Entzweite Zweiheit? Zur Indexikalität des Digitalen

19
Martin Doll Entzweite Zweiheit? Zur Indexikalitat des Digitalen Kaum ein Begriff kam im Sprechen von der Digitalisierung des Kinos und der Fotografie derart in Konjunktur wie der des Indexikalischen, und dies meist insofern, als dessen Verschwinden festgestellt wurde. Derartige Diag- nosen basieren jedoch, wie zu zeigen sein wird, auf einer in der Retrospekti- on diskursiv konstruierten maggeblichen indexikalischen Eigenschaft der noch auf chemischen Prozessen beruhenden analogen Fotografie und Kine- matografie. Dabei handelt es sich urn eine auf den ersten Blick durchaus zweckmagige Vorgehensweise, denn wenn von einer ,digitalen Revolution' oder von ,Medienumbriichen' gesprochen wird, bedarf es eines Hinter- grunds, vor dem sich das Neue der ,Neuen Medien' absetzt, urn Sinn zu er- geben. Infragegestellt werden konnen dabei aber die Kriterien, die bei die- ser Differenzierung verwendet werden. Denn nicht selten wird in diesem Zusammenhang von einem zugleich unscharfen und vollig iiberfrachteten Begriff des Indexikalischen Gebrauch gemacht, so dass gefahrliche Vermi- schungen und Analogiebildungen stattfinden: z. B. das Analoge mit dem Indexikalischen gleichzusetzen, das Digitale radikal vom Indexikalischen abzutrennen und schliemich das Indexikalische per se mit einem Wahr- heitsanspruch bzw. mit einem Abbildrealismus in eins zu setzen. Diese (haufig implizit bleibenden) theoretischen Operationen sollen im Folgen- den anhand eines close reading von Charles S. Peirces Ausfiihrungen zum Indexikalischen iiberpriift und einer Revision unterzogen werden. Peirces semiotische Theorien eignen sich namlich nicht nur hervorragend dafiir, Realitatsbezug und Wahrheitsanspruch von Bildern analytisch zu trennen, sondern auch dafiir, materielle Bedingungen und kulturelle Verwendungs- zusammenhange bildlicher Reprasemationen zusammenzudenken. Die folgenden Lektiiren haben jedoch nicht das Ziel zu zeigen, dass die Umerscheidung analogi digital generell ihre Bedeutung verliert, sondern dass - zumindest im Riickgriff auf Peirce - ein epistemologischer Bruch hinsichtlich der Indexikalitat der Fotografie und insbesondere der foto- grafischen Beweiskraft zuriickgewiesen werden muss. Dies solI sowohl iiber die Schwachung der Evidenz des Analogen als auch liber die Star- kung der Indexikalitat des Digitalen geleistet werden. Urn Kracauers The-

Transcript of Entzweite Zweiheit? Zur Indexikalität des Digitalen

Martin Doll

Entzweite Zweiheit?

Zur Indexikalitat des Digitalen

Kaum ein Begriff kam im Sprechen von der Digitalisierung des Kinos undder Fotografie derart in Konjunktur wie der des Indexikalischen, und diesmeist insofern, als dessen Verschwinden festgestellt wurde. Derartige Diag-nosen basieren jedoch, wie zu zeigen sein wird, auf einer in der Retrospekti-on diskursiv konstruierten maggeblichen indexikalischen Eigenschaft dernoch auf chemischen Prozessen beruhenden analogen Fotografie und Kine-matografie. Dabei handelt es sich urn eine auf den ersten Blick durchauszweckmagige Vorgehensweise, denn wenn von einer ,digitalen Revolution'oder von ,Medienumbriichen' gesprochen wird, bedarf es eines Hinter-grunds, vor dem sich das Neue der ,Neuen Medien' absetzt, urn Sinn zu er-geben. Infragegestellt werden konnen dabei aber die Kriterien, die bei die-ser Differenzierung verwendet werden. Denn nicht selten wird in diesemZusammenhang von einem zugleich unscharfen und vollig iiberfrachtetenBegriff des Indexikalischen Gebrauch gemacht, so dass gefahrliche Vermi-schungen und Analogiebildungen stattfinden: z. B. das Analoge mit demIndexikalischen gleichzusetzen, das Digitale radikal vom Indexikalischenabzutrennen und schliemich das Indexikalische per se mit einem Wahr-heitsanspruch bzw. mit einem Abbildrealismus in eins zu setzen. Diese(haufig implizit bleibenden) theoretischen Operationen sollen im Folgen-den anhand eines close reading von Charles S. Peirces Ausfiihrungen zumIndexikalischen iiberpriift und einer Revision unterzogen werden. Peircessemiotische Theorien eignen sich namlich nicht nur hervorragend dafiir,Realitatsbezug und Wahrheitsanspruch von Bildern analytisch zu trennen,sondern auch dafiir, materielle Bedingungen und kulturelle Verwendungs-zusammenhange bildlicher Reprasemationen zusammenzudenken.

Die folgenden Lektiiren haben jedoch nicht das Ziel zu zeigen, dass dieUmerscheidung analogi digital generell ihre Bedeutung verliert, sonderndass - zumindest im Riickgriff auf Peirce - ein epistemologischer Bruchhinsichtlich der Indexikalitat der Fotografie und insbesondere der foto-grafischen Beweiskraft zuriickgewiesen werden muss. Dies solI sowohliiber die Schwachung der Evidenz des Analogen als auch liber die Star-kung der Indexikalitat des Digitalen geleistet werden. Urn Kracauers The-

58 MARTIN DOLL ZUR INLJFXIKALITi\T DES Dlc;rIAI.FN 59

orie des Films zu zitieren, geht es dabei aber nicht urn die Errettung der tiu-J5eren Wirklichkeit, sondern urn die Relativierung der Gleichsetzung vonIndexikalitat mit Beweiskraft und urn die Infragestellung der ubiquitarenThese, dass digitale Bilder generell ihre Indexikalitat eingebligt hatten.Sollte dies gelingen, so ware zumindest erreicht, dass bezliglich der Inde-xikalitat das Analoge und das Digitalen naher aneinanderrlicken.

Wenn hier ein semiotischer Zugang gewahlt wird, so bedeutet diesaber auch, dass die nachstehenden Dberlegungen sich durch eine gewisseBescheidenheit auszeichnen. Bei Fotografie und Film hat man es mitvielschichtigen Medien zu tun, die sich rein semiotisch nicht erschopfendbehandeln lassen. Insofern mlissen in diesem Zusammenhang die zumin-dest ebenso wichtigen asthetischen filmischen und fotografischen Eigen-schaften wie auch deren Potential, somatische Resonanzen - z. B. be-stimmte affektive Reaktionen wie Rlihrung - auszulosen, ausgeklammertbleiben. Ferner bleibt, weil Peirce nie liber Film gesprochen hat, die Refle-xion auf das fotografische Einzelbild, also das Fotogramm beschrankt, sodass der gewissermagen wichtigste und Namen gebende Aspekt des Ki-nos, die Bewegung, weitgehend unberlicksichtigt bleibt.1

Bevor jedoch die Dberlegungen aus semiotischer Perspektive entfaltetwerden, sollen noch einige Argumente zum Fotografischen bzw. Kinema-tografischen vorgestellt werden, die im Sprechen liber den ,Umbruch'yom Analogen zum Digitalen besonders haufig auftreten. Bemerkenswertist in diesem Zusammenhang vor allem der strategische Gebrauch von be-stimmten historischen Medienreflexionen.

Abb. 1: "Smoke billows ii-omburning buildings destroyed

during an overnight Israeli air raid onBeirut's suburbs (August 5, 2006)".REUTERS/Adnan Hajj (Libanon)

Abb. 2: Von Hajjmanipulicrtc Version

1 Umberto Eco hat versucht, die kinematografische Bewegung semiotisch ZlL fassen.Er weist dabei daraufhin, dass die filmischen Einzelbilder hinsichtlich aussagekraf-tiger ,Bewegungseinheiten' "noch nichts bedeuten konnen": Die Kamera lieferemit den diskreten Einzelbildern wahrnehmbare Bewegungselemente, die zwar "imsynchronischen Bereich des Photogrammes isoliert werden konnen ", aber "bedeu-tungsleer sind". Erst wenn sie auGerdem zu kinesischen, sich auf die "Sprache derHandlung" beziehenden Zeichen zusammengesetzt wiirden, konnten sie "ihrerseitsgroGere, ins Unendliche fonsetzbare Syntagmen hervorbringen" und Auskunftliber Aktionen geben (Umberto Eco: "Die Gliederung des filmischen Code". In:Sprache im technischen Zeitalter, H. 27 (1968), S.230-252, hier: S.250, vgl. a.S.241).

wenn die Menschen in der Gcschichte mit neucn Medien konfrontiertwaren, kam es zu ciner Reihe von eincrseits kulturpessimistischen Klagenoder andererseits techno-optimistischen Beschworungen eines neuenZeitalters der Menschheit. 1m Foigenden sollen hinsichtlich des Digitalendie skeptischen, hinsichtlich des Analogen die ex post konstruierten affir-mativen Argumentationen interessieren - und dabei vor allem, wie die di-gitalen Medien dadurch abgewertet werden, dass ihre analogen Vorgangermit einer Art ,ursprlinglicherem' Weltbezug aufgeladen werden. Diesehaufig fragwlirdige ,Differenzmethode' lasst sich mit einigen Beispielenbelegen:

So sind z. B. Stewart Brand u. a. daflir berlihmt geworden, angesichtsder Verfligbarkeit digitaler Retusche das Ende der Fotografie als Bezeu-gung von etwas eingelautet zu haben: "The End of Photography as Evi-dence of Anything".2 Ebenfalls notorisch sind die Bemerkungen vonW.].T. Mitchell, der Anfang der 1990er Jahre die Manipulierbarkeit sogarzum Wesen digitaler Fotografie erhebt und damit den Beginn einer post-fotografischen Ara heraufbeschwort:

Diskurse des Analogen und Digiralen

Die fortschreitende Verfligbarkeit digitaler Technologien seit den 1980erJahren hat zu einer Vielzahl an Neubestimmungen geflihrt. Wie immer,

For a century and a half photographic evidence seemed unassailably probative.[... ] Today, as we enter the post-photographic era, we must face once again theineradicable fragility of our ontological distinctions between the imaginary and

2 Stewart Brand/Kevin Kelly/Jay Kinney: "Digital Rerouching. The End of Photo-graphy as Evidence of Anything". In: Whole Earth Review, H. 47 (Juli 1985), S. 42-47.

60 MARTIN DOLLZUR INDEXIKALITAT DES DICITALEN 61

the real [... ]. We have indeed learned to fix shadows, but not to secure their me-anings or to stabilize their truth values; they still flicker on the walls of Plato's cave.3

Andre Bazin, der bereits 1945 die Fotografie in Abgrenzung zur seines Er-achtens immer von einer Spur des Subjekts gepragten Malerei definiert,starkt die Objektivitat des "ohne das Eingreifen des Menschen" auto ma-tisch entstehenden Bilds der Augenwelt und erklart dies sogar zum Wesendes Fotografischen. Die "Ontologie des fotografischen Bildes" zeichnesich durch die "Obertragung der Realitat des Objektes auf seine Repro-duktion" aus.? Damit begibt er sich in die Tradition des Fotoverstandnis-ses von William Henty Fox Talbot, der sein zwischen 1844 und 1846 er-schienenes erstes mit Fotografien illustriertes Buch The Pencil of Natureschon mit folgender Notiz bewarb: "It must be understood that the platesof the work now offered to the public are the pictures themselves, obtai-ned by the action of light, [... J and the scenes represented will containnothing but the genuine touches of nature's pencil".RAusgehend von sei-nen Annahmen zum Fotografischen schlagt Bazin schliemich eine Bruckezum Film, indem er diesen als "die zeitliche Vollendung der fotografi-schen Objektivitat" fasst.9

Auch Siegfried Kracauer begrundet spater den Realitatsaspekt desFilms im Ruckgriff auf die Fotografie:

Und tatsachlich scheint sich diese Fluchtigkeit des Wahrheitswertes visuel-ler Reprasentationen in zahlreichen Falschungen zu bestatigen, wenn manbeispielsweise an ein in der Zeit des lsrael-Libanon-Konflikts 2006 heftigdiskutiertes Pressefoto der Nachrichtenagentur Reuters denkt, das Beirutnach einem israelischen Bombenangriff zeigt und in das von dem bekann-ten Pressefotografen Adnan Hajj - allerdings technisch augerst unge-schickt - Rauchschwaden verdoppelnd einkopiert wurden. Dabei wurdedasjenige, was als Beweis eines Vorgefundenen zirkulierte, minels digitalerTechnik so manipuliert, dass es drastischer erschien (Abb. 1, 2).

Wenn in solchen Zusammenhangen yom Post-Fotografischen dieRede ist, und zwar in dem Sinne, dass die Beweiskraft des Fotografischendurch die Digitalisierung verloren gegangen sei, wird dies meist argumen-tativ dadurch gestutzt, dass kontrastierend eine ideale Vergangenheit auf-gerufen wird. So ist im bereits zitierten Artikel von Brand u.a. weiter zulesen: "What's unique, what was unique, about a photograph is that it isan analog representation of reality. It is a directly true transform of the ori-ginal complex, awkward view of things."4 Fur diese - wie man sagenkonnte - pra-post-fotografische Ara wird eine Reihe prominenter histori-scher Fursprecher auf den Plan gerufen; und dies meist minds aus groge-ren Zusammenhangen gerissener Textstellen, die hier vollstandig wieder-gegeben werden, urn die (manchmal entstellenden) Verkurzungen zuveranschaulichen:

Urn mit dem meistzitierten Autor zu beginnen, seien Roland BarthesAusfuhrungen zum Wesen oder Noema der Fotografie erwahnt. Dieserbeschreibt den "photographischen Referenten" nicht als "die moglicher-weise reale Sache, auf die ein Bild oder ein Zeichen verweist, sondern dienotwendig reale Sache, die vor dem Objektiv platziert war und ohne die eskeine Photographie gabe. "5 Entsprechend liege sich - und dam it wird dieReferenz fur Barthes zum Grundprinzip der Fotografie - "nicht leugnen,dag die Sache dagewesen ist".6

Mein Buch [... J beruht auf der Annahme, dag der Film im wesentlichen eine Er-weiterung der Fotografie ist und daher mit diesem Medium eine ausgesprocheneAffinitat zur sichtbaren Welt urn uns her gemeinsam hat. Filme sind sich selbsttreu, wenn sie physische Reali tat wiedergeben und enthiillen.1o

Wie bereits angedeutet, ware eine deutlich differenziertere Sichtweise aufdie vielschichtigen Argumente der zitierten Autoren angebracht. Dies soli

, William J. Mitchell: The Reconfigured Eye. Visual Truth in the Post-Photographic Era.Cambridge, Mass. U.a. 2001, S. 225.

4 Brand/Kelly/Kinney: "Digital Retouching" (wie Anm. 2), S. 46.Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt a. M.1989, S. 86; Hervorhebungen im Original.

(, Ebd.

7 Andre Bazin: "Ontologie des fotografischen Bildes" [1945]. In: Wolfgang Kemp/Hubertus von Amelunxen (Hrsg.): Theorie der Fotografie l-lV 1839-1995, Ed.3.Miinchen 2006, S. 58-64, hier: S. 62. Bazin indes spricht von dieser Obenragungallerdings nicht ohne luziden Verweis auf das Magische der Fotografie, ihre "irratio-nale Kraft [... J, die unseren Glauben besitzt. [... ] Das Bild kann verschwommensein, verzerrt, farblos, ohne dokumentarischen Wert, es wirkt durch seine Entste-hung" (ebd., S. 62 f.), urn schlieillich mit dem enigmatischen, weil nicht weiter aus-gefiihrten, Satz zu enden: "Andererseits ist der Film eine Sprache" (ebd., S. 64).

8 "The Pencil of Nature, By H. Fox Talbot, Esq. ". In: A MontIy List ojNew Books Pu-blished in Great Britain Sold by Mr. C Muquardt (New Series), H. 22 (1. 5. 1844),S.87.

9 Bazin: "Ontologie des fotografischen Bildes" (wie Anm. 7), S. 63.10 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der iiufJerenWirklichkeit. Frank-

furt a. M. 1996, S. 1I. 1m Verweis auf eine spatere Stelle wiire hinzuzufiigen, dassKracauer zufolge Filme etwas physisch Existierendes anders sichtbar machen als Fo-tografien: ,,[S]ie stell en die Realitat dar, wie sie sich in der Zeit entfaltet" (ebd.,S.7I).

62 MARTIN DOLL

Abb. 3: Oscar Gustave Rejlandet: The Two Wtzysof Lift (1857), Royal Photogtaphic Society

Abb. 4: Analyse von The Two Wtzysof Lift, in: Edgar YoxallJones: Father of Art Photography:0. G. Rejlander, 1813-1875, Newton Abbot: David & Charles 1973.

jedoch an dieser Srelle zuriickgestellt werden, urn es im spateren Veriaufdes Text - zumindest teilweise - nachzuholen.

Jenseits der Beglaubigung durch autoritatives Zitieren bleibt in derderzeitigen Debarre indes haung unbegriindet, warum der analogen Foto-grane automatisch Evidenzcharakter zukommen soli. Denn die Geschich-te wohlbekannter analoger Falschungen oder vielmehr Manipulationenund Dissimulationen lasst bereits bei der friihen Fotografie fragwiirdig er-scheinen, ob sie aus Sicht der Betrachter als unumstoBliche Beweisstiicke

ZUR INDEXJKALITATDESDIGITALEN 63

Abb. 5: William H. MumJer:John j. Glover with the Spirit of

His Mother (1871)

wahrgenommen wurden: Man denke beispielsweise an die kiinstlerischenKompositionen Oscar Gustave Rejlanders aus dem Jahr 1857 (Abb. 3, 4).Die von ihm erstellten Gruppenbilder harren eines riesigen Studios undeiner ungeheuren Menge an Licht bedurft. Die Personen waren jedochnie in derselben Anordnung versammelt, wie sie die Fotografie zeigt. Die-se ist vielmehr, wie Edgar YoxallJones nachweist, eine Kombination vonnicht weniger als 30 Einzelaufnahmen. Als weiteres Beispiel kann man dieals Falschungen diskurierten und vor Gericht verhandelten Geisterfoto-granen William H. Mumlers aus dem 19. Jh. anfiihren (Abb. 5). II

Ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammen manipulierte Fotografienvon Abraham Lincoln. So wurde ein alteres Portrat von ihm nach seinemTod gespiegelt in ein Bild von John C. Calhoun einkopiert. Bezeichnen-derweise wurden dabei gleich auch die Schriftrollen am rechten Randmodinziert: aus "Strict Constitution" wurde "Constitution", aus "FreeTrade" wurde "Union" und aus "The Sovereignty of the States" wurde die"Proclamation of Freedom" 12 (Abb. 6, 7).

II Harper's Weekly berichtete z. B. darliber auf der Titelseite: Anonym: ••Spiritual Pho-tography". In: Harper's Weekly,]g. 13, H. 645 (8. 5.1869), S.1.

12 Mitchell: The Reconfigured Eye (wie Anm. 3), S. 204.

64 MARTIN DOLL

Abb. 6: A. H. Richie: John C.Calhoun (I 852), Pomat,Library of Congress Printsand Photographs Division

Abb. 7: William Pate:Abraham Lincoln (0. ] .),montierees Porerat, Libraryof Congress Prints andPhotographs Division

ZUR INDEXlKALITAT DES DIGITALEN 65

Abb. 8-13: Stopptrick-Sequenz aus George Melies: Le diable noir (I 905) 13

Auch auf der Audioebene (denn ab einem bestimmten Zeitpunkt hatman es beim Film ja immer auch mit Ton zu tun) sind Vertuschungennichts Neues. Man erinnere sich z. B. an die bearbeiteten und teilweisegeloschten Bander, die Licht in den Watergate-Skandal hatten bringensoIlen. Auf den Aufzeichnungen von Nixons internen und informeIlenGesprachen gibt der sogenannte ,,18,5 minutes gap", also eine Informati-

13 Auf Abb. 12, links linten, ist sehr gut die K1ebestelle des Schniccs zu erkennen.

66 MART1N DOLL Zl;R INDEXIKALITAT DES DICITALEN 67

onslucke von 18 Y2 Minuten, wahtend denen nur ein Rauschen zu horenist, nach wie vor Anlass zu Verschworungstheorien aller Art. 14

Selbst der fruhen Filmgeschichte sind Manipulationen keineswegsfremd. 1 5 Bei George MeJies finden sich geradezu stilbildende Verfalschun-gen der Kracauer'schen Realitat, "wie sie sich in der Zeit entfaltet". 16 EinBeispiel fur den klassischen Melies'schen Stapp trick ist Ie diable noir ausdemJahr 1905 (Abb. 8-13).

Strenggenommen stellt der gesamte fruhe Film die Zeitachse und da-mit auch Bewegungen verzerrt dar, ruft man sich in Erinnerung, dass es,weiI der Film noch per Hand gekurbelt wurde, de facto keine konstanteBildaufnahmerate gab - ein ,Ver-drehen', das am deurlichsten am Fla-ckern der Bilder erkennbar bleibt. Daruber hinaus wurde filmhistorischnachgewiesen, dass viele Filme nicht mit derselben Bildfrequenz vorge-fuhrt wurden, wie sie aufgenommen wurden. D. h., zu dieser Zeit warendie Menschen qua Unterschied von Aufnahme- und Projektionsrategrundsatzlich mit einer die Realzeit verzerrenden anderen Filmzeit kon-frantiert. Chaplin soli sich diesen Verschnellerungseffekt, wie man ihnauch heure noch kennt, wenn Filme, die mit 16-18 Bildern pro Sekundegedreht wurden, mit 24 Bildern pro Sekunde abgespielt werden, schon da-mals bewusst zunutze gemacht haben. Erst 1926, im Zusammenhang mitdem Aufkommen des Tonfilms, wurden 24 Bilder zum einheirlichen Stan-dard.17

Durch die Vielzahl der Beispiele durfte einsichtig geworden sein, dassdas ,Verfalschen' auch schon im Zeitalter des analogen (Bewegt-)Bildseine gangige Praxis war. Schon alleine dadurch l;isst sich das Argument,dass das Wesen des Digitalen seine Manipulierbarkeit ist, in Zweifel zie-hen. Es gibt daruber hinaus jedoch noch weitere - uber Grenzziehungenzu analogen Bildtechniken hinausgehende - Argumentationsstrategien,die bei der generalisierenden Ineinssetzung von digitaler Speicherungbzw. Verarbeitung und einem allgemeinen Manipulationsverdacht zumEinsatz kommen. Grab eingeteilt werden dabei namlich, wie in Anleh-nung an Wolfgang Hagen deurlich gemacht werden kann, gleich mehrerenicht zwingend digitale Technologien durcheinandergebracht, und zwar:1.) elektronische Bilddetektoren (die sogenannte Halbleiter- bzw. CCD-Technik), 2.) digitale Signalwandlung und -speicherung (das Samplingoder die Quantisierung der Bilder bzw. ihrer Tonwerte und deren Auf-zeichnung), 3.) das Image processing (mathematische Bildverarbeitungs-techniken) und 4.) die Compurergrafik (Techniken algorithmischerBilderzeugung).ls Nur weil sowohl das Image processing als auch die Com-putergrafik im Kern mit binaren Codes operiert, wird automatisch davonausgegangen, dass digitale Fotografie bzw. Kinematografie und Simulati-on zusammenfallen. Anders gesagt: Nur weil Bildsignale in sogenanntenA/D-Wandlern in digitale Signale prozessiert werden, werden sie mitCAD, dem computergestutzten Erschaffen von Bildern, gleichgesetzt.

Urn solchen vorschnellen Analogisierungen zu entgehen, soli im Fol-genden die digitale Foto- bzw. Kinematografie vornehmlich im Kontextder beiden erstgenannten Techniken betrachtet werden. Dann kann nam-lich die Frage in den Vordergrund rucken, wie sich der Status von Foto-grafien und Filmen verandert hat, dadurch dass sie nun nicht mehr mit-tels chemischer Prozesse, sondern durch elektronische Bilddetektorenentstehen, deren Signale zudem digital gespeichert werden. Dabei ist auchgegenwartig zu halten, dass das Fotografische bzw. Kinematografische mitder gleichen Berechtigung sowohl auf die faktische Entstehung der Bilderals auch auf ihre spezifische augere Erschein ung bezogen werden kann. Inwelchem Zusammenhang beide Aspekte stehen, welche Umbruche sichdabei durch die Digitalisierung ergeben und schliemich wie dies die (Be-)Deutung der visuellen Reprasentationen beeinflusst, kann in besonderemMage anhand von Peirces zeichentheoretischen Oberlegungen zur Indexi-kalitat einsichtig gemacht werden.

11 Siehe dazu genauer: Torsten Hahn: ",Kenneth, what is the frequency?' Manipulati-on, Simulation und Kontrolle durch ,unsichtbare Drahte'''. In: Irmela Schneider!Christina Bartz (Hrsg.): Medienkultur der lOer Jahre, Wiesbaden 2004, S.79-98,hier: S. 95 f., vgI. dort auch FuBnore 90.

I, Frank Kessler verweist aufTexte zum Film aus dem beginnenden 20. Jahrhundert,die die Diskussion von ,fakes', also Falschungen belegen. Er zeigt, dass der Begriffdabei vornehmlich zur Verurteilung von dokumentarischen Filmen verwendetwurde, in denen schon existierendes Material zu einem bestimmten Thema fiir einanderes wiederbenutzt und umdeklariert wurde. Er weist dariiber hinaus nach, dassnachgeseellte Szenen zu bestimmten hisrorischen Ereignissen zirkulierten. Ob indiesem speziellen Fall die Zuschauer absichtsvoll getauscht wurden bzw. ob es zuBeschwerden iiber eine bestimmte Tauschungsabsicht kam, ist seines Erachtensfilmhistorisch nur schwer rekonsrruierbar, weil im Nachhinein niche iiberpriifbarist, ob die Filme im Einzelnen explizit als "representation", also als - wie man heuresagen wiirde - Reenactments, oder als "genuine picture" vorgefiihrt wurden odernicht (vgl. Frank Kessler: ",Fake' in Early Non-fiction". In: KINtop. Jahrbuch zurErfimchung desftiihen Films 14/15 (2006), S. 87 -93).

1(, Kracauer: Theorie des Films (wie Anm. 10), S. 71.17 Vgl. Kevin Brownlow: "Silent Films. What Was the Right Speed?". In: Sight and

Sound49.3 (1980: Sommer), S.164-167, hier: S.167.

1H Wolfgang Hagen: "Die Entropie der Foeografie. Skizzen zu einer Genealogic der di-gital-elekrronischen Bildaufzeichnung ". In: Herta Wolf (Hrsg.): Prmldigmtl Foto-grafie. frankfurt a. M. 2005, S. 195-235, hier: S. 195.

68 MARTIN DOLI ZUR INLJEXIKALITAT ill'S DI(;IIAIFN 69

Die Indexikalitat der Fotografie bzw.Kinematografie nach Peirce

unabhangig von Zeichenkonventionen, wie man sie von Symbolen herkennt:

Dass die Wahrnehmung fotografischer und filmischer Reproduktionen imVergleich zu anderen Formen des Zeichenlesens derjenigen Perzeptioneher entspricht, die man gemeinhin als alltagliche Sinneswahrnehmungversteht, lasst das theoretische Erfassen ihrer deutenden Beziige, ihren Re-kurs auf Zeichenhaftes augerst kontraintuitiv erscheinen.19 Die Peirce'scheZeichenkategorie des Index hat daher in der Rezeptionsgeschichte zu zahl-reichen Missverstandnissen gefiihrt.20 Urn dabei ein prominentes Beispielanzufiihren, sei aus den "Notes on the Index" von Rosalind Krauss zitiert:"It is the order of the natural world that imprints itself on the photogra-phic emulsion and subsequently on the photographic print. This quality oftransfer or trace gives to the photograph its documentary status, its unde-niable veracity. "21 Im Folgenden wird es hingegen darum gehen, mit Peircedas Indexikalische radikal von einem Wahrheitsanspruch abzutrennen.Dafur muss aber zuerst klargestellt werden, wie das Indexikalische in sei-nem Sinne zu verstehen ist:

Laut Peirce definiert sich ein indexikalisches Zeichen notwendig durcheine Zweiheit, d. h. durch eine existentielle Relation zu seinem Objekt:"Ein Index erfordert deshalb, dass sein Objekt und er selbst individuelleExistenz besitzen miissen."22 Es stehen sich also mindestens zwei Entita-ten, das verweisende Zeichen und das effektive Objekt, auf das verwiesenwird, gegenuber. Diese irreduzible faktische oder kausale Verbindung istdas besondere Merkmal des indexikalischen Zeichens. Sie fiihrt zum Zu-standekommen eines Index unabhangig von seiner Interpretation bzw.

An index is a representamen (Peirces Begriff fur das Bezeichnende, M.D.) whichfulfills the function of a representamen by virtue of a character which ir could norhave if its object did not exisr, but which it will continue to have just the samewhether it be interpreted as a representamen or not (CP 5.073).1'

Dennoch kann ein Index nur als Zeichen fungieren durch das Akzidens,dass er als solches verstanden wird. Dabei bleibt das Zeichenverstehen einenicht notwendige Bedingung, die Peirce yom Entstehen des Index als sol-chen analytisch trennt: "Er wird zu einem Zeichen aufgrund des Zufalls,dag er so aufgefagt wird, ein Umstand, der die Eigenschaft, die ihn erst zueinem Zeichen macht, nicht beriihrt."24 Peirce vergisst in seinem semioti-schen Koordinatensystem jedoch keinesfalls denjenigen, der das Zeichenliest:

A sign, or representation [... J refers to its object [... ] because it is in dynamical(including spatial) connection both with the individual object, on the one hand,and with the senses or memory of the person for whom it serves as a sign, on theother hand. (CP 2.305)

I') Eco schreibt dazu luzide, dass Bilder "als eine auf einen gegebenen Code bezogeneNachricht" wahrgenommen wurden; "dieser Code jedoch ist der normale Wahr-nehmungscode, der jedem Erkennrnisakt vorangeht". Es sei jedoch gegenwartig zuhaltcn, dass es sich dabei um eine Reproduktion nur einiger, nicht aller Wahrneh-mungsverhaltnisse handele (Eco: "Dic Gliederung des filmischen Code" (wieAnm. 1), S.234).

20 Pcter Wollen isr in diesem Zusammenhang zuzustimmen, wenn er davon spricht,dass Charles Morris, obwohl er Peirceseinflussreichster Schuler war, der Rezeptionvon dessen semiotischen Theorien eher geschadet habe, indem er diese mit einemfrat,owurdigenBehaviorismus amalgamiert habe (vgl. Peter Wollen: Signs and Me-(ming in the Cinema. 4. rev.u. erw. Aufl.. London 1998, S. 83).

21 Rosalind Krauss: "Nores on the Index: SeventiesArt in America. Part 2". In: Octo-ber 4 (1977: Herbsr), S. 58-67, hier: S.59.

1) Charles S. Peirce: Phanomen und Logik der Zeichen, hrsg. u. iibers. v. Helmut Pape.Frankfiut a. M. 1983, S. 65.

Nur aus diesem Grund lasst sich das Objekt, auf das ein Index verweist,nicht als reine Anwesenheit einer Sache betrachten, sondern als Ergebniseiner Semiose durch Zeichen, die der Interpretation bediirfen: ,,[Aln in-dex, like any other sign, only functions as sign when it is interpreted."2)Obwohl die Erfolgsbedingung fur die Entstehung eines Index also inter-pretationsunabhangig, d. h. nicht durch Konventionen festgclegt ist, kannes sich nur als Zeichen ins Werk setzen, wenn es interpretiert wird.

Besonders hervorzuheben an Peirces Argumenten ist, dass er die Inter-pretation der Zeichenfunktion des Indexikalischen auf einen bestehendenWissenshintergrund zuruckfiihrt. D. h., die genannte Entstehungsbedin-gung des indexikalischen Zeichens wird - in Form eines herangezogenenWissens urn die kausale oder faktische Relation zu seinem Objekt - Teil

23 Die Dezimalnotation, hier: 5.073, verweist auf dcn 5. Band und den 73. Abschnittder Collected Papers of Charles Sanders Peirce, I-VI. Hrsg. v. Charles Hartshorne!Paul Weiss. Cambridge 1931-35. 1m Folgendcn wird im Text nur die Notation inKlammern zitiert.

24 Peirce: Phdnomen und Logik der Zeichen (wie Anm. 2), S.65.25 Charles S. Peirce: "New Elements". In: The Essential Peirce. Selected Philosophi({d

Writings. Hg. v. Nathan Houser, Bd.2. BloomingtonlIndianapolis 1998, S. 30 1-330, hier: S.318 (=EI' 2.318); Hervorhehung von mir.

i

70 MARTIN DOLL ZUR INDEXIKALITAT DES DIl;rrALEN 7I

seiner Interpretationsbedingungen. Die Zeichenfunktion des Indexikali-schen kann sich somit nur entfalten, wenn angenommen wird, dass dasObjekt des Index existiert. Die existentielle Relation ist so zum einen imindexikalischen Zeichen rep rasentiert , zum anderen muss sie aber, damitsie beim Verstehen auch zum Tragen kommt, bei der Interpretation aufge-rufen werden.26

Auch das Fotografisch-Indexikalische verweist so gleichermagen nichtautomatisch auf etwas anderes, sondern nur aufgrund eines bestimmtenVorverstandnisses von dieser Verbindung. Peirce schreibr: "The fact thatthe latter (the photograph, M.D.) is known to be the effect of the radia-tions from the object renders it an index" (CP 2.265; Hervorhebung vonmir). Peirce argumentiert also auch hinsichdich der Fotografie mit einemVokabular der wissensgestiitzten Interpretation: Es miissen physikalischeDeterminanten mitgedacht werden, d. h., man muss von den technischenProduktionsbedingungen einer Fotografie oder von dem ihr zugrundelie-genden physikalischen Materialitatskontinuum - vom Objekt ausgehen-de oder reflektierte Lichtstrahlen, die sich am Ende als Schwarzung derFotokristalle auswirken - wissen. Und man muss von dieser Kenntnis beiihrem Anblick auch Gebrauch machen, damit sie als indexikalisches Zei-chen erkannt wird. Die Fotografie ist zwar aus Griinden kausaler oderphysischer Verbindung zu einem existierenden Objekt indexikalisch,kann aber nur unter Einbeziehung bestimmter Voraussetzungen als sol-ches betrachtet und als Spur gelesen werden.

Der von Peirce fiir die Fotografie stark gemachte indexikalische Cha-rakter lasst sich bei genauerer Lektiire zudem als Element eines komple-xen Wechselverhaltnisses mit anderen Zeichenkategorien ausmachen.Hier liegt ein weiterer Fehler vieler an Peirce angelehnter Oberlegungen,namlich dass so argumentiert wird, als wiirde es sich bei einer Fotografieurn etwas rein Indexikalisches handeln.27 Peirces Postulate sind in diesem

Zusammenhang eindeutig: ,,[Ilt would be difficult, if not impossible, toinstance an absolutely pure index". 28 Die von ihm vorausgesetzte indexi-kalische Referenz qua physikalischer Verbindung des Fotos zu seinem Ob-jekt ist so mit nur ein Aspekt der spateren Auffassung des Bildgegenstands:

So ist ein Photo ein Index, wei! die physikalische Wirkung des Lichts beim Be-lichten eine existentielle eins-zu-eins-Korrespondenz zwischen den Teilen des Fo-tos und den Teilen des Objekts herstellt, und genau dies isr es, was an Fotograllenoft am meisten geschatzt wird. Doch dariiber hinaus liefert ein Foto ein Ikon desObjekts, indem genau die Relation der Teile es zu einem Bild des Objekts mach t. 2')

Fotografien sind daher fiir Peirce notwendig gemischte oder zusammenge-setzte Zeichen (composites), sogenannte "Dicenr Sinzeichen" (Dicent Sin-signsj3°: "Such a Sign must involve an Iconic Sinsign to embody the infor-mation".31

Peirce sagt damit einerseits deudich, dass ein fotografischer Index einIkon mit sich fiihren muss, und andererseits, dass der indexikalische Be-zug, also das Hinweisen der Fotografie auf Teile des Objekts, die zumZeitpunkt der Aufnahme auch der Sinneswahrnehmung zuganglich wa-ren, nichts iiber deren Konzeptualisierung aussagt. Urn die BegriffeGeoffrey Batchens zu verwenden: Die indexikalische ,Prasenztreue' quaphysikalischer Verbindung heigt noch nicht zwangslaufig ,Erscheinungs-treue'. Es ist vielmehr eine Abstraktion der visuellen Daten.52 Diese ab-strakten Daten bediirfen einer Verkorperung in Form eines "ikonischenSinzeichens", welches im Kopf des Betrachters qua Ahnlichkeit die Vor-stellung eines Objekts aufruft: "An Iconic Sinsign [... J is any object of ex-

26 Vgl. dazu die Oberlegungen iiber den Zusammenhang von Index und Spur bei:Helmut Pape: "Searching for Traces. How to Connect the Sciences and rhe Huma-nities by a Peircean Theory ofIndexicality". In: Transactions of the c.s. Peirce Socie-ty44.1 (2008), S.I-25, bes. S.15 u. 19.Rosalind Krauss' Ausfiihrungen legen dies beispielsweise nahe: "The photograph isthus a type of icon, or visual likeness, which bears an indexical relationship to its ob-ject. Its separation from true icons is felt through the absolutness of this physical ge-nesis, one that seem to short-circuit or disallow those processes of schematization orsymbolic intervention that operate within the graphic representations of most pain-tings. If the Symbolic finds its way into pictorial art through the human conscious-ness operating behind the fOrms of representation, forming a connection between objectsand their meaning, this is not the case fOr photography." (Rosalind Krauss: "Notes on

the Index: Seventies Art in America". In: October.3 (1977: Frlihjahr), S. 66-81, hier:S. 75; Hervorhebungen von mir)

2" Charles S. Peirce: "Logic as Semiotic: The Theory of Signs". In: Philosophical Wri-tings of Peirce. Hg. v. Justus Buchler. New York 1955, S. 98-1 19, hier: S. 108.

29 Peirce: Phiinomm und Logik der Zeichen (wie Anm. 22), S. 65; Hervorhebungen desOriginals getilgt und dutch eigene ersetzt.

30 Peirce: "Logic as Semiotic" (wie Anm. 28), hier: S. 119. fin Sinzeichen (Sinsign) istfiir Peirce ein tatsachlich existierendes Ding, das als Zeichen fimgien; ein Dicent(Dicmt Sign) ist zudem ein Zeichen, das auf etwas tatsachlich Existierendes ver-weist (vgl ebd., S. 101 u. 103).

31 Ebd., S. 115; Hervorhebungen von mir. Ein Ikon wird von Pierce als ein Zeichendefiniert, dass sich durch eine Ahnlichkeitsbeziehung auszeichnet. Ein Typus davonsind Bi!der (images), "which partake of simple qualities [... J of one thing" (ebd.,S.105).

32 Geoffrey Batchen: "Sichtbar gemachte Elektrizitat". In: Jens SchriiteriAlexanderBiihnke (Hrsg.): AnaloglDigital- Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Ce-schichte einer Unterscheidung. Bielefeld 2004, S. 231-268, hier: S. 239.

72 MAj(j'IN DOll ZUR INIJEXIKALITAI DES DIl;ITALEN 73

perience in so far as some quality of it makes it determine the idea of anobject".·13

Der indexikalische Aspekt der Fotografie beruhrt also lediglich dasphysikalische Einschreiben von Lichtdaten in die chemische Filmschicht.Die Verbindung dieser Daten, ihre Synthese gehoren indes zum Ikoni-schen des Bildes. Erst ihr Erkennen, ihr In-Eins-Bilden eroffnet die Mog-lichkeit, Ahnlichkeiten zu sehen. Als ein zentrales Charakteristikum einesIndex halt Peirce daher fest: "[I]t is not the mere resemblance of its Ob-ject, [... J which makes it a sign, but it is the actual modification of it bythe Object. "34 Spricht man also im Zusammenhang mit der Fotografievon "indexikalischen Bildem", so ist immer in Erinnerung zu rufen, dasses sich dabei nicht urn eine Einheit handelt, sondem urn etwas, das in de-xikalisch und ikonisch ist.

Peirce betont die Komplementaritat des Indexikalischen, das Angewie-sensein auf andere Zeichenkategorien, auch an einer anderen Stelle, wenner sein Koordinatensystem erweitert und uber die Kriterien spricht, diedafur Voraussetzung sind, dass ein Foto - oder besser: ein fotografischerAbzug - vom Index zum ,informativen Zeichen', zum ,Dicizeichen', d. h.zum Trager von Information werden kann:

sche Zeichen kann aber ihm zufolge nur als solches fungieren, d. h. dasikonisch Reprasentierte kann nur als solches verstanden werden, wenneine Vorstellung des Referenten aufgerufen wird. Dies ist fiir Peirce imDbrigen Grundbedingung jedes Zeichens: "The sign stands for so-mething, its object. It stands for that object, not in all respects, but in reft-renee to a sort o/idea" ..\6 Fallt dieser Bezug aus, so verliert etwas auch auto-matisch seine Zeichenhaftigkeit:

But if there be anything that conveys information and yet has absolutely no rela-tion nor reference to anything with which the person to whom it conveys the in-formation has, when he comprehends that information, the slightest ac-quaintance, direct or indirect [... ] the vehicle of that sort of inf(lrmation is not,in this volume, called a SignY

The mere print does not, in itself, convey any information. But the fact, that it isvirtually a section of rays projected from an object otherwise known, renders it aDicisign. Every Dicisign [... ] is a further determination of an already known signof the same object (CP 2.320; Hervorhebungen im Original und von mir).

Strenggenommen kann man, Peirce zufolge, ein in einer Fotografie oder ineinem Film gezeigtes Objekt nur wiedererkennen - also erkennen, weilman es schon kennt.

Dberdies deckt sich der Begriff der "idea" (zu deutsch: Vorstellungoder Begriff) in Peirces triadischer Zeichenrelation mit dem des ,Interpre-tanten' - mit weitreichenden Implikationen. Denn der Interpretant istlaut Peirce selbst wieder als Zeichen zu verstehen: "A sign, or representa-men [... ] addresses somebody, that is, creates in the mind of that personan equivalent sign, or perhaps a more developed sign. That sign which itcreates I call the interpretant of the first sign".38 Diese Dberlegung, dassein representamen im Kopf des Betrachters wiederum ein Zeichen hervor-ruft39, ist yon Derrida in seiner Grammatologie als Beweis gelesen worden,dass bei Peirce bereits das Indefinite jeden Zeichenverweises angelegt ist:

Der fotografische Abzug ist somit, in seiner rein indexikalischen Dimensi-on betrachtet, kein Informationstrager. Er zeugt nur ausschnitthaft ("a sec-tion of rays") von den Lichtstrahlen, die das gezeigte Objekt reflektierte.Dieses wird zunachst einmal nur als unbestimmter Photonen-Reflektordefiniert. Erst die Voraussetzung, dass das indizierte Objekt bereits ander-weitig bekannt ist, "otherwise known", lasst die Fotografie - mithin unterZuhilfenahme ikonischer Aspekte -zum informativen Zeichen werden.

Aus dem Verweis auf ein "object otherwise known" lasst sich zugleichableiten, warum Peirce yollig kontraintuitiv das Ikonische uberhaupt alsZeichen versteht - eine Annahme, die haufig kritisiert wird.35 Das ikoni-

Es gibt also keine Phanomenalitat, weIche das Zeichen oder den Reprasentantenreduziert, um schlidllich das bezeichnete Ding im Glanz seiner I'rasenz erstrah-len zu lassen. Das sogenannte ,Ding selbst' ist immer schon ein representamen.

56 Peirce: "Logic as Semiotic" (wie Anm. 28), S. 99; Hervorhebung von mir.37 Ebd., S.100.,x Ebd., S. 99.19 Peirce schreibt: "If 1 see two men at once, I cannot by any such direct experience

identifY both of them with a man I saw before. 1 can only identify them if j regardthem, not as the very same, but as two different manifestations of the same man.But the idea of manifestation is tbe idea ofa sign." (Charles S. Peirce: "The Princip-les of Phenomenology". In: Philosophical Writings of Peirce. Hg. v. Justus Buchler.New York 1955, S. 74-97, hier: S. 93)

U Peirce: "Logic as Semiotic" (wie Anm. 28), S. 115..\1 Ebd., S. 102.I' Charles Morris schreibt z. B., dass ein vollig ikonisches Zeichen kein Zeichen mehr

ware: "A completely iconic sign would always denote, since it would itself be a de-notarum" (Charles Morris: Signs, Language and Behavior. New York 1946, S.98-99).

74 MARTIN DOLL ZUR INDEXIKALITAT DFS Dl(;IIAIFN 75

Das representamen kann nur funktionieren, indem es einen Interpretanten her-vorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitium.40

dem Finger auf ein bestimmtes Gegentiber und ist an diese rein deiktische Spra-che gebunden.43

Geoffrey Batchen hat dies wiederum auf die Fotografie ubertragen und sieentsprechend als "a signing of signs" bestimmt.41 Man erkennt also auffo-tografischen oder filmischen Bilden z. B. nur einen Wal, wenn man bereitscine Vorstellung oder im weitesten Sinne einen Begriff von einem Wal hat.Die Bilder bieten dann, unter Umstanden verbunden mit dem Schriftsym-bol ,Wal', eine weitere Bestimmung dieses bereits zeichenhaft bekanntenObjekts, d. h., unsere Vorstellung davon wird weiter determiniert.

Das Indexikalische der Fotografie liefert nach Peirce somit keine aus-reichende qualitative Bestimmung dessen, auf das es hindeutet. Es ist keinZeichen, das fur die Sache selbst steht, sondern es zeigt als reiner Verweisnur auf etwas. Dies lasst das indexikalische Zeichen gleichermaBen inter-essant wie prekar werden: Es steht einerseits in einem starken existentiel-len Bezug zur Realitat, ist dies aber nur, weil es kraft seiner deiktischenNatur merkwurdig leer bleibt. Man kann auf etwas mit dem Finger zeigen(und man hat damit in derTat eine kraftvolle existentielle Zeichenrelationzur Realitat hergestellt), kann dies aber nur so einfach tun, weil die Gestedes Deutens keinerlei qualitative Bestimmung erfordert: Es ist ein reinesZeigen. Die Zeichenbedeutung des Index ist somit nur ein Deuten, dasohne Kontext keinerlei Bedeutung hat, in den Worten von RosalindKrauss eine "bedeutungslose Bedeutung" (meaningless meaning).42 Inter-essanterweise ergeben sich dadurch auBerst signifikante Oberschneidun-gen zu Barthes Oberlegungen zur Fotografie (an dieser Stelle kann wiederkompensiert werden, ihn am Anfang des Artikels in den Zusammenhangeines banalen Abbildrealismus geruckt zu haben). Schon im ersten Kapi-tel von Die helle Kammer ist zu lesen:

Die indexikalische Zeigegeste der Fotografie wird bei Peirce jedoch untrenn-bar an eine ikonische Zeichenhaftigkeit geknupft. Die Fotografie kann als"Dicent Sinzeichen" nur auf etwas zuruckgefuhrt werden, wenn ein "ikoni-sches Sinzeichen", das seinerseits auf eine "Idee des Objekts", eine "vertrau-te bildliche Vorstellung"44 (im Original: ,jamiliar image in my mind") ver-weist, involviert ist. Erst das ikonische Zeichen und dessen Erkennen quaVorstellungsvergleich lasst also eine qualitative Bestimmung der Fotografie,die der Ahnlichkeit des Gezeigten mit seinem Objekt, ins Spiel kommen.

Besonders einsichtig wird dieses Konzept an einer anderen Stelle, ander Peirce das an der Semiose beteiligte Komplement aus indexikalischerPartikularitat und ikonischer Ganzheit sehr anschaulich mit einer be-zeichnenderweise fiktiven Situation aus dem Roman Robinson Crusoe ex-emplifiziert:

So wurde, als Robinson Crusoe zuerst auf den Fuflabdruck stiefl, den man allge-mein als Freitags Fugabdruck bezeichnet, seine Aufmcrksamkeit, wie wir anneh-men konnen, auf eine Vertiefung im Sand hingdenkt. Bis zu dicsem Zeitpunkthanddte es sich nur um einen substitutiven Index, ein reines Erwas, das schein-bar ein Zeichen ftir erwas anderes ist. Doch bei naherer Untersuchung fand er,dag ,dort del' Abdruck von Zehen, cines Hackens und jedes Teils eines Fugeswar', kurzum eines Ikons, verwanddt in eincn Index, und dies in Verbindungmit seiner Gegenwart am Strand konnre nur als Index einer enrsprechenden Ge-genwart eines Menschen gedeutet werden.4'

Um die Wirklichkeit zu bezeichnen, spricht del' Buddhismus von sunya, demLecren, oder bessel' noch von tathata, dem so und nicht andel'S Beschaffenen,dem bestimmten Einen; tat bedeutet im Sanskrit dieses und erinnert an die Gestedes klcinen Kindes, das mit dem Finger auf erwas weist und sagt: TA, DA, DASDA! Eine Photographie ist immer die Verlangerung diesel' Geste; sie sagt: das da,gerUludas, dieses eine ist;·' und sonst nichts [... J; die Photographie [... ] deutet mit

Solange die Vertiefung im Sand als substitutiver Index gesehen wird, ist esein ,reines Etwas', ist es lediglich als Ansammlung f1irrender Daten ein An-zeichen von etwas ,anderem', das nicht genauer definiert ist. Erst nachdemdie Einzelheiten als ein Gesamtes, als eine Einheit aufgefasst, d. h. als Ab-druck eines FuBes, als Ikon gelesen worden sind, konnen sie im zweitenSchritt - unter Zuhilfenahme ihres Kontexts (namlich dass sie am Strandvorgefunden worden sind) und eines Vorwissens (uber die kurze Bestan-digkeit einer solchen Spur an einem Sandstrand) - als Index auf die Exis-tenz eines zweiten lebenden Inselbewohners interpretiertwerden.

Bei der Fotografie hat man es genaugenommen, wenn hier von einerVereinheitlichung oder In-Eins-Bildung die Rede ist, mit zwei Synthese-leistungen zu tun: Einerseits von der aufnahmetechnischen Seite, d. h.

1() Jacques Derrida: Grammatologie, tibers. v. Hans-Jorg Rheinberger u. Hanns Zisch-ler, Frankfurt a. M. 1974, S. 86.

41 Vgl. Geoffrey Batehcn: Burning with Desire. The Conception of Photography. Cam-bridge, Mass. u.a. 1999, S. 198-216.Krauss: "Notes on the Index" (wie Anm. 27), S.78.

43 Barthes: Die helle Kammer (wie Anm. 5), S. 12 F.44 Peirce: l'hiinomen und Logik der Zeichen (wie Anm. 22), S. 161.4, Ebd., S. 161 f; Hervorhebungen im Original getilgt und dureh cigene ersctzt.

76 MARTIN DOLL ZUR INDEXIKALITi\T DES Dll;I'IALEN 77

Indexikalitat und Wahrheitsanspruch filmischerund fotografischer Reprasentationen

Dies ist fur die Einschatzung visueller Information eine entscheidendeSchlussfolgerung, denn erst wenn etwas den Status einer Propositionhat - sei es durch eine pragmatische Echtheitsbehauptung oder sei esdurch eine buchstabliche Bildzuschreibung mittels einer Legende - lasstsich uberhaupt eine Unterscheidung zwischen richtig bzw. wahr undfalsch treffen. Ruft man sich noch einmal das manipulierte Bild aus demLibanon von Hajj ins Gedachtnis, so wurde mit ihm erst ab dem Zeit-punkt ein Wahrheitsanspruch verbunden, als es auf der pragmatischenEbene als dokumentarische Fotografie deklariert wurde - also mit demimpliziten Hinweis versehen wurde: "So ist es gewesen, als ich als Fotografvor Ort war"- und entsprechend institutionell gerahmt uber Nachrich-tenagenturen zirkulierte.49 Es selbst blieb in dieser Hinsicht inhaltsleer,weil es auch eine Kunstfotografie hatte sein konnen, die anderen Konven-tionen gehorcht.50

Der an Peirces Ausfuhrungen deutlich gemachte prekare indexikali-sche Status von Fotografien, namlich dass das theoretisch im Zeichen re-prasentierte Indexikalische praktisch nicht uberprufbar ist bzw. sich pha-nomenologisch der Gestaltwahrnehmung entzieht, hat weitreichendeImplikationen. Denn dass Indizes unter Voraussetzung bestimmter phy-sikalischer Vorannahmen als solehe interpretiert werden mussen, urnals indexikalische Zeichen zu fungieren - an einer Stelle spricht Peirce so-gar von einem "independent knowledge of the circumstances of theproduction"51 -, eroffnet neben dem scheinbaren Normalfall eines gelun-genen Verstehens des Zeichens zwei weitere gleichwertige Moglichkeiten,es zu (v)erkennen: Zum einen kann ein Index, selbst wenn eine existenti-

beispielsweise uber die Wahl des Ausschnitts und Blickwinkels sowie derBlende und der Belichtungszeit, die bei der Aufzeichnung daruber ent-scheidet, wie die Lichtstrahlen - und welehe - durch die fotografische Ap-paratur auf die fotochemische Emulsion gebracht werden; andererseitsvonseiten des menschlichen Betrachters, der die wiederum von der Foto-grafie ausgehenden Sinnesdaten wahrnimmt und auf bestimmte Weisezusammensetzt. Die Indexikalirat des Fotografischen, von der Peircespricht, rechtfertigt also keinen naiven Abbildrealismus, sondern grundetsich auf ein Vorwissen, komplettiert sich zu einer Vorstellung eines Ob-jekts nur kraft komplexer Bezugnahmen auf andere Zeichenkategorienund mentale bildliche Vorstellungen. Erst dadurch vermittelt die Fotogra-fie den Eindruck des - urn es mit Roland Barthes beruhmter Wendung zuformulieren - "C;a-a-ete'.46 Auch Kracauer streift diese Verbindung vonIndexikalischem und Ikonischen, von Schwarzungspunkten und bildli-chern Erkennen. Er schreibt: "Wer durch die Lupe blickte, erkennte denRaster, die Millionen von Punktchen, aus denen die Diva, die Wellen unddas Hotel bestehen. Aber mit dem Bild ist nicht das Punktnetz gemeint,sondern die lebendige Diva am Lido". 47

Peirce kommt explizit darauf zu sprechen, dass weder ein rein indexikali-sches noch ein rein ikonisches Zeichen etwas behaupten konnen. Es bedarfihrer Kombination, damit eine Behauptung (assertion) entsteht:

It is remarkable that while neithet a pure icon nor a pure index can assertanything, an index [... J which forces us to regard (something, M.D.) as an icon,as the legend under a portrait does, does make an assertion, and forms a ptoposi-tion.J!H

49 Dieses institutionelle Wahrheitszertifikat cler Potografie, das analytisch von dcren

Eigensinn zu unterscheiden ist, kommt beispielsweisedarin zum Ausdruck, dass es- semiotisch formuliert - auf der pragmatischen Ebene abgesichert werden muss.Der Bundesverband der Pressebild-Agenturen hat beispielsweisebereits 1999 initi-iert, jedes manipulierte Foto - sei es durch Monragen, Ausschnitre, Freistellungenoder farbliche Veranderungen - in der Bildunterschrift mit einem ,,[M]" zu kenn-zeichnen (vgl. Michael Biedowicz/Elien Dietrich: "Und bei der Zeit? Die Bildchefsder ZEIT und des ZEITmagazins Uberihre Arbeit mit Fotos". In: Zeitmagazin Le-ben, H. 24 [2008], S.22-23, hier: S.23).

50 Tom Gunning betont dies ebenfalls in aller Deutlichkeit: "Bereft of language, aphotograph relieson poeple to say things abolIt it for it. [... ] [l]n order to speak thetruth the photograph must be integrated into a statement, subjected to complex ru-les of discourse -legal rhetorical and even scientific (discussingall the aspect of thephotograph, its exposure, developing, printing)" (Tom Gunning: "What's thePoint of an Index' Or, Faking Photographs". In: NORD[COM Review 5.1-2(2004), S.39-49, hier: S.42.

51 Peirce:"Logic as Semiotic" (wieAnm. 28), S. 106; Hervorhebung von mit.

4(, Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie. Paris 1980, S. 120. Andicser Stelle ist es wichtig zu erganzen, dass die delItsche Dbersetzung "Es-ist-so-ge-wesen", obwohl bei Barthes "comme <;a"nicht zu lcsen ist, irrefUhrend ist - irrefuh-rend, weil sie eine allgemeine modale Bestimmung bzw. Analogie impliziert. BeiBarthes indes ist der Aspekt der Vergangenheit vorrangig und die Stelle mUsstelau-ten: "Es [unbcstimmt] ist gewesen" (vgl. Barthes: Die helle Kammer (wie Anm. 5),S.89.Kracauer: "Die Photographie" [1927]. In: ders.: Das Ornament der Masse. Frank-furt a. M. 1963, S.21-39, hier: S.21.

4H Peirce, The Essential Peirce, Bd. 2 (wie Anm. 25), S.307 (~EP 2.307).

78 MARTIN DOLL ZUR INDEXIKALITAT DES DI(;rrALEN 79

elle Relation zu seinem Objekt besteht, unerkannt bleiben, wenn er nichtals solcher interpretiert wird (dies andert zwar nichts an seinem Starus52,

fuhrt aber dazu, dass er nicht verstanden wird). Zum anderen aber kannetwas als Index auf ein Objekt gedeutet werden, obwohl eigentlich keineexistentielle Beziehung zwischen beiden besteht: So kann Rauch, das hau-fig als Beispiel fur ein indexikalisches Zeichen angefuhrt wird, weil es ineiner kausalen Relation zu Feuer steht, unter Umstanden von einer Ne-belkerze stammen und dennoch als Zeichen fur ein Feuer gelesen werden.Und auch das Legen von falschen Spuren, von falschen FuGspuren hateine lange Tradition in der Geschichte.53

Ahnlich erzeugt ein synthetisch erzeugter fotografischer oder film i-scher Look ein vermeintliches Wissen von einer bestimmten physikali-schen Verbindung eines Bildes zur Realitat; dabei handelt es sich urn visu-die Eigenschaften, die anscheinend dessen Indexikalitat beglaubigen. Indiesem Fall ubernimmt das Ikonische des Zeichens die Herrschaft uberdas Indexikalische. Anders gesagt, das kraft seiner non-existenten figurati-ven Phanomenalitat54 epistemologisch auGerst unsichere indexikalischeZertifikat des Fotografischen - die immer schon als nicht uberprufbareund daher unverlassliche Voraussetzung fungierende Annahme einer exis-tentiellen Relation der Fotografie zu ihrem Objekt - verlangert sich imgenannten Fall fur visuelle Reprasentationen, die nur das Wissen von ei-nem indexikalischen Zeichenstatus aufrufen, ohne die Voraussetzung da-fur tatsachlich zu erfullen.55 Unter Umstanden algorithmisch erzeugteBilder werden dann praktisch als indexikalische aufgefasst - auch wennsie theoretisch nicht mehr unter diese Kategorie fallen.

Fuhrt man sich vor diesem Hintergrund noch einmal das Beispiel vonPeirce vor Augen, dem zufolge Crusoe die FuGspuren unter Zuhilfenah-me ihres Kontexts und eines Vorwissens als Index auf die Existenz eineszweiten Inselbewohners interpretiert hat, so ist diese Kontextualitat auch

bei audiovisuellen Medien von entscheidender Bedeutung: Nicht nur beider Forografie, sondern auch bei Film und Video sind neben der komplexzustande kommenden visuellen Informarion der Einzelbilder - sei es, dassman darin ein Wissen von ihrer Indexikalitat investiert oder sie zudemikonisch deutet - weirere Kontextualisierungen am Werk, die uber ihreEvaluation maGgeblich entscheiden. Walter Benjamin hat diesen grundle-genden operariven Zusammenhang von Bewegtbildern - semiotisch for-muliert: ihre syntagmatischen Beziehungen, d. h., in welcher Reihung sieerscheinen - in einem Satz zusammengefasst:

Die Direktiven, die der Betrachter von Bildem in der illustrierten Zeitschriftdurch die Beschriftung erhalt, werden bald darauf noch praziser und gebiereri-scher im Film, wo die Auffassung von jedem einzelnen Bild durch die Folge allervorangegangenen vorgeschrieben erscheinrY'

Neben dem maGgeblichen Einfluss, den die Verkenung von Filmeinstel-lungen auf ihre Einzelevaluation hat - ein Effekt, den schon sehr fruh Ku-leschow bei seinen Experimenten entdeckt hat -, ist im Bereich des Filmi-schen noch eine Reihe weiterer Elemenre nicht zu vergessen, die sich in derVorstellung des Zuschauers zu einem filmischen Gesamteindruck oder zueiner dokumenrarischen Behauptung synthetisieren: Sprache (in Grafikund Wort) ebenso wie Ton. Denn obwohl es die Bezeichnung nahelegt,muss man sich vergegenwartigen, dass man es beim Film nicht nur mit ei-nem Sehen, sondern seit der Einfuhrung des Tonfilms mit einem Horenund damit auch mit dem sinnfalligen Verhaltnis zwischen Ton und Bild,zwischen Text und Bild zu tun hat. Diese textlichen und auditiven Ele-mente haben einen entscheidenden Anreil an der Bedeutungsproduktion,weil sie auf bestimmte Bildaspekte hinweisen oder andere in den Hinter-grund treten lassenY Zerlegt man die Bild-Sprache-Ton-Relationen inihre Einzelteile, wird deutlich, dass mit Voice-over, Schrifteinblendungenund Gerauschen Bildern ein Sinn supplementiert wird, der ihnen auGer-

'2 Auch hier wird Peircesehr deutlich: "An index is a sign which would, at once, losethe characrer which makes ir a sign if its object were removed, bur would not losethar characrer if there were no interpretanr" (ebd., S. 104).

\.\ Diese ,falschen' Spuren bleiben strenggenommen indexikalisch, weil auch sie sichdurch eine kausale Relation Zl1 ihrem Objekt auszeichnen. Es handelt sich dabeinur - wie auch schon bei den weirer vome angefuhrten fotografischen Falschungen- um andere Objekre als die durch die Inrerpretarion angenommenen.

'" Damir isr beispielsweise,wie man in Anlehnung an Ecos Definition der ikonischenCodes der figurae formlieren konnre, das Erkennen von Figur-Hinrergrund-Bezie-hungen gemeinr (vgl. Eco: "Die Gliederung des filmischen Code" (wie Anm. I),S.237).

" Dies gilt auch fur die eingangs angefuhrten Geisterfotografien Mumlers.

,6 Walter Benjamin: "Das KUllSrwerkim Zeitalter seiner technischen ReprodUZierbar-keit" [Dritte Fassung]. In: Gesammelte Schriften. Hg. v. RolfTiedcmann/HermannSchweppenhauser, Bd. 1.2. Frankfurt a. M. 1991, S.471-508, hier: S.485.

\7 Strenggenommen handelt es sich bei bestimmten Gerauschen bzw. Soundeffektenund textlichen ErkIarungen wiederum um indexikalische Zeichen, bedenkt manPeirces umfassende Definition, dass ,,[a]nything which focusses the attention is anindex. Anything which startles us is an index, in so far as it marks the junction bet-ween rwo portions of experienece. Thus a tremendous thunderbolt indicates thatsomething considerably happended, though we may not know preciselywhat theevenr was. But it may be expected to connect itself with some other experience"(Peirce:"Logic as Semiotic" (wieAnm. 28), S. 108).

80 MARTIN DOLL

Abb. 14: Standbilddes Videos vonder Demonstration

lich ist. Mit anderen Worren: Der Gebrauch, den man von Filmeinstellun-gen macht, ist dutch die einzelnen Bilder nicht vorgeschrieben.58 Denktman die zuletzt zitierren Oberlegungen Peirces und Benjamins zusammen,werden Bilder meist erst kraft der Beiordnung sonorer und sprachlicherZeichen oder anderer Bilder zu Aussagen verdichtet - zu Aussagen, dietrotz der Indexikalitat der visuellen Darstellungen wahr oder falsch seinkennen. Der Kontext der Aufnahme ist also in den Bildern nie restlos ab-gelegt und lasst sich auch nie vollkommen reproduzieren, sondern allen-falls unter Zuhilfenahme sprachlicher und filmischer Mittel (re)konstruie-ren; umgekehrr lasst er sich daher mit weitreichenden Konsequenzenvariieren. Was als Kontext oder Umfeld eines Bildmotivs erscheint - seies noch in einer Liveuberrragung - ist daher immer Ergebnis zahlrei-cher Wahlentscheidungen oder Ausschlusse sowie montagebedingter undsprachlicher Deutungen.

Eine medienmaterialistische Betrachtung der digitalen Prozessierungbzw. Manipulierbarkeit von Bildern und Tenen sorgt daher allenfallsdafur,diese mit einem berechtigren grundsatzlichen Zweifel zu versehen, der al-lerclingsangesichts analoger Bildtechniken - denkt man an die bereits an-gefuhrren fruhen Foro(ver)falschungen oder seien es mit entsprechenden,Direktiven' versehene Forografien oder Videos - auch immer schon ange-bracht war. Beruhmte Beispiele dafur waren die ,Bildberichterstattung' uberTrittins Beteiligung an einer gewalttatigen Demonstration (Abb. 14, 15)und die gefalschten Magazinbeitrage von Michael Born fur stern Tv.

58 Chtis Market hat die MaEgeblichkeit der genannren Korrelationen zum Gegen-stand seines Films Lettre de Siberie (1957) gemacht, in dem an einer Stelle eine be-stimmre Filmsequenz mir idenrischen Bildern dreima! wiederholt wird, aber jeweilsmit einem anderen Text-Kommenrar (einma! pro-sowjetisch, einma! politisch neu-tra!, einma! anri-sowjetisch) versehen ist, wodurch sich die Bedeutung, die der Zu-schauer im Gezeigren sieht, jedes Ma! radika! andere.

ZUR INDEXIKALITAT DES DIGITALEN 81

Abb. 15: Abbildung zu"Was machte Minister Trirrin

auf dieser Gewa!t-Demo''', in:Bild-Zeitung (29. 1. 2001)

Was machle Minister IriDinauf dieser Gewaft-Demo?e;:::;: =i:..-;.=.z:: ~:t-::=5lf"~.:€e-~.g

Damit durfte hinreichend begrundet sein, dass aus semiotischer Pers-pektive zwischen Indexikalitat und Wahrheitsanspruch von Forografienbzw. Filmbildern unterschieden werden muss. Zum Ende bleibt noch dieFrage zu beantworren, ob mit der Verfugbarkeit digitaler Technik aus me-dienmaterialistischer Sicht die semiotischen Vorraussetzungen fur die In-dexikalitat des Forografischen oder Filmischen verloren gegangen sind.Urn die gesamte Dimension des indexikalischen Zeichens zu erfassen, solidaher von dessen Verstehensbedingungen noch einmal zu dessen notwen-digen Entstehungsbedingungen ubergegangen werden.

Zur Indexikalitat des digital en Signals

H~er gil.t es zu re.kapitulieren, dass fur Peirce ein Index zwangslaufig eineeXlstentielleVerbmdung zu seinem Gegenstand zur Voraussetzung hat. Beider analogen Forografie ist diese Kontiguitat physikalisch dadurch gege-ben, dass die Lichtstrahlen, die von einem Objekt reRektierr werden, beider Belic~tu~g des Films eine chemische Reaktion des Filmkorns zur Folgeh~ben, dIe. slch dutch Entwicklungsprozesse als dessen Schwarzung aus-wlr~en. Bel genauerer Betrachtung kann auch im Falle der digitalen Bild-spelcherung von einer existentiellen Beziehung gesprochen werden, inso-fern das Licht zwar nicht von Filmmaterial aufgezeichnet wird, aber dutchCCDs in elektrische Ladungen verwandelt wird, welche wiederum digitalgewandelt und so gespeicherr werden. Eine physische oder kausale Verbin-dung bleibt, selbst wenn es, wie schon beim Analogen gezeigr, auf der pha-nomenalen Ebene keine visuelle Garantie dafur gibt. Wenn man die Mate-rialitat des analogen Films gegen den digitalen ausspielt, argumentierr manfast so, als ware das Digitale etwas geisterhaft Non-Substanzielles, das kei-

82 MARI'JN DOLL ZUR INDEXIKALIIAT DES DI(;nALlN 83

ne physische Realitat beansprucht. Aber auch Phanomene im Nanobe-reich, Magnetisierungen auf einer Festplatte und Einschreibungen einesLasers auf einer DVD oder einer Blu-ray Disc sind materielle Phanome-ne.S9

Noch ein anderer technischer Aspekt bedarf in diesem Zusammen-hang einer Klarung: Denn haufig wird als Differenzkriterium zwischendem Analogen und dem Digitalen generell die CCD- Technologie ange-fiihrt bzw. diese mit einer digitalen und damit nicht mehr indexikalischenBildaufzeichnung in eins gesetzt. Das ist jedoch falsch: CCD-Chips, wiesie in ihrer technisch weiterentwickelten Variante mittlerweile beim Drehvon Kinofilmen zum Einsatz kommen, miissten namlich korrekterweisemit der Quantenphysik, einer analogen Technik, und nicht mit dem Di-gitalen in Verbindung gebracht werden. Sie befanden sich auch schon inanalogen elektronischen Kameras (anfangs eher im Consumer-Bereichund ersetzten spater zunehmend im Profi- und Studiobereich die Rohren-kamera-Technik). Aber was ist ein CCD? CCD steht fiir "Charge Coup-led Device", zu deutsch: ladungstragergekoppelte Schaltung. Man musssich die CCD-Chips als Raster von einzelnen Zellen vorstellen (mehr Zel-len auf dem Raster, mehr Bildpunkte, mehr Megapixel). Durch Belich-tung der einzelnen Zellen entsteht ein elektrisches Potential analog zumLichteinfall, bei mehr Licht entsteht mehr Ladung. Nach jeder Belich-tungsphase (bei der digitalen Kinematografie also in der Regel 1/24 Se-kunde) werden die angesammelten Potentiale wie in einer Eimerkette vonZelle zu Zelle in eine Leitung abgeleitet, wo sie - verkiirzt gesagt - ausge-messen werden und ein Signal bilden. Dabei wird - wie man in Anleh-nung an Luhmann formulieren konnte60 - ein Nebeneinander von elek-trischen Potentialen in ein Nacheinander verwandelt, schliemich gemes-

sen und so in eine Reihe von Datenwerten iibersetzt. Wie diese Messwer-te dann gespeichert werden, ob als analoge Schwingungen oder in binarerForm, also digital, hat mit der CCD-Technik gar nichts zu tun. DieserDbersetzungsprozess von einem Nebeneinander in ein Nacheinanderzeichnete indes auch von Anfang an die analoge Femsehtechnik mit ihrenin Punkte auf Zeilen ,aufgelosten' Bildem aus und ist auch das Grund-prinzip elektronischer Rohrenkameras. Der Unterschied zwischen Ana-log- und Digitaltechnik besteht also nur im digitalen Sampling und dernachfolgenden digitalen Aufzeichnung dieser quantisierten Daten.61

Wenn Peirce als Beispiele fiir einen Index eine Barometeranzeige, eineSonnenuhr, ein Metermag und - besonders instruktiv - von der Kustenwa-che herausgegebene Mitteilungen mit Zahlenangaben zum Langen- undBreitengrad bestimmter ozeanischer Objekte62 anfuhrt, musste jedoch furjede auch digitale Form von Messergebnis gelten, dass es indexikalisch ist.Tom Gunning reigt daher vollig zu Recht die an digital quantisierten Mess-werten festgemachte Unterscheidung zwischen dem vormals Indexikali-schen und dem angeblich nicht mehr indexikalischen binaren Code des Di-gitalen ein:

Long before digital media were introduced, medical instruments and other inst-rument [sic] of measurement, indexical instruments par exccllance [sic] - such asdevices for reading pulse rate, temperarure, heart rate, etc, or speedometers, windgauges, and barometers - all converted their information into numbers(,;

Obwohl soeben von einem "Nur" des digitalen Samplings als Differenzie-rungsmerkmal zur analogen Bildtechnik die Rede war, hat dies eklatanteAuswirkungen auf den Status der Zeichenphanomenalirat. Denn wahrendbeim chemisch-physikalischen Filmprozess die empfangenen Lichtdatenausschliemich visuell umsetzbar bzw. ubersetzbar sind64, sind im Vergleich

)') Hans-Ulrich Reck schreibt in seinem Buch Mythos Medienkunst zu Recht, dass indiesem Zusammhang die Bezeichnung Virtuelle Realitat haufig flit alles bemlihtwetde, "das teal ist, ohne ptinzipiell einer physikalischen Ausdehnung in einer flirmcnschliche Gragenverhalrnisse typischen Weise zu bedlirfen." Die Behauprungvon dimensions- und raumlosen, jenseits physikalischer Gesetze siruierten Phano-menen sei jedoch srrikter Unfug, denn zum Beispiel Lichtgeschwindigkeit und na-nomillimeter-groge Operatoren oder Roboter geharten immer noch zum physika-lischen Universum, wenngleich manche physikalischen Phanomene schlicht dieVorstellungskraft liherstiegen (vgl. Hans-Ulrich Reck: Mythos Medienkunst. Kaln2002, S. 45 f.).

(,0 Bereits Luhmann rlickt dies in den Zusammenhang der Umformung analoger in"digitale Vcrhalrnisse". FLir ihn ist diese Transformation jedoch schon "eine Funkti-on der Sprache, die ein kontinuierliches Nebeneinander in ein diskontinuierlichesNacheinandcr verwandelt." (Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft,Bd. 1, Frankfurt a. M. 2006, 5.101)

61 Die Ausflihrungen zum CCD-Chip sind angelehnt an: Hagen: "Die Entropie derFotografie" (wie Anm. 18), S. 221 f. u. 234.

62 Vgl. Peirce: "Logic as Semiotic" (wie Anm. 28), S. 108 f.63 Gunning: "What's the Point of an Index)" (wie Anm. 50), S. 40 Wolfgang Hagens

in seinem ansonsten augerst instruktiven Aufsatz getrofTene Schlussfolgerung,"eine Messung ergibt niemals das Zeichen des Dings", ist daher in diesem Zusam-menhang zurlickzuweisen, weil dahei die Komplemcntaritat der Entstehungs- undErscheinungsmodi eines indexikalischen Zeichens, d. h., wie es zustande kommtund wie es sich zeigt, auger Acht gelassen wird (Hagen: "Die Entropie der Fotogra-fie" (wie Anm. 18), S. 234).

64 Auch dies gilt nur mit Einschrankungen fur samrliche analogen Bildmedien, denneine gewisse Bedeurungsoffenheit mlisste schon flir analogc c1ektronische Schwin-gungen gel ten, weil diese ehentalls durch cine Verschiebung des Frequenzspcktrums

84 MARTIN DOLL ZUR INDLXIKAI.ITiiT DES DI(;IIALLN 85

dazu die indexikalischen Digitalsignale beztiglich ihres Darstellungsmoduswei taus ergebnis- und bedeutungsoffener. Wahrend im ersteren Fall- urnmit Peirce zu sprechen - eine Verkorperung des Indexikalischen nur mit-tels ikonischer Zeichen moglich war, konnen digital gewandelte Licht-messdaten z. B. auch zu Tonen prozessiert werden. Dennoch hat man esdabei mit indexikalischen Zeichen zu tun, denn die weiter oben angeftihr-te Unbestimmtheit des Indexikalischen hat theoretisch auch zur Folge,dass etwas indexikalisch sein kann, ohne zugleich Bild zu sein bzw. ohnenorwendig in eine bildliche Reprasentation tibersetzt werden zu mtissen.65

Dabei ist eben falls vor Augen zu halten, dass, wenn von digitaler Foto-grafie oder digitalem Kino die Rede ist, immer nur die digitale Aufzeich-nung, Speicherung und Dbertragung von Lichtdatenanordnungen ge-meint sein kann. Auf der Darstellungsebene, sei es auf dem Monitor oderauf der Kinoleinwand, mtissen die digitalen Signale in analoge tibersetztwerden. Daflir sorgen die sogenannten D/A-Wandler. Denn digitale Sig-nale kann man nicht sehen, "weil menschliche Sinne nur kontinuierlicheSchwingungen wahrnehmen konnen".66 Auf der phanomenalen Ebenekann man daher strenggenommen gar nicht von digitalem Kino spre-chen, sondern allenfalls seine analogen Effekte betrachten.

Insofern konnte vielleicht sogar der hohe Abstraktionsgrad der in digi-tale Signale tibersetzten Bildmessdaten (die zwar informationstechnischda sind, aber nicht verstanden oder wahrgenommen werden konnen) zueinem besseren Verstandnis der eigenttimlichen Bedeutungsleere des In-dexikalischen als rein Zeigendes beitragen. Denn dadurch wird intelligi-bel, dass das Fotografische immer schon auf ein zweites Prinzip, das Ikoni-sche angewiesen war. Zugespitzt formuliert hat man es bei digitalenSignalen vielleicht wirklich erstmals in der Geschichte mit reinen, "pu-ren" Indizes zu tun. Sie sind da und zeugen als Zeichen n ur von einer exis-

tentiellen Relation zu ihrem Objekt, harren aber ihrer weitergehenden Si-gnifikation und Versinnlichung, d. h. bleiben so lange bedeutungsoffen,bis sie, in welcher Form auch immer, (analog) verkorpert bzw. wahrnehm-bar gemacht werden. Insofern kann auch vielleicht wirklich erstmals inder Geschichte von einer Wahrheit des Indexikalischen gesprochen wer-den, aber von einer, die unsinnig bleibt, weil sie nur innerhalb der mathe-matischen Kommunikationstheorie ihren Platz hat und semiotisch (noch)nicht fassbar ist. Mit Verweis auf Bernhard Siegert Iasst sich diese prekareWahrheit des indexikalischen digitalen Signals - eine Wahrheit, die aufdessen Nichtverstehbarkeit oder Bedeutungsleere, auf einem "blofSenDass" beruht - auf die von Claude E. Shannon theorerisierte radikaleTrennung zwischen Information und Sinn, zwischen mathematischenund semantischen Aspekten der Kommunikation zurlickflihren: "Entwe-der hat man die Wahrheit (marhematische Kommunikationstheorie,M.D.): dann versteht man nichts oder man hat den Sinn (semantischerAspekt der Kommunikation, M.D.): dann ist man betrogen."('7

Ausblick

Durch die Ausftihrungen dtirfte hinreichend klar geworden sein, dass diePeirce'sche Zeichenkategorie des Indexikalischen nur bedingt geeignet isr,als fundamentales Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Analogen unddem Digitalen zu dienen. Zugleich dtirfte einsichtig geworden sein, dassim Rtickgriff darauf weder eine generelle nostalgische VerkIarung analogerMedien noch eine allgemeine medienskeptizistische Achtung des Digira-len sinnvoll zu leisten ist. Aber moglicherweise konnen die vorgebrachren,vornehmlich destruktiven Dberlegungen dazu beitragen, bestimmte noto-rische Argumentationsmuster fragwtirdig werden zu lassen, so dass einBlick frei werden kann auf die signifikanten Unterschiede, auf die eigentli-chen Bezugspunkte einer - wenn man so will - digitalen Revolution. An-gesichts der Herausforderungen durch die Digitalisierung bieret sich nam-lich tatsachlich die Chance, auch vergangene Medien wissenschaftlich ineinem anderen Licht erscheinen zu lassen. Doch dafiir bedarf es der Kon-

harbar gcmacht werden kannen. Dariiber hinaus ware es auch cine interessante Fta-ge, ob es nicht vielleicht sogar schon histotische Experimente gab, Filmbilder durchLichttonabnehmer harbar zu machen. Der umgekehrte Weg, Tone in Lichtbilder(zumindest fiir den Filmprojektor) zu iibersetzen, gehart hingegen zum technischenStandard der Lichttontechnik.

1,1 Bei der sogenannten Soniflkation oder Audiflkation macht man sich dies insofernzunutze, als Messdaten auf akustischem Wege dargestellt werden, erwa um Abwei-chungen zu erkennen oder die Erstellung von Datenclustern zu erleichtern. Dieseharbaren Messdaten sind ebenfalls als indcxikalisch zu verstehen (vgl. dazu dieWebseite der ,International Community for Auditory Display (ICAD)': www.icad.org).

1,1, Jens Schrater: "Analog/Digital- Opposition oder Kontinuum?". In: ders.lAlexan-der Bahnke (Hrsg.): AnaloglDigital- Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie undGeschichte einer Unterscheidung, Bielefeld 2004, S. 7-30, hier: S. 24.

(,7 Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post! 75! -! 913, Ber-lin 1993, S. 281. Shannon schreibt selbsr: "Frequently the messages have meaning;that is they refer to or are con'elated according to some system with certain physicalor conceptual entities. These semantic aspects of communication arc irrelevant tothe engineering problem." (Claude Elwood Shannon: "The Mathematical Theoryof Communication". In: The Bell System 7i:chnical journrzl27 ..3-4 (1948), S.379-423 u. 623-656, hier: S. 379)

86 MARlIN DOLL

struktion von Differenzkriterien, die mehr Bestand haben als die geradeinfrage gestellten.

AbschlieGend sei daher noch einmal daran erinnert, dass die Zeichen-haftigkeit von Fotografie und Kinematografie nur ein Teilaspekt von derensinnlicher Erfahrung ist. Die weitreichenden auch asthetischen Verande-rungen des Kinos durch die Digitaltechnik sind - insbesondere angesichtsdes noch jungen und noch lange nicht kiinstlerisch ausgeschopften 3D-Films - nicht zu unterschatzen. Vielleicht besteht das Wesentliche auchdieser Filmkunst eben nicht in ihrem Abbildcharakter, sondern in ihrerKraft - wie man in Anlehnung an Bazin formulieren konnte -, etwas unse-ren Realitatsvorstellungen hinzufUgen zu konnen.68

(,X Bazin: "Ontologie des forografischen Bildes" (wie Anm. 7), S. 63.

Teil II

Effekte cler Digitalisierung

Mediengeschichte des Films Film im ZeitalterNeuer Medien II

Herausgegeben von Harro Segebergin Zusammenarbeit mit Knut Hickethiet, Corinna Muller

und dem Metropolis-Kino Hamburg.

BAND 8: Film im Zeitalter Neuer Medien IIDigitalitat und Kino

Digitalitat und Kino

Mediengeschichte des FilmsBand 8

Herausgegeben vonHarro Segeberg

BAND 1: Die Mobilisierung des SehensZur Vor- und Fruhgeschichte des Films in Literatur und Kunst

BAND 2: Die Modellierung des KinofilmsZur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm

BAND 3: Die Perfektionierung des ScheinsDas Kino det Weimarer Republik im Kontext der Kiinste

BAND 4: Mediale Mobilmachung I -Das Dritte Reich und der Film

BAND 5: Mediale Mobilmachung II -Hollywood, Exilund Nachkrieg

BAND 6: Mediale Mobilmachung III -Das Kino in der Bundesrepublik Deutschland als Kulturindustrie

(1950 - 1%2)

BAND 7: Film im Zeitalter Neuer Medien 1-Fernsehen und Video Wilhelm Fink

Gedruckt mir freundlicher UnterstUtzungder Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung

Inhalt

Umschlagabbildung:Gethard Muche und Harro Segeberg nach Motiven aus Metropolis (1926)

Avatar (2009), Welt am Draht (1973) undJurassic Park II Making 0/(2005).

Einleitung

Harro Segeberg:Antimimetische Mimesis. Zur Medialitat undDigitalitat des Kinofilms . 9

Teil IStrategien der Digitalisierung

Rudiger MaulkoMimesis und Anthropologie des Digitalen:Synthetischer Fotorealismus im Kino 29

Martin DollEntzweite Zweiheit? Zur Indexikalitat des Digitalen 57

Bibliographische Information der Deurschen Nationalbibliothek Teil IIEffekte der Digitalisierung

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeurschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet Uber http://dnb.d-nb.de abrufbar.Klaus KohlmannIllumination und Material- technische Komponentendes computergenerierten Films . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Aile Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen

Wiedergabe und der Obersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Verviel-faltigung und Obertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder

durch aile Verfahrcn wie Speicherung und Obertragung auf Papier, Transparente,Filme, Bander, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG

ausdrUcklich gestatten.

Barbara FluckigerComputergenerierte Figuren in Benjamin Button und Avatar.Technik und Asthetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 109

© 2012 Wilhelm tink Verlag, MUnchen(Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, JUhenplatz I, 0-33098 Paderborn)

Jens Eder, Jan-Noel ThonDigitale Figuren in Kinofilm und Computerspiel. . . . . . . . . . . . . .. 139

Internet: www.fink.de Markus KuhnDigitales Erzahlen? Zur Funktionalisierung digitaler Effckteim Erzahlkino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, MUnchenPrinted in Germany

Herstellung: Ferdinand Schoningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5327-3

6 INIIALI

Teil IIIPraktiken der Digitalisierung

Jan DistelmeyerMachtfragen. Home Entertainment unddie Asthetik der Verfugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 225

Franziska HellerPrettier than Ever. Die digitale Re-Konstruktionvon Filmgeschichte und ihre Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 253

Einleitung

Heinz HieblerDigital Tools. Filmanalyse und Filminterpretationim digitalen Zeitalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 275

Filmregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 307

Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3 I 1

Zu den Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 315