch fragen: Ist dieses Feuer materiell oder immateriell? Wenn es nichts dergleichen ist, dann müsst ihr sagen, welche Gegenstände weder materiell noch immate-riell sind, damit ich euer reinigendes Feuer zwischen Materialität und Immaterialität verorten kann.827

Georg von Korfu will mit diesem Syllogismus den Gesprächspartner

in die heikle Situation bringen, der Existenz von materiellen, wir-

kenden Substanzen zuzustimmen, deren Wirkstoff niemals ver-

braucht wird. In einem dialektischen Syllogismus macht ein absurdes

Resultat wie dieses mindestens eine der Hypothesen des Syllogismus

– von der schwächsten angefangen – hinfällig. Da es sich hier um

eine Hypothesenkette handelt, muss es – ganz im Sinne des Georg

von Korfu – die erste Hypothese sein, die hinfällig wird: die Annah-

me also, dass das Fegefeuer aktuell besteht.

Bei aller Spitzfindigkeit weist Georgs Theologie eine Inkohärenz

auf: Warum besteht er auf einem intermediären Zustand der Seelen?

Wozu soll ein solcher Zustand dienen, wenn die erfolgte oder nicht

erfolgte Beichte, Sühne, Teilnahme an der Eucharistie und schließ-

lich die Indulgenz Gottes nach dem Tod die Erlösung der Gerechten

und die Verdammnis der Ungerechten bereits beim Ableben der Be-

troffenen nach sich zieht? Warum wandern die Seelen nicht sofort

ins Paradies oder in die Hölle und warum sollen sie auf das Jüngste

Gericht warten, wenn Gottes Urteil ohne das Fegefeuer gefällt wer-

den kann? Wohl nur, weil in der Zeit zwischen dem Ableben der

Sünder und dem Jüngsten Gericht sich etwas am Stellenwert der

Sünden ändern kann. Das sagt aber Georg von Korfu nicht explizit.

Diese Inkohärenz (oder Lücke) findet sich in allen byzantinischen

Argumenten gegen das Fegefeuer durch das gesamte Mittelalter und

sie wird von den lateinischen Quellen gegen diese Argumente be-

nutzt.

Der 1252 geschriebene Traktat eines anonym gebliebenen Konstan-

tinopler Dominikaners Contra errores Graecorum828 zählt die Ab-

lehnung des Fegefeuers zu den „griechischen Irrtümern“. Im Früh-

was im Kontext der byzantinischen Theologie keine Selbstverständlichkeit darstellte.

827 Ebenda, pp. 70-71. 828 Anonym, Tractatus contra errores Graecorum, PG 140, col. 514.

295

jahr 1254 forderte Papst INNOZENZ IV. das zypriotische Volk schrift-

lich auf, das Purgatorium als einen Ort anzunehmen.829 Er behauptete

zudem, dies stelle bloß eine Präzisierung eines Gedankens dar, der

der griechischen Theologie nicht fremd sei. 1263 übernahm Thomas

von Aquin in seiner bereits erwähnten Schrift Contra errores Grae-

corum die Argumentationslinie von Papst Innozenz IV.:830 Seine

zeitgenössischen Griechen seien der eigenen theologischen Tradition

nicht treu, indem sie das Fegefeuer ablehnten. Etwa zur gleichen Zeit

formulierte der doctor angelicus auch in seiner Summa contra Genti-

les ein Argument gegen die griechische Ablehnung des Fegefeu-

ers.831

Bezeichnend für die Bedeutung der Fegefeuerlehre für die Westkir-

che im 13. Jh. ist das Dokument mit dem Titel „Glaubensbekenntnis

des Kaisers Michael VIII. Palaiologos“,832 das auf dem ZWEITEN

KONZIL VON LYON (1274) von GEORG AKROPOLITES († 1282) vor-

gestellt wurde und als Basis für die dort beschlossene Kirchenunion

diente. Das Dokument verleiht der Einsicht des byzantinischen Kai-

sers MICHAEL VIII. PALAIOLOGOS (1259-1282) Ausdruck, dass die

lateinische Kirche in allen dogmatischen und ekklesiologischen

Streitigkeiten mit der Konstantinopler Kirche den rechten Glauben

bewahre.

Das „Glaubensbekenntnis des Kaisers Michael VIII. Palaiologos“ ist

das Ergebnis langer Vorbereitungen zur Annäherung beider Kir-

chen.833 Es besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil geht nur auf den

Wortlaut des eigentlichen nizäno-konstantinopolitanischen Glau-

bensbekenntnisses ein (mit dem filioque-Zusatz) und weist minimale

829 Le Goff, Die Geburt, 343-344. 830 Thomas von Aquin, Contra errores Graecorum, pars 2, cap. 40. 831 Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, lib. IV, cap. 91. 832 Übersetzung nach Neuner/Roos, Der Glaube der Kirche. Text nach DH

851-861. 833 Zu diesen Vorbereitungen gehörten verschiedene Memoranda, Briefe und

Traktate, darunter der Libellus de processione spiritus sancti et de fide trini-tatis contra errores Graecorum des NIKOLAUS VON DURAZZO, ein Buch, das u.a. gefälschte Zeugnisse angeblich griechischer Kirchenväter als echte Quellen verwendet, sowie das bereits erwähnte Contra errores Graecorum des Thomas von Aquin, das ursprünglich als eine verbesserte Replik des Buches des Nikolaus von Durazzo gemeint war.

296

Unterschiede zu einem zur Zeit des Zweiten Lyoner Konzils 221

Jahre alten Brief von Papst LEO IX. an den Patriarchen PETRUS VON

ANTIOCHIEN auf. Dieser erste Teil ist für die Eschatologie belanglos.

Der zweite Teil des Dokuments war erst wenige Jahre alt, als er in

Lyon vorgestellt wurde. Er stammte aus den Synoden der späten

sechziger Jahre des 13. Jh., die das Zweite Lyoner Konzil vorbereite-

ten.834 Der Text geht auf die Eschatologie im allgemeinen sowie auf

die Fegefeuerlehre insbesondere unverhältnismäßig lange ein.

Die Seele jedes Verstorbenen, dem es nicht gelang, seine von der

Einstellung her gezeigte Buße auch mit Werken zu unterstützen un-

terziehe sich laut Dokument Reinigungsstrafen. Untypisch ist dabei,

dass nicht auf der Existenz eines physischen Feuers bestanden wird.

Vertreten wird allerdings, wie übrigens 165 Jahre später auf dem

Konzil von Ferrara-Florenz, die Meinung, dass die Seelen, die ins

Paradies einziehen, verschiedene Stufen der Gottesschau beziehen.

Verschieden sind auch die denjenigen Seelen auferlegten Strafen, die

ins ewige Feuer wandern werden. Eine Begründung für diese „Klas-

senunterschiede“ zwischen den Paradies- bzw. Höllenbewohnern

wird nicht genannt.

Dass die Annahme des Fegefeuers neben den alten dogmatischen

und ekklesiologischen Themen (filioque, Papstprimat, Machtfülle

des Papstes, Verwendung ungesäuerten Brotes bei der Kommunion)

zum Kriterium für die Kirchenunion wurde, verdeutlicht die große

Bedeutung, die im Westen dieser relativ neuen eschatologischen

Lehre inzwischen beigemessen wurde.

1276, als Michael VIII. Palaiologos die Kirchenunion von Lyon auch

de facto durchzusetzen versuchte, ließ er zwei griechische Mönche,

die beschuldigt wurden, nicht in die Union eingewilligt zu haben,

vom Dominikaner THOMAS VON LENTINI835 († 1277) unter anderem

834 Für mehr Informationen zu den Personen und ihrer Wirkung vgl. Wol-

ter/Holstein, Lyon I/Lyon II, passim. Vgl. auch Ombres, Latins and Greeks, 5.

835 1244 hatte derselbe Thomas von Lentini, damals Prior des Dominikaner-konvents in Neapel, den jungen Thomas von Aquin den Benediktinern von Montecassino abgeworben und in den Dominikanerorden eingeführt (vgl. Torrell, Saint Thomas Aquinas, 8-9; die Quellen für diese Episode erwähnt Horst, Wege, 26, Fußn. 6). Seit 1272 war Thomas von Lentini mit päpstli-chen Sondervollmachten ausgestatteter Patriarch von Jerusalem.

297

über das Fegefeuer verhören. Die Griechen gaben zunächst Unwis-

sen über die Fegefeuerlehre vor. Als sie über diese Doktrin infor-

miert wurden, entgegneten sie, es wäre Gott auch möglich, etwa aus

Anlass von Fürbitten für einen Toten dessen Kapitalverbrechen zu

reinigen – was der Fegefeuerlehre entgegensteht.836

11.5. Fegefeuer in den frühen Reformbewegungen

Ein Jahrhundert nach diesen Ereignissen wurde die Fegefeuerlehre in

Byzanz allgemein abgelehnt. Darüber hinaus galt sie in Norditalien

und England als umstritten. In Böhmen sollte die hussitische Bewe-

gung etwas später an der Fegefeuerfrage eine Zerreißprobe erfahren.

Im Gegensatz zu Byzanz wurde allerdings in Norditalien, England

und Böhmen die Ablehnung des Fegefeuers niemals zum majoritären

Gedankengut. Es sei im für die vorliegende Studie erforderlichen

Ausmaß auf wenige allgemeine Feststellungen hingewiesen, die vie-

len historischen Darstellungen entnommen werden können.837

Beide Urheber der Reformbewegungen in England und Böhmen,

JOHN WYCLIF († 1384) und JAN HUS († 1415) respektive, haben die

Existenz des Fegefeuers angenommen. In seinem Kommentar zum 4.

Buch der Sentenzen stellte Hus die drei Unterteilungen des Jenseits:

Hölle, Vorhölle, Fegefeuer recht knapp dar.838 Es gibt allerdings An-

zeichen, dass es 1416 in England Anhänger Wyclifs gab, die das Fe-

gefeuer ablehnten.839

Auch der Hussitismus war in puncto Fegefeuer gespalten. Neben den

gemäßigten Hussiten, die die Fegefeuerlehre bejahten, weil sie zum

hussitischen Prädestinationsgedanken passte, gab es radikale Hussi-

ten, die die Fegefeuerlehre ablehnten, weil sie biblisch nicht überlie-

836 Schilderung des Gesprächs bei Ombres, Latins and Greeks, 6, sowie Le

Goff, Die Geburt, 348-349. 837 Für eine historische Darstellung der Entwicklung und der verschiedenen

Auffassungen des Fegefeuer-Gedankens im Hussitismus vgl. Šmahel, Das purgatorium sompniatum, passim.

838 Jan Hus, Super IV Sententiarum, d. 45, qq. 1-2, pp. 713-714. Für andere Erwähnungen des Fegefeuers in den sonstigen Schriften Hussens vgl. Šma-hel, Das purgatorium sompniatum, 122-123.

839 Hudson, The Premature Reformation, 309.

298

fert und auf die Schultheologie zurückzuführen war.840 Der Prädesti-

nationsgedanke blieb auch für diese wie für die gemäßigten von gro-

ßer Bedeutung.

In einer Zeit der Radikalisierung – unmittelbar nach Hussens Ver-

brennung am 6. Juli 1415 in Konstanz – erschien in Prag der Dialog

De purgatorio841 des NIKOLAUS VON DRESDEN842 († 1417). Dort ver-

suchte sich dieser in einer Theologie ohne Fegefeuer. Der Versuch

allein muss abenteuerlich gewesen sein. Die kategorische Leugnung

des Fegefeuers war Anfang des 15. Jahrhunderts als waldensisches

Gedankengut gebrandmarkt.843 Da die Waldenser eine Sekte „aus der

Basis heraus“, ohne nennenswerte Intellektuelle waren, stellen ihre

Stimmen gegen das Fegefeuer keine systematischen Argumente,

sondern Plädoyers im Sinne einer politisch beladenen Rhetorik dar.

Wegen der Assoziation mit einer berüchtigten Häresie haben es die

hussitischen Schultheologen allgemein vermieden, die Fegefeuerleh-

re zu leugnen.

Nikolaus’ Dialog hat einen polemischen Charakter und berührt die

Metaphysik des Fegefeuers nur oberflächlich. Mehr Aufmerksamkeit

schenkte der Autor der Exegese der Bibelstellen, die das Fegefeuer

belegen sollen. Diese tat er als Apokryphen oder als nicht wörtlich

gemeint ab. Die Frage, was die Fürbitten für die tugendhaften Ver-

storbenen mit lässlichen Sünden für einen Sinn hätten, falls es das

Fegefeuer nicht gäbe, erschien Nikolaus auch wichtig, diese wollte er

aber nicht entscheiden und zwar unter Hinweis auf die Unmöglich-

840 Für einen kurzen historischen Überblick vgl. Kaminsky, A History of the

Hussite Revolution, 214-220. 841 Von der Schrift De purgatorio des Nikolaus von Dresden gibt es eine Aus-

gabe von R. Cegna und eine von P. de Vooght. Ich zitiere nach der Paginie-rung des Dialogs im cod. III.G.8 der Nationalbibliothek der tschechischen Republik (Národní Knihovna České Republiky) – d.h. ff. 36r-66r, die aller-dings nicht der Ordinalität der entsprechenden Seiten in dieser Handschrift entspricht.

842 Für eine Darstellung der Person, des sozialen Umfelds und der Gedanken des Nikolaus von Dresden vgl. Howard Kaminskys Einleitung in: Nikolaus von Dresden, The Old Color and the New. Zur Fegefeuerfrage bei Nikolaus von Dresden vgl. insbesondere 18-27.

843 Zu der Sekte der Waldenser vgl. Lambert, Medieval Heresy, 70-96, 158-89. Außerdem einige Quellen in Übersetzung in: Peters, Heresy and Authority, 139-164.

299

keit einer Unterscheidung zwischen Verstorbenen einerseits, deren

lässliche Sünden nicht so viele sind, um sie als untugenhaft charakte-

risieren zu lassen, und Verstorbenen, deren Sünden überwiegen. D.h.

auch unter der Annahme des Fegefeuers muss die Kirche für alle

beten, ohne dass es klar wäre, ob das Gebet wirken wird oder

nicht.844 Gott belohne und bestrafe sowieso nach eigenen Kriterien.

Um Gottes Kriterien als gerecht oder ungerecht einzustufen, hätten

die Menschen keinerlei Anhaltspunkte.

Man brauche, so Nikolaus von Dresden weiter, nur an einen Tu-

gendhaften denken, der kurz vor Lebensende aus einem einmaligen

Versagen, das er sicherlich bereut hätte, wenn er die Zeit dazu gehabt

hätte (aber kurz vor Lebensende hatte er diese eben nicht), ein Kapi-

talverbrechen beging, und diesen mit einem skrupellosen Verbrecher

zu vergleichen, der sein ganzes Leben lang bewusst und vorsätzlich

Gottes Wort missachtete, um kurz vor Lebensende ehrlich zu bereu-

en. Nikolaus von Dresden fragt sich, wie sich Gott in einem solchen

Fall entscheidet.845 Nach allem, was die Kirche lehrt, sollte der erste

ewig verdammt und der zweite mit dem Paradies belohnt werden.

Das sei unbefriedigend. Die Quelle solcher unbefriedigenden Fälle in

der Kasuistik ist die allgemeine Tendenz der römischen Kirche, die

göttliche Gerechtigkeit an menschlichen Maßstäben zu messen.846

Die letztgenannten Argumente des Nikolaus von Dresden kamen

einer Widerlegung einer thomistischen Lehre gleich. Wenn „Gerech-

tigkeit“ in bezug auf Gott und die Menschen äquivok benutzt wird,

dann besteht keine Analogie zwischen menschlicher und göttlicher

Gerechtigkeit. Dann liefert die Theologie keine Erkenntnis der Ge-

rechtigkeit Gottes, sondern eine Menge aus Sätzen, die wahrheits-

halber Fälle der göttlichen Gerechtigkeit beschreiben, ohne dass wir

Menschen unsere Gerechtigkeitsintuitionen daran erkennen würden.

Nikolaus argumentierte offen gegen die thomistische Lehre, ihrer-

seits eine Version der anselmischen Satisfaktionslehre, dass selbst

die Reue (contritio) nur den Tatbestand des Fehlers korrigiert, der

zur (nunmehr bereuten) Sünde führte, den Makel der Schuld jedoch

844 Nikolaus von Dresden, De purgatorio, f. 61v. 845 Ebenda, f. 54r-v. 846 Ebenda, f. 58v-59r.

300

nicht tilgen kann, der, so Thomas, erst im Fegefeuer zu reinigen

ist.847

Gegen Thomas von Aquin argumentiert Nikolaus folgendermaßen:

Nach Pseudo-Chrysostomus ist selbst die Kirche nicht frei von

Schuld. Da die Schuld also ein immanentes Element der Welt und

damit etwas ganz Gewöhnliches ist, ist damit zu rechnen, dass sie

durch die Gnade Gottes erlassen werden kann. Das Fegefeuer ist da-

her nicht das einzige Mittel zur Tilgung der Schuld.848

Zu einem Ketzer machten Nikolaus von Dresden weder die Ableh-

nung einer thomistischen Lehre noch seine sehr häufigen Bezug-

nahmen auf Pseudo-Chrysostomus.849 Letzterer war zwar ein Arianer

mit dualistischen Jenseitsvorstellungen,850 aber in der Catena aurea

des Thomas von Aquin wird er ebenfalls benutzt. Die ebenfalls häu-

fige Bezugnahmen des Nikolaus auf Jan Hus machten ihn zwar zum

Ketzer, aber selbst in diesem Punkt konnte man geteilter Meinungen

sein.

Die Analyse der göttlichen Gnade durch Nikolaus von Dresden ist

mit der byzantinischen negativen Theologie kompatibel. Nach dieser

theologischen Schule erschöpft sich die Bedeutung des Geglaubten

nicht in seiner kognitiven Erfassung. Nikolaus von Dresden ist damit

ein typischer Fall einer Zwischengestalt, eines intellektuellen

Synkretisten. Seine Bedeutung war selbst für die radikalen Hussiten

(geschweige denn für die gemäßigten, die ja seine Theologie be-

kämpften) entsprechend seiner Außenseiter-Position gering. Es gibt

so gut wie keine präzisen Nachrichten über sein Wirken nach der

Publikation von De purgatorio. Bereits in einer Polemik des Jahres

1417 gegen diesen Dialog wird kurz erwähnt, dass Nikolaus das

Martyrium erlitten habe. Es gibt Anzeichen in seinen Schriften, dass

er nach Dresden zurückgehen wollte, um die Sache des Hussitismus

847 Vgl. Kap. 11.2 der vorliegenden Arbeit für eine ausführliche Besprechung

des thomistischen Satisfaktionskonzepts im Kontext der Fegefeuerlehre. 848 Nikolaus von Dresden, De purgatorio, ff. 50r-53r. 849 Vgl. hierzu Bartoš, Vznik u počátky táborstvi, 143 ff. 850 Pseudo-Johannes Chrysostomos, Opus imperfectum in Matthaeum, PG 56,

col. 817 (Nikolaus von Dresden, De purgatorio, f. 36r, zitiert ausgerechnet diese Stelle) meinte z.B., dass es außer der Erde nur Hölle und Himmel ge-be.

301

dort zu verteidigen, sowie ein Zeugnis, dass zu dieser Zeit in Meißen

ein Pfarrer namens Nikolaus hingerichtet wurde.851

Der Sermo de purgatorio des Prager Professors und Hussens Ver-

trauten JAKOB VON MIES (= JAKOUBEK VON STŘÍBRO – † 1429),

stellte noch Ende desselben Jahres 1415 die offizielle Antwort der

gemäßigten Hussitentheologie auf die Leugnung des Fegefeuers

durch Nikolaus von Dresden dar.852 Jakob betreibt in seiner Schrift

ausschließlich Exegese, bezieht sich auf viele der in der Fegefeuer-

Debatte üblichen Autoritätsstellen, darunter jedoch erstaunlicher-

weise lange auf ORIGENES, einen auf dem V. ÖKUMENISCHEN KON-

ZIL (553) verurteilten Ketzer.853 Die Bezugnahmen auf Origenes sol-

len wahrscheinlich vor Augen führen, dass der Glaube an das Fege-

feuer keine ausschließlich katholische Sache ist.

Drei Jahre später, am 28. September 1418, gelang es Jakob auf der

hussitischen Synode, einen Passus für die Annahme „des Fegefeuers

der prädestinierten Seelen“ durchzusetzen, in dem aber gleichzeitig

gemahnt wird, trotz Fegefeuer dürften die Bestrebungen der Men-

schen zum Guten und gegen das Böse nicht nachlassen.854 Dieser

Appell zeigt, dass die hussitische Synode bei der Annahme des Fege-

feuers und der Prädestination die Gefahr des Fatalismus erkannte.

Aber moralisierende Appelle wie dieser sind im Kontext von Prädes-

tinationsvorstellungen fehl am Platz. Wenn das Fegefeuer nach ei-

nem festgelegten Verfahren die Reinigung der Prädestinierten her-

beiführen kann, dann muss die Reinigung per Fegefeuer gelingen, ob

nun die Prädestinierten wachsam zur Einhaltung des Wortes Gottes

waren oder nicht.

Nach der hussitischen Synode des Jahres 1418 hielten nur noch radi-

kale Taboriten an ihrer Ablehnung des Fegefeuers fest. Von den Pra-

ger Hussiten-Theologen wurden die Taboriten in diesem Punkt nicht

851 Vgl. Kaminskys Einleitung in: Nikolaus von Dresden, The Old Color and

the New, 15, Anm. 75. 852 Mir ist die in der Narodní Knihovna České Republiky befindliche Prager

Handschrift X.G.20, ff. 245r-260r bekannt. Über die Schrift berichtet kurz Šmahel, Das purgatorium sompniatum, 124-125.

853 Jakob von Mies, Sermo de purgatorio, ff. 255r-258v. 854 Der Passus wird bei Šmahel, Das purgatorium sompniatum, 125, Anm. 49,

zitiert und besprochen

302

unterstützt. Die Menschen, die das geistige Erbe von Wyclif und Hus

antraten, nicht nur Jakob von Mies, sondern auch der ebenfalls be-

reits erwähnte Peter Payne, empfahlen den Glauben an die Fegefeu-

erlehre ebenso wie Wyclif und Hus selber.

PETER PAYNE sympathisierte zwar mit den Taboriten, war aber in

Sachen Prädestination ein treuer Schüler Wyclifs. Eine Prädestinati-

onslehre, die nezessitaristische Züge getragen hat, verteidigte er in

zwei Traktaten.855 1434 berief er sich auf Äußerungen Wyclifs und

Hussens zugunsten des Fegefeuers und bewog die Radikalen zur

Aufgabe ihrer ablehnenden Haltung dem Fegefeuer gegenüber.856

Aus der Fürsprache der offiziellen Prager Theologie für das Fegefeu-

er lässt sich beobachten, dass der hussitische Mainstream eschatolo-

gischen Vorstellungen anhing, die mit der Eschatologie der römi-

schen Kirche auf einer sozusagen tieferen Ebene übereinstimmten,

obwohl in Liturgie, Ekklesiologie und Soziallehre (etwa in der For-

derung der Prager Theologie nach Kelchkommunion für die Laien)

Dissens zum Papsttum bestand.

Die tiefen Übereinstimmungen des Wyclifismus und Hussitismus mit

Rom überwogen trotz der prekären politischen Lage. Das verdeut-

licht folgende Episode, gleichzeitig der einzige Kontakt von Lollar-

den und Hussiten mit der byzantinischen Kirche.

Ende 1451 hat GEORG SCHOLARIOS, der hier bereits mehrmals er-

wähnte byzantinische Thomist aber Gegner einer Union der Ostkir-

che mit Rom, in Konstantinopel einen Pragenser Geistlichen in die

Ostkirche aufgenommen.857 In seinem schriftlich überlieferten Glau-

bensbekenntnis858 stellt sich dieser mit zwei verschiedenen Namen

vor: KONSTANTIN PLATRIS (wobei „Konstantin“ wohl ein Name sein

855 Beide Prädestinationsschriften Peter Paynes werden im Kap. 9.5 der vorlie-

genden Arbeit besprochen. 856 Vgl. Šmahel, Das purgatorium sompniatum, 126-31. 857 Die allgemeinen Berichte der Sekundärliteratur über die Kontakte zwischen

Hussiten und Byzantinern ignorieren sehr oft die theologischen Debatten der Zeit und können die Episode infolge dessen nicht richtig einschätzen. Ich denke z.B. an die Berichte von Turner, The Career of George-Gennadius Scholarius, 434 sowie von Setton, The Papacy and the Levant, Bd. II, 45, footnote 17.

858 Konstantin Platris, Libellos tēs pisteōs, A I, § 1, p. 28.

303

dürfte, den er erst in Konstantinopel annahm), sowie kurioserweise

TZESES („Τζέσης“) ANGLIKOS. Paulová vermutet in „Tzeses“ eine

Fassung des Ethnonyms „Tscheche“ und versteht die Form: „Tzeses

Anglikos“ nicht als das Anthroponym: Tzeses aus England, sondern

als einen Ausdruck, der die Zugehörigkeit dieses Konstantin zu

tschechischem und englischem Kirchenreformertum umschreibt.859

Bartoš sieht wiederum in „Platris“ eine Abwandlung von „Petros“

[Payne].860

Wenn man an die stimmhafte Aussprache der Konsonantenkombina-

tion „τζ-“ im Griechischen des 15. Jh. denkt,861 wenn man ferner da-

ran denkt, dass ein einfaches Sigma im mittelalterlichen und moder-

nen Griechisch das gleiche Phonem wie ein Doppelsigma darstellt,

erscheint es plausibel, dass sich hinter der Schreibweise „Tzeses“ mit

griechischen Lettern, eine griechische Nachahmung der englischen

Aussprache des Namens „Jessaeus“ verbirgt. Die Positionen beider

Kontrahenten in der philologischen Frage nach der Identität von

Konstantin Platris, Paulová und Bartoš, werden mit dieser Bemer-

kung erheblich entkräftet. Wie dem auch sei, ist viel mehr zur philo-

logischen Frage gemutmaßt worden, wer dieser Prager Abgesandte

war, als Feststellungen zum theologischen Hintergrund der Begeg-

nung zwischen Byzantinern und Hussiten gemacht worden sind, die

eigentlich aus den überlieferten Dokumenten leicht zu folgern sind.

Wenn meine Vermutung über die Identität von Konstantin Platris,

alias Jessaeus dem Engländer, stimmt, dann war dieser ein englischer

Lollarden-Theologe im Prager Selbstexil. Aus den Quellen geht zwar

indirekt, aber mit Sicherheit hervor, dass er Johannes von Rokitzan

und Peter Payne, den uns bereits bekannten, ebenfalls englischen

859 Paulová, L’Empire byzantin et les Tchèques, 170-174. 860 Bartoš, A Delegate of the Hussite Church; vgl. auch die Übersicht über ei-

nen früheren Stand der Diskussion um die Identität von Konstantin Platris bei Paulová, L’Empire byzantin et les Tchèques, 171-175.

861 Als „miser Tzephres“ („Τζεφρές“) wird z.B. der Name von Geoff-rey/Gottfried I. Villehardouin (einem Fürsten der Peloponnes im 13. Jh.) in der etwas späteren Fassung des Chronicon Moreae, pp. 13-23, aus dem Pa-risinus graecus 2898 angegeben (linke Seiten der Edition von Schmitt). Die-se Quelle, die wie die griechische Quelle über Konstantin Platris auf das 15. (oder 16.) Jh. datiert, ist bezeichnend für die graphische Darstellung des stimmhaften <ʤ> (= τζ) im Griechischen in der betreffenden Periode.

304

Prager Theologen, persönlich kannte: Johannes von Rokitzan, der

ehemalige hussitische Erzbischof, wurde nachweislich von Konstan-

tins Kontakten in Konstantinopel unterrichtet. Das ist ein zusätzli-

cher Grund, aus dem die Frage, ob mit Konstantin Platris doch ein

Tscheche oder vielleicht doch Peter Payne selbstpersönlich in Kon-

stantinopel war, eher uninteressant ist: Mit der weiteren Korrespon-

denz zwischen Prag und den Byzantinern beschäftigte sich nicht

mehr Konstantin Platris, sondern Johannes von Rokitzan, der theolo-

gisch und kirchenpolitisch nicht aus dem Schatten des greisen Peter

Payne trat.

Es ist zunächst verwunderlich, dass im Umfeld Peter Paynes, der ja

in seinem Schrifttum zur Metaphysik die Nezessitation zukünftiger

Ereignisse verteidigte,862 Diskussionen über die Einheit zweier Kir-

chen geführt wurden, der Ostkirche und der utraquistischen Hussi-

tengemeinde, ohne dass Fragen nach der Nezessitation, dem Fatalis-

mus und der Kontingenz, sei es im Ansatz, angesprochen wurden. In

seinem Libellos schweigt Konstantin Platris von Nezessitation, Prä-

destination und Fegefeuer, stattdessen beschränkt er sich darauf, kir-

chengeschichtlichen Argumenten gegen den Zusatz „filioque“ im

Glaubensbekenntnis zuzustimmen, die er Georg Scholarios zu-

schreibt,863 ferner dem Papst nur bedingt Gehorsam zollen zu wol-

len,864 schließlich die Taufe und die Kommunion der ostkirchlichen

Messe anzuerkennen.865 Die in der Ostkirche praktizierte Kelch-

kommunion, die ja das wichtigste Anliegen der Utraquisten gegen-

über dem Papst darstellte, findet besondere Erwähnung.866

Auch im Dokument mit der Darstellung des Glaubens der Ostkirche,

das Konstantin Platris bei seiner Rückreise nach Prag mitgenommen

hat, findet sich nicht mehr an Theologie als Bemerkungen zur Drei-

einigkeit,867 zu den sieben Sakramenten868 sowie zu den anerkannten

862 Zu Peter Paynes theologischen Werken vgl. Kap. 9.5. der vorliegenden Ar-

beit. 863 Konstantin Platris, Libellos tēs pisteōs, A II, § 2, pp. 32-34. 864 Ebenda, §§ 5-6, pp. 35-36. 865 Ebenda, §§ 8-10, pp. 36-38. 866 Ebenda, § 10, p. 38. 867 [Georg Scholarios ?], Ekthesis, B II, pp. 44-50.

305

Synoden.869 Es schließt mit einem Aufruf an die Utraquisten ab, sich

mit der Konstantinopler Kirche zu vereinigen.870

Die Prager Utraquisten antworteten auf diesen Aufruf mit zwei Brie-

fen, als deren Verfasser für den einen der Klerus und für den anderen

Johannes von Rokitzan zeichnen.871 Beide Briefe sind theologisch

belanglos und voller Floskeln, die vor diplomatischer Leere und Ba-

nalität strotzen. Einzig interessant (allerdings nicht theologisch inte-

ressant) ist der Umstand, dass die genannten Adressaten dieser Brie-

fe „Constantinus Palaeologus, Caesar Graeciae“ bzw. „Imperator

Romaeorum“ (Vorsicht! Nicht: „Romanorum“) sowie „Dominus

Gennadius, ecclesiae Graecorum Patriarcha“ sind.

Der Genitiv „Romaeorum“ in der Anrede des Kaisers KONSTANTIN

XI. PALAIOLOGOS ist kein klassisches Latein. Die Formulierung ist

vorsichtig. Aus der Sicht eines westlichen Königshofs war Konstan-

tin der „rex Graecorum“. Dieser Sicht wird auch in den Prager Brie-

fen Rechnung getragen. Gleichzeitig wird dem offiziellen Titel des

Kaisers Rechnung getragen. Dieser lautete im Griechischen: „ba-

sileus Rhōmaiōn“, was wörtlich soviel heißt wie: „König der Rö-

mer“. Aber auf das Westreich, infolge dessen auf Rom und seine

Bewohner (auf die Romani im klassischen Sinn also) hatte Michael I.

zugunsten Karls des Großen bereits im Jahr 812 verzichtet. Daher

deutet die Anrede der Prager Briefe an, dass der byzantinische Kaiser

keine Ansprüche auf Oberherrschaft über die Romani, die Bewohner

Roms im klassichen Sinne, erheben darf, sondern lediglich die „Ro-

maei“, ein anderes Volk, regiert (in Anlehnung an das griechische

Wort: „Rhōmaioi“).

Die Anrede an „Gennadius“, keinen anderen als unseren bereits aus

mehreren Anlässen bekannten Georg Scholarios, stellt in jeder Hin-

sicht einen großen Fehltritt dar.

868 Ebenda, B III, pp. 50-52. 869 Ebenda, B IV, pp. 52-56. 870 Ebenda, B V, p. 56. 871 Veröffentlicht von Salač, Constantinople et Prague en 1452, pp. 63-64 und

pp. 65-66.

306

1452 war das Konstantinopler Patriarchat vakant. Die offizielle Ost-

kirche war zwar mit Rom uniert,872 aber die Mehrheit des Klerus un-

ter der Leitung des Georg Scholarios (der sich nunmehr den

Mönchsnamen Gennadios zugelegt hatte) war romfeindlich und trug

offen und öffentlichkeitswirksam einen verbitterten Dissens zum

Kaiser, einem Freund Roms, aus. Beide Männer, den Kaiser und

Georg Scholarios, gleichzeitig anzusprechen, wird wohl kaum mög-

lich gewesen sein. Der Kaiser wusste sehr wohl, dass von päpstlicher

Seite der Kardinal Bessarion als Anwärter des vakanten Patriar-

chenthrons betrachtet wurde, dessen Rivale, auch in der Frage der

Kirchenunion, Georg Scholarios/Gennadios war. Letzterer hatte im

Brief des antiunionistischen Konstantinopler Klerus, den Konstantin

Platris mit nach Prag genommen hatte,873 als letzter unterschrieben

und zwar als „katholischer Lehrer der Kirche der Orthodoxen, demü-

tiger Mönch Gennadios“. Dass in beiden Antwortbriefen aus Prag,

dem des utraquistischen Klerus und dem des utraquistischen Bi-

schofs Johannes von Rokitzan, Georg bzw. Gennadios Scholarios als

Patriarch angeredet wird, ist entweder ein grobes Versehen oder ein

absichtlicher Fehler mit einer gewissen Andeutung.

Kurz vor der Absendung des Konstantin Platris nach Konstantinopel

war Johannes von Rokitzan bemüht, ein Treffen mit dem Papst zu

vereinbaren. Dieser Versuch schlug fehl, denn gegenüber den

kriegsmüden Hussiten waren der siegesbewusste Papst und der Kö-

nig von Böhmen zu keinen Zugeständnissen bereit. Selbst die radika-

len Taboriten, mehr noch die gemäßigten Utraquisten, hatten 1452

ihre frühere Ablehnung der Fegefeuerlehre fallen gelassen. Die Utra-

quisten waren einem nicht nur vom Papst, sondern auch vom böhmi-

schen König ausgehenden ständigen Druck zu Zugeständnissen aus-

gesetzt, dem sie nach und nach nachgaben. Vielleicht haben es die

Utraquisten darauf angelegt, dass der Inhalt ihrer Briefe über den

Kaiser Konstantin XI. Palaiologos, einen Papstfreund doch, indirekt

in die Hände des Papstes gelangte. Bestimmt wäre dieser nicht be-

geistert von der Annäherung der Utraquisten an den Teil der Ostkir- 872 Vgl. zum historischen Hintergrund dieser Union das hier unmittelbar nach-

folgende Kapitel 11.6 der vorliegenden Arbeit. 873 Veröffentlicht von Salač, Constantinople et Prague en 1452, pp. 16-19;

abgedruckt bereits 1679 bei: Philipp von Zypern, Chronicon Ecclesiae Graecae, pp. 312-316.

307

che, die seine Autorität in Frage stellte; auch nicht von der falschen

Anrede an Georg Scholarios, da der Papst wie gesagt Bessarion für

den Konstantinopler Patriarchenthron im Auge hatte. Die Utraquis-

ten hätten damit glaubhaften Gegendruck auf ihre Gegner geübt und

sich selber aus dem akuten Zugzwang befreit.

Diese politische Situation kann erklären, warum die hussitischen

Antworten auf die griechischen Schreiben, die Konstantin Platris

mitführte, nichts über die Theologie der Hussiten preisgab. Der Um-

stand, dass der Klerus und Johannes von Rokitzan in ihren Antwor-

ten die großen theologischen Unterschiede zwischen Hussiten und

Ostkirche, etwa die Diskrepanz zwischen der deterministischen, prä-

destinationsbejahenden Metaphysik der Hussiten und der indetermi-

nistischen, freiheitsbejahenden Theologie der Byzantiner nicht ange-

sprochen haben, ist ein Indiz dafür, dass sie den Kontakt mit den By-

zantinern politisch instrumentalisieren wollten, um die Gegenseite,

den Papst und den böhmischen König, willfährig zu machen. Die

hussitischen Antwortbriefe, insbesondere die darin enthaltenen An-

reden, die vorsichtige an den byzantinischen Kaiser sowie die (ver-

mutlich) absichtlich falsche an Georg Scholarios, waren ein präten-

ziöses Spiel, um dies zu erreichen.

Zur Erinnerung: Die Frage nach Ablehnung oder Annahme des Fege-

feuers hatte seit dem 13. Jh. den Dialog zwischen Konstantinopel

und Rom geprägt – nicht nur die Prädestinationsproblematik in die-

sem Dialog. An derselben Frage drohte die ganze hussitische Bewe-

gung auseinanderzufallen. Gemessen am Stellenwert der Fegefeuer-

lehre im 15. Jh. ist es verblüffend und unerwartet, dass die Fegefeu-

erfrage oder die Prädestination, jedenfalls die Eschatologie in den

Kontakten zwischen Hussiten bzw. Lollarden und antiunionistischen

Byzantinern mit keinem Wort erwähnt wurde.

Für das Scheitern der Union der Hussiten und der romfeindlichen

byzantinischen Kirche ist auch die Erklärung angeboten worden,

dass zwei Jahre nach den Verhandlungen beider Kirchen Konstan-

tinopel von den Osmanen eingenommen wurde, so dass die politi-

sche Entwicklung alle geschmiedeten Pläne scheitern ließ. Diese Er-

klärung, die meines Wissens zuerst in einer fast zwei Jahrhunderte

späteren historiographischen Darstellung der Ereignisse angedeutet

308

wird,874 beruht auf der nicht unbedingt einleuchtenden Vermutung,

dass sich der Sultan einer solchen Annäherung sowieso entgegenge-

stellt hätte. Dies ist aber genauso plausibel oder unplausibel, wie die

gegenteilige Vermutung, dass es im Interesse des Sultans wäre,

Roms Feinde, eben die Hussiten, als Verbündete „seiner“ Christen zu

wissen.

Viel näher liegt die Vermutung, dass das Fehlen eines theologischen

Konzepts für den thematisierten Zusammenschluss der Utraquisten

und der Byzantiner keine peinliche Unterlassung, sondern bewusstes

Kräftesparen war. Betrachtet man den Umstand, dass die Theologien

beider Strömungen in den bilateralen Gesprächen wie im Briefwech-

sel nicht angesprochen wurden, so gewinnt man den Eindruck, dass

dieser Zusammenschluss nur deshalb Thema des Dialogs zwischen

Utraquisten und romfeindlichen Byzantinern wurde, weil erstere

vorhatten, ihre Korrespondenz mit den romfeindlichen Byzantinern

politisch zu instrumentalisieren. Hätten sich beide Korrespondenten

von vornherein um eine theologische Legitimation des Zusammen-

schlusses bemüht, dann hätten die dadurch zu Tage geförderten theo-

logischen Unterschiede zwischen Utraquisten und romfeindlichen

Byzantinern in puncto Prädestination und Nezessitation wahrschein-

lich jeden Annäherungsversuch obsolet gemacht.

11.6. Argumente für und gegen das Fegefeuer auf dem Konzil von

Ferrara-Florenz

Das KONZIL875

VON FERRARA-FLORENZ (alias: FLORENTINUM –

1438-39) wurde auf Betreiben des byzantinischen Kaisers Johannes

VIII. Palaiologos einberufen.876 Rein formell wurde das Ziel des

Konzils, die Überwindung des Schismas zwischen West- und Ostkir-

che, erreicht. Die Union wurde 1439 in Florenz unterzeichnet und

zelebriert. In Wirklichkeit waren die meisten byzantinischen Teil-

nehmer über den Verlauf der Konsultationen enttäuscht – was in den

unmittelbar darauf folgenden Jahren zur Kündigung der Union sei-

tens großer Teile der Ostkirche führen sollte, die romfeindlich ge-

874 Philipp von Zypern, Chronicon Ecclesiae Graecae, 312. Bereits Florofskij,

Christianity and Culture, 168, bemerkte, dass diese Erklärung mit der Ver-sion der Geschichte, die aus den restlichen Primärdokumenten hervorgeht, nicht in Einklang zu bringen ist.

309

blieben waren. Davon abgesehen war das Konzil von Ferrara-Florenz

die herausragendste direkte Auseinandersetzung877 zwischen Rom

einerseits und dem griechischen sowie russischen Klerus andererseits

in puncto Eschatologie.

In den Disputationen, die in Ferrara im Jahr 1438 stattfanden, bevor

das Konzil im Januar 1439 nach Florenz verlegt wurde, spielten die

Vorstellungen über die letzten Dinge eine wichtige Rolle. Der wich-

tigste eschatologische Punkt war auch hier, wie zuvor auf dem Zwei-

ter Lyoner Konzil im Jahr 1274, das Fegefeuer. Die Byzantiner woll-

ten keine kirchliche Doktrin bezüglich des Fegefeuers festlegen. Die

Lateiner bestanden auf der Fegefeuerlehre.

Dabei war das Fegefeuer an den Anfang der Diskussionen vorgelegt

worden, vielleicht weil die Kardinäle und die Bischöfe des Ostens

meinten, dass es einen relativ harmlosen Punkt darstellte, worüber

eine schnelle erste Einigung erzielt werden könnte; jedenfalls vergli-

chen mit den (auch politisch) brisanten Hürden zur Kirchenunion:

dem filioque-Zusatz im Glaubensbekenntnis sowie dem Papstprimat!

875 Die römisch-katholische Kirche akzeptiert heute 21 ökumenische Konzilien.

Das Konzil von Ferrara-Florenz ist nach römisch-katholischem Verständnis ein Teil des 17. ökumenischen Konzils („Konzil von Basel-Florenz“). Die orthodoxen Kirchen akzeptieren heute dagegen nur die ersten sieben Konzi-lien dieser Reihe als ökumenisch, zu denen sie eine Synode (das Quinisex-tum – 692) zur Klärung offener Fragen der fünften und sechsten ökumeni-schen Konzilien hinzufügen. Vgl. Alivisatos, Das fünfte, sechste, siebte und achte Ökumenische Konzil, 140-141.

876 Die historischen Hauptquellen über dieses Konzil (einschließlich der Vorge-schichte und Nachwirkung) sind: Sylvester Syropoulos [in der editio princeps irrtümlich „Sguropulus“ genannt], Apomnēmoneumata bzw. Vera historia; ferner die sogenannten Konzilsakten bei Mansi, Sancta generalis Florentina synodus; außerdem: Michael Ducas, Historia Turcobyzantina. Die wichtigsten Beiträge zum Florentiner Konzil aus kirchengeschichtlicher Sicht sind: Ostroumov, The History; Frommann, Kritische Beiträge; Kal-ligas, Peri tēs en Flōrentiāi synodou, in: ders., Meletai byzantinēs historias, 3-180; Gill, The Council.

877 Die Behauptung von Meyendorff, Byzantine Theology, 96, dass das Floren-tiner Konzil beiden Kirchen die erste Gelegenheit bot, sich ausführlich über das Fegefeuer auszutauschen, ist nicht richtig. Die Fegefeuerlehre war, wie ich bisher zeigte, auch zuvor in interkonfessionellen Gesprächen themati-siert worden. Meyendorff lokalisierte außerdem die Gespräche über das Fe-gefeuer in Florenz und nicht in Ferrara, was wohl ein Flüchtigkeitsfehler seinerseits gewesen sein wird.

310

Zu Beginn der offiziellen Sitzungen des Konzils wurde seitens der

Delegierten der Westkirche eine „Urkunde“ (Cedula) in puncto Fe-

gefeuer angefertigt,878 die von Kardinal Julian Cesarini am 4. Juni

1438 dem Konzil unterbreitet wurde.879 Die Einleitung der Cedula ist

dem Fegefeuer-Paragraphen aus dem Glaubensbekenntnis des Mi-

chael VIII. Palaiologos aus dem Jahr 1274 fast gleichlautend,880 das

auf dem Zweiten Lyoner Konzil allgemein akzeptiert worden war.

Ein Punkt aus diesem früheren Dokument ist in der Cedula nicht

enthalten: die ungleiche Teilnahme der Seligen an der Gottesschau,

die der Unterteilung der Bewohner des Paradieses in Klassen gleich-

käme.881

Die Cedula ist viel umfangreicher als das frühere Dokument, das die

Vorlage für sie bildete. Sie enthält Quellenexegese von Passagen aus

dem Alten und Neuen Testament, welche die Existenz des Fegefeu-

ers belegen sollen. Generell anerkannte patristische Texte wurden im

Sinne einer confirmatio ad auctoritates ebenfalls herangezogen. Da

aber der Bibeltext die höchste Autoritätsstufe bildete, galten die pat-

ristischen Passagen als Nachweise von untergeordneter Wichtigkeit

gegenüber demselben.

Die Quellen, auf die sich die Cedula stützt, enthalten unterschiedli-

che Aussagen, die als Bestätigungen der Fegefeuerlehre gewertet

werden können: In 2 Makk 12,44 wird nur der Nutzen der Fürbitten

für Verstorbene unterstrichen, es werden aber kein Feuer und keine

Läuterungsstrafe erwähnt.

878 Zitiert wird aus der kritischen Edition der Fegefeuer-Dokumente aus

Ferrara, die der ehemalige römisch-katholische Athener Erzbischof Monsignore Louis Petit im Jahr 1920 herausgab: Deputatorum Latinorum cedula de purgatorio, in: Documents relatifs au concile de Florence. I, PO 15, pp. 25-38.

879 Für die in diesem Kapitel erwähnten Datumsangaben der Fegefeuerdebatten im Monat Juni 1438 vgl. Hofmann, Die Konzilsarbeit in Ferrara II, 418-421.

880 DH 851-861. 881 Während der Konzilsarbeiten sollte allerdings auch noch die Frage ernsthaft

in Erwägung gezogen werden, ob der „Lohn“ im Paradies verschieden sein kann. Sie wurde trotz der Gegenargumente des Markus von Ephesus, der der Hauptsprecher der byzantinischen Seite war, vom Konzil bejaht. Vgl. weiter unten.

311

Bei Mt 12,32 handelt es sich um zwei Phasen der Verge-

bung/Nichtvergebung: Um eine in diesem Leben und eine „später“.

Erst 1 Kor 3,13-15 bezieht sich auf ein „die Taten eines jeden“ prü-

fendes Feuer („hekastou to ergon [...] dokimasei to pyr“). In der Ce-

dula wird ein wörtliches Verständnis des Terminus „Feuer“ vertre-

ten. Je nachdem was die Gebete der Hinterbliebenen besagen, solle

eine körperliche Flamme diejenigen Gerechten reinigen, die gestor-

ben seien, ohne einige kleinere Sünden einzusehen und abzubüßen.

AUGUSTIN verwies auf Paulus und unterschied explizit zwischen

„vorübergehenden Strafen“ nach dem Tod und „ewigen Strafen“ die

gegebenenfalls auf jene folgen.882 GREGOR VON NYSSA zog die Ana-

logie noch weiter und behauptete, dass der gute Teil der Seele nach

Art der Erzverarbeitung schmelzen muss, damit der beigemischte

Ballast verbrannt werden kann; und dass die postmortale Reinigung

im Feuer die Wirkung hat, die im Diesseits der „sorgfältigen Lebens-

führung“ („prosochē“) und der „Philosophie“ zu verdanken sei.883

Die Cedula beschränkt sich nicht auf die Exegese von Autoritätsstel-

len, sondern sie enthält dialektische Argumente, die aus plausiblen

Prämissen beweisen sollen, dass es eine intermediäre Instanz der

Sühne nach dem Tod geben müsse. Die Prämissen besagen, dass

keine Sünden vernachlässigbar sind, egal wie klein. Ferner, dass es

gerecht ist, diejenigen Sünder, denen es nicht gelang, einige lässliche

(jedoch nicht vernachlässigbare) Sünden zu ihren Lebzeiten einzuse-

hen, per Fegefeuer zu reinigen und doch noch ins Paradies einziehen

zu lassen. Laut Cedula ist eine Reinigung zwischen Tod und jüngs-

tem Gericht deshalb erforderlich, weil das Paradies von jeglicher

Sünde frei sein muss.

Die Aufgabe, eine Antwort auf die Cedula zu geben, die die byzanti-

nische Sichtweise widerspiegelte, übernahm MARKUS VON EPHESUS,

genannt EUGENIKOS († 1444), ein dialektisch geschulter Hesychast,

der in der vorliegenden Arbeit bereits in anderen Zusammenhängen

erwähnt worden ist. In der byzantinischen Delegation war er der ent-

schiedenste Gegner einer taktischen Union zwischen West- und Ost-

kirche.

882 Augustin, De civitate Dei, lib. 21, cap. 13 sowie 24. 883 Gregor von Nyssa, De anima et resurrectione, PG 46, coll. 97 C-100 A.

312

In seiner Antwort auf die Cedula (ab jetzt: Oratio prima) erklärte

Markus von Ephesus mit den Thesen der Cedula übereinstimmend,

dass Gebete den Verstorbenen helfen würden. Diese Übereinstim-

mung mit der Cedula ist die einzige in einer langen Antwort. Markus

relativierte sofort, der Umstand, dass die Fürbitten nach ostkirchli-

chem Verständnis den Verstorbenen helfen, sei kein Indiz, dass dies

mit einem Feuer zu erzielen sei.884

Bei den in der Cedula angeführten Autoritätenstellen wies Markus

von Ephesus auf alternative Interpretationen hin. Im Wesentlichen

wies er auf den Umstand hin, dass an den Stellen aus dem 2. Mak-

kabäerbuch, dem Matthäusevangelium und Augustin nicht wörtlich

von Feuer die Rede ist. Ein Feuer wird einzig bei Paulus erwähnt,

aber hier deutete Markus auf einen allegorischen Sinn des Wortes

„Feuer“ hin.885

In seiner Präferenz für eine nicht-wörtliche Interpretation setzte

Markus eine lange Tradition der Ostkirche fort. Glossen wurden in

griechischen Texten oft mit einem Rückgriff auf den Sprachge-

brauch, nicht auf die Analyse des beschriebenen Sachverhaltes be-

sprochen. Die meisten griechischen Kommentare zum Alten und

zum Neuen Testament, die uns heute vorliegen, sind Glossenkom-

mentare, in denen die Aufgabe darin besteht, Abweichungen von der

Standardbedeutung der Wörter zu dokumentieren. Philosophische

Kommentare nach der Art der westlichen Sentenzenkommentare wa-

ren im Osten durch das Mittelalter hindurch unbekannt.

Bei der Anwendung seiner typisch östlichen Hermeneutik ist es nicht

verwunderlich, wenn Markus von Ephesus meinte, die einschlägigen

Autoritätenstellen, und zwar zum Teil dieselben, die Kardinal Cesa-

rini angeführt hatte, würden zum Thema Fegefeuer genau das Ge-

genteil davon besagen, was die Kardinäle meinten. Mit seiner Vor-

liebe für eine allegorische Lesart der fraglichen Passagen bestritt

Markus den in der Cedula enthaltenen Interpretationsansatz bezüg-

lich der Quellen der Fegefeuerlehre und machte eo ipso die weitere

Diskussion auf der Ebene der Exegese unmöglich. Eine Beweisfüh-

rung über die Notwendigkeit oder die Verzichtbarkeit der Fegefeuer- 884 [Markus von Ephesus], Oratio prima, cap. 14, §§ II-III, in: Petit, Documents

relatifs au concile de Florence. I, PO 15, p. 57. 885 Ebenda, cap. 6, p. 47.

313

lehre konnte also noch aufgrund einer scholastisch-theologischen

Diskussion unter Ausschluss der Textinterpretation von Autoritäten-

stellen erfolgen.

Markus versuchte tatsächlich, die Diskussion auf sachliche Argu-

mente zu verlagern. Er lieferte eine ratiocinatio zur Verteidigung des

byzantinischen Standpunktes gegenüber dem scholastischen in elf

Enthymemen. Die gelungensten in dem Sinne, dass sie die Kardinäle

dazu zwangen, ihre Positionen zu überdenken und zu präzisieren,

waren das zweite und das dritte Enthymem, die ich des weiteren we-

gen ihres Inhalts „Argument aus der Indulgenz“ und „Argument aus

der Strenge“ nennen und als Ganzes behandeln möchte.886 Bei diesen

Bezeichnungen meine ich die Indulgenz und die Strenge Gottes, die

in diesen Argumenten jeweils zugrunde gelegt werden. Hier folgen

eine Übersetzung des Wortlauts von Markus sowie eine tabellarische

Wiedergabe beider Argumente:

[Argument aus der Indulgenz] Es ist der Güte Gottes angemessener, eine kleine Wohltat mehr als eine kleine Sünde zu berücksichtigen. Aber die kleinen Wohltaten der Urheber großer Sünden ergeben kei-ne Belohnung, da die Boshaftigkeit überragt. Folglich sind die klei-nen Sünden derjenigen, die Großes errungen haben, nicht zu bestra-fen, da die besseren Taten obsiegen. Denn, wenn das für größer Ge-haltene [d.h. die kleinen Wohltaten der Sittenlosen] nicht zählt, so zählt um so weniger das, was für kleiner gehalten wird [d.h. die klei-nen Sünden der Tugendhaften]. Also ist es nicht erforderlich, ein Fegefeuer anzunehmen.

[Argument aus der Strenge] Wie sich die kleine Wohltat der sonst Sittenlosen berechnet, so berechnet sich die kleine Missetat der sonst

886 Es gibt zwei Texte, die diese Argumente in fast gleichlautender Form über-

liefern: [Markus von Ephesus], Oratio prima, cap. 14, §§ I-XI, in: Petit, Documents relatifs au concile de Florence. I, PO 15, pp. 56-60, sowie die unter der für die Argumentation unwesentlichen Mitarbeit Bessarions ver-fasste Responsio Graecorum, cap. 19, §§ I-X, in: Petit, Documents relatifs au concile de Florence. I, PO 15, pp. 76-79. Die Oratio prima wurde von Markus angefertigt, dann von Bessarion mit diplomatischen Floskeln ange-reichert, schließlich in der Sitzung des 14. Juni 1438 als Responsio Graeco-rum veröffentlicht. Zu dieser Sitzung vgl. Hofmann, Die Konzilsarbeit in Ferrara II, 420-421. Vorsicht bei der abweichenden Nummerierung beider Versionen: Die Argumente II und III der Oratio prima entsprechen den Ar-gumenten I und II der Responsio Graecorum. Argument aus der Indulgenz nenne ich das Argument II der Oratio prima bzw. das Argument I der Responsio Graecorum. Argument aus der Strenge nenne ich das Argument III der Oratio prima bzw. das Argument II der Responsio Graecorum.

314

Tugendhaften. Bei jenen kann aber die kleine Wohltat keine Gegen-leistung im Sinne eines Genusses nach sich ziehen, sondern nur eine Verminderung der Qual. Folglich ergibt die kleine Missetat auch bei diesen keine Qual, sondern eine Verminderung im Genuss. Also ist kein Fegefeuer anzunehmen.

Folgende tabellarische Schilderung der Argumentation des Markus

mag die Struktur derselben verdeutlichen:

315

Argument aus der Indulgenz Argument aus der Strenge

Obersätze

Kleine Wohltaten von Verbrechern wiegen

schwerer als kleine Missetaten von Tu-

gendhaften

Kleine Wohltaten von Verbrechern und kleine Misse-

taten von Tugendhaften wiegen gleich schwer

Untersätze Kleine Wohltaten von Verbrechern ergeben

keine Belohnung

Kleine Wohltaten von Verbrechern ergeben keine Be-

lohnung, sondern verrechnen sich mit der Schwere

ihrer Missetaten erst in der Hölle

Stillschweigende Annahme Wohltaten und Missetaten werden auf analoge Weise bewertet

Zwischenergebnisse Kleine Missetaten von Tugendhaften erge-

ben keine direkte Bestrafung

Kleine Missetaten von Tugendhaften ergeben keine

direkte Bestrafung, sondern lassen sich erst im Para-

dies mit dem Lohn aus Verdiensten verrechnen

Definition Fegefeuer Das Fegefeuer dient der direkten Reinigung kleiner Missetaten von Tugendhaften vor dem Einzug

ins Paradies

Konklusion

(aus Zwischenergebnissen

und Definition Fegefeuer)

Es ist nicht nötig, ein Fegefeuer anzunehmen

316

Wie man hier leicht erkennt, sind die Zwischenergebnisse und die

Konklusion nicht direkt durch Kombination der in den Obersätzen

und Untersätzen vorkommenden Termini gewonnen, wie die Syllo-

gistik eigentlich erfordert. Die Enthymeme sind abgekürzte Argu-

mente. Aber das schadet nicht, denn es ist leicht einzusehen, dass

beide Argumente als gültige Syllogismen formuliert werden können.

Diese Formulierung wäre allerdings umständlicher und länger. Even-

tuelle Gegenargumente sollten sich jedenfalls nicht gegen die forma-

le Gültigkeit, sondern gegen die Prämissen richten. Da beide Argu-

mente dialektisch sind (d.h., dass die Prämissen anfechtbar sind –

was in einem theologischen Kontext sehr üblich ist), war es für die

Kardinäle vernünftig, eben die Prämissen anzugreifen – was sie zum

Schluss auch getan haben.

Aber zunächst sollen wir die Argumentation von Markus besser ver-

stehen. Es ist lohnend für das Verständnis von Markus’ Argumenta-

tionsstrategie, diese mit dem Folgerungsschema zu vergleichen, das

seit der Antike knapp „Dilemma“ heißt. Dieses lautet: Lässt sich eine

Konklusion aus zwei sich ausschließenden Voraussetzungen ableiten

(hier sind das die Obersätze) und zwar entweder direkt (hier ist das

nicht der Fall) oder durch die Vermittlung von für beide Argumente

gleichwertigen Prämissen (hier spielen die Untersätze, die still-

schweigende Annahme, die Zwischenergebnisse sowie die Definition

Fegefeuer diese Rolle) dann ist diese Konklusion bedingungslos an-

zunehmen.887 Die Übung bei der Anwendung dieses Folgerungs-

schemas war ein Bestandteil der byzantinischen höheren Bildung,

wovon zahlreiche Quellen zeugen.888 Dort wird es einfach „Dilem-

887 Für die Vorgeschichte des Dilemmas vgl. Kneale / Kneale, The

Development of Logic, 178-179. Einige wichtige frühe Quellen für das Dilemma sind: Galen, Institutio logica, cap. 6, § 5; Cicero, De inventione, lib. 1, cap. 45.

888 Von einer breiten Rezeption und häufigen Verwendung des Dilemmas zeu-gen die in Byzanz verbreiteten Lehrkompendien der Rhetorik, allen voran Pseudo-Hermogenes, De inventione, cap. 4, § 6; anonym, Epitome artis rhetoricae, p. 641; Photios, Bibliotheca, 412a, erläutert das Dilemma in seiner Besprechung der Rhetorik von Aristides Aelius anhand folgenden Beispiels: Sokrates behauptete, er habe nichts gewusst. Wenn dies wahr war, dann war Sokrates nicht weise, denn er wusste nichts. War aber Sokra-tes’ Behauptung nicht wahr, dann war dieser ebenfalls nicht weise, denn er habe etwas Falsches behauptet, das er introspektiv hätte feststellen können.

317

ma“ genannt. Obwohl in modernen Schilderungen der stoischen Lo-

gik zwischen „klassischem“ und „konstruktivem“ Dilemma unter-

schieden wird, behalte ich die einfache Bezeichnung der Byzantiner

bei. Ich habe sowieso eine sehr allgemeine Formulierung des Folge-

rungsschemas benutzt, die sowohl der konstruktiven als auch der

klassischen Version genügt.

Beim Vergleich von Markus’ Argumentation mit dem Dilemma ist

allerdings Vorsicht angebracht. Es handelt sich zwar einen lohnen-

den Vergleich, jedoch stellen das Argument aus der Indulgenz und

das Argument aus der Strenge als Ganzes bzw. als Syllogismenpaar

keine richtige Einsetzungsinstanz des Dilemmas dar. Sie sind gewis-

sermaßen eine Annäherung889 an das Dilemma.

Zur konreten Argumentation nun: Nach dem Obersatz des Argu-

ments aus der Indulgenz belohnt Gott kleine Wohltaten mehr, als er

kleine Sünden bestraft. Der Obersatz aus der Strenge besagt, dass

Gott Missetaten von guten Menschen und Wohltaten von bösen

Menschen genau nach demselben Maßstab vergilt. Aus jedem der

Obersätze folgt (nicht direkt, sondern nach einer etwas umständli-

chen Argumentation), dass es kein Fegefeuer zu geben braucht. Sind

die restlichen Prämissen aber hier wie da äquivalent, so muss der

gemeinsame Schlusssatz bedingungslos angenommen werden, da die

Obersätze beider alternativen Argumente offensichtlich widerspre-

chen – was die Annahme des Markus begründet, beide Argumente

würden eine Instanz des klassischen Dilemmas darstellen. Aber be-

vor wir zur Konklusion übergehen, müssen wir uns zunächst mit dem

indirekten Gedankengang beschäftigen, um herauszufinden, ob die

restlichen Prämissen tatsächlich äquivalent sind.

Laut Argument aus der Indulgenz sind kleine Wohltaten gemäß gött-

licher Gerechtigkeit mehr zu berücksichtigen als kleine Misseta-

Photios schlussfolgert daraus, dass Sokrates mit der Äußerung: „Ich weiß nichts“ sich als nicht weise erwies, und zwar unabhängig davon, ob seine Behauptung zutraf oder nicht. Michael Psellos, Theologica I, opusc. 57, p. 221, zeugt von einer Anwendung des Dilemmas gegen die christliche Or-thodoxie seitens der Leugner des Sohnseins Christi.

889 Insbesondere in Logik Geschulten wird natürlich zunächst unklar erschei-nen, was denn überhaupt eine „Annäherung“ an ein Folgerungsschema sein könnte. Auf eine Definition verzichte ich. Die Frage wird sich anhand mei-ner konkreten Ausführungen zu Markus’ Argumentation klären.

318

ten.890 Gott geht sparsam mit Strafe und großzügig mit Belohnung

um. Also muss er Verbrechern ihre etwaigen kleinen Wohltaten hö-

her anrechnen als Tugendhaften ihre lässlichen Sünden. Dabei ist es

aber unplausibel, fährt Markus fort, dass Gott Verbrecher wegen ei-

niger kleiner Wohltaten das Gute vergilt (Untersatz des Arguments

aus der Indulgenz). Wenn die berücksichtigungswürdigeren Klein-

wohltaten der Verbrecher keinen Unterschied machen, dann ist das

erst recht bei den lässlichen Sünden tugendhafter Menschen der Fall.

D.h. diese Sünden werden nicht geahndet (Zwischenergebnis des

Arguments aus der Indulgenz). Da nun das Fegefeuer nach westli-

cher Vorstellung genau die Funktion haben sollte, die lässlichen

Sünden zu reinigen, für die nicht gesühnt wurde (Definition Fege-

feuer), gibt es keine Notwendigkeit für eine Reinigung (Konklusion).

Obersatz des Arguments aus der Strenge891 besagt aber, dass lässli-

che Sünden von Tugendhaften wie kleine Wohltaten von Lasterhaf-

ten einem einzigen Maßstab untergeordnet sind. Damit steht er im

Widerspruch zum Obersatz des Arguments aus der Indulgenz. Ge-

mäß Indulgenz berücksichtigt Gott Böses in kleinerem Maße, als er

Gutes vergilt. Laut Strenge ist er ein sehr genauer Buchhalter.

Genauso wie der Untersatz des Arguments aus der Indulgenz besagt

der Untersatz des Arguments aus der Strenge, dass der Lohn der Un-

gerechten kein direkter ist, sondern in der Verrechnung gegen das

Strafmaß besteht. Ferner wird den Lasterhaften nach ihren Klein-

wohltaten laut Argument aus der göttlichen Strenge Strafmaß abge-

zogen, den Tugendhaften aber (ein einziger Maßstab!) wird nach

etwaigen kleinen Missetaten Genuss abgezogen (Zwischenergebnis

des Arguments aus der Strenge). In Verbindung mit der Definition

des Fegefeuers macht dieses Resultat das Fegefeuer wieder obsolet.

Denn der Umstand, dass im Paradies Genuss abgezogen wird, macht

es höchst unwahrscheinlich, dass man vor dem Paradies mittels Fe-

gefeuers gereinigt wird. Es wäre ungerecht, durch das Fegefeuer zu

gehen und trotzdem im Paradies weniger zu genießen, genauso wie

es ungerecht ist, einen Schuldner erneut zur Begleichung seiner

890 [Markus von Ephesus], Oratio prima, cap. 13, § II, in: Petit, Documents

relatifs au concile de Florence. I, PO 15, p. 57. 891 Ebenda, cap. 13, § III, p. 57.

319

Schulden aufzufordern, nachdem jemand anders eine Bürgschaft für

ihn eingelegt hat.

Es gibt ein paar logisch mögliche Kombinationen, die Markus in sei-

ner Argumentation nicht berücksichtigt hat. Es gibt z.B. keinen

Obersatz, der besagt, dass kleine Missetaten schwerer wiegen als

kleine Wohltaten (Gott als altmodischer Volksschulleiter). Es gibt

auch keinen Untersatz, der besagt, dass die kleinen Missetaten der

Tugendhaften sich mit dem Guthaben aus deren Wohltaten verrech-

nen, während die kleinen Wohltaten der Verbrecher eine direkte Be-

lohnung (in der Hölle!) nach sich ziehen würden. Solche Prämissen

sind intuitiv extrem unnaheliegend und blieben außer Acht.

Um es vorweg zu sagen, stellt das Syllogismenpaar aus Argument

aus der Indulgenz und Argument aus der Strenge keine Instanz des

Dilemmas dar. Damit sich aus den widersprüchlichen Obersätzen

tatsächlich eine Instanz des Dilemmas ergäbe, müssten die restlichen

Sätze beider Argumente (Untersätze, Zwischenergebnisse, Definitio-

nen usw) gleichbedeutend sein. Aber nur die stillschweigende An-

nahme und die Definition des Fegefeuers sind für beide Argumente

gleichbedeutend, ja gleichlautend. Die Untersätze sowie die Zwi-

schenergebnisse lauten zwar ähnlich, sind aber nicht gleichbedeu-

tend.

Vergleichen wir zunächst die Untersätze: „Die kleinen Wohltaten der

Urheber großer Sünden ergeben keine Belohnung, da die Boshaf-

tigkeit überragt“ lautet der Untersatz des Arguments aus der Indul-

genz. „Die kleine Wohltat [der sittenlosen Menschen] kann keine

Gegenleistung im Sinne von Genuss nach sich ziehen, sondern nur

eine Verminderung der Qual“ lautet der Untersatz des Arguments

aus der Strenge. Beide Untersätze beziehen sich offensichtlich auf

dieselben Menschen, d.h. die Verbrecher, die kleine, gelegentliche

Wohltaten verrichteten. Auch was über diese Menschen behauptet

wird, stimmt mindestens teilweise überein: Diese würden nicht direkt

belohnt. Der Untersatz des Arguments aus der Strenge enthält aber

die im Untersatz des Arguments aus der Indulgenz nicht enthaltene

Zusatzinformation, kleine, gelegentliche Wohltaten von Verbrechern

würden mit Verminderung der Qual vergolten. Diese Behauptung

wird im Untersatz des Arguments aus der Indulgenz nicht gemacht.

320

Zwar bedeutet das nicht, dass diese dadurch ausgeschlossen ist. Es

ist eine Lesart beider Untersätze möglich, nach der diese gleichbe-

deutend und wahr sind – und daher, wie man heute sagt: wahrheits-

neutral für die Konjunktion der Prämissen. Damit wäre die ganze

Argumentation von Markus ein Fall des Dilemmas und die Kardinäle

müssten sich geschlagen geben. Jedoch ist diese Lesart nicht die ein-

zige. Die Untersätze können auch so verstanden werden, dass sie

implizieren: Laut Argument aus der Indulgenz ergeben kleine Wohl-

taten von Verbrechern gar keine Belohnung, Linderung usw. – und

in diesem Sinne müsste der Untersatz des Arguments aus der Indul-

genz, so könnten die Kardinäle entgegenhalten, verneint werden; und

laut Argument aus der Strenge ergeben kleine Wohltaten von Ver-

brechern zwar keine Belohnung, aber sie verrechnen sich wenigstens

mit dem Strafmaß wegen Missetaten erst in der Hölle – und in die-

sem Sinne könnten die Kardinäle diesen Untersatz bejahen, ohne

fürchten zu müssen, einen Widerspruch zu begehen.

Bei genauem Hinsehen muss man sogar feststellen, dass diese Lesar-

ten der Untersätze die einzigen sind, unter denen Markus’ Syllogis-

menpaar keine Einsetzungsinstanz des Dilemmas ist. Das war aber

genau, was die Kardinäle zu zeigen vorhatten. Da sie in der Debatte

unter keinen Umständen haben geschlagen geben wollen, durften sie

beide Untersätze unter keinen Umständen als gleichbedeutend anse-

hen. Und tatsächlich optierten sie für diese Lesarten der Untersätze.

Aber auch nachdem sie so getan hatten, konnten sie immer noch in

die Enge getrieben werden. Die ihnen verbliebenenen Spielzüge wa-

ren nämlich sehr wenig. Sie konnten höchstens einen Obersatz und

einen Untersatz von je einem Argument ablehnen – und zwar X-

weise, sonst müssten sie ein ganzes Argument annehmen. Aber sie

mussten auch mindestens einen Obersatz und einen Untersatz an-

nehmen: Einen der Obersätze mussten sie annehmen, wenn sie einen

ablehnten (wegen der Kontradiktion der Obersätze) und einen der

(ähnlich lautenden) Untersätze mussten sie aus Intuitionsgründen

annehmen.

D.h. sie konnten entweder sagen:

i. „Kleine Wohltaten sind mehr zu berücksichtigen als kleine Mis-

setaten und alles wird vergolten nach seinem Maß an Güte oder

Schlechtigkeit“;

321

oder aber:

ii. „Die kleinen Missetaten tugendhafter Menschen wiegen genauso

viel wie kleine Wohltaten von Verbrechern und Gott honoriert

keine Verbrecher wegen einiger kleiner Wohltaten“.

Außerdem musste es theologisch naheliegend sein, was sie hier zu

akzeptieren hatten.

Markus war, wie man sieht, ein argumentativer Spielzug gelungen,

aus dem sich seine Gesprächspartner hatten zwar befreien können,

allerdings mit noch nicht auszumachenden Schäden für ihre Fege-

feuerlehre. Mit der Alternative (ii) wäre z.B. Gott jemand, der kleine

Missetaten Tugendhafter und kleine Wohltaten von Verbrechern

zwar mit gleichen Maßstäben misst, sich aber weigert, letzteren den

Preis für solche Wohltaten anzurechnen, und sich stattdessen darauf

beschränkt, Tugendhafte für Missetaten, wohlgemerkt für gleich

wiegende wie der nicht entrichtete Lohn der Verbrecher, im Fege-

feuer zu reinigen, damit sie auf keinen Teil der vollen Prämie im Pa-

radies verzichten müssen. Entspräche das irgendeinem Gerechtig-

keitssinn? Wohl kaum. Deshalb hatten die Kardinäle im Endeffekt

nur einen wirklich vertretbaren Ausweg: die Alternative (i). Ob diese

auch im Sinne der katholischen Kirche war, blieb noch festzustellen.

Soviel zu Markus’ Argumenten.

Am 27. Juni 1438, d.h. 13 Tage nachdem die Argumente des Markus

offiziell publik geworden waren, gab JUAN DE TORQUEMADA O.P. (†

1468), einer der herausragendsten Theologen des Dominikaneror-

dens und insgesamt der Westkirche Mitte des 15. Jh.,892 die lateini-

sche Antwort (Latinorum responsio) bekannt.893

Die Latinorum responsio räumt die vom Byzantiner Markus von

Ephesus herausgestellten Ungereimtheiten der Fegefeuerlehre aus,

indem sie die Fegefeuerlehre noch weiter präzisiert. Es war ja kein

zulässiger Zug in einer Disputation, völlig andere Prämissen einzu-

führen; es mussten Unterscheidungen anhand der bisherigen Prämis-

sen vorgenommen werden.

892 Juan de Torquemada ist nicht mit seinem berüchtigten Neffen, dem Großin-

quisitor Tomás de Torquemada O.P. († 1498) zu verwechseln. 893 [Juan de Torquemada ?], Latinorum responsio, in: Petit, Documents relatifs

au concile de Florence. I, PO 15, pp. 80-107.

322

Die solutiones lauten wie folgt:894

Lösung [des Arguments aus der Indulgenz]: Hierauf antworten wir, dass der Obersatz, den ihr [im Argument aus der Indulgenz] anneh-met, wahr ist, wenn die kleine Wohltat unberührt bleibt. Dies ist nämlich nicht der Fall, wenn sie aus irgendeinem Grund storniert wird, was bei all denjenigen der Fall ist, die eine Todsünde begangen haben. Denn die Todsünde storniert alle Wohltaten, die vorher be-gangen wurden. Der Sünder also, der wegen seiner Sünde Gott läs-tert, muss alle ihm geleisteten Güter ablegen. Daher verbleibt denje-nigen, die unter der Last einer Todsünde gestorben sind, nichts in der Hand, welche Wohltaten sie auch immer geleistet haben mögen. [...] Anders verhält es sich aber bei kleinen Sünden, d.h. lässlichen Schuldlasten bzw. bei einer durch die Strafe hervorgebrachten Läu-terung derjenigen, die in Liebe ablebten, denn die Liebe ist in ihnen noch tätig. Die Liebe ist also nicht derart, dass kleine Sünden sie til-gen, sondern nur die ihr entgegenstrebende Todsünde [kann das], die das Leben aufhebt, welches ein Geschenk der Liebe ist. Wegen die-ser Ungleichartigkeit [der kleinen Wohltat der Lasterhaften und der kleinen Missetat der Tugendhaften] hat das Prinzip, das ihr an der genannten Stelle einführt, keine Geltung. Es gibt folglich Gegenbei-spiele zum Untersatz eures Syllogismus, so dass wir ihn verneinen können. [Wir verneinen also den Satz:] Es gäbe keine Belohnung, auch keine Linderung der Strafe für kleine Wohltaten, die von Untu-gendhaften geleistet würden. Mit anderen Worten erleidet derjenige, der mit einigen frommen Taten in die Hölle geht, eine leichtere Stra-fe als derjenige, der ohne diese den ewigen Qualen ausgeliefert wur-de. Daher scheint die göttliche Wohltätigkeit keiner Sache mehr zu-geteilt zu werden als diesen kleinen Errungenschaften.[...]

Lösung [des Arguments aus der Strenge]: Obwohl wir aus dem obi-gen geantwortet zu haben meinen, müssen wir [zum Argument aus der Strenge] sagen, dass es nicht allgemein gilt, was ihr in eurem Obersatz annehmet. Es dürfen nicht mit gleichem Maßstab die klei-nen Wohltaten derjenigen Toten beurteilt werden, die eine Todsünde begingen, sowie die kleinen Missetaten derjenigen, die in Liebe von diesem Leben verschieden. [Die kleinen Wohltaten der Schwerst-verbrecher] sind wegen des Todes in der Todsünde keiner Gewäh-rung ewigen Lebens bzw. keines Ablasses der ewigen Qualen wür-dig. Im zweiten Fall aber [d.h. einer kleinen Missetat durch einen Tugendhaften] muss allen voran die Reinigung vorgenommen wer-den aufgrund des gerechten Urteils Gottes und wegen der höchsten Perfektion der himmlischen Seligkeit sowie wegen der Reinheit und der Überlegenheit des gewährten Guts. Denn sonst würde kein Mensch in gar keiner Visionsart jenes ewige Gut betrachten, es sei denn er kann ein reines und tiefst unbeflecktes Gemüt vorweisen, in dem sich nichts Böses innezuwohnen ziemt. Auch wenn kleine Wohltaten derer also, die ansonsten liederlich sind, einen Unter-

894 Ebenda, cap. 17, §§ I-II, pp. 99-100.

323

schied in der Bestrafung resultieren, so ziehen kleine Missetaten de-rer, die ein tugendhaftes Leben führten, keine regelmäßige Vermin-derung im Genuss nach sich.

Kein Problem stellte für den Autor der Latinorum responsio, wie

man sieht, die bereits erwähnte Alternative (ii) dar, dass Gott kleine

Wohltaten von Verbrechern ignoriert, gleichzeitig kleine Missetaten

von Tugendhaften ohne Nachsicht bestrafen würde. Diese wurde aus

Intuitionsgründen abgelehnt. Es war nämlich aus lateinischer Sicht

nicht hinnehmbar, dass es dem Verbrecher nichts nützen würde, eine

kleine Wohltat zu begehen, und deshalb lehnt die Latinorum respon-

sio ab, dass den Verbrechern wegen ihrer kleinen Wohltaten keine

Belohnung zustünde. Aber damit lehnt die Latinorum responsio den

Untersatz von Markus’ Argument aus der Indulgenz ab. Diesen Un-

tersatz fallen zu lassen, war für die lateinische Argumentationsstrate-

gie wichtig, denn den dazugehörigen Obersatz hat die lateinische

Theologie für wahr befunden. Es wäre fatal für die lateinische Theo-

logie gewesen, Untersatz und Obersatz eines Arguments anzuneh-

men, dessen Konklusion lautet, dass es kein Fegefeuer geben muss.

Optiert hat unser Autor für die Alternative (i): Indem er den Obersatz

des Arguments aus der Indulgenz annahm und sowieso einen Ober-

satz und einen Untersatz X-weise annehmen musste, nahm er den

Untersatz des Arguments aus der Strenge an. Damit nimmt die La-

tinorum responsio an, dass die kleinen Wohltaten der Verbrecher

nicht direkt belohnt, sondern verrechnet werden. Macht das irgend-

einen Sinn? Ja, wenn man die Belohnung, von der im Untersatz des

Arguments aus der Indulgenz die Rede ist, als irgendeine Art von

Belohnung versteht, ob als Genuss verursachende oder auf Strafmil-

derung ausgehende, die Belohnung dagegen, von der im Untersatz

des Arguments aus der Strenge die Rede ist, ausschließlich als Ge-

nuss verursachende Belohnung. So verstanden besagen beide (ähn-

lich lautenden!) Untersätze nicht dasselbe. In diesem Sinne lässt sich

einerseits leugnen, dass Verbrecher wegen etwaiger kleiner Wohlta-

ten (mit Genuss) belohnt würden, andererseits bejahen, dass diese

kleinen Wohltaten der Verbrecher gegen ihre Verbrechen in der Höl-

le verrechnet werden. Da die Latinorum responsio sowieso Markus’

stillschweigende Annahme über die analoge Art der Bewertung klei-

ner Wohltaten von Verbrechern und kleiner Missetaten Tugendhafter

fallen ließ, musste sie nicht zulassen, dass die kleinen Missetaten der

324

Tugendhaften sich ebenfalls gegen deren Verdienste verrechnen las-

sen.

Das kommt eigentlich einem weiteren Ausbau der Alternative (i)

gleich. Dem metaphorischen Verständnis der Ostkirche von Paulus’

„Feuer“ entgegnete die Westkirche, dass beide in der Alternative (i)

gestellten Bedingungen mit dem Fegefeuer kompatibel sind, wenn:

i.a etwaige kleine Wohltaten von Verbrechern, die in die Hölle

einziehen sollen, dort gegen ihre Strafen verrechnet werden, so

dass diese eventuell gemildert werden

((i.a) stellt Gott als besonders gütig hin, denn bei der Verrechnung

wirken die Verdienste überproportional entlastend und zwar dort,

worauf es den Verbrechern besonders ankommt: auf die Linderung

ihrer Höllenqualen) und

i.b keine Verrechnung von Verdiensten und etwaigen Sünden im

Paradies statt findet.

Tugendhafte, die trotz ihrer (lässlichen) Sünden doch noch den Ein-

zug ins Paradies schaffen sollen, absolvieren nach (i.b) Läuterungs-

strafen im Fegefeuer, die sie von jeder Sünde reinigen und somit zur

Gottesschau im Paradies befähigen (was Gott wiederum als beson-

ders gütig hinstellt, denn es ist im Interesse der Tugendhaften, keine

Verrechnung erst im Paradies hinzunehmen, die zur Minderung der

Teilhabe an der Gottesschau führen würde).

Die in der Latinorum responsio vorgenommene Präzisierung der Fe-

gefeuerlehre kommt nur mit Hilfe kühner Spekulationen über den

Zustand der Seelen nach dem Tode zu Stande. Gott würde danach

lässliche Sünden und kleine Wohltaten gleich messen und kleine

Wohltaten bei sonstiger Immoralität sehr genau zur Entlastung des

Sünders Gut schreiben. Lässliche Sünden von tugendhaften Men-

schen aber würde er mit einem Augenzwinkern um etwas weniger

Soll schreiben. D.h. Wohltaten und Missetaten würden mit dem rest-

lichen Guthaben oder Soll der jeweiligen Person verrechnet, und

zwar Wohltaten zu ihrem genauen Gegenwert oder sogar mit einer

Prämie, Sünden bei sonstiger Bonität ermäßigt. Ferner würden kleine

Wohltaten von Schwerverbrechern mit keiner direkten Gegenleis-

tung honoriert, sondern ihr Strafmaß würde durch verrechnete Wohl-

taten vermindert. Verrechnete Missetaten von Tugendhaften würden

325

dagegen nicht etwa das Maß ihres Genusses im Paradies vermindern

(verschiedene Klassen von Genuss im Paradies wären dem paradiesi-

schen Zustand nicht gerecht, meinten sie), sondern im Fegefeuer ab-

gegolten und zwar zu einem Preis dort, der etwas ermäßigt wäre ver-

glichen mit dem Gegenwert von „spiegelverkehrten“ aber von Ver-

brechern begangenen Wohltaten.

Die Latinorum responsio erscheint zwar ad hoc und extravagant, sie

ergibt sich aber gewissermaßen zwangsläufig aus den bisherigen Ar-

gumenten für und gegen das Fegefeuer.

Die Fegefeuer-Konsultationen in Ferrara zeigen, dass sich beide De-

legationen auf eine methodische Basis einigen konnten. Sie benutz-

ten beide die Regeln der scholastischen Disputation. Auch sachlich

gibt es einen Überschneidungspunkt: Auf der rein argumentativen

Ebene ist Einigung darüber festzustellen, dass das Fegefeuer mög-

licherweise ein Instrument der göttlichen Gerechtigkeit ist. Die By-

zantiner bestritten lediglich, dass das Fegefeuer zwingend für die

göttliche Gerechtigkeit ist, die Lateiner befürworteten diese Idee.

Abgesehen vom Gang der Debatte und von Teilübereinstimmungen

aber war eine Einigung sehr weit entfernt. Das verdeutlicht eine Epi-

sode auf dem Konzil. Der bereits erwähnte Juan de Torquemada

wollte in einer Unterredung mit Markus von Ephesus, die zwischen

dem 27. und dem 30. Juni 1438 stattgefunden haben soll,895 wissen,

ob die byzantinischen Kirchenmänner konkrete Ansichten über die

Natur des Gehenna-Feuers in der Hölle hätten. Ein Laie aus der Ge-

folgschaft des byzantinischen Kaisers, soll sich eingemischt und ein-

geworfen haben, ohnehin werde der Fragesteller die Antwort auf die-

se Frage bald aus eigener Erfahrung geben können. ANDREAS

CHRYSOBERGES († 1451), der lateinische Bischof von Rhodos,896 soll

prompt den sarkastischen Beobachter gerügt haben.897 Diese Anek- 895 Vgl. Hofmann, Die Konzilsarbeit in Ferrara II, 422. 896 Für mehr über die Theologie dieses Konstantinopler Dominikaners vgl. das

nächste Kapitel. 897 Silvester Syropoulos, Apomnēmoneumata, lib. V, cap. 34, p. 28810-16 bzw.

Vera historia, lib. V, cap. 16, p. 137, nennt IAGARIS als den byzantinischen Sarkasten. Aber, wie wiederum aus Syropoulos bekannt ist, waren alle drei Iagaris-Brüder in kaiserlichen Diensten, der Senator und Botschafter ANDRONIKUS, der Senator MANUEL sowie der Offizier MARKUS, zu dieser Zeit in Florenz zugegen. Ostroumov, The History, 55, vermutet – vielleicht

326

dote könnte einen beliebten, weil ironiestrotzenden, byzantinischen

Topos über die scholastischen Spitzfindigkeiten darstellen. Sie wird

nicht zuletzt von SILVESTER SYROPOULOS († nach 1453) überliefert,

dessen Chronik besonders antilateinisch gefärbt ist. Ob akkurat oder

nicht, zeigt jedenfalls die Anekdote, was viele Byzantiner von der

scholastischen Eschatologie hielten: dass sie bizarr sei.

Nach Beratungen und in den griechischen Quellen dokumentierten

Intrigen und Erpressungen, die ungefähr noch ein Jahr dauerten,

schloss das Konzil seine Arbeiten am 6. Juli 1439 in Florenz mit der

Unterzeichnung der Kirchenunion ab. Die Delegationen der West-

und der Ostkirche gingen auseinander, nachdem sie beschlossen hat-

ten, demnächst ein Konzil über die seit hundert Jahren in Byzanz

vorgenommene Unterscheidung des Wesens von den Handlungen

Gottes abzuhalten. Die Unterscheidung war zunächst von Gregor

Palamas vertreten und in verschiedenen Lokalsynoden der Ostkirche

bestätigt worden. Der Beschluss des Florentinums, dieses Thema im

Rahmen eines ökumenischen Konzils zu behandeln, erfolgte auf ei-

nen Wunsch der Kardinäle hin, die damit ihre Absicht andeuteten,

diese Lehre zugunsten der dagegenlautenden thomistischen Theolo-

gie zu verurteilen. Die Vorgeschiche dieser Debatte schildere ich

gleich im nächsten Kapitel.

11.7. Die Bedeutung des Palamismus für die Ablehnung der Fege-

feuerlehre im Osten

Erste Anzeichen einer Ablehnung von postmortalen Strafen seitens

der palamitischen Theologie gibt es im Werk des SYMEON VON

THESSALONIKI († 1429). Folgende, für die Fegefeuerlehre sehr wich-

tige Stelle aus dem Matthäus-Evangelium:

wegen des schroffen Tons – den Offizier, d.h. Markus. Gill, The Council, 115, Fußn. 3, weiß nur von Markus und Andronikus Iagaris. Irrtümlich hält Gill ferner die Nennung von Manuel Iagaris an einer anderen Stelle bei Sy-ropoulos für einen Flüchtigkeitsfehler und Markus für eine wichtigere Per-sönlichkeit im Vergleich zu Andronikus. Trapp, Prosopographisches Lexi-kon der Palaiologenzeit, Bd. 1, Fasz. 4, Nr. 7808-7811, 77-78, vermutet al-lerdings Andronikus Iagaris als Urheber des Eklats – wahrscheinlich wegen der Rüge des Andreas von Rhodos, „noble Fürsten“ dürfen doch nicht auf diese Art sprechen. Aber diese Rüge kann für alle drei Brüder unabhängig von Laufbahn und Amt zutreffen.

327

Und wer etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es verge-ben; aber wer etwas redet wider den Heiligen Geist, dem wird’s nicht vergeben, weder in dieser noch in jener Welt898

(das lässt die Lesart zu, dass in jener Welt zwar nicht das, aber im-

merhin etwas vergeben wird und zwar durch das Fegefeuer) kom-

mentierte Symeon folgendermaßen:

Es wird hier nicht angedeutet, dass es im zukünftigen Zeitalter eine Vergebung geben wird, sondern dass das, was hier nicht zu vergeben ist, auch in demselben nicht zu vergeben sein wird. Der Grund ist wahrscheinlich, dass es keine Vergebung dort geben kann, wenn es nicht vorher hier eine gab. Zu diesem Zweck ist doch die Buße bis zum letzten Atemzug möglich.899

Symeon, damals Bischof in Saloniki, antwortete damit auf die Frage

eines Bischofs Gabriel von Pentapolis bezüglich der gängigen Inter-

pretation der o.g., für die Fegefeuerlehre sehr wichtigen Passage aus

Matthäus. Nicht zuletzt handelt es sich dabei um die Zeit unmittelbar

vor dem Florentiner Konzil.

Symeon schließt nicht aus, dass es eine postmortale Vergebung ge-

ben könnte. Er macht sie aber davon abhängig, ob der Tote für seine

Sünden zu Lebzeiten Buße leistete.

Auf dem Florentiner Konzil selber ließ der lateinische Bischof von

Rhodos, ANDREAS CHRYSOBERGES O.P.900 keinen Zweifel daran,

dass er die hesychastische Theologie für suspekt hielt. In einer Sit-

zung anfang Juli 1438901 hinterfragte er die Lehrmeinung der ortho-

doxen Bischöfe über die Essenz und die Handlungen Gottes.

898 Mt 12,32. Im Original ist nicht von „jener Welt“, sondern von „zukünftigem

Zeitalter“ („mellōn aiōn“) die Rede. 899 Symeon von Thessaloniki, Responsiones ad nonnulla quaesita episcopi

Pentapolitani Gabrielis, q. 78, PG 155, col. 936 C. 900 Den Nachnamen Chrysoberges trug eine alte griechische Konstantinopler

Familie. Bei Andreas und seinen Brüdern, Maximus und Theodor, handelt es sich allerdings um wenigstens kulturell, wenn nicht sogar sprachlich lati-nisierte Konstantinopler (für mehr dazu vgl. weiter unten). Zu den Ge-schwistern Andreas und Theodor Chrysoberges vgl. den ausführlichen Be-richt von Loenertz, Dominicains byzantins. Für zwei knappe Darstellungen und kurze Literaturlisten über Andreas Chrysoberges vgl. Beck, Kirche und theologische Literatur, 742-743; Patrinellis, Andreas ho Khrysobergēs, col. 698.

901 Vgl. Hofmann, Die Konzilsarbeit in Ferrara II, 423.

328

Nach vielen Argumenten ging der [lateinische] Bischof von Rhodos [Andreas Chrysoberges] zum Thema der Vermögen und Handlungen Gottes über und erkundigte sich nach unserer Ansicht darüber. [...] Als wir dies wiederum dem Kaiser mitteilten, befahl dieser noch nachdrücklicher, keine Antwort darauf zu geben. Damit nahmen auch die Disputationen zum Fegefeuer ein Ende. Wir kamen [in Fer-rara] nicht mehr zusammen und es ergab sich kein Resultat dar-über.902

Andreas’ Einwurf mag fehlplatziert erscheinen, da auf der Tagesord-

nung zu diesem Zeitpunkt die Fegefeuerdebatte stand. Aber Vor-

sicht! Obwohl es auf den ersten Blick nicht ersichtlich sein mag,

machte die Frage in diesem Kontext durchaus Sinn. Ein Grund, aus

dem die orthodoxen Bischöfe die Funktion des Fegefeuers als Reini-

gungszustands der Seele vor dem Einzug ins Paradies ablehnten, war

die hesychastische Gnadenlehre.903 Diese besagt, dass die Gnadenak-

te Gottes, obwohl sie kein Teil des göttlichen Wesens sind, genauso

wie dieses ungeschaffen sind. Dem zufolge ist jede göttliche Hand-

lung aus Gnade völlig frei, sie muss nicht einmal den Bestimmungen

des göttlichen Wesens (etwa Gerechtigkeit, Widerspruchsfreiheit)

entsprechen.

Mit der hesychastischen Gnadenlehre war eine Heilslehre in der Or-

thodoxie lanciert, die keine „Buchhaltung“,904 keine „Verrechnung“,

keinen genau reglementierten Reinigungsprozess im Jenseits akzep-

tierte. Gott ist aus der Sicht des Palamismus (nach GREGOR PALA-

MAS († 1359)) unberechenbar, da sich seine Gnade nicht aus seiner

Natur heraus ergibt. Gott ist nicht daran gebunden, seine Gnade nach

dem Fegefeuer oder nach irgendeiner anderen Jenseitsinstanz zu er-

teilen. Markus von Ephesus, dessen Argumentation im Florentinum

genau auf diesen Punkt hinausläuft, war bezeichnenderweise ein He-

sychast.

Aber es gibt noch mehr Ansätze der hesychastischen Metaphysik, die

der Fegefeuerlehre, ja wichtigen Strömungen der abendländischen

Eschatologie im Spätmittelalter entgegenstehen.

902 Silvester Syropoulos, Apomnēmoneumata, lib. V, cap. 38, p. 292 bzw. Vera

historia, sect. V, cap. 18, p. 140. 903 Für eine kritische Darstellung dieser Lehre vgl. vorliegende Arbeit, Kap.

8.5. 904 Über „Buchhaltung“ und Fegefeuer vgl. Le Goff, Die Geburt, 291.

329

Es gibt nach Gregor Palamas zwei Lebensbegriffe.905 Der erste be-

zieht sich z.B. auf das Leben der „vernunftlosen Tiere“. Der zweite

bezieht sich etwa auf das rein mentale Leben der Engel. Das mensch-

liche Leben genügt, so Gregor, beiden Lebenbegriffen.

Ob ein Leben nur ersterem oder beiden Lebensbegriffen genügt, ist

nicht unerheblich. Spricht man vom „Leben“ im Sinne des Lebens

„der vernunftlosen Tiere“, so bezeichnet man damit etwas, was auf-

hört, sobald keine körperlichen Lebensfunktionen („energeiai“)906

vorhanden sind. Deshalb stirbt die Seele der Tiere zusammen mit

ihrem Leib. Menschliches Leben besteht aber auch aus einem menta-

len Leben, das vom körperlichen Leben „offensichtlich“ unterschied-

lich ist. Mentales Leben ist nach Gregor Palamas nicht in Lebens-

funktionen auszumachen, sondern es konstituiert eine Substanz. Es

existiert damit unabhängig vom Leib und sichert daher die Unsterb-

lichkeit der menschlichen Seele.907

Laut Gregor Palamas überlebt unsere Seele unseren körperlichen

Tod also nicht in demselben Sinne, in dem unser Körper etwa einen

Unfall überlebt. Denn das nach dem körperlichen Tod „übrig blei-

bende“ Leben der unsterblichen Seele ist keine Lebensfunktion. Pa-

lamas bleibt bei dieser apophatischen Äußerung, konkreter will er

sich nicht äußern. Zum von Gregor Palamas herausgestellten Unter-

schied zwischen körperlichem und mentalem Leben liegt jedoch der

Zusammenhang nahe, dass meine Körperfunktionen nur meinem

Körper eigen sind (mein Herz kann nur in meiner Brust Funktionen

meines Körpers ausführen), aber die Merkmale meines mentalen Le-

bens (Vorstellungen, Gedanken usw.) auch anderen eigen sein kön-

nen. Ich kann z.B. meine Gedanken mitteilen, so dass andere zwar

diese denken, ohne dass sie aber meine Gedanken zu sein aufhören.

Das Fortleben meiner Gedanken bewirken zwar nicht, dass irgend-

welche zu mir gehörigen Lebensfunktionen fortlaufen, sichern aber

den Erhalt der Substanz meines mentalen Lebens. Die Gedanken von

Aristoteles, von Thomas von Aquin, von Gregor Palamas sind „le-

905 Gregor Palamas, Physica, theologica, moralia et practica capita CL, cap.

30-32, PG 150, coll. 1139-1142. 906 Ebenda, cap. 31, col. 1142. 907 Ebenda, cap. 32, col. 1142.

330

bendig“ (und zwar nicht als Funktionen, sondern als eigenständige

Substanzen), obwohl die genannten Personen tot sind.

Im Gegensatz zu Thomas von Aquin verstand Gregor Palamas die

Eschatologie nicht als Metaphysik der zukünftigen Lage einer vom

Körper losgelösten Seele. Die Seele sah Gregor vielmehr als Träge-

rin von vergänglichen Lebensfunktionen und ewigen Gedanken an.

Gregor Palamas zog es sogar vor, die Eschatologie vom Jenseits ins

Diesseits zu verlagern, wo die Seele ihre Lebensfunktionen noch be-

sitzt, und den postmortalen Zustand der Seele außer Acht zu lassen,

bis die Seele wieder Lebensfunktionen hat. D.h. nach dem Jüngsten

Gericht. Im Diesseits ist es nach Palamas möglich, sogar einen Vor-

geschmack des paradiesischen Zustandes zu erlangen. Das Erreichen

dieses Zustandes in diesem Leben wird durch das Erblicken des un-

geschaffenen Lichtes sowie durch die Freude bekundet, die dieser

Anblick hervorbringt. Damit wird ein eschatologisches Ziel erreicht.

Die Verheißung des zweiten Kommens von Jesus ist damit nach pa-

lamitischer Auffassung für manche Menschen, eben für diejenigen,

denen aus eigener Kraft die Gottesschau gelang, kein zukünftiges

Ziel, sondern eine erlebte Wirklichkeit. Für solche Menschen sowie

für alle, die ihnen gleich werden wollen, hat die Eschatologie nicht

mit einem klar abgesteckten Endstadium einer Historie oder einer

Biographie, sondern mit der Erlangung der paradiesischen Freude

durch den gegenwärtigen aus Leib und Seele bestehenden Menschen

zu tun. Die palamitische Eschatologie ist damit ahistorisch.908

Man ist veranlasst (und das war tatsächlich ein Argument gegen den

Hesychasmus im 14. Jh. seitens gelehrter Byzantiner, die der Mystik

abgeneigt waren, etwa NIKEPHOR GREGORAS († 1359), BARLAAM

VON KALABRIEN († 1350) und GREGOR AKINDYNOS († 1347 od.

1348), die Vision des ungeschaffenen Lichtes durch die Hesychas-

ten-Mönche als eine Halluzination von Geistersehern abzutun. Gre-

gor Palamas versuchte den Hesychasmus vor diesem Vorwurf zu

verteidigen. Er plädierte für einen Evidenzbegriff nach dem die Got-

tesschau bzw. die Schau des ungeschaffenen Lichtes, wenn sie ein-

tritt, evident ist. Dass die ahistorische Erfüllung der göttlichen Ver-

heißung und des eschatologischen Ziels tatsächlich und nicht im Sin- 908 Für dieses Urteil über die palamitische Eschatologie vgl. auch Guran, Es-

chatology and Political Theology, 78.

331

ne einer Selbsttäuschung eintrete, lasse keinen Zweifel zu. Hier

kommt der palamitische Evidenzbegriff ins Spiel.

Nach Gregor Palamas kommt die Evidenz für die Richtigkeit einer

Behauptung entweder aus der Vernunft (und hier war sich Palamas

mit einem wichtigen Ansatz der Scholastik einig) oder aus der Erfah-

rung – und zwar aus einer persönlichen, unmittelbaren Erfahrung,

die, einmal eingetreten, nicht mehr wegrationalisiert werden kann.

Wer ein helles Licht in der Nacht gesehen hat, kann sich im nach-

hinein davon überzeugen, dass tatsächlich doch kein Licht vorhan-

den war, aber nicht mehr davon, nichts gesehen zu haben. Palamas

meinte, dass der Anblick des ungeschaffenen Lichtes genau in die-

sem Sinne keinen Zweifel lässt.909 Er meinte gleichzeitig, dass mit

dem Anblick dieses Lichtes Gewissheit darüber vermittelt wird, was

dabei gesehen wurde. Sobald das ungeschaffene Licht angeschaut

wird, wird es auch evident („autopiston“), dass das ungeschaffene

Licht und nichts anderes angeschaut wurde.

Die Gewissheit über die Schau des ungeschaffenen Lichtes ist nach

Palamas stärker als jede andere. Es gibt sogar Menschen, meinte er,

die sich nicht einmal über evidente Prinzipien der Geometrie im Kla-

ren sind. Trotzdem ergeben diese evidenten Prinzipien demonstrative

Syllogismen.910 Da es aber niemanden gibt, der sich weismachen

könnte, etwas nicht erlebt zu haben, was er erlebt hat, haben Erleb-

nisse die Kraft eines geometrischen Beweises.911 Im Diesseits erleb-

te, im obigen Sinne evidente eschatologische Ziele traten im Pa-

lamismus als Ersatz an Stelle von transzendenten Erwartungen im

Jenseits.

Es ist nun verständlich, dass der byzantinische Kaiser weitere Ver-

handlungen in Ferrara zu diesem Thema verbot, nachdem er vom

Einwurf des Andreas Chrysoberges hörte. Diese Entscheidung des

Kaisers ist vor dem Hintergrund des HESYCHASTENSTREIT (1336-51)

etwa hundert Jahre zuvor nachzuvollziehen.912 Ursprünglich nicht 909 Gregor Palamas, Epistolē prōtē pros Akindynon, cap. 12, p. 2167-9;20-26. 910 Ebenda, cap. 8, p. 21216-19; außerdem Gregor Palamas, Epistolē deutera pros

Barlaam, cap. 63, p. 29520-28. 911 Gregor Palamas, Epistolē deutera pros Barlaam, cap. 10, pp. 26522--2667. 912 Zur Geschichte des Hesychastenstreits vgl. Schirò, Ai primordi, passim;

Meyendorff, Humanisme nominaliste, passim; ders., A Study of Gregory

332

mehr als ein polemischer Briefwechsel zwischen Gregor Palamas

und dem byzantinischen Scholastiker antithomistischer Ansichten

Barlaam von Kalabrien,913 trennte bald der Hesychastenstreit die by-

zantinischen Gelehrten in Anhänger einer morgenländischen Mystik

nach dem Vorbild von Palamas, wie z.B. NEILOS († 1363) und NI-

KOLAUS KABASILAS († ca. 1398), und in westenfreundliche Huma-

nisten wie die vorgenannten Nikephor Gregoras und Gregor Akindy-

nos, stieg sogar in den Wogen eines Sukzessionskriegs um den by-

zantinischen Kaiserthron zwischen Johannes V. und Johannes VI. zu

politischer Brisanz auf. Die palamitische politische Theologie war

zur Zeit des Florentinums eine mindestens acht Jahrzehnte alte Kon-

stante des byzantinischen Lebens.

Wäre die Diskussion über die palamitischen Theologie eingeleitet

worden wie von ANDREAS CHRYSOBERGES gefordert, dann wären

die Verhandlungen zum Fegefeuer ab sofort zum Scheitern ver-

dammt gewesen. Den in ihren Augen patristisch untermauerten und

in der byzantinischen Theologiegeschichte bekräftigten palamiti-

schen Gnadenbegriff hätten die byzantinischen Bischöfe unter keinen

Umständen verurteilt. Der einzige Weg, den der byzantinische Kai-

ser sah, diese Entwicklung auf dem Konzil zu verhindern, war, die

Diskussionen zu diesem Punkt zu unterbinden.

Aus der Sicht des Andreas Chrysoberges, eines in Konzilien erfahre-

nen Disputanten, bestanden aber genauso Gründe, das Thema Pa-

lamismus und Fegefeuer zu eröffnen. Andreas war ein gebürtiger

Konstantinopler, der aber bereits vom Kindesalter an eine dominika-

nische Bildung erhalten hatte. Im vollständig lateinischen Milieu des

Palamas, passim; Sinkewicz, The Doctrine of the Knowledge of God, pas-sim; Podskalsky, Zur Gestalt und Geschichte des Hesychasmus, passim; Kapriev, Philosophie in Byzanz, 253-256.

913 Barlaams Antithomismus entsprach einer unter Konservativen und Franzis-kanern verbreiteten Haltung in der Westkirche des späten 13. und frühen 14. Jh. Die Pariser Verurteilung von thomistischen Thesen im Jahr 1277 sowie die kurz darauf erschienene Schrift Correctorium fratris Thomae des Fran-ziskaners Wilhelm de la Mare sind bezeichnend für die antithomistischen Tendenzen im Westen zu dieser Zeit. Für einen Überblick s. Hoenen, Tho-mismus, Skotismus und Albertismus, 91-92.

333

genuesischen Stadtviertels Konstantinopels wird er vom Palamismus

nicht viel mitbekommen haben.914

Nun war in der Vorbereitungsphase des Unionskonzils die Frage

nach der Verträglichkeit von Thomismus und Palamismus interessant

– wenigstens von dominikanischer Seite. Von Bessarion, dem späte-

ren Kardinal,915 aber bis 1439 Befürworter der Kirchenunion im by-

zantinischen Lager, hatte Andreas noch vor dem Konzil eine Anfrage

zu diesem Thema erhalten.916

Bessarion wollte genauer wissen: Welche ist die thomistische Ant-

wort auf die Frage, ob Gott etwas anderes könne, als was er wolle?

Denn es sei, so Bessarion, eine Antwort des Thomas von Aquin auf

diese Frage zwar bekannt, diese Antwort sei aber für jeden, der den

Palamismus zugunsten des Thomismus widerlegen will, nicht zufrie-

den stellend. Thomas von Aquin habe nämlich behauptet, Gott sei

aus seiner Natur heraus in der Lage, mehr zu tun, als er tatsächlich

tue, bzw. Vieles, wozu Gott aus seiner Natur heraus in der Lage sei,

tue er nicht, weil er nicht wolle.917

914 In den wenigen persönlichen Worten an Bessarion von Nizäa, die er seiner

Kleinschrift De divina essentia et operatione vorausgehen ließ, erklärt An-dreas Chrysoberges, Schwierigkeiten mit dem geschriebenen Griechisch zu haben. Das bedeutet wahrscheinlich, dass er zwar das im 15. Jh. gesproche-ne Neugriechisch konnte, mit der attizistischen Gelehrtensprache aber Schwierigkeiten hatte. Dies lässt vermuten, dass Andreas eine ausschließ-lich lateinische Bildung erhalten hatte – wahrscheinlich in einem Domini-kanerseminar. In der Einleitung des Herausgebers in die bereits genannte Schrift (Andreas von Rhodos, De divina essentia et operatione, 339) vermu-tet Candal genau dies. Zudem ist bekannt, dass Andreas in Peran, d.h. im Genueser Stadtteil von Konstantinopel, aufwuchs. Dass seine beiden Brü-der, Maximus und Theodor, ebenfalls dem Dominikanerorden angehörten, ist außerdem ein Anzeichen dafür, dass Andreas’ Familie bereits früh mehr Kontakt zur genuesischen als zur griechischen Kultur hatte.

915 Zu Bessarion als Kardinal vgl. Kap. 9.4 der vorliegenden Arbeit. 916 Einen Teil des uns nicht überlieferten Briefes des Bessarion zitiert Andreas

Chrysoberges wahrscheinlich wörtlich im zweiten Abschnitt von De divina essentia et operatione, pp. 346-348. Meine nachfolgenden Bemerkungen über Bessarions Brief beziehen sich auf diese lange Passage.

917 Vgl. folgende Stellen bei Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles, lib. 2, cap. 23, n. 3: „Quicquid non implicat contradictionem, subest divinae po-tentiae, ut ostensum est. Multa autem non sunt in rebus creatis quae tamen, si essent, contradictionem non implicarent: sicut patet praecipue circa nu-merum, quantitates et distantias stellarum et aliorum corporum, in quibus si

334

Man kann dieses Resultat des Thomas von Aquin optimistisch lesen.

Gott ist demnach imstande (im Sinne, dass er die Macht dazu hat),

Selbstmord zu begehen, seine Macht an den Teufel zu vermachen,

alle Werke von Aristoteles verschwinden zu lassen, aber er will es

nicht. Diese Lesart ist aber nicht haltbar. Alle genannten Beispiele

stellen sehr böse Taten dar und diese sind der göttlichen Natur zuwi-

der. Wenn Gott aus seiner Natur heraus nur Gutes begehen kann,

dann ist die Annahme, dass er Gutes will, überflüssig. Wenn ein gött-

licher Wille besteht, dann nur in dem Sinne dass Gott kraft seines

Willens auf Gutes verzichtet. Diese Lesart der Willenslehre des

Thomas von Aquin ist nicht unbedingt optimistisch. Denn es könnte

heißen, dass Gott in der Lage ist, eine viel bessere Schöpfung zu er-

schaffen, z.B. ohne das Böse, aber er wollte es nicht.

Dieses Verständnis der Allmacht Gottes unterstreicht die Handlungs-

freiheit, ja die Unberechenbarkeit Gottes. So verstanden würde die

thomistische Willenslehre die Grenze zwischen Thomismus und Pa-

lamismus verwischen lassen.

Bessarion sah hier ein mittelbares Zugeständnis gegenüber der pala-

mitischen Theologie. Thomas würde nach dieser Interpretation mei-

nen, dass Gott nicht immer seiner Natur, sondern manchmal seiner

Willkür folge. Damit hätten die Palamiten mit ihrer Unterscheidung

zwischen Gnade und Natur Gottes Recht und sie könnten sich dabei

sogar auf eine wichtige Autorität der Gegenseite, Thomas von

Aquin, berufen.

Der Palamismus konnte mit anderen Worten seine Unterscheidung

der Natur und der Handlungen Gottes als Thomas’ Unterscheidung

zwischen Natur und Willen Gottes entsprechend betrachten. Wie

man sieht, war der Einwurf des Andreas Chrysoberges auf dem Kon-

zil durchaus relevant.

Beide Kirchenmänner, Andreas Chrysoberges und Bessarion trafen

sich im Dezember des Jahres 1437 (zufällig?) in Methone, wo Bessa-

aliter se haberet ordo rerum, contradictio non implicaretur. Multa igitur sub-sunt divinae virtuti quae in rerum natura non inveniuntur. Quicumque autem eorum quae potest facere quaedam facit et quaedam non facit, agit per elec-tionem voluntatis, et non per necessitatem naturae“; ferner ders., Summa theologiae, Ia, q. 25, a. 5, ad primum: „Nihil prohibet esse aliquid in poten-tia Dei, quod non vult, et quod non continetur sub ordine quem statuit re-bus“.

335

rion seinen lateinischen Amtskollegen zu einer Antwort auf seinen

Brief aufforderte.918 Darauf hin verfasste Andreas seine Schrift De

divina essentia et operatione, eine exegetische Schrift über Natur

bzw. Wesen und Handlungen Gottes bei Thomas von Aquin.

Andreas Chrysoberges löste in dieser Schrift die von Bessarion ange-

sprochene Schwierigkeit über den Willen Gottes, indem er das Ent-

stehen aus Gottes Natur heraus mit dessen Willensakten gleichsetzte.

Andreas argumentierte, dass Gott, ob durch seinen Willen (= Gnade)

oder kraft seiner Macht (= Natur), genau dieselben Ereignisse her-

vorrufe. Was aber stets dieselben Ergebnisse bringt, sei dasselbe.

Also sei alles, was Gott will, in keinem Fall etwas anderes, als was

Gott aus seiner Natur heraus zu tun imstande ist. Ferner sei alles, was

Gott laut seiner Natur (d.h. Essenz, Wesen) könne, nichts anderes,

als was er will. Mit anderen Worten könne Gott gar nichts anderes

wollen, als das, wozu er aus seiner gütigen Natur heraus imstande ist.

Die Lesart der Lehre von Thomas über den Willen und die Macht

Gottes durch Andreas Chrysoberges determiniert den göttlichen Wil-

len durch die Bestimmungen der göttlichen Natur.

Mit anderen Worten interpretierte Andreas Chrysoberges seinen gro-

ßen Lehrmeister, Thomas, indem er die potestas absoluta Gottes auf

die potestas ordinata desselben reduzierte.919 Mit seiner Thomas-

Interpretation betrachtete Andreas die Eschatologie als etwas, was

strenge Gesetzmäßigkeiten aufweist – eher als etwas wie die Geo-

metrie denn als ein Wunder. Über das Seelenheil des Einzelnen hätte

somit Gott eine potestas ordinata. Dies entsprach auch der Fegefeu-

erlehre, in der Gott die Rolle des Buchhalters spielt, der sich beim

918 Ein geplanter Zwischenhalt der griechischen Delegation auf dem Weg zum

Florentiner Konzil im südpeloponnesischen Methone, damals einem venezi-anischen Durchgangshafen, ist aus verschiedenen Quellen überliefert. Sogar der Unmut einiger Byzantiner in Methone ist überliefert, als sie feststellten, dass die dort für sie vorbereiteten Unterkünfte ihren Anforderungen nicht entsprachen.

919 Potestas absoluta hieß bei den Scholastikern die Macht Gottes über Sachen, über die er willkürlich verfügte und herrschte. Diese bringt Gott z.B. in Wundern zum Ausdruck. Die potestas ordinata drückte dagegen die Macht Gottes aus, die von ihm selbst aufgestellten Gesetzmäßigkeiten nicht zu überschreiten. Gott ändert z.B. kraft seiner potestas ordinata die Grundsätze der Geometrie nicht. Zu diesen Termini s. auch das Kap. 5 der vorliegenden Arbeit.

336

Bilanzieren der Tugend eines Toten nicht umhin kann, das Fegefeuer

brennen zu lassen.

Andreas Chrysoberges meinte also, dass die palamitische Lehre doch

antithomistisch ist.

Sie ist allerdings kein Exot. Scholastisch ausgedrückt, sind die Gna-

denwerke Gottes für sie Ausdruck seiner potestas absoluta, die nicht

auf die potestas ordinata zurückzuführen ist.

Die scholastische Lehre über die potestas ordinata, die Selbstein-

schränkung Gottes, war der Tradition der Ostkirche, auch dem Hesy-

chasmus, nicht fremd. Termini für „potestas absoluta“ und „potestas

ordinata“ sind bei byzantinischen Theologen zwar nicht anzutreffen,

allerdings sind diese Begrifflichkeiten bei ihnen vorausgesetzt. Es

gibt viele Beispiele in den byzantinischen Quellen, in denen Gott

eine Einschränkung seiner absoluten Macht vornimmt. Folgendes

Beispiel des heiligen Pachomius setzt die Unterscheidung zwischen

Gottes potestas ordinata und potestas absoluta voraus:

War es etwa Gott unmöglich, dich zu heilen? Aus Vorsorge für dei-nen Seelennutzen hat er dein Leiden zugelassen.920

Die Frage im Zitat ist klarerweise rhetorischer Natur: Gott ist und

war es per potestatem absolutam möglich, jeden zu heilen. Da er

aber aus Vorsorge handelt – Pachomius meint, dass Gott dem Kran-

ken eine Lehre geben will – beschränkt er sich selbst im Rahmen

seiner potestas ordinata.

Auch der erste als Hesychast zu bezeichnende Theologe, Symeon der

Neue Theologe, erkannte durchaus eine potestas ordinata Gottes an,

als er bemerkte, dass Gott nicht lügen kann. „Nichtkönnen“ bedeutet

nach Symeon in diesem Kontext, dass Gott aus Unwollen nicht in

der Lage ist, etwa zu lügen.921 Auch wenn er sich nicht so ausdrückt,

stellt Symeon göttliches Lügen in den Bereich von Gottes potestas

absoluta, der keine göttliche potestas ordinata entspricht.

920 Anonym, Sancti Pachomii vita tertia, p. 337. 921 Symeon der Neue Theologe, Orationes ethicae, or. 3113-114.

337

Bei Gregor Palamas findet sich die Behauptung, Gott sei unmöglich,

sich mit einem Menschen zu vereinigen, der noch nicht zur Union

mit Gott gereinigt wurde.922

Der wichtigste Vertreter der hesychastischen Theologie gegenüber

Bessarion und Andreas Chrysoberges war Markus von Ephesus.

Aber sein Nachfolger in der Eigenschaft des antiwestlichen Chefide-

ologen war Georg Scholarios, ein Thomist! Dieser hat in ein paar

Fällen die potestas ordinata Gottes bejaht – bezeichnenderweise in

der Formulierung des Symeon des Neuen Theologen als Nichtkön-

nen aus Unwollen.923

Was die thomistische und die hesychastische Theologie in diesem

Punkt trennt, ist Folgendes: Erstere spricht aus dem thomistischen

Kontingenzverständnis heraus von potestas ordinata im Sinne einer

dem Wesen Gottes entsprechenden und damit stets präferierten

Handlung, und von potestas absoluta im Sinne einer zuletzt kontra-

faktischen, lediglich theoretischen Möglichkeit, die eigentlich nicht

offen steht – es sei denn, sie ist im Einzelfall mit der potestas ordina-

ta gleichzusetzen.

Aus seinem eigenen Kontingenzverständnis heraus hat der Palamis-

mus dagegen Gott eine uneingeschränkte Macht zuerkannt bzw. es

für möglich gehalten, dass Gott eine zunächst plausibel erscheinende

Selbsteinschränkung seiner Macht doch nicht vornimmt.

Diese Konzeption kannte in der Westkirche das, was ich hier „fran-

ziskanische Freiheitstheologie“ nannte. Gott ist z.B. nach Ockham in

der Lage, einen tugendhaften Menschen das Heil zu verweigern.

Könnte Gott das nicht, dann wäre er, so Ockham, ein unfreies We-

sen, das sich sogar von der Tugend unvollkommener Wesen diktie-

ren lasse, was er zu tun hat.924 Andreas von Rhodos war ein Thomist.

Er wird wohl dieser These Ockhams und der ähnlichen hesychasti-

schen Position gleichermaßen abgeneigt gewesen sein.

922 Gregor Palamas, Homiliae, hom. 52, § 67-8. 923 Georg Scholarios, Refutatio erroris Judaeorum, p. 29413-16; ders., Quaestio-

nes theologicae, q. 2, p. 3679-11. 924 Vgl. Wilhelm von Ockham, Scriptum in librum primum Sententiarum (Or-

dinatio), lib. I, dist. 17, q. 2, contra rationes Thomae Aquinatis, Bd. 3, pp. 472-473.

338

Den Byzantinern waren Ähnlichkeiten zwischen den palamitischen

und den scotistischen oder ockhamitischen Ansichten über die po-

testas absoluta lange unbekannt. Erst Georg Scholarios wies im

Rahmen seiner Polemik gegen die Kirchenunion von Florenz auf

dogmatische Uneinigkeiten innerhalb der lateinischen Theologie an-

gesichts der scotistischen Theologie hin.925

Nicht die gesamte Scholastik ist sich mit Thomas von Aquin einig,

deutet dort Georg Scholarios an. Nun bestimmte aber der Thomis-

mus die Tagesordnung des Florentinums. Nur Bonaventura, soweit

er in wesentlichen Punkten mit Thomas übereinstimmt, wurde dort

von franziskanischer Seite angeführt.

Diese Selektion von Autoritäten auf westlicher Seite verrät das Wir-

ken eines boundary maintainance mechanism der lateinischen Theo-

logen. Gegenüber den Fremden (in diesem Fall den Byzantinern)

stimmten die Lateiner auf einmal überein.

Aus byzantinischer Sicht war die Lage analog: Gegenüber den

„Franken“ traten griechische Kirchenmänner oft geschlossen als Ver-

treter palamitischer Theologie auf. Im Florentinum rückte die byzan-

tinische Delegation nur durch politischen Druck von dieser Haltung

ab.

11.8. Juristische und pekuniäre Analogien der Fegefeuer-

Metaphysik

Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass die Herausarbeitung

der Fegefeuerlehre zu einem Dogma der katholischen Kirche in

ökumenischen Konzilien erfolgte, die in der Absicht gehalten wur-

den, das „morgenländische Schisma“ zu überwinden.926 Dies gilt

sowohl für das ZWEITE KONZIL VON LYON (1274), in dem die Fege-

feuerlehre erstmals in einem von einem Konzil authorisierten Text

vorkommt927 (d.h. im Glaubensbekenntnis des byzantinischen Kai-

sers Michael VIII. Palaiologos), als auch für das KONZIL VON FER-

925 Georg Scholarios, Commentarium Thomae Aquinae De ente et essentia,

proem81n; ders., Epistulae contra unionem Florentinam, epist. 2, p. 13936. 926 Ratzinger, Eschatologie, 179; Le Goff, Die Geburt, 290. 927 Vgl. vorliegende Arbeit, Kap. 11.4.

339

RARA-FLORENZ (1438-39), wo die Definition des Fegefeuers aus

dem Zweiten Lyoner Konzil zu Grunde gelegt wurde.

Das Konzil von Ferrara-Florenz schloss mit einer erzwungenen Eini-

gung ab. Die auf diesem Konzil abgelehnten Einwände des MARKUS

VON EPHESUS gegen das Fegefeuer sollten trotzdem im Osten favori-

siert werden.

Die Ostkirche lehnte die Eschatologie der postmortalen Reinigung

insgesamt ab. Das Fazit des Markus von Ephesus war, dass die Ge-

bete der Hinterbliebenen zugunsten der Toten sinnvoll sind. Nicht

hier bestand sein Einwand gegen die Fegefeuerlehre, sondern darin,

dass es ungewiss sei, auf welchem Wege sich diese Gebete zuguns-

ten der Toten auswirken.

Interessant ist dabei der Vorstoß des Markus von Ephesus, dass auch

noch möglich wäre, dass die Sünder mit unterschiedlichen Anteilen

ins Paradies einziehen können. Gott könne verschiedene Menschen,

wenn er es doch so wünsche, mit verschiedenen Anteilen am para-

diesischen Zustand teilhaben lassen. Das dies von den Kardinälen

mit den Begründungen abgelehnt wurde, ins Paradies werde erst mit

voller Seelenreinheit eingezogen und es gebe keine Verrechnungen

im Paradies, die ungleiche Anteile an der Gottesschau ergeben wür-

den, zeigte, dass Markus Vorstellungen von der Gerechtigkeit und

der Gnade Gottes hatte, die sich nicht mit den Vorstellungen der

Konzilsväter auf dem Florentinum deckten.

Erst das TRIDENTINUM (1545-63) kehrte sich im 16. Jh. von den

kühnen Spekulationen des Florentinums und riet von deren Erwäh-

nung ab.928 Infolge dessen wird heute in der römisch-katholischen

Dogmatik u.a. die Meinung vertreten, die genaue Dauer der postmor-

talen Reinigung und der dafür erforderlichen Gebete sei von Men-

schenseite zwar unbekannt, aber irgendeine physisch verstandene

Dauer der Fegefeuer-Strafe sei jedenfalls anzunehmen.929

928 Vgl. das tridentinische „Decretum de purgatorio“ in: DH 1820; außerdem

Stäudlin, Lehrbuch der Dogmatik, 566. 929 Vgl. z.B. Schmaus, Von den letzten Dingen, § 306, Kap. 7, 557-558; Zie-

genaus, Die Zukunft der Schöpfung in Gott, 174-175. Es wäre ungerecht meinerseits, nicht auf die davon abweichenden Meinungen in der heutigen katholischen Theologie hinzuweisen. Eine Diskussion derselben gehört al-lerdings nicht in den Rahmen der vorliegenden Studie.

340

Die im Mittelalter angenommene physische Dauer der postmortalen

Strafe blieb auch nach dem Mittelalter ein Merkmal der Fegefeuer-

lehre. Mit ihr hatte die Vorstellung des Fegefeuers Eigenschaften

bekommen, die an ein Zinsgeschäft erinnern: Die Seelen im Fege-

feuer werden damit Schuldnern angeglichen, die in einer vorgegebe-

nen Zeit ihre Schuld(-en) abbezahlen müssen. Die Schulden solcher

Schuldner werden dadurch abgebaut, dass mit einer Bürgschaft (d.h.

durch Gebete der noch Lebenden) für den Verstorbenen „Arbeit“

(Feuerqual) beschafft wird, die bis zur vollen Rückzahlug der Teil-

schuld dauert. Erst nach Abbau dieser Schuld kommt der Verstorbe-

ne in die Gunst der Teilhabe am paradiesischen Genuss.

Die Funktion des Fegefeuers ähnelt z.B. der nach dem 12. Jh. in

Norditalien üblichen Gründung einer Handelsunternehmung (socie-

tas), in der sich der Mehrwert an Guthaben des einen Gesellschafters

und die persönliche Arbeit des anderen Gesellschafters ausgleichen.

Man vergleiche folgenden Vertragstext aus dem Jahr 1163, in dem

zwei Gesellschafter sich zu einem Geschäft einigen, an dessen Rein-

gewinn beide gleiche Anteile haben, während sie ungleiche Kapital-

anteile einbrachen. Die gleichen Anteile werden dadurch hergestellt,

dass der Gesellschafter mit dem geringeren Kapitalanteil noch dazu

persönliche Arbeit einbringt, deren genaues Maß ermittelt wird:

[...] Stabile und Ansaldo Garraton haben eine „societas“ gegründet in die Stabile, nach eigener Aussage, 88 Lire eingebracht hat, und Ansaldo 44 Lire. Ansaldo nimmt dieses Kapital mit nach Tunis, um es zinsbringend anzulegen oder überall dorthin, wo das Schiff, das er benutzt, hinfahren sollte [...]. Nach Abzug des Kapitals werden sie die Gewinne zur Hälfte teilen. [...]930

Ansaldo hat also halb soviel Geld für die societas anzulegen wie

Stabile. Gleichzeitig verpflichtet er sich aber, die persönliche Arbeit

für die Geldanlage zu leisten, fürwahr eine sehr schwere noch dazu:

das Mittelmeer überqueren, sich am fremdländischen Hafen nach der

besten Anlage erkundigen, dort das Geld persönlich anlegen, das

Geld samt Gewinn ausgezahlt bekommen.

So wie Ansaldo laut obigem Vertragstext mit seinem Grundkapital in

Höhe von 44 Lire denselben Anteil an den Ausschüttungen aus dem

angelegten Geld erhält, den Stabile mit seinen 88 Lire bekommt, so

930 Zitiert bei Le Goff, Kaufleute und Bankiers, 22-23.

341

verhält es sich auch im Fegefeuer laut der Latinorum responsio auf

dem Florentiner Konzil. Der tote Kleinsünder hat ein niedrigeres

Gros an Tugend in die Gemeinschaft der Gläubigen einbringen kön-

nen als die tugendhaften Hinterbliebenen. Diese aber wollen jenen

am Paradies (am Geschäft sozusagen) teilnehmen lassen. Dort sind

wiederum für Normalsterbliche nur gleiche Anteile möglich –

schließlich ist das Paradies keine beliebige societas, sondern eine, in

der Bestimmungen gelten, die als sehr gerecht empfunden werden.931

Die tugendhaften und noch lebenden Gläubigen machen also die

Teilnahme des toten Kleinsünders möglich, indem sie zu seinen

„Gläubigern“ werden, in dem Sinne, dass sie mit ihren erhörenswür-

digen Gebeten (sie sind ja tugendhaft!) aus ihm einen (buchstäblich)

flammenden Büßer machen – einen schwer arbeitenden Menschen

also, der mit seinem persönlichen Einsatz das auszugleichen ver-

sucht, was die Tugendhaften an überragender Tugend haben müssen,

um in die paradiesische societas einzuziehen. Für die Ausschüttung

der göttlichen Gnade sorgt natürlich Gott und zwar nicht nach Belie-

ben, sondern nach den festgelegten Gesetzen der societas. Es wäre

Gott nach westlichem Verständnis nicht freigestellt, dem

Kleinsünder seine Gnade bzw. die ewigen Güter widerfahren zu las-

sen, ohne dass dieser sich darum bemühen muss.

Die detailliert ausgearbeitete Fegefeuer-Lehre, die sich aus den Dis-

putationen in Ferrara ergab, weist also Merkmale des norditalieni-

schen Handelswesens auf. Das Ethos des norditalienischen Kauf-

manns beeinflusste somit die im Florentinum zum Ausdruck ge-

brachten moralischen Intuitionen eines anderen Standes mit völlig

verschiedenen Lebensbedingungen: der Kleriker. Dadurch beein-

flusste es gleichzeitig die christliche Moral. Einer Moral, die noch im

Frühmittelalter mit ihrer contemptio mundi eine negative Einstellung

gegenüber der Lebenswelt des Kaufmanns gefördert hatte.

Zur Zeit des Florentiner Konzils hatte der Handel jedoch nicht über-

all dieselben Entwicklungen durchgemacht. Obwohl es sich in die

Richtung entwickelte, welche die italienischen Kaufleute eingeschla-

931 Man darf hierbei nicht vergessen, dass die oben vorgestellten Argumente

aus Cedula, Responsio Graecorum (bzw. Markus’ Oratio prima) und La-tinorum responsio, Argumente aus Annahmen sind, die aus moralischen In-tuitionen herrühren und biblisch nicht belegt sind.

342

gen hatten, war Nordeuropa gewissermaßen noch rückständig.932 Das

späte Byzanz sollte diese Entwicklungen nur noch als italienische

Handelskolonie kennenlernen. Das späte Byzanz war eine Volks-

wirtschaft ohne eigene Kaufleute, in welcher der Handel fast aus-

schließlich von Genuesern und Venezianern betrieben wurde;933 in

welcher die Geldabwertung sowie die Unterproduktion und Subsis-

tenzwirtschaft des Agrarsektors934 die Funktion der Geldwirtschaft

erheblich erschwerten; in welcher Zwangsenteignungen und unge-

rechte Besteuerung zum Zweck der Bedienung der Privilegien der

Hauptstadt-Bürokratie die ohnehin fortschreitende Desintegration

des Staates erleichterten.935

932 Vgl. Le Goffs Bemerkung (Kaufleute und Bankiers, 35), dass die Kaufleute

an der französischen Atlantikküste bis zum 16. Jh. Kreditaufnahmen ver-mieden so gut sie konnten.

933 Laiou-Thomadakis, The Byzantine Economy, 210-207. Vgl. auch Runci-man, Byzantine Trade and Industry, 146-147.

934 Niedrige und ausschließlich für den Eigenverbrauch bestimmte Produktion waren Auswirkungen der hohen Steuern und Pächte sowie des kulturell be-dingten Strebens nach Autarkie bereits auf Bauernhofebene. Dass in Byzanz Verbesserungen in der Produktionsweise nicht so radikal durchgeführt wur-den wie im Westen (z.B. dürfte der Eisenpflug mit Wendeschar im byzanti-nischen Hoheitsgebiet weniger verbreitet als der alte griechische Holzpflug gewesen sein) trug zum Zurückbleiben der byzantinischen Agrarproduktion gegenüber der westlichen bei. Vgl. dazu Harvey, Economic Expansion in the Byzantine Empire, 120-135. Es muss auch erwähnt werden, dass der by-zantinische Staatsprotektionismus im Bereich der Landrechte (kein Fremder durfte Land in einer Gemeinde erwerben) verbunden mit einer Kollektivhaf-tung in Steuerfragen (jedes Dorf war mit einer fixen Mindestabgabe belas-tet, auch wenn die Produktion infolge von Bevölkerungsschwund oder Landflucht gesunken war) oft eine ungerechte Besteuerung der Bauern-schaft zu Folge hatte. Sei in diesem Kontext nur darauf hingewiesen, dass die Steuerkataster niemals zugunsten einer dezimierten Gemeinde korrigiert wurden. Dass die durch Landflucht bedingte ungerechte Besteuerung die Landflucht noch mehr erhöhte, setzte einen Teufelskreis in Gang. Viele aus den Quellen zusammengetragene Beispiele sind bei Kalligas, Meletai by-zantinēs historias, 254-267, zu lesen.

935 Ende des 13. Jhs. erwähnt Georg Pachymeres, Libri VI de Michaele Palaeo-logo, lib. I, cap. 5, p. 31, einen Fall der Zwangsenteignung vom gesamten Großbesitz eines Landstrichs ohne den Anschein einer Legitimation. Ni-kephor Gregoras, Historia Byzantina, Bd 1, p. 317, beklagt die steigenden Fiskuseinnahmen bei sich verringerndem Staatsgebiet in der ersten Hälfte des 14. Jh.

343

Diese spezifischen Merkmale der byzantinischen Volkswirtschaft

dürften den Einwohnern des Ostreiches eine Mentalität der fehlenden

Kontrolle in finanziellen Dingen eingeflößt haben, die sich wohl auf

die aus Kapital- und Arbeitseinsatz gehegten Erwartungen erstreckte.

Gewissermaßen das Produkt eines solchen Einsatzes (allerdings von

Tugend statt von Kapital und Arbeit), der Lohn der Gerechten er-

schien dem Byzantiner unkontrollierbar und unvorhersehbar. Wenn

der byzantinische Kaiser im Diesseits seine Schar von Höflingen,

Beamten, Bediensteten aus mehr oder weniger willkürlich eingefor-

derten Finanzabgaben unterhielt, so sollte doch im Jenseits auch

möglich sein, dass Gott kraft seiner Gnade allein, ohne eine Ver-

rechnung von guten und bösen Taten und Unterlassungen zu fordern,

„sein Volk“ mit den ewigen Gütern belohnt. Nach den Gründen, aus

denen Gott keine Verrechnung einfordere, sollte genauso wenig ge-

fragt werden, wie nach den Gründen, aus denen der Kaiser seine Bü-

rokratie-Oligarchen unterhielt. Diese gibt es einfach, weil Gott bzw.

der Kaiser es so will – so wird der Byzantiner des 15. Jh. die Lage

um den ewigen Lohn begriffen haben.

Zudem hatte die byzantinische Wirtschaftsgeschichte längere Perio-

den im 11. und 12. Jh. vorzuweisen, in denen inflationäre, unreine

Goldmünzen den Großteil der monetären Basis ausmachten. Kaiser

ALEXIOS I. KOMNENOS (1099-1118) hatte sich sogar nicht mehr da-

rum gekümmert, das Vertrauen in das Geld wiederherzustellen, son-

dern prägte von Anfang an kupfernes Geld. Zwar machte er dies

nicht einmal konsequent, sondern er zog Fiskaleinnahmen in Gold

vor;936 nichtsdestotrotz legte Alexios I. mit seiner Finanzpolitik nahe,

dass er kein Garant eines objektiven Geldwertes sein konnte, sondern

der Schöpfer desselben sein wollte.

Wenn Alexios I. Schöpfer des Geldwertes sein wollte, dann sollte es

sich um so mehr mit Gott so verhalten, der ja Schöpfer seiner Gnade

ist, die die Sünder zum Paradies befähigen soll. Die wichtigsten Fra-

gen der Fegefeuer-Lehre in der Latinorum responsio, wer an der

Gnade teilhat und warum, sind nach hesychastischem Verständnis

nicht zu beantworten. Gott erteilt laut hesychastischer Lehre unkon-

trolliert und willkürlich seine Gnade, so dass diese zu einer keiner

936 Johannes Zonaras, Epitome historiarum, lib. 18, p. 738.

344

Bestimmung folgenden, unvorhersehbaren, ungeschaffenen Energie

Gottes wird.

Unter diesen politischen und ideengeschichtlichen Bedingungen ist

es nicht verwunderlich, wenn die Sekundärliteratur zum Thema: by-

zantinische Gesellschaften nach dem Vorbild der genuesischen

societas keine anderen Quellen vorweisen kann, als solche, in der die

griechischen Seeleute Anteile an den Erlösen eines genuesischen

Schiffes erwerben.937 Die societas war im byzantinischen Recht zwar

vorgesehen,938 wurde aber anscheinend von Byzantinern nicht ei-

genmächtig praktiziet. Arbeit bzw. Sühne, die unter Zugrundelegung

eines festen Einheitswertes im Sinne einer Geldeinlage bzw. Vergrö-

ßerung des Maßes an Tugend umgerechnet wird, war kein byzantini-

sches Modell des Finanzwesens, genausowenig es der byzantini-

schen Metaphysik entsprach. Ihre Teilnahme an spekulativen Geld-

geschäften haben byzantinische Privatleute oft verschwiegen. Sie

wurden ja von ihrer Kirche genauso verworfen wie die spekulativen

eschatologischen Erwartungen.939

12. Schlussfolgerungen aus der Fegefeuerlehre

Ideengeschichtlich betrachtet geht die Fegefeuerlehre mit der Ent-

wicklung der deterministischen Modalitätenlehre in der Scholastik

einher. Der Glaube an das Fegefeuer wurde laut Le Goff Ende des

12. Jh. konkretisiert,940 einige Jahrzehnte später, als Peter Abaelard

937 Zitiert bei Laiou-Thomadakis, The Byzantine Economy, 196. 938 Maridaki-Karatza, Legal Aspects, 1117-1120, nennt das Rhodische Seerecht

sowie die Harmenopoulos-Sammlung von Gesetzestexten. 939 Gofas, The Byzantine Law of Interest, 1096; 1103-1103, schildert die nega-

tive Haltung der byzantinischen Kirche gegenüber Zinsgeschäften und nennt Quellen des 14. Jh. über Darlehensverträge zwischen griechischen Kretern sowie über solche zwischen einem Griechen und einem Venezianer. In die-sen wird im Gegensatz zu Darlehensverträgen zwischen venezianischen Kretern kein Zins erwähnt.

940 Das 12./13. Jh. ist die Ära, als eine neue Qualität im Fegefeuerglauben ein-setzte, nicht als aller Anfang der Konkretisierung dieses Glaubens. Auch früher gab es Versuche, den Fegefeuerglauben zu konkretisieren. Z.B. bleibt der Autor des 7. Jh. (!) JULIAN VON TOLEDO (Prognosticon futuri saeculi, lib. 2, cap. 19 und 22) nicht bei der Besprechung der wenigen Sätze August-

345

Argumente dafür gegeben hatte, dass Gott nur das bewirken kann,

was stattfinden muss. Metaphysisch betrachtet setzt die Fegefeuer-

lehre Abaelards Lehre voraus. Denn hätte Gott den Sünder willkür-

lich reinwaschen können, dann gäbe es natürlich keinen Bedarf, den

Sünder in einem festgelegten Verfahren mit Hilfe des Fegefeuers von

seiner Sünde zu reinigen.

Außer den philosophiehistorischen Zusammenhängen gibt es auch

soziale: Jacques Le Goff meinte, dass die Soll-und-Gut-Haben-

Rechnung des Fegefeuers dem verstärkten Interesse des ausgehenden

12. Jh. für die Arithmetisierung des Nutzens entspricht.941 Damit

steht der Glaube an das Fegefeuer am Anfang einer Entwicklung, die

zur Ausarbeitung der Kunst der Buchführung im Italien des 14. und

15. Jh. führte. Wie bereits Jacques Le Goff und Odd Langholm942

andeuteten, hat diese Entwicklung mit den Mendikantenorden zu tun.

Wenn das stimmt, dann stellte die Fegefeuerlehre in der Scholastik

ein Verweltlichungs-Moment, eine Beeinflussung der Theologie

durch außerkirchliche Vorstellungen dar, die im Nachhinein theolo-

gisch untermauert wurden. Diese Vermutung wird durch den Um-

stand bekräftigt, dass die Fegefeuerlehre erst im 13. Jh. Einzug in die

Sentenzenvorlesung fand – und zwar an den dominikanischen und

franziskanischen Lehrstühlen.943

Nachdem sie zur theologischen Doktrin wurde, die an den Universi-

täten gelehrt wurde, d.h. bereits im 13. Jh., wurde die Fegefeuerlehre

trotz ihres Status als Theologumenon, d.h. von Theologen untermau-

erte aber biblisch nicht direkt belegte Lehre, von der Westkirche, wie

wir im Kapitel 11.4 gesehen haben, zur Voraussetzung für die Union

mit der Ostkirche gemacht.

Es sei zum Schluss im Sinne eines Ausblicks auf den Zusammen-

hang zwischen Arithmetisierung des Nutzens und Franziskaner-

Theologie in der frühen Neuzeit erwähnt, dass es ebenfalls Franzis-

ins und Gregors des Großen über das Fegefeuer, sondern er versucht die Funktion des Fegefeuers ausführlicher zu beschreiben.

941 Le Goff, Héros du Moyen Âge, 1263-1287. 942 Langholm, Economics in the Medieval Schools, passim. 943 Le Goff, Héros du Moyen Âge, 1263-1287, und Langholm, Economics in

the Medieval Schools, passim.

346

kaner waren wie LUCA PACIOLI († 1517), die die Ausarbeitung der

Kunst der Buchführung im Italien des 15. Jh. vorantrieben.

13. Futurologie im Mittelalter

Mit „mittelalterliche Futurologie“ meine ich die geschichtsphiloso-

phischen und politischen Weltende-Vorstellungen des Mittelalters.

Einige Überlegungen zum Forschungsstand der mittelalterlichen Fu-

turologie: Wer sich heute mit den systematischen Zusammenhängen

mittelalterlichen Denkens beschäftigt, dogmatischen, fundamental-

theologischen, metaphysischen, ist für die mittelalterliche Futurolo-

gie in der Regel nicht zu begeistern. Das gilt insbesondere für Mit-

telalterforscher neoscholastischer und sprachanalytischer Provenienz.

Da Neoscholastik und Sprachanalyse in Religionsgeschichte und

Philosophie sehr wichtige Strömungen sind, erweist sich die religi-

ons- und philosophiegeschichtliche Futurologie-Literatur erwar-

tungsgemäß als recht schwach vertreten. Die wenigen bekannten

Standardwerke sind nur Ausnahmen.944 In der Besprechung futuro-

logischer Quellen spezialisierte sich stattdessen eine historiographi-

sche und philologische Mediävistik.

Diese war sogar sehr ergiebig in der Besprechung von Weltende-

Vorstellungen. Diese Literatursparte gilt als uferlos. Eine besondere

Stellung nimmt in derselben die Erforschung des joachimitischen

und Spiritualen-Gedankengutes ein, das sich zur Ausmalung chilias-

tischer Endzeiterwartungen des westlichen Mittelalters besonders

eignet.945 Die Studien zu den byzantinischen Endzeiterwartungen

sind zwar nicht uferlos, aber sie gehören zu den wegweisenden des

Faches Byzantinistik.946

944 Z.B. Wilhelm Kamlahs Apokalypse und Geschichtsphilosophie sowie Karl

Löwiths Klassiker Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 945 Vgl. Löwiths und Kamlahs Standardwerke (vorherige Fußnote) sowie die

Aufsätze über Joachim von Fiore und Petrus von Johannes Olivi in Aertsen / Pickavé, Ende und Vollendung, 481-557 und 641-683 (verschiedene Auto-ren). Zur Polittheologie im Joachimismus vgl. Potestà, Apocalittica e politi-ca, 231-248.

946 Beck, Vorsehung und Vorherbestimmung; Podskalsky, Byzantinische Reich-seschatologie.

347

Der Zweck des vorliegenden Kapitels besteht nicht darin, die Resul-

tate der historiographischen und philologischen Mediävistik in punc-

to Futurologie zu resümieren oder zu kritisieren. Dazu bedürfte es

einer anderen Monographie. Vielmehr möchte ich ein paar Fälle auf-

zeigen, in denen diese Forschungszweige auf das Resultat kommen,

Futurologie und Wahrsagerei wiesen in West und in Ost große Ähn-

lichkeiten auf. Ferner möchte ich zeigen, wieso diese Fälle nicht re-

präsentativ sind.

In der vorliegenden Arbeit habe ich oft behauptetet, dass der

Mainstream mindestens der hoch- und spätbyzantinischen Philoso-

phie und Theologie die Prädestination verneinte und ein indetermi-

nistisches Zukunftskonzept vertrat. Das lässt sich mit der von der

historiographischen und philologischen Mediävistik ausgegrabenen

byzantinischen Wahrsagerei nicht vereinbaren, die z.B. aus visionä-

ren Berichten,947 Flugblättern,948 Polemiken949 und Orakeln950 bzw.

astrologischen Almanachen hervorgeht.951

Das sind natürlich Genres, die nicht in das Repertoire eines Theolo-

gen oder Philosophen gehören sollten;952 außerdem sind es meistens

volkssprachliche Texte, was Einiges nicht nur über ihre Adressaten,

sondern auch über den Zugang ihrer Verfasser zur Hochkultur verrät.

Kurz sind das Texte, welche weder die Theologie noch die politische

Theologie beständig beeinflussen konnten.953 Dass der byzantinische

947 Timotin, L’eschatologie Byzantine, 241-245; 248-252, lieferte einen sehr

guten Überblick über den Forschungsstand zur byzantinischen visionären Literatur.

948 Brandes, Kaiserprophetien, 170-171 ff. 949 Magdalino, The History of the Future. 950 Brandes, Kaiserprophetien, 172 ff. 951 Vasiliev, Medieval Ideas, 492-496. 952 Solche sind zumeist die Genres, mit denen sich auch die Arbeiten über die

westliche mittelalterliche Futurologie beschäftigen. Vgl. z.B. Verbeke / Verhels / Welkenhuysen, The Use and Abuse of Eschatology; McGinn, Vi-sions of the End; Aertsen / Pickavé, Ende und Vollendung. Aber neben sol-chen Genres gab es im Westen auch eine Menge von scholastischen Texten, in denen futurologische Überlegungen angestellt wurden.

953 Eigentlich beeinflussten solche Texte nicht einmal einander. Ihre Autoren verstanden sich nicht als scholarii, die ihr Literaturgebiet kennen, sondern als Auserwählte, die eine geoffenbarte Wahrheit weitergeben – egal was

348

Theologie-Mainstream ab dem 14. Jh. explizit gegen solche Endzeit-

Vorstellungen und gegen jegliche Endzeiten-Chronologie polemi-

sierte, ist in der Forschung bereits bemerkt worden.954

Ferner hat die historiographische und philologische Mediävistik be-

hauptet, dass die zahlenmystischen und astrologischen Überlegungen

über ein nahes Weltende in West und Ost viele Gemeinsamkeiten

aufweisen. Um das Jahr 1000 war im Westen Europas die Erwartung

des Weltendes sehr verbreitet.955 In Byzanz, wo eine andere Zeit-

rechnung angewandt wurde, waren zwar andere Jahreszahlen von

Belang, ganz interessant waren allerdings wie im Westen die runden

Zahlen.956

Ich habe grundsätzliche Bedenken zum Nutzen von Feststellungen

über solche Ähnlichkeiten. Was soll aus ihnen folgen? Dass die run-

den Zahlen leichter memorierbar sind? Denn in Byzanz wurden die

Prophezeiungen angesichts der Zahl 1000 und ihrer rechnerischen

Produkte zwar angestellt, im Gegensatz zum Westen allerdings nicht

wörtlich oder nicht ernst genommen. Selbst GEORG SCHOLARIOS, der

einzige spätbyzantinische Autor, der zwei Vermutungen über das

nahende Weltende ausgesprochen hat, die allerdings in einem zu

knappen Autograph überliefert sind, das auch noch mitten im Satz

abbricht,957 relativierte seine Voraussage in demselben Autograph

und widersprach ihr performativ in seinem politischen Handeln.958

sonst noch geoffenbart worden ist. Rydén, The Andreas Salos Apocalypse, 231, vermutet mit gutem Grund z.B., dass der Verfasser des Lebens von Andreas Salos, der die Prophezeiungen des letzteren weitergibt, ein sonst unbekannter Konstantinopler Autor des 10. Jh. namens Nikephor, die drei Jahrhunderte ältere Apokalypse des Pseudo-Methodius vielleicht nicht kannte und mit Sicherheit nicht zur Gegenüberstellung mit der eigenen Pro-phezeiung benutzte.

954 Timotin, L’eschatologie Byzantine, 76-82. 955 Vgl. z.B. Boiadjiev, Der mittelalterliche Apokalyptismus; von den

Brincken, Abendländischer Chiliasmus. 956 Magdalino, The End of Time in Byzantium, 119-134. 957 Georg Scholarios, Chronographia, in: Œuvres complètes, Bd. 4, pp. 511-

512. Die wichtigsten Punkte dieses Schriftstückes werden von Vasiliev, Medieval Ideas, p. 499, besprochen, allerdings auch in den Kontext anderer Aussagen des Scholarios bezüglich Endzeiten gerückt, die keine konkrete Futurologie darstellen und daher für diese Thematik belanglos sind.

958 Das stellte bereits Guran, Eschatology and Political Theology, 73, fest.

349

Von viel größerer Wichtigkeit erscheint mir die in der Forschung

nicht so oft betonte Tatsache, dass solche Rechenübungen nicht in

jedem kulturellen Kontext dieselbe Funktion erfüllen müssen. Zwar

gab es vor dem 12. Jh. eine kulturübergreifend gemeinsame Funkti-

on, als lateinische wie griechische Quellen stets Vorbehalte gegen

die eigene Prophezeiung enthielten;959 als ihr Nutzen in der Beschäf-

tigung mit den Texten und in der Schärfung des Sinns für die Unein-

deutigkeiten in denselben lag.960

Diese Situation änderte sich aber im Westen. Spätestens nach dem

Erscheinen der radikalen Franziskaner verwandelte sich dort die Fu-

turologie in einen doktrinären theologischen Zweig. JOACHIM VON

FIORE äußerte weniger Vorbehalte gegen die eigene Prophezeiung

als seine byzantinischen Zeitgenossen – ohne solche Vorbehalte im-

merhin völlig zu unterdrücken. Radikale Franziskaner bzw.

Joachimiten des 13. und 14. Jh. wie Gerardo di Borgo San Donnino

und Ubertino von Casale äußerten bereits gar keine Vorbehalte mehr.

Die „wissenschaftliche“ Untermauerung der Futurologie drang nach

und nach in den scholastischen Mainstream ein.961

In Byzanz wurde die Prophezeiung allerdings entweder nicht theolo-

gisch untermauert – und dann stellte sie einen von Theologen gemie-

denen Aberglauben des einfachen Volkes dar – oder sie wurde um

des alten pädagogischen Ziels der Exegese willen betrieben: um den

Sinn für die Uneindeutigkeit der Texte sowie der Zeitangaben in

denselben zu schärfen.

Dass die historiographische und philologische Mediävistik die Un-

terschiede zwischen den futurologischen Traditionen im Westen und

im Osten nach dem 12. Jh. übersieht, ist nicht verwunderlich. Indem

sie alle Quellen als ebenbürtig betrachtet, indem sie die traditionellen

Bezeichnungen: „gutes Argument“, „schlechtes Argument“, „konsis- 959 Vgl. einen solchen Fall bei Niketas von Paphlagonien, der im Kap. 2.5 der

vorliegenden Arbeit erwähnt wird. 960 Die „Schärfung“ des Verstandes des Lesers war das Ziel der Zahlenangaben

eschatologischer Texte auch im Urteil nicht nur der byzantinischen, sondern auch der älteren lateinischen Exegesetradition. Vgl. die im Kap. 2.5 der vor-liegenden Arbeit zitierte Passage des Bruno von Segni.

961 Speziell für Thomas von Aquin wird dieses Resultat z.B. von folgenden Autoren belegt: te Velde, Christian Eschatology; Wei, Predicting the Future, 28-36.

350

tente Argumentation“ usw. wohl aus politischer Korrektheit meidet,

ändert sie fast systematisch die Vorzeichen, mit denen die ältere For-

schung die lateinische und die byzantinische Theologie versah. So

begriffen die heutige Historiographie und Philologie das Werk des

Michael Psellos als das eines Verfechters des Schicksals, die Argu-

mente des Nikephor Blemmydes gegen die Prädestination als angeb-

lich inkonsequent, die hesychastische Literatur als mystisches Rau-

nen.

Diese Urteile der historiographischen und philologischen Mediävis-

tik erscheinen aber bei genauerem Hinsehen ungerechtfertigt. „Bei

genauerem Hinsehen“ bedeutet: wenn Mainstream-Autoren höher zu

schätzen sind als diejenigen, die nicht zum jeweiligen Mainstream

gehören (d.h. der jeweilige Mainstream war einflussreicher als alles

andere), sowie wenn man die Quellen wohlwollend liest (d.h. kein

theologischer Autor wollte Thesen propagieren, die in eklatanter

Weise irrational sind).962

Aber auch wenn Wohlwollen als Interpretationsprinzip ausscheiden

müsste, spricht die Pragmatik der westlichen und östlichen futurolo-

gischen Quellen nach dem 12. Jh. eine eindeutige Sprache. Das Ar-

gument habe ich bereits angedeutet: Die lateinischen futurologischen

Texte nach dem 12. Jh. sind oft theologisch fundierte Texte, jeden-

falls ihrer Disposition nach. Die griechischen futurologischen Texte

sind aber volkssprachlich – genauso wie vor dem 12. Jh. Also kann

unter diesem Aspekt die Futurologie des östlichen Hoch- und Spät-

mittelalters nicht als repräsentativ für die byzantinische Theologie

betrachtet werden, wohl aber die Futurologie des westlichen Hoch-

und Spätmittelalters für die lateinische Theologie.

14. Allgemeine Schlussfolgerungen

In dieser Arbeit wurden Indizien zusammengetragen und kritisch

vorgestellt, die zeigen, dass die im jeweiligen kulturellen Kontext

geltenden Gnaden- bzw. Prädestinationslehren mit entsprechenden

deterministischen bzw. indeterministischen philosophischen Zeit-

und Modalitätenlehren respektive einhergingen.

962 Vgl. Kap. 8.1 der vorliegenden Arbeit.

351

Allgemein gesagt tendierten die meisten byzantinischen Ansichten

betreffs Zeit und Kontingenz zum Indeterminismus, die meisten

scholastischen Ansichten dagegen zum Determinismus. Die Behand-

lung der Prädestination im jeweiligen theologischen Idiom hing mit

diesen metaphysischen Konzeptionen zusammen. Wer denkt, dass es

Bevorstehendes gibt, das noch wirklich abgewandt werden kann,

wird auch denken, dass der Weg des Einzelnen zum Heil oder zur

Verdammnis nicht vorgeschrieben ist, dass also die Zukunft nicht

prädestiniert ist. Wer aber denkt, dass das Eintreffen aller künftigen

Ereignisse aus einem, sei es göttlichen, Standpunkt bestimmt ist,

wird auch denken, dass der Einzelne keines von ihnen vermeiden

kann, d.h. dass die Zukunft des Einzelnen prädestiniert ist.

Die byzantinische Theologie ging mit der Kontingenz auf der Basis

einer orthodox aristotelischen Lehre um. Die scholastische Theologie

griff dagegen bezüglich Prädestination und Kontingenz auf eine au-

gustinische sowie auf eine diodorische Lehre zurück.

Die orthodox aristotelische Lehre über die Zeit und die Möglichkeit

besagt, dass es mögliche (und zwar kontingente) Ereignisse gibt, die

zu einem zukünftigen Zeitpunkt noch möglich sind, wenn sie aber

Vergangenheit darstellen nicht mehr möglich sind. Die diodorische

Lehre über die Zeit und die Möglichkeit besagt dagegen, dass keine

anderen Ereignisse in einem zukünftigen Zeitpunkt möglich sind, als

diejenigen, die, wenn sie Vergangenheit darstellen, notwendig sind.

Die theologischen Debatten waren viel komplexer als das pauschale

Bild, das ich hier zeichne. Das pauschale Bild betrifft die

Mainstreams westlich und östlich der Adria. Gleichzeitig gab es

Wirbelströmungen um den byzantinische und den scholastischen

Mainstream herum, manchmal solche, die mehr dem anderen als dem

eigenen Mainstream ähnelten.

Die Unterschiede in den Zeitauffassungen zwischen den

Mainstreams im Osten und im Westen begannen bereits mit der Re-

zeption der Lehre von Aristoteles über die unbestimmten Zukunfts-

aussagen. Sehr einflussreiche westliche Kommentatoren (etwa

Thomas von Aquin im Anschluss an Abaelard, Thomas Cajetan im

Anschluss an Thomas von Aquin) tendierten zum Paradigmenwech-

sel, d.h. zugunsten eines diodorischen Determinismus, zuungunsten

des orthodoxen Aristotelismus.

352

Byzantinische Kommentatoren gaben dagegen trotz der damit zu-

sammenhängenden logischen Probleme einer indeterministischen

Lehre den Vorzug, die sie Aristoteles zuschrieben, und gingen so

weit, den Widerspruchssatz in Zweifel zu ziehen. Aus byzantinischer

Sicht hatte Gott (und infolgedessen auch der Mensch) Spielraum,

künftige Ereignisse anders ausgehen zu lassen, als sie sonst ausgehen

würden.

Vertreter des byzantinischen Mainstreams in Sachen Kontingenz und

Bestimmtheit der zukünftigen Ereignisse sind Autoren wie Photios,

Michael Psellos und Nikephor Blemmydes. Alle stimmten darin

überein, dass für sehr, sehr viele zukünftige Sachverhalte zwei Aus-

gänge möglich sind. Die Freiheit besteht darin, beide Ausgänge wirk-

lich realisieren zu können. Gott schwebt vor, welcher Ausgang von

beiden am besten zu seiner bevorzugten Weltordnung passt, hat aber

die Fähigkeit, sich zu enthalten, so dass doch der andere geschehen

kann. Gott hätte demnach durchaus eine andere oder gar keine Welt

erschaffen können.

Der byzantinische Mainstream vertrat außerdem die Position, dass

eine göttliche Prädestination im Endeffekt nichts anderes als das

Schicksal besagen würde. Infolgedessen wurde der Prädestinations-

gedanke in der byzantinischen Theologie allgemein abgelehnt. Eine

prophylaktische Distanzierung vom Fatalismus lässt sich auch am

futura contingentia-Verständnis hochmittelalterlicher byzantinischer

Philosophen wie Michael Psellos und Nikephor Blemmydes erken-

nen. Aber auch in der spätmittelalterlichen Heilslehre des Gregor

Palamas ist die Prädestination ausgeschlossen. Die palamitische

Theologie setzt eine göttliche Gnade voraus, die willkürlich erteilt

wird. Im Hoch- und Spätmittelalter waren solche Positionen im Wes-

ten nur vereinzelt vertreten worden – etwa in den zum Schluss von

Rom verurteilten Lehren von Peter Aureoli und Peter de Rivo. Ihre

Diskrepanz zu den einschlägigen Positionen von Peter Abaelard und

Thomas von Aquin, nach denen Gott nicht anders hätte handeln kön-

nen als er handelte und nichts tun würde, als er tatsächlich tun wird,

springt ins Auge.

Mit Peter Abaelard und Thomas von Aquin nannte ich die wichtigs-

ten Autoren des Paradigmenwechsels der lateinischen Wissenschaft

in Sachen Kontingenz im 12. und 13. Jh. Ihre auf Zeitkategorien und

353

Modalbegriffe bezogene Arbeit distanziert sich vom Verständnis der

Zukunft durch den orthodoxen Aristotelismus als einer Zeit, die mit

Hilfe unbestimmter Sätze zu beschreiben wäre.

Nicht nur das Möglichkeitsverständnis dieser in der Scholastik ak-

zeptierten Autoren, sondern auch der seinerzeit umstrittene Neoau-

gustinismus wie Bradwardines, Wyclifs und Hussens Auffassungen

von Prädestination und Nezessitation gehören ebenfalls zum scholas-

tischen Mainstream. Für alle heißt Gottes Wissen, dass in drei Tagen

ab heute etwas der Fall sein wird, dasselbe wie, dass am Stichtag

etwas der Fall ist. Die Freiheit, etwas anders zu tun, als vorgesehen

ist, besteht nach dieser Denktradition nicht im eigentlichen Sinne

einer Freiheit. Sie besteht nur als eine Notwendigkeit, etwas anders

zu tun, als man fälschlich dachte, dass es vorgesehen wäre. Peter

Abaelard schloss z.B. aus, dass Gott eine andere Welt hätte erschaf-

fen können, als er tat. Thomas von Aquin schloss sich Peter Abaelard

in diesem Punkt an mit dem Unterschied, dass bei Gott, so meinte er,

keine Rede von „Können“ oder „Nichtkönnen“ sein könne. Entweder

mache Gott etwas oder nicht. Dieses Möglichkeitsverständnis liefert

eine Berechtigung für die Prädestination und für einen vorgeschrie-

benen Kurs der Ereignisse diesseits wie jenseits.

Pauschal sind also anhand der Scholastik und der byzantinischen

Philosophie zwei theologische „Idiome“ zu unterscheiden, verwandt

in ihren Grundüberzeugungen, die sich im Laufe der Zeit zusehends

entfremdeten. Genauer gesagt waren es die Mainstreams dieser „Idi-

ome“, die sich entfremdeten. Fälle, in denen beide „Idiome“ sehr

ähnlich klangen gab es weiterhin, sie spielten aber keine Rolle im

Austausch zwischen den Vertretern dieser Idiome. Gerade im Aus-

tausch pflegten die Vertreter des jeweiligen Idioms, „idiomatische

Varianten“ ihres Faches zu benutzen, die dem anderen am fernsten

lagen.

Abweichler, die ein theologisches „Idiom“ pflegten, das dem eigenen

Mainstream fernlag, waren z.B. im Westen die Theologen scotisti-

scher Ansichten, im Osten die vereinzelten Thomisten. Es ist aber

bezeichnend, dass im Nahkontakt, etwa im Florentinum (1438-39),

die abweichenden Ansichten zu keiner Annäherung führten. Im Ge-

genteil: Die dort benutzten theologischen „Idiome“ standen unter

dem Einfluss „puristischer“ Reglementierung – unter dem Einfluss

354

der Mainstreams. Die Anthropologie und die Nationalismus-

Forschung sprechen in ähnlichen Kontexten von einem „boundary

maintainance mechanism“.963

„Idiom“ und „Purismus“ sind Termini der Linguistik. Ich betrachte

den Purismus bezüglich des theologischen „Idioms“ als einen cha-

rakteristischen boundary-maintenance Mechanismus der West- und

der Ostkirche im Mittelalter.

Gerade in Gesprächen wurden im jeweiligen theologischen „Idiom“

Klänge aus den eigenen Reihen unterdrückt, die an das andere Idiom

erinnern konnten. Im Florentinum spielten die Byzantiner die Bedeu-

tung der Fürbitten für die Verstorbenen sowie die Stellen griechi-

scher Texte, die auf ein Fegefeuer Rückschluss boten, herunter, be-

vorzugten stattdessen allegorische Interpretationen solcher Stellen.

Die Lateiner unterdrückten das Faktum, dass die Fegefeuerthese bes-

tenfalls ein kühnes Theologumenon darstellte, das selbst in der latei-

nischen Tradition auf großen Widerstand gestoßen war.

Die Besonderheiten byzantinischer und lateinischer Vorstellungen zu

Zeit, Prädestination und Eschatologie sind nicht unbekannt. Gleich

zwei Vertreter einer konfessionellen, für die Belange der römisch-

katholischen Kirche engagierten Byzantinistik, Hans-Georg Beck

und Gerhard Podskalsky, widmeten sich den Charakteristika meta-

physischer Zukunftsvorstellungen in Byzanz. An geeigneteren Stel-

len der vorliegenden Studie habe ich wiederholt auf Teilaspekte ihres

Werks Bezug genommen.

Beck, der Lehrer, wollte in den byzantinischen Zukunftsvorstellun-

gen wie Kamlah ein paar Jahre vor ihm charakteristisch Indetermi-

nistisches entdeckt haben.964 Podskalsky, der Schüler, hat dieses Re-

sultat relativiert:965 Nur teilweise sei die byzantinische Theologie

963 Vgl. Barth, Introduction. 964 Der spätere Münchener Byzantinist Hans-Georg Beck legte noch unter dem

Mönchsnamen Hildebrand Beck, OSB in den 30ern die 1937 in Rom er-schienene Doktorarbeit Vorsehung und Vorherbestimmung in der theologi-schen Literatur der Byzantiner vor. Beck verließ den Benediktinerorden im Jahr 1944 und unterschrieb daraufhin seine Arbeiten mit seinem bürgerli-chen Doppelnamen Hans-Georg.

965 Beck soll als Podskalskys Doktorvater der Korrektur seiner frühen Ansich-ten von seinem Schüler nicht abgeneigt gewesen sein.

355

vom westlichen Christentum abgewichen. Der Osten habe genauso

wie der Westen, so Podskalskys Resultat, historische Prognosen auf

der Basis der Schriftexegese betrieben.

Podskalskys Revision der überkommenen (und von seinem Lehrer

Beck vertretenen) Meinung hat mit Quellenselektion zu tun. Beck

selektierte hochsprachliche byzantinische Quellen, in denen eine oft

antiislamische, nicht selten antiwestliche theologische Polemik zum

Ausdruck kam. Podskalsky untersuchte dagegen volkssprachliche

und daher nicht zum theologischen Kanon gehörende Quellen. Jeder

hatte vor dem Hintergrund der eigenen Quellen wohl Recht.

Meine Selektionskriterien entsprechen mehr den Selektionskriterien

Becks. Aber Beck war weder ein Religionswissenschaftler noch ein

Philosophiehistoriker.

Im Sinne der Religionswissenschaft und der Philosophiegeschichte

liegen folgende Schlussfolgerungen aus der vorliegenden Studie na-

he: Der gemeinsame philosophiehistorische Hintergrund, die antike

Diskussion zwischen aristotelischem Indeterminismus und megari-

schem Determinismus, ebenfalls die im Rahmen der dogmatischen

Gemeinsamkeiten erstellten Zusammenhänge in Zeitphilosophie und

Eschatologie bestimmten die byzantinischen und die scholastischen

Zeitlehren zu einem Dialog voraus.

Dieser Dialog bzw. die in demselben herausgestellten hintergründi-

gen Verwandtschaften beider großen christlichen Theologien des

Mittelalters führten zu keiner „Verschmelzung“ – kultureller oder

ideenhistorischer Art. Im Gegenteil wurden die gemeinsamen Inte-

ressen und oft Lösungen in der Regel verschwiegen, das Trennende

gewann vielmehr die Oberhand, wurde zum Mainstream, erst recht,

sobald Gemeinsamkeiten zum Ausdruck kamen.

Pauschal lässt sich sagen, dass dieser Mainstream in puncto futura

contingentia, necessitas per accidens und Prädestination im Osten

indeterministisch und nach dem Selbstverständnis der griechisch

schreibenden Autoren aristotelisch war, im Westen dagegen deter-

ministisch war und von den meisten lateinisch schreibenden Autoren

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