Goethes Welten - Weltlichkeit und Weltliteratur in den Wahlverwandtschaften

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DOGILMUNHAK Koreanische Zeitschrift für Germanistik 128 54 4 2013 12 편집위원 이혜자(위원장, 군산대) 남유선(간사, 원광대) 김륜옥(성신여대) 송경안(전남대) 전(한남대) 안진태(강릉원주대) 양우탁(전북대) 양태종(동아대) 왕치현(인하대) 이민행(연세대) 이영석(경상대) 임홍배(서울대) 정경량(목원대) 탁선미(한양대) 한국독어독문학회 Koreanische Gesellschaft für Germanistik 학술지는 2012년도 정부재원 (교육과학기술부)으로 한국연구재단의 지원을 받아 출판되었음.

Transcript of Goethes Welten - Weltlichkeit und Weltliteratur in den Wahlverwandtschaften

DOGILMUNHAK

Koreanische Zeitschrift für Germanistik

제128집 54권 4호 2013년 12월

편집 원

이혜자(위원장, 군산대) 남유선(간사, 원광대)

김륜옥(성신여대) 송경안(전남대)

송 전(한남대) 안진태(강릉원주대)

양우탁(전북대) 양태종(동아대)

왕치현(인하대) 이민행(연세대)

이영석(경상대) 임홍배(서울대)

정경량(목원대) 탁선미(한양대)

한국독어독문학회

Koreanische Gesellschaft für Germanistik

이 학술지는 2012년도 정부재원(교육과학기술부)으로

한국연구재단의 지원을 받아 출 되었음.

Inhalt

D OGILM U N HA K B and 128 Jahrgang 54 Heft 4 D ezember 2013

Teil I B e iträg e z um 2 0 . S o rak-S y m po s ium 2 0 1 3

<Plenarvorträge>

Monika SCHMITZ-EMANS (Bochum Uni)

Landkarte und Atlas in literarischen Texten - Zur Darstellung von Räumen

bei Christoph Ransmayr (Atlas eines ängstlichen Mannes) und Judith

Schalansky (Atlas der abgelegenen Inseln) ·················································· 9

Monika SCHMITZ-EMANS (Bochum Uni)

Kulturvergleich und Kulturtransfer in Malerromanen der

Gegenwartsliteratur ······················································································ 29

Chieh CHIEN (Taiwan National-Uni)

Die Welt der Sprache bei Herta Müller ···················································· 51

Shinji MIYATA (Tokyo Uni)

Zur Figur des Fremden in der Chrono-Topographie Lichtenbergs ············ 77

TAK Sun-Mi (Hanyang Uni)

Das-fremde-Ich und der-vertraute-Andere - Zur kritischen Betrachtung

einer literarischen Phantasie in der globalisierten Welt, am Beispiel von

Hermann Hesses Siddhartha ······································································· 91

<Beiträge>

Anthony Curtis ADLER (Yonsei Uni)

Goethes Welten - Weltlichkeit und Weltliteratur in den

Wahlverwandtschaften ················································································ 115

AHN Mi-Hyun (Mokpo National-Uni)

Globale Stadt, lokales Leben - Eine Studie über Taxi von Karen

Duve ·········································································································· 139

CHANG Je-Hyung (Seoul National-Uni)

Das Nationale des deutschen Barock und dessen Dekonstruktion in

Walter Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels ························· 159

CHEON Hyun Soon (Ewha Frauen-Uni)

Die zukünftige Hybridkultur von Mensch und Roboter - Eine vergleichende

Untersuchung zu Fritz Langs und Rintaros Metropolis ··························· 181

Reinmar EMANS (Bochum/Hamburg Uni)

In Grenzen global - oder doch darüber hinaus? Internationales Leben an

den Welfenhöfen und den Residenzstädten im 17. und 18. Jahrhundert ···· 197

HAM Su-Ok (Chung-Ang Uni)

Transgenerationelle Traumatisierung durch den Kolonialismus

- Anna Kims Anatomie einer Nacht ························································ 219

KIM Ihmku (Seoul National-Uni)

Der koreanische Independent Film Zwei Striche im Schwangerschaftstest

(2011) - Ein Deutungsversuch im global-epochengeschichtlichen

Kontext ······································································································ 235

KIM Yeon-Soo (Ewha Frauen-Uni)

Herders Übersetzungslehre im Zeitalter der Globalisierung ····················· 253

LEE Kishik (Korea Uni)

Anatomie einer Nacht von Anna Kim - eine ostasiatische

Tuschmalerei Grönlands in schwarz-weiß ················································ 277

LEE Youngnam (Dongduk Frauen-Uni)

Heimat und Identität der koreanischen Diaspora in Deutschland ············ 293

W. Günther ROHR (Chung-Ang Uni)

Globalisierung aus historischer Sicht - Johann und Peter Simon

blicken nach Fernost ················································································· 309

Christoph SEIFENER (Korea Uni)

Heimatdarstellungen bei Andreas Maier und Peter Kurzeck

- Antworten auf die Globalisierung ·························································· 327

SHIN Hyun Sook (Seoul Frauen-Uni)

Fassbinders Welt am Draht, Komödie oder baldige Realität ·················· 347

Teil II Sonderbeiträge

Erik-Joachim JUNGK (Sogang Uni)

Die frühe Reiseliteratur Ernst Jüngers ······················································ 373

LEE Joon-Suh (Ewha Frauen-Uni)

Das Fortschreiben als “Dialog mit den Toten” - Thomas Freyers Im

Rücken die Stadt als Korrektur von Heiner Müllers Die Korrektur ······· 399

LEE Seong Joo (Sungkyunkwan Uni)

Dante auf dem Zauberberg ······································································· 421

PAK Schoro (Hanshin Uni)

“Im Fremden ungewollt zuhaus”, oder die Psychologie der Vertriebenen

- Zu Reinhard Jirgls Roman Die Unvollendeten ····································· 445

Tagungsbericht / Das 20. Sorak-Symposium 2013 ······································465

학회소식 신간도서 안내 ·········································································· 468

한국독어독문학회 연구윤리 규정 ································································· 474

한국독어독문학회 편집 원회 규정 ····························································· 477

�독일문학� 편집 규정 ·················································································· 479

�독일문학� 논문 투고 안내 ········································································· 482

�독일문학� 논문 작성 양식 ········································································· 484

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Goethes Welten

- Weltlichkeit und Weltliteratur in den Wahlverwandtschaften

Anthony Curtis ADLER (Yonsei Uni)

I. Schönes Leben

Der Begriff Weltliteratur wird vor allem im Sinn einer nicht mehr nationalistisch

begrenzten, sondern sich global ausbreitenden Literatur verstanden. Doch die

Weltliteratur hat bei Goethe vielleicht auch eine ganz andere, nicht ganz

offensichtliche, gleichsam unterirdische, unterweltliche Bedeutung: sie bezieht sich

nicht nur auf die weltweite Ausbreitung und Vermarktung der Literatur, sondern

auf die intensive Auseinandersetzung mit dem Weltbegriff selbst. Nach dieser Ansicht

hätte Goethe nicht nur den Begriff Weltliteratur vorgeschlagen, sondern den Faden

der Weltbildung durch die Literatur explizit und radikal wieder aufgenommen.

Im folgenden wird diese Behauptung durch eine Auslegung des Romans Die

Wahlverwandtschaften bekräftigt. Seit seiner Veröffentlichung in 1809 wurden Die

Wahlverwandtschaften als eins von Goethes geheimnisvollsten und am schwersten

zu verstehenden Werken betrachtet, ein Werk, das eine grosse Kontroverse und

manchmal grossen Unmut unter seinen Lesern erregt. Und nach Benjamins berühmtem

Aufsatz hat es auch einen schwindelerregenden Wirbel von Auslegungen nach sich

gezogen.1) Doch wird es sehr selten mit Bezug auf das Problem der Weltliteratur

gelesen. In den Wahlverwandtschaften ist die Welt eine eher periphere Angelegenheit

— sie untersteht einer bestimmten, ausdrücklichen Vergegenständlichung, indem

sie als etwas genannt wird, was draußen liegt, eine fast abstrakte gesellschaftliche

1) Zur Rezeptionsgeschichte des Romans, siehe Astrida Orle Tantillo, Goethe’s “Elective Affinities” and the Critics. Rochester N.Y. 2001.

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Macht. Es bleibt anscheinend möglich, keine Beziehung zur Welt zu haben, oder

wenigstens nur eine ablehnende. Der eigentliche Schauplatz des Romans, Eduards

Landgut, ist genau nicht die Welt, sondern eine kleine Gesellschaft von Freunden

und Freundinnen, Hausangestellten, und gelegentlichen Besuchern. Die Anwesenheit

der Welt in den Wahlverwandtschaften ist ganz unheimlich: die Welt, der die

Charaktere auch noch irgendwie angehören, erscheint ihnen gegenüber als etwas,

was aus dem Kreis ihres Lebens ausgeschlossen werden könnte — noch ein

unwillkommener, fragwürdiger Besucher. Vor allem kommt das bei dem Waisenkind

Ottilien, Charlottes Nichte, vor, deren Ankunft die schicksalhaften Begebenheiten

des Romans in Gang setzt. Von Anfang an hat Ottilie anscheinend nichts mit

der Welt zu tun. Wenn die Welt überhaupt in Beziehung mit ihr genannt wird,

nimmt sie eine entfremdete Exteriorität an: “Und wie sie in dem Umgang mit

Eduard die Welt vergass, so schien ihr in der Gegenwart des Grafen die Welt

erst recht wünschenswert zu sein.”2) Die Umheimlichkeit der Welt wird noch am

klarsten und mächtigsten in einem Eintrag aus ihrem Tagebuch ausgedrückt: “Man

weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich

nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.”3) Durch die Kunst, die zugleich ein

Ausweichen vor der Welt und eine Beziehung zu der Welt erlaubt, erscheint uns

die Welt in der Fülle ihrer Unheimlichkeit. Daher herrscht eine Stimmung der

Angst. Das Wort Welt in den Wahlverwandtschaften bezieht sich prinzipiell, wenn

auch nicht immer, auf die größere Welt von Individuen, die einem hohen

gesellschaftlichen Stand angehören, oder auch (wie bei Künstlern, Gelehrten,

Beamten) den Hohen irgendwie anhängen, und die miteinander vor allem dadurch

verbunden sind, dass sie ihre Zugehörigkeit zur Welt irgendwie gegenseitig

anerkennen. “Everyone who is anyone”: wie man auf Englisch sagt. In diesem

Sinne ist die Welt auch ein Bereich der öffentlichen Erscheinung in einer noch

feudalen Standesgesellschaft. Nur innerhalb der Welt kann man als Mensch in

vollstem Sinne erscheinen, zum Vorschein kommen. Dieser Sinn von Welt wird

2) Johann Wolfgang Goethe, Hamburger Ausgabe. München 1988, Bd. 6, S. 413. 3) Ebd., Bd. 6, S. 398.

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 117

am auffälligsten durch die Nebeneinanderstellung von Ottilien und Charlottes Tochter

Luciane, die beide dieselbe Pension besuchen und von Anfang an, in Berichten

der Vorsteherin und ihres Gehülfen, als ein auffallender Kontrast von Veranlagungen,

Charakter, und menschlichem Sein dargestellt werden. Und von Anfang an wird

die Gegensätzlichkeit in Hinsicht auf die Welt begriffen. Als Charlotte mit ihrem

Gatten Eduard die Möglichkeit, dass Ottilie bei ihnen wohnen könnte, zur Sprache

bringt, erklärt sie:

Wenn Luciane, meine Tochter, die für die Welt geboren ist, sich dort für die Welt

bildet, wenn sie Sprachen, Geschichtliches und was sonst von Kenntnissen ihr

mitgeteilt wird, so wie ihre Noten und Variationen vom Blatte weg spielt; wenn

bei einer lebhaften Natur und bei einem glücklichen Gedächtnis sie, man möchte

wohl sagen, alles vergisst und im Augenblicke sich an alles erinnert; wenn sie

durch Freiheit des Betragens, Anmut im Tanze, schickliche Bequemlichkeit des

Gesprächs sich vor allen auszeichnet und durch ein angeborenes herrschendes

Wesen sich zur Königin des kleinen Kreises macht…so ist dagegen, was sie

schliesslich von Ottilien erwähnt, nur immer Entschuldigung auf Entschuldigung,

dass ein übrigens so schön heranwachsendes Mädchen sich nicht entwickeln, keine

Fähigkeiten und keine Fertigkeiten zeigen wolle.4)

Während die Vorsteherin Luciane bis zur Vergötterung lobt, findet Ottilie ihren

Fürsprecher in dem Gehülfen, der, in einem beigelegten Bericht, schreibt: “aber

es gibt auch verschlossene Früchte, die erst die rechten, kernhaften sind und die

sich früher oder später zu einem schönen Leben entwickeln.”5)

Was heißt Welt? Was ist die Welt in ihrem Wesen? Durch diesen Kontrast

zwischen Einer, die für die Welt geboren ist, und einer Anderen, die für etwas

ganz anderes gemacht wurde, vernehmen wir eine Antwort. Die Welt ist von ihrer

Erschlossenheit, ihrer Öffentlichkeit her charakterisiert. Die Welt ist da, wo Sachen

und Menschen erscheinen, zum Vorschein kommen können, und zwar, wo alles

erscheinen muß: wo Fähigkeiten, Vermögen als Fertigkeiten erscheinen müssen.

4) Ebd., Bd. 6, S. 251. 5) Ebd., Bd. 6, S. 264.

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Das Wort Fertigkeit in der oben zitierten Passage ist besonders bedeutungsvoll.

Man könnte es als entelecheia übersetzen — das heißt: eine Anlage, die sich realisiert

hat, nicht, indem sie wirklich ausgeübt wurde, sondern in dem Sinne, dass sie

sich zu einer inneren Vollkommenheit entwickelt hat und deswegen sich durch

konkrete Auswirkungen, konkrete Taten darstellen darf. Diese Erschlossenheit

charakterisiert die Welt, indem die Welt prinzipiell als das Miteinandersein von

Menschen, die sich gegenseitig als “bedeutende Menschen” anerkennen, verstanden

wird. Genau diese äußerliche, öffentliche Anerkennung der inneren, “geistigen”

Eigenschaften und Anlagen fordert, dass sich diese Anlagen in einer Fülle

verwirklichen, wodurch sie öffentlich offenbar werden dürfen.

Ottiliens Schönheit weist auf eine ganz andere Weise hin, dadurch etwas offenbar

werden könnte. Eine Fertigkeit zeigt sich nur, indem sich ihre Potentialität erschöpft.

Ein Vermögen kann nur eine Fertigkeit werden, wenn es sich so und in dem

Grad verwirklicht, dass es einen Mangel an zukünftiger Möglichkeit — eine

Abgeschlossenheit und fast tödliche Vollkommenheit — aufweist. Otteliens

Schönheit ist dagegen Zeichen, Symbol, für eine Potentialität — vor allem in

Geschlechtsverkehr und Schwangerschaft (ihr romanhaftes Geschick) — die nicht

nur unverwirklicht bleibt, sondern notwendigerweise, nach einer kulturellen Logik

der weiblichen Bescheidenheit und Verhaltenheit, verborgen bleiben muß. Es ist

nicht Kants desinteressierte Schönheit der rein ästhetischen Erfahrung, sondern

die höchst “interessierte” Schönheit der heiratsfähigen Jungfrau, die Heideggers

Auslegung des Kunstwerkes als Streit zwischen Unverborgenheit und Verborgenheit,

Welt und Erde antizipiert. Daher verweist Ottilie in den Augen ihrer männlichen

Bewunderer auf die heilige Jungfrau, die sie in dem tableaux vivant darstellt. Die

Schönheit, die Ottilie verkörpert, heißt schönes Leben. Die Bedeutung dieses

Syntagmas wird klar, als sie auf dem Landgut Eduards und Charlottes ankommt

und sich ihre in der Pension gänzlich verborgenen Anlagen als höchst wertvoll

zu zeigen beginnen: “Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke,

wie es mit dem Hausgeschäfte zu halten sei. Ottilie hat schnell die ganze Ordnung

eingesehen, ja, was noch mehr ist, empfunden [...] Alles geschah pünktlich. Sie

wusste anzuordnen, ohne dass sie zu befehlen schien, und wo jemand säumte,

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 119

verrichtete sie das Geschäft gleich selbst.”6) Innerhalb der textuellen Logik der

Wahlverwandtschaften ist Ottiliens außergewöhnlicher, fast unheimlicher Sinn für

häusliche ökonomische Ordnung gleichsam eine virtuose Domestizität, von einem

Stück mit ihrem Mangel an Fertigkeiten, ihrem Unweltlichsein, und ihrer Unfähigkeit,

sich unter ihren Schulgenossinnen auszuzeichnen und zu glänzen oder überhaupt

als irgend jemand zu erscheinen. Der Grund davon liegt darin, dass das Geschäft

des Haushalts, die häusliche Ordnung, die Ottilie mit wenigen Winken vollkommen

begreift und durchschaut, genau das Gegenteil von Welt ist: sei die Welt der Bereich

von plötzlichen, augenblicklichen, dramatischen Erscheinungen und Auftritten —

der Ort wo Sachen und Menschen als das erscheinen, was sie sind —, ist die

häusliche Ordnung dagegen die verborgene, immer-weiter-laufende Sorge für Sachen

und Menschen. Sie ist das schöne Leben, das, in Dunkel versunken, hinter und

unter der Welt liegt, und doch die Welt von unter her unterstützt und aufrechthält.7)

Es ist, nach der von Arendt, Agamben (und auch Heidegger) erwähnten aus der

griechischen Sprache stammenden Unterscheidung, zoē und nicht bios: kein

besonders, qualifiziertes, menschliches Leben (Aristoteles spricht von bios politikos

und bios theoretikos), keine Art des Lebens, sondern das allgemeine Leben, an

dem alle Lebewesen teilhaben. Ottilie stellt das Paradigma der im 18ten Jahrhundert

neu aufkeimenden biopolitischen Subjektivität dar. Ohne dass sie zu befehlen scheint,

ordnet sie alles an; ohne dass sie auf dem Unterschied besteht, ersetzt sie selbst

die fehlende Arbeit ihrer Untergebenen. Ottilie weiß genau, wie man kann alles

anordnen und verrichten, ohne den Anschein der Herrschaft zu geben. Ihre

anordnende Tätigkeit wird gleichsam eins mit der Ordnung des metabolischen,

“biologischen,” natürlichen Lebens. Ordnung ist nicht mehr hierarchisch, sondern

rhythmisch, fließend, musikalisch und choreographisch: hier auch ahnt man die

zukünftige Entwicklung des Kapitalismus. Ottiliens Dienstfertigkeit, Verhaltenheit,

6) Ebd., Bd. 6, S. 282.7) Zur Thema der Ökonomie in den Wahlverwandtschaften, vgl. Joseph Vogl, “Nomos der Ökonomie:

Steuerungen in Goethes ‘Wahlverwandtschaften.’” MLN 114:3 (1999), S. 503-527; Joseph Vogl, “Goethes ökonomischer Mensch.” In: Erzählen und Wissen: Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes “Wahlverwandtschaften,” hrsg. v. Gabriele Brandstetter. Freiburg im Breisgau 2003, S. 241-257.

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und Empfänglichkeit sind nicht nur Aspekte einer stereotypischen “weiblichen”

Passivität, sondern Beherrschung des Lebens. Durch ein “angebornes herrschendes

Wesen” hat Luciane sich zur Königin des kleinen Kreises gemacht. Ottilie dagegen

war “indessen,” d.h. ohne das jemand es gemerkt, “schon völlig Herrin des

Haushaltes.”8) Hier vollzieht sich die vollkommene Trennung zwischen prunkvoll

erscheinendem Königtum und regierender, anordnender Gewalt.

II. Affenbilder

Ottiliens Begabung für die häuslichen Angelegenheiten, ihre virtuose Handhabung

der Hauswirtschaft ist innigst verbunden mit ihrer Beziehung zur Zeitlichkeit, ihrer

Weise des In-der-Zeit-Seins. Bei ihrem glücklichen Gedächtnis kann Luciane alles

vergessen und im Augenblick sich an alles erinnern, als ob sie vom Moment zum

Moment lebte, ohne dass sie, von einem unwillkürlichen und eher empfänglichen

Gedächtnis gezwungen, die hinter der Oberfläche liegenden Verbindungen zwischen

den Dingen, sowie ihren verborgenen Sinn, vernimmt oder eben nur ahnt. Ottilie

dagegen existiert nicht nur in der Gegenwart, sondern, bei ihren heimsuchenden

Erinnerungen und dunklen Vorahnungen, auch und vor allem in der Zukunft und

der Vergangenheit. Sobald Luciane die strukturierte Umgebung der Pension verläßt,

in der Fertigkeiten ständig zur Schau gestellt werden müssen, ohne Sinn für den

weiteren Zusammenhang und ihre innewohnenden Beziehungen zu einander, wird

ihr angeborenes herrschendes Wesen zum Unwesen. Luciane hat überhaupt keinen

Sinn für den kairos: die kritische Stunde und Jahreszeit.9) Für die Arbeit eines

Gärtners, die, mehr als jede andere “eine[n] ruhige[n] Blick, eine stille Konsequenz,

in jeder Jahreszeit, in jeder Stunde das ganz Gehörige zu tun” benötigt, besitzt

Ottilie eine besondere Verwandtschaft. Dagegen hat Luciane, in der ungeregelten

8) Ebd., Bd. 6, S. 296.9) Joseph Vogl bemerkt, dass die Zeit des Erzählens des Romans auch immer die “richtige Zeit”

verfehlt. [“Nomos der Ökonomie: Steuerungen in Goethes ‘Wahlverwandtschaften.’” MLN 114:3 (1999), S. 503-527, hier S. 508]

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 121

Wildheit ihrer bizarren Launen und unzeitigen Forderungen, eine zerstörende

Wirkung auf den Garten.10)

Die Welt, wie schon bemerkt, ist die öffentliche Sphäre der Anerkennung: die

Sphäre, in der Menschen und Dinge, als genau die Seienden, die sie sind, erscheinen

können. Genau das hat alles zu tun mit der Zeitlichkeit der Welt, wie sie in Lucianes

fast unmenschlich glücklichem, unheimgesuchtem und ahnungslosem Gedächtnis

dargestellt wird. Solcherart weltliche Erkenntnis ist nur möglich, wenn Seiende

aus dem Zusammenhang der Bedeutungsganzheit der Welt (im Sinne Heideggers),

der Geschichte und ihrer weiterlaufenden Bildung herausgerissen sind. Damit etwas

als etwas erscheinen kann (als Vorhandenes, könnten wir sagen), muß es in einer

bestimmten Fertigkeit erscheinen, als fertiggemacht. Und auch als Nachahmung

eines anderen Dinges. Die Fertigkeit ist selbst immer die Nachahmung einer

vorherseienden Form. Nur als Nachahmung kann die Fertigkeit offenbar werden.

Das Wesen der Welt, in diesem Sinne, ist ihre Nachbildlichkeit; alles, was erscheint,

ist schon Nachbildung eines anderen. Lucianes eigenste Begabungen — Begabungen,

die der ganzen Welt gefallen müssen — sind im Wesen vollkommen imitativ.11)

Charakteristisch in diesem Sinne ist ihr Umgang mit Kleidung. Sie hat keinen

Sinn für die Angemessenheit ihrer Kleidung in Hinsicht auf ihre Tätigkeiten und

das Wetter.12) Der Gebrauchswert von Kleidung als Schutz des Körpers fällt ihr

nicht einmal ein. Für sie existiert Kleidung nur um der Verkleidung willen; sie

kleidet sich anscheinend nur, um sich als anderer Menschentyp (Bäuerin, Fischerin,

Fee, Blumenmädchen, auch alte Frau) zu verkleiden. Doch vielleicht das schlagendste

Zeichen für Lucianes mimetische Natur ist ihre Neigung zu Affen. Als ihre Mutter

ihr ein Bilderbuch zeigt, in dem Affen abgebildet sind, nachdem Luciane bedauert,

dass sie ihren Affen nicht mitgebracht hat, findet sie ungemeines Vergnügen darin,

in jedem Affen die Ähnlichkeit mit einem ihr bekannten Menschen zu entdecken.

Ihr Vergnügen ist genau das, was Aristoteles in seiner Poetik behauptet, nämlich

dass der Mensch von Natur aus mimetisch ist. Es ist das Vergnügen des

10) Johann Wolfgang Goethe, Hamburger Ausgabe. München 1988, Bd. 6, S. 423-424.11) Ebd., Bd. 6, S. 395.12) Ebd., Bd. 6, S. 377.

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Wiedererkennens, das wir empfinden, wenn wir in einer Abbildung die Ähnlichkeit

mit einem Ding bemerken, das uns vorher schon begegnet ist. Doch das, was

Luciane in den Affenbildern sieht, ist keine eigentliche Ähnlichkeit mit Menschen,

sondern nur eine Nachäffung — das Werk eines Künstlers, der, die Menschen

durch Affen abbildend, nur beweist, dass er selber das Menschliche nicht sehen

kann, und in den Menschen nur ein Nachäffendes, Affenartiges, kennt.13) Was

nachgeahmt und nachgeäfft wird, ist etwas, was nur als Nachahmung existiert:

die Weltlichkeit der Welt.

Das bringt uns zu dem entscheidenden Punkt. Die Welt der Wahlverwandtschaften

muß hinsichtlich einer theologischen Charakteristik verstanden werden. Es ist ein

Geschöpfsein ohne Ursprung und Urbild; eine von ihrem Schöpfer verlassene,

entfremdete Schöpfung. Doch diese Welt ist nicht der Ort, wo die Begebenheiten

des Romans stattfinden, sondern parodierender Anhang. Luciane kommt an, die

Welt mit sich nachschleppend, und geht wieder weg; sie zieht von einem Landgut

zum anderen, bis sie sich endlich dem Zentrum der Welt, der Residenz des Fürsten,

nähert, nur um sich abzuwenden. Ihr Erscheinen, einem Kometen gleich, bekundet

eine Zäsur in dem Roman, und doch hat es fast keine Wirkung auf den eigentlichen

Gang der Ereignisse. So nehmen die Wahlverwandtschaften die Welt auf, um sie

zu depotenzieren, dass sie in ihrer Leere erscheint. In einem Gestus, den Kafka

erahnte und mit der größten Folgerichtigkeit ausführte, entdeckt der Roman die

Impotenz einer jeden Fertigkeit — die Nichtigkeit von allem, was eine bestimmte,

fertige Form angenommen hat. Doch zugleich, und darauf kommt es bei dieser

ganzen Lektüre an, weist sie auch auf eine andere Welt hin, die natürliche Welt.

Ottiliens schönes Leben, wie schon bemerkt, stellt die innersten Zügen dieser

natürlichen Welt dar. Vor allem aber wird sie mit dem Leben auf dem Landgut

und dem Landgut selber identifiziert. Dieses Leben besteht vor allem darin, dass

13) Vgl. Brigitte Peucker, “The Material Image in Goethe’s ‘Wahlverwandtschaften.’” Germanic Review 74: 3 (1999), S. 195-213; Elizabeth Boa, “Aping and Parroting — Imitative Performance in Goethe’s Die Wahlverwandtschaften.” In: Performance and Performativity in German Cultural Studies, hrsg. v. Carolin Duttlinger/ Lucia Ruprecht/ Andrew Webber. Bern 2003, S. 21-40, hier S. 19; Dorothea von Mücke, “The Power of Images in Goethe’s Elective Affinities.” Studies in Eighteenth Century Culture 40 (2011), S. 63-81.

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 123

man an dem Garten arbeitet und das bloß natürliche Leben bildet, das natürliches

Wachstum nach menschlichen Zwecken heranbildend. So erscheint Eduard schon

im ersten Satz des Romans in seiner Baumschule, wo er “frisch erhaltene Pfropfreiser

auf junge Stämme bringt.”14) Wenn Luciane und ihre Welt ein vom Ursprung

entferntes, entwurzeltes Geschöpf ist, so spielt Eduard, als er die Zeit in seinem

eigenen Paradies zubringt und den Stämmen und Wurzeln neues Wachstum

zurückbringt, die Rolle des Schöpfergottes: “Sein Geschäft war eben vollendet;

er legte die Gerätschaften in das Futteral zusammen und betrachtete seine Arbeit

mit Vergnügen, als der Gärtner hinzutrat und sich an dem teilnehmenden Fleisse

des Herrn ergetzte.”15) Doch hier ist der Herr nicht eigentlich Herr. Der Gärtner,

der sich “an dem teilnehmenden Fleiße des Herrn” ergetzt, scheint über dem Herrn

zu stehen, den er beobachtet. Daher der kritische Punkt, um den sich die Tragödie

des Romans dreht: eine Tragödie, die vielleicht weniger mit sexuellen Sitten und

der Ehe zu tun hat als mit der Unmöglichkeit, die natürliche Welt als eine bewohnbare,

völlig menschliche Welt in Anspruch zu nehmen. Obwohl Eduard als Eigentümer

der Herr des Landguts ist, vermag er nicht, sich dieses unnatürliche, bloß gesetzliche

Eigentum (ein Eigentum, das von gegenseitiger Anerkennung abhängt) als ein

natürliches Eigentum anzueignen. Die natürliche Welt widersteht dem menschlichen

Aneignen. Vom ersten Anfang an wird seine eigentliche Herrschaft von denen

in Frage gestellt, die eigentlich nichts haben.

Das erklärt die seltsame Rolle von Eduards Freund, dem Hauptmann, der, sobald

er ankommt, das Projekt unternimmt, das Landgut zu vermessen und eine

topographische Karte zu erstellen. Diese Karte verspricht, nichts wenigeres zu leisten,

als zwischen natürlichem und gesetzlichem Eigentum zu vermitteln, indem sie

eine formale Darstellung der natürlichen Eigenschaften von Eduards Land liefert,

die in einem einzigen, alles überschauenden Blick aufgenommen werden kann.

Als die Karte nach und nach entsteht, sieht Eduard “seine Besitzungen auf das

deutlichste aus dem Papier wie eine neue Schöpfung hervorgewachsen. Er glaubte

14) Johann Wolfgang Goethe, Hamburger Ausgabe. München 1988, Bd. 6, S. 242.15) Ebd., Bd. 6, S. 242.

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sie jetzt erst kennenzulernen, sie schienen ihm jetzt erst recht zu gehören.”16) In

genau dem Moment, als seine Besitzungen zum ersten Mal ihm zu gehören scheinen

und er völlig Herr wird, wird seine Herrschaft in Frage gestellt. Seine Besitzungen

wachsen als eine neue Schöpfung hervor, doch der Schöpfer dieser Schöpfung

ist nicht er, sondern der Hauptmann. Eduard ist auf einen bloßen Gehülfen reduziert:

Der Hauptmann “unterrichtete Eduarden, einige Jäger und Bauern, die ihm bei

dem Geschäft behülflich sein sollten.”17) Die bedrohende Gefahr der Enteignung

reicht bis in Eduards intimstes Eigentum hinein, sein eigenes Selbst. Ungeduldig

und missmutig, als seine Frau ihm beim Lesen in das Buch sieht, verweist er

es ihr: “Wenn ich jemand vorlese, ist es denn nicht, als wenn ich ihm mündlich

etwas vortrüge? Das Geschriebene, das Gedruckte tritt an die Stelle meines eigenen

Sinnes, meines eigenen Herzens [...] Wenn mir jemand ins Buch sieht, so ist mir

immer, als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde.”18) Das gedruckte, geschriebene

Zeichen, in seiner vorstellenden, repräsentierenden Funktion, schadet dem

ursprünglichen Eigentum des Selbst. Doch ohne diese ursprüngliche Enteignung

des Eigentlichen wäre die gesellschaftliche Anerkennung des Eigentums, und seine

Verwandlung von Natürlichem in das Rechtliche, unmöglich. Das deutet auf eine

noch radikalere Weise auf die Rolle der Nachahmung in der unnatürlichen,

gesellschaftlichen, auf Konventionen begründeten Welt hin, die Luciane auf

exemplarische Weise bewohnt. Konstitutiv für diese Welt ist das Tilgen der

Singularität des natürlichen Ereignisses durch die Wiederholbarkeit des

geschriebenen Zeichens.

Ottilie weist auf einen Ausweg aus dieser Aporie hin. Genau deswegen hat

sie so eine große Bedeutung für Eduard. Dieses ist der Grund einer Liebe, der

vielleicht nur oberflächlich geheimnisvoll bleibt. Ottiliens Schönheit, meinten wir

schon, ist schönes Leben: es ist Leben als verborgene Potentialität, durch die negative

Struktur der Signifikation offenbar gemacht. Auf gerade diese Weise, d.h. als die

Verkörperung dieser parodoxen Struktur der Signifikation, verpricht sie den Abgrund

16) Ebd., Bd. 6, S. 261.17) Ebd., Bd. 6, S. 261.18) Ebd., Bd. 6, S. 269.

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 125

zwischen natürlichem und rechtlichem Eigentum zu überbrücken. Ottilie wird die

eigentümlichen Potenzen der Natur explizit und offenbar werden lassen. Diese

Versprechung kommt an den Tag durch ein Ereignis, das, indem es Eduard Ottiliens

Liebe offenbart, einen Wendepunkt in den Roman markiert. Ottile schreibt eine

zweite Kopie eines Kontrakts ab. Es geht bei dem Original, das in Eduards Hand

geschrieben ist, um den teilweisen Verkauf von Eduards Landgut, um neue Projekte,

die mit dem Landgut unternommen werden, zu finanzieren. Während die ersten

Seiten “mit der größten Sorgfalt” in Ottiliens zarter, weiblicher Hand abgeschrieben

werden, scheinen sich die Züge ihrer Handschrift nach und nach zu verändern.

Sie werden leichter und freier, “[u]nd wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten

mit den Augen überlief. ‘Um Gottes willen!’ rief er aus, ‘was ist das? Das ist

meine Hand!’” Hätte das schriftliche Zeichen ihn vorher mit der Enteignung seines

eigensten Selbst bedroht, ist jetzt sein Selbst ihm selber zurückgebracht und auf

unheimliche Weise heimgekehrt. Die entfremdende Macht der Schrift wird das

Mittel der Nachahmung von genau dem Ding, das unter allen Dingen in der Welt

am eigensten ihm gehört: seine Hand, seine Schrift und Unterschrift. Hier gibt

es eine doppelte Enteignung, indem die Hand, die gesetzlich autorisiert ist, das

Dokument zu verfassen, das sein Eigentum enteignen wird, die Hand einer anderen

wird. Dadurch wird Eduard seines eigenen natürlichen Wesens, der Spur der

Eigentümlichkeit, die von dem Gesetz um seiner verallgemeinernden Ordnung willen

genötigt wird, enteignet. Auf diese Weise werden Gesetz und Natur eins. Oder

wenigstens fast eins. Liebe bleibt nur die Versprechung einer bestimmten Einheit

und Erfüllung. Deshalb bleibt die Liebe zwischen Eduard und Ottilien, die auf

eine emphatische Weise das verspricht, was alle Liebe verspricht — nämlich die

Versöhnung von Natur und Geist, Natur und Gesetz —, ohne durch die Ehe geheiligt

zu werden, nur die natürliche und noch nicht die gesetzliche Versöhnung zwischen

Natur und Gesetz.

Was es Ottilie ermöglicht, diese auch nur partielle Versöhnung zu leisten, wird

in der oben zitierten Szene angedeutet. Als Eduard den abgeschriebenen Kontrakt

mit seinen Augen überläuft, hat er eine besondere Erfahrung, die man avant la

lettre grammophonisch nennen könnte: die sich verändernde Qualität der

126 독일문학∣제128집

Bewegungen ihrer Hand, eine Änderung, die während des Abschreibens stattfindet,

wird ihm gleichsam zurückgespielt. Ein Zeitbild entsteht. Ottiliens Wesen hat also

eine besonders nahe Beziehung zur Zeit und zum Werden. Das ist vielleicht alles,

was wir über ihre Schönheit wissen, die sonst so abstrakt bleibt. Während Lucianes

Schönheit am strahlendsten erscheint, als sie still steht — sonst wird sie fast unanmutig

—, ist Ottiliens Schönheit, um mit Schiller zu sprechen, eine bewegende Schönheit.

Es ist eine Schönheit, die eben innigst und untrennbar mit Ottiliens außerordentlichem

rhythmischem Sinn und Timing verflochten ist. Genau das erlaubt es ihr, Potentialität

zu verwirklichen, zu potenzieren, ohne sie auf eine Fertigkeit zu reduzieren. So

allein vermag sie das Werden selbst in seinem Werden darzustellen. Als sie ihren

Flöte spielenden Gatten musikalisch begleitet, der selber, ohne Geduld oder Ausdauer

zur richtigen Ausbildung eines musikalischen Talents, häufiger in einem falschen

Tempo spielte, wußte Charlotte zwar, indem sie “die doppelte Pflicht eines guten

Kapellmeisters und einer klugen Hausfrau versah, das Maß des Ganzen zu erhalten,

wenn auch die einzelnen Passagen nicht immer im Takt bleiben sollten.”19) Ottilie

dagegen passt sich nicht nur oberflächlich Eduards idiosynkratischer Spielart an:

“[s]ie hatte seine Mängel so zu den ihrigen gemacht, dass daraus wieder eine

Art von lebendigen Ganzen entsprang, das sich zwar nicht taktgemäss bewegte,

aber doch Höchst angenehm und gefällig lautete.”20) Nach der Logik des Textes

gehört es zum innersten Wesen der Frau, den mangelnden Zeitsinn des Mannes

zu ergänzen, zu kompensieren, zu supplementieren. In diesem Sinne ist Luciane

fast gar keine Frau, Charlotte eine gute Frau, und Ottilie fast göttlich, indem sie

den Zeitmangel des Mannes nicht nur kompensiert, sondern verklärt, ohne seine

Eigenartigkeit zu verdecken. Der Mann kommt in der Welt vor, indem er sich

in seiner Eigentümlichkeit, seiner Exzentrizität, seiner Überspanntheit und sogar

seinen Ausschweifungen zeigen läßt. Vielleicht ist die Welt im Grund nichts anderes

als die Gesamtheit dieser exzentrischen Bahnen. Die Rechtzeitigkeit und

Zeitgerechtheit der Frau fügt diese männlichen Ausschweifungen wieder in eine

19) Ebd., Bd. 6, S. 257.20) Ebd., Bd. 6, S. 297.

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 127

fließende, graziöse Ordnung ein. Daher hat Ottiliens Rechtzeitigkeit fast messianische

Dimensionen. Bei den Männern, bei der männlichen Herrschaft, ist die Zeit immer

aus den Fugen geraten. Der Staat selbst bezieht sich auf die fließende Zeit der

Natur als Ausnahme. Die Frau dagegen hält und heilt die Zeit. Nur innerhalb

der Zeit, nur mit der Zeit, könnte die Natur, und auch die menschliche Natur,

allmählich den Menschen zu gehören anfangen, um eine Welt zu werden, in der

das Leben möglich wäre. Diese Verwandlung ist der Sinn der Geschichte, ist Bildung,

die nicht nur als Selbstbildung zu verstehen ist, sondern als die Erschließung und

Offenbarung, die Veröffentlichung von Potentialität als Potentialität. In diesem

Sinn darf Goethe behaupten, dass sich eine Weltliteratur bilde. Es geht hier nicht

um eine historische Teleologie, wie bei Schiller und Hegel, sondern um eine

Rückführung in die Verfügung der Zeit.

III. Das Unnachahmliche nachzuahmen

Während der erste Teil der Wahlverwandtschaften eher einen räumlichen Charakter

hat, insofern die topographische Karte als vereinendes Motiv dient, wird im zweiten

Teil die Dimension der Zeit vorherrschend. Das tableaux vivant bietet den Übergang,

indem es die Überlegenheit der bewegenden, unendlichen, romantischen Schönheit

Ottiliens über die statische, klassische Schönheit Lucianes entscheidend beweist.21)

Doch die Zeitlichkeit, die jetzt herrscht, ist tragisch.22) Der Tod streift den ersten

Teil des Romans nur leicht: der Knabe, wegen Eduards Nachlässigkeit fast ertrunken,

wird wieder zum Leben erweckt. Verwüstend behauptet der Tod im zweiten Buch

seine Rechte: zuerst an Charlottes Kind Otto, dessen Ertrinkung sich unheimlich

21) Vgl. Norbert Puszkar, “Frauen und Bilder — Luciane und Ottilie.” Neophilologus 73: 3 (1989), S. 397-410.

22) Zur innigsten Beziehung zwischen tableaux vivant und Zeitlichkeit siehe Claudia Öhlschläger, “‘Kunstgriffe’ oder Poesis der Mortifikation: Zur Aporie des ‘erfüllten’ Augenblicks in Goethes “Wahlverwandtschaften”.” In: Erzählen und Wissen: Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes “Wahlverwandtschaften,” hrsg. v. Gabriele Brandstetter. Freiburg im Breisgau 2003, S. 187-203.

128 독일문학∣제128집

ahnen ließ, dann an Ottilien und Eduard. Zeit und Geschichte, so scheint es, dürfen

nur existieren, insofern sich die Endlichkeit brutal in die natürliche und

gesellschaftliche Ordnung einschneidet. Tod, die menschliche Endlichkeit, entsteht

aus dem Zusammenstoß von der Raümlichkeit der Männer und der Zeitlichkeit

der Frauen. Oder: es sind Tod und Endlichkeit als äußerste Grenze menschlicher

Möglichkeit, die zwischen dem schönen Leben der Natur und der weltlichen Ordnung

der Erkennbarkeit und Sichtbarkeit vermitteln. Geschichte in diesem Sinne ist das

notwendige Versagen von dem, was sie zu versprechen scheint: das Erschaffen

einer neuen, natürlichen, doch auch menschlichen Welt, in der es möglich wäre,

als Potentialität und nicht als Fertigkeit zu erscheinen. Pontentialität vermag nur

zu erscheinen mit Bezug auf den Tod als äußerste Möglichkeit — d.h. radikale

Unmöglichkeit.

Das Schicksalhafte an Ottiliens Existenz, ihrer tragischen Versprechung, wird

offenbar durch eine merkwürdige Inversion, und Perversion, der Ordnung der Dinge:

ihr Kind — das Kind, das ihr ähnelt — ist nicht nur vor dem Vollzug ihrer Liebe

zu Eduard geboren, sondern, anstatt dass seine Geburt eine höhere Vereinigung

der Liebhaber darstellt, wird der Vollzug der Liebe antizipiert, und gleichsam

proleptisch ausgeschloßen, durch den unnatürlichen Tod des Kindes. Zudem steht

dieses Kind in naher Verbindung mit einer anderen Welt, einer natürlichen Welt

innewohnender Bedeutsamkeit. Die Welt wird zweimal in Verbindung mit dem

Kind erwähnt, und jedes Mal hat sie nichts mehr mit dem Element der

gesellschaftlichen Anerkennung zu tun. Durch das Kind erhält Charlotte “einen

neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz.”23) Noch erleuchtender ist das

folgende Gespräch zwischen Eduard und Ottilien, die das Kind, unmittelbar vor

seinem Tod, besorgt:

„ist dies nicht die Bildung des Majors? Solch ein Gleichen habe ich nie gesehen.‟

„Nicht doch!‟ versetzte Ottilie; „alle Welt sagt, es gleiche mir.‟ — „Wäre es

möglich?‟ versetzte Eduard, und in dem Augenblick schlug das Kind die Augen

auf, zwei große, schwarze, durchdringende Augen, tief und freundlich. Der Knabe

23) Johann Wolfgang Goethe, Hamburger Ausgabe. Bd. 6, S. 427.

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 129

sah die Welt schon so verständig an; er schien die beiden zu kennen, die vor ihm

standen. Eduard warf sich bei dem Kinde nieder, er kniete zweimal vor Ottilien.

„Du bists!‟ rief er aus, „Deine Augen sinds. Ach! aber laß mich einen Schleier

werfen über jene unselige Stunde, die diesem Wesen das Dasein gab.24)

Hier stoßen die zwei Bedeutungen von Welt zusammen. Die von Ottilien genannte

Welt ist die gesellschaftliche Welt — die Welt, die aus der Kraft, Ähnlichkeiten

und nur immer Ähnlichkeiten zu erkennen, besteht. Hier könnte man “alle Welt”

mit “man” ersetzen: die Welt ist einfach das Man. Doch in dem Augenblick, als

das Kind seine Augen aufschlägt, wird eine andere Welt erblickt: eine Welt, die

auf den ersten Blick nichts mit der Gesellschaft und ihrer unendlich sich

reflektierenden Anerkennung zu tun hat. Die Ähnlichkeit zu Ottilien, von aller

Welt erkannt, beruht in den Augen, doch nicht dem bloßen Aussehen nach, sondern

insofern sie selber in eine andere Welt hineinzublicken scheinen. Diese andere

Welt ist die Welt der Dinge, die in ihrer Potentialität gekannt werden. Daher wird

es möglich, die Welt mit einem tiefen, freundlichen Verständnis anzusehen: d.h.

mit einer Empfänglichkeit, die die Dinge nicht nur als abgeschlossen und abgefertigt,

als Fertigkeiten vernimmt, als ob sie dem und dem schon Bestehenden ähnlich

wären. Das Kind sieht eine Welt an, die wesentlich mit der Potentialität seines

Sehvermögens verwandt ist. Doch gerade als Eduard durch die eine Welt in die

andere hineinschaut, drückt er seinen Wunsch aus, einen Schleier über die Stunde,

die dem Kind Leben bescherte, zu werfen. Es ist als ob er die innewohnende

Verkehrung der geschichtlichen Zeit nicht akzeptieren könnte. Er kann nicht

akzeptieren, dass diese neue wahrhafte Welt nur aus der falschen Ordnung der

Bilder geboren werden könnte.

Das Paradoxe an Ottiliens Dasein und an der Geschichte selber, läuft auf dieses

hinaus: Bildung, die Versprechung der Geschichte — die Kultivierung und Formung

der Natur in eine völlig menschliche, auf Dauer bedachte, wohlgeordnete Welt

— wäre nur möglich durch den Einbruch einer radikalen Unterbrechung des

Zeitverlaufs. Geschichte ist niemals nur ein natürlicher Prozess. Ottilie sagt genau

24) Ebd., Bd. 6, S. 455.

130 독일문학∣제128집

das, als sie in ihr Tagebuch schreibt: “Alles Vollkommene in seiner Art muß

über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, Unvergleichbares werden.”25)

Die Vollkommenheit der Art ist immer eine Art Unart, Entartung. Teleologie,

wenn man von so etwas noch sprechen kann, ist niemals nur die langsame Erfüllung

der Art, sondern ihre Überwindung: “Entweder das Gegenwärtige hält uns mit

Gewalt an sich, oder wir verlieren uns in die Vergangenheit und suchen das völlig

Verlorene [...] Selbst in großen und reichen Familien [...] pflegt es so zu gehen,

dass man des Großvaters mehr als des Vaters gedenkt.”26) Der Gehülfe wird zu

diesen Gedanken geführt, als er beobachtet, daß die schöne Reihe von Lindenbäumen,

die von Eduards Vater gepflanzt wurden, genau in der Zeit, “da sie erst anerkannt

und genossen werden sollten,” von niemandem mehr beachtet wurde. Anerkannt

und genossen wird ist eigentlich nur das, was noch nicht reif oder doch schon

überreif ist. Die Blütezeit sei gleichsam eine Unzeit. Wäre der Übergang von der

natürlichen Welt in die gesellschaftliche Welt noch möglich, dürfte es weder die

leere Zeit dieser Welt noch die lückenlose Zeit jener sein, sondern eine Zeit, die,

indem sie Generationen überspringt, das plötzliche Erscheinen des scheinbar

Verlorenen ermöglicht.

Auf gerade diese Weise führt die Geschichte selber, trotz der Versprechung

der Offenbarung der reinen Potentialität, die Kraft der Nachahmung wieder ein.

Es geht nicht mehr um die unendliche Regression der Nachahmung, die die

Affenartigkeit der gesellschaftlichen Welt charakterisiert. Eher geht es um die

Tatsache, dass das Neue, obgleich in seiner Neuheit und unendlichen Potentialität

erkannt und trotz des stets ablaufenden Prozesses der naürlichen Bildung, doch

unvermeidlich wieder eine Wiederholung eines vergangenen Augenblicks werden

wird. Potentialität erscheint im Moment der Diskontinuität, des Bruchs, doch die

Unterbrechungen des Flusses der natürlichen Zeit können selbst nur durch die

Erscheinung eines Stückes aus einer vergessenen Vergangenheit erkannt werden.

Die Tragödie der Geschichte ist ihre Unfähigkeit, auch im Moment der radikalsten

25) Ebd., Bd. 6, S. 427.26) Ebd., Bd. 6, S. 417.

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 131

Umwälzungen, der Parodie ganz zu entgehen.

Dieses illuminiert die eigentümliche Verbindung zwischen Ottilien und der

Muttergottes. Während Luciane allem ähnelt, oder sie wenigstens zu ähneln und

nachzuahmen versucht, ähnelt Ottilie nur dieser Einen, die die Macht des

Symbolischen symbolisiert, als ein Vermögen der Empfänglichkeit, durch die die

Erde vom Göttlichen befruchtet und fähig wird, das Göttliche in endlicher Form

zu gebären. Diese Empfänglichkeit ist vor allem die Macht des Genies. Doch Ottilie,

indem sie die absolute Empfänglichkeit symbolisiert, wird selber in ihrer Schönheit

geistig von Männern empfangen, die, mit Bezug auf sie, doppelt passiv werden.

Diese Konstellation von Motiven, welche Ottilie, das Empfänglichkeitsvermögen,

die Muttergottes, die Schönheit, und die Diskontinuität der Geschichte kettenhaft

verbindet, wird unmittelbar sichtbar an der Decke der alten Kapelle, welche der

Architekt, eher Dilettant als Genius, um sie als “ein Denkmal voriger Zeiten und

ihres Geschmacks” wiederherzustellen, nach seiner Sammlung “von verschiedenen

Nachbildungen und Entwürfe von alten Grabmonumenten, Gefäßen und andern

dahin sich nähernden Dingen” dekoriert. Diese Dinge, “die Einbildungskraft gegen

die ältere Zeit hinrichtend,” begeistern den Architekten zu etwas, was der Meinung

des Gehülfen nach als ein barbarischer Anachronismus gilt.27) Er restauriert den

katholischen Charakter der für den protestantischen Gottesdienste eingerichteten

Kapelle. So stark ist die Wirkung der neu dekorierten Kapelle, dass “man sich

beinahe selbst fragen mußte, ob man denn wirklich in der neueren Zeit lebe, ob

es nicht ein Traum sei, dass man nunmehr in ganz andern Sitten, Gewohnheiten,

Lebenweisen und Überzeugungen verweile.”28) Die vereinigende Charakteristik

dieser Figuren ist eine radikale Unterwürfigkeit und Hingabe an das Göttliche:

“Heitere Sammlung, willige Anerkennung eines Ehrwürdigen über uns, stille

Hingebung in Liebe und Erwartung war auf allen Gesichtern, in allen Gebärden

ausgedrückt… Nach einer solchen Region blicken wohl die meisten wie nach einem

verschwundenen goldenen Zeitalter, nach einem verlorenen Paradies hin. Nur

27) Ebd., Bd. 6, S. 366-367.28) Ebd., Bd. 6, S. 367.

132 독일문학∣제128집

vielleicht Ottilie war in dem Fall, sich unter ihresgleichen zu fühlen.”29) Es geht

hier nicht nur um eine bestimmte Art von Persönlichkeit, nicht um einen

psychologischen Typ, sondern um die existentielle Charakteristik einer Welt, die

auf eine ganz andere Weise als unsere eigene zusammengehalten wurde: eben

nicht durch den ruhelosen affenartigen Nachahmungszwang, den Luciane

exemplifiziert, sondern durch eine reine Empfänglichkeit, Geduld, und Hingabe

an das Jenseitige und Größere. Ottilie allein scheint diesem anderen Modus der

annähernden Ähnlichkeit zu ähneln. Doch als der Architekt, von Ottilien geholfen,

seine eigenen Nachmachungen der Bilder auf der Decke der Kapelle nachmacht,

werden die Gesichter, die er allein malen durfte, Otteliens eigenem Gesicht nach

und nach immer ähnlicher. Nicht nur, dass er von ihrem Bild stark affiziert wird,

sondern ihre eigene Empfänglichkeit macht ihn auch einer reinen, gleichsam

makellosen Empfängnis ihres Bildes fähig: “Die Nähe des schönen Kindes mußte

wohl in die Seele des jungen Mannes [...] einen so lebhaften Eindruck machen,

dass ihm nach und nach auf dem Wege vom Auge zur Hand nichts verlorenging,

ja dass beide zuletzt ganz gleichstimmig arbeiteten. Genug, eins der letzten

Gesichtchen glückte vollkommen, so dass es schien, als wenn Ottilie selbst aus

den himmlischen Räumen heruntersähe.”30) Sich in Ottiliens Nähe befindend, in

ihr Auge hineinsehend, wird das Auge des Architekten gleichstimmig mit seiner

Hand, und in dieser Gleichstimmigkeit fähig, Ottilie in das Firmament zu stellen,

so dass ihr Auge, wie aus der Höhe der Vergangenheit, jetzt auf ihn heruntersieht.

Das Ereignis der Geschichte, in dem die Vergangenheit plötzlich und unerwartet

in die Gegenwart hineinblitzt, ist vielleicht nichts anderes als dieses Eräugnis,

in dem sich das Auge dem Auge zeigt, oder, wie man sagt, eräugt.

Hier scheint Ottiliens Genius harmlos genug, doch in den letzten Kapiteln nimmt

er einen schicksalhaften, dämonischen Aspekt an. Nachdem Charlottes Sohn

ertrunken ist, gelobt sie Schweigen und hungert bis zum Tode. Das Wesen ihres

Genius ist Martyrium, oder eher, wie die Scheinseligsprechung bei ihrer Beerdigung

29) Ebd., Bd. 6, S. 367-368.30) Ebd., Bd. 6, S. 372.

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 133

andeutet, eine Parodie des Martyriums. Der Genius wird zur Parodie des Genius.

Doch auch diese Parodie ist unnachahmbar. Keiner weiß das besser als Eduard,

der versucht, Ottiliens Weg zu folgen. Sein Versuch, auf ihre Art zu sterben, scheitert

selber unmittelbar vor seinem Tod: er will wieder essen, und spricht nach langem

Schweigen mit seinem letzten Wort das vernichtende Urteil über seine Existenz

aus.

[...] was bin ich unglücklich, dass mein ganzes Bestreben nur immer eine

Nachahmung, ein falsches Bemühen bleibt! Was ihr Seligkeit gewesen, wird mir

Pein; und doch, um dieser Seligkeit willen bin ich genötigt, diese Pein zu

übernehmen. Ich muß ihr nach, auf diesem Wege nach; aber meine Natur hält

mich zurück und mein Versprechen. Es ist eine schreckliche Aufgabe, das

Unnachahmliche nachzuahmen. Ich fühle wohl, Bester, es gehört Genie zu allem,

auch zum Martyrium.31)

IV. Zum Schluss

Von Welt und Weltlichkeit haben wir viel gesagt — von Weltliteratur nichts.

Es wäre vielleicht genug, darauf aufmerksam zu machen, dass Goethes Begriff

von Welt nicht ohne Konsequenzen für sein Verständnis von Weltliteratur sein

kann, auch wenn diese Beziehung thematisch nicht weiter entwickelt wird. Es

hat aber auch nicht nur zu tun mit der Auslegung Goethes, sondern mit unserem

Umgang mit dem Begriff Weltliteratur. Die Welt, die in der Literatur aufs Spiel

gesetzt wird, steht in engster Verbindung mit einer verwickelten theologischen

Problematik, die in der heutigen Diskussion zur Weltliteratur meistens vollkommen

übersehen wird. Sehr schematisch ausgedrückt: der Roman, als Hauptorgan der

Weltliteratur, intendiert eine Fülle der Welt, eine Fülle, Selbstständigkeit und

Schließung der Bedeutungen (der Erschlossenheit, könnte man nach Heidegger

sagen), die die Geschaffenheit der Welt bestreitet, insofern die Schöpfung nur

31) Ebd., Bd. 6, S. 489-490.

134 독일문학∣제128집

ihre Bedeutung außerhalb ihrer selbst in einem Schöpfergott finden kann. Doch

er kann auch nicht den Begriff der Welt als ens creatum ganz aufgeben, weil

die Möglichkeit der Bedeutung, die Möglichkeit eines Sinnes der Welt und des

Lebens, noch von der Logik der Schöpfung abhängt. Bedeutung und Sinn darf,

nach dieser Logik, nur das haben, was von einem Schöpfer oder Künstler zu einem

möglichen Zweck gemacht wurde. Daher intendiert der Roman eine

Kompromisformation, die man die natürliche Welt heißen könnte. Die natürliche

Welt ist zugleich weltlich und naturhaft: innewohnendes, von selbst entstehendes

Wachstum und bedeutungsvolle Geschöpflichkeit. Ottiliens Tragödie besteht vor

allem darin, dass die Kompromisformation, die der Roman bezweckt, scheitern

muss. Das neue, schöne Leben kann sich nicht aus dem Kreis der Nachahmungen

retten: das Ursprünglichste muss selbst Parodie, und zwar Selbst-Parodie werden.

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136 독일문학∣제128집

국문 요약

괴테의 세계

- �친화력�에 나타난 세계성과 세계문학

앤소니 커티스 아들러 (연세 )

재 세계 문학 학계에서 큰 요성을 지니고 있는 괴테의 세계문학의 컨셉트

는 내 보다는 외 으로 해석 되고 있다 - 이는 문학 산업의 로벌화를 의미한

다. 이 논문에서 나는 �친화력�을 읽고 괴테에게 있어 문학은 세계의 컨셉트 자

체를 다시 생각하고 다시 바라보는 것이라고 주장하려 한다. 괴테에게 있어 소설

은 단지 세상을 묘사하는 것이 아닌 객 으로 존재하지만 일시 이고 공간

배경의 인간의 존재를 체한다. 더 자세히 나는 �친화력�의 상반되는 등장인물

들인 오틸리에과 루치아네를 통해 두 개의 다른 세계 을 보여 다: 한 면에서는

세계가 쇠퇴하는 건 인 체제에 응하는 외 인 존재와 인식이지만 한 면에

서는 세계가 삶 자체의 경제 인 체제라는 것을 보여 다. 소설에서는 이 둘의

충을 찾으려 하지만 두 번째 트의 비극 인 개는 두 상반되는 세계 을

섭렵하지 못한 인 실패를 보여 다. 이 비극 인 개는 결론 으로 모방

의 문제로 연결 될 수 있는데, 이 작품은 에두아르트의 공간을 떠나는 루치아네

를 포함하지 않으면서 “모방성”의 퇴출을 보여주고자 하지만 독창성으로 보여지

는 오틸리에의 본성은 성모 마리아를 모방함으로써 더 험하고 악마 인 모방

을 보여 다. 그녀의 순교는 패러디의 방식을 띄고 있으며 에두아르트는 비극을

뛰어넘는 고통의 운명을 겪어야 한다. 모방 할 수 없는 것을 모방하는 창피한

실패를 하는 것이 그의 과제가 된다.

주제어: 괴테, 세계문학, 세계개념, 세계성, 친화력

Schlüsselbegriffe: Goethe, Weltliteratur, Weltbegriff, Weltlichkeit,

Wahlverwandtschaften

Goethes Welten|Anthony Curtis ADLER 137

필자 E-Mail: [email protected]

투고일: 2013. 10. 20 | 심사일: 2013. 11. 5 | 심사완료일: 2013. 11. 25