Die Rolle des Bronzegusses der griechischen Skulptur im klassischen Aufbruch_BA-Arbeit
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Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät III Institut Winckelmann Sommersemester 2011 Leitung: Prof. Dr. phil. Stephan G. Schmid
Die Rolle des Bronzegusses der griechischen Skulptur im klassischen Aufbruch
(The role of casting bronze in the Greek sculpture during the dawn of the
Classic) Pablo Jiménez Salinas Pappelallee 62 Fachsemesterzahl: 6 10437 Berlin Studienfächer: [email protected] Archäologie und Kulturwissenschaft Tel. 030 89658671 Archäologie Nordostafrikas
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Inhaltverzeichnis
1. EINLEITUNG .................................................................................................................. 3
2. STILISTISCHE MERKMALE DER ENTWICKLUNG DER GRIECHISC HEN SKULPTUR VON DER ARCHAISCHEN ZEIT BIS DER KLASSIK I M AUFBRUCH (STRENGER STIL) ................................................................................................................. 5
3. DIE WANDLUNG DER GRIECHISCHEN SKULPTUR VON DER ARCHAISCHEN ZEIT BIS ZUR KLASSIK................... ...................................................11
4. DIE VORWIEGENDE VERWENDUNG VON STATUEN AUS BRONZE I M 5. JH. V. CHR. ............................................................................................................................ 13
5. ZUM ANTIKEN BRONZEGIEßEN............................................................................ 14
5.1. Die Forschungsgeschichte der Technik des Gussverfahrens griechischer Bronzestatuen ............. 14
5.2. Zu den literarischen Quellen................................................................................................................ 16
5.3. Das Gussverfahren griechischer Bronzestatuen in der Antike im Überblick.................................. 16
6. HOLZ-TONMODELL ODER NATURABGUSS?..................................................... 19
6.1. Holz-Tonmodell..................................................................................................................................... 20
6.2. Das Naturabgussverfahren .................................................................................................................. 24
6.3. Die Rolle der Technik der Rüstungsherstellung bei der Anfertigung von Großbronzestatuen..... 35
6.4. Zur Statuengröße................................................................................................................................. 39
7. DIE TECHNISCHE ENTWICKLUNG DER GROßEN BRONZEN WÄHRE ND DER WANDLUNG VON DER ARCHAISCHEN ZEIT BIS ZUR FRÜHK LASSIK .... 40
7.1. Der Apollon von Piräus ........................................................................................................................ 40
7.2. Der Ephebe von Seliunt ........................................................................................................................ 43
7.3. Der Poseidon von Livadhostro............................................................................................................. 46
7.4. Der delphische Wagenlenker ............................................................................................................... 48
7.5. Der Gott aus dem Meer (Artemision God) ......................................................................................... 50
7.6. Die Riace-Bronzen ................................................................................................................................ 53
8. ZUSAMMENFASSUNG ............................................................................................... 54
LITERATURVERZEICHNIS .............................................................................................. 56
ABBILDUNGSVERZEICHNIS ........................................................................................... 61
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1. Einleitung
„In our study of freestanding sculpture of antiquity, we have traditionally
pursued questions of style of iconography. Even today, an author may pay little
attention to medium or to the technology needed to work a medium, glossing over
the materials of sculpture as if they were somehow equal. And yet the technical
differences called for in working various media have a major effect on how a
finished sculpture is achieved and how it looks. We could even argue that the
appearance of a statue depends a great deal more on the technician’s manipulation
of the medium than it does on the artist’s original idea. Once we recognize the
importance of adding this dimension to our consideration of antique sculpture, we
can return to the actual contribution of the artist and to the collaborative skills that
were developed by artist and artisans working together.”1
Die griechische Skulptur zeigt am Beginn des 5. Jh. v. Chr. eine radikale Veränderung
im Vergleich zu der früheren archaischen Zeit hin zu einer anatomischgetreuen menschlichen
Körpergestaltung. Die bisherige Forschung erklärt dies durch eine erweiterte Wahrnehmung
der menschlichen Anatomie und eine reine ästhetische Entwicklung der griechischen Skulptur.
Lediglich der plastischen Qualität des Tons wurde Bedeutung in der Modellierung
beigemessen2. Wenn man das oben angeführte Zitat von Carol Mattusch bedenkt, wird hier
nach eine Erklärung gesucht, die nicht nur stilistische oder philosophische oder historische
Gründe, sondern auch die technischen und materiellen Merkmale der griechischen Skulptur
dieser Zeit berücksichtigt.
Auf der Suche nach einer technischen Erklärung dieser Veränderung werden hier zuerst die
allgemeine Merkmale und Unterschiede der griechischen Skulptur zwischen dem archaischen
Zeitalter und der Klassik im Aufbruch untersucht. Danach wird auf die von der Forschung
bisher vorgeschlagenen Gründe für diese Veränderungen eingegangen. Im Folgenden wird
das technische Verfahren des Bronzegusses erläutert, kritisch untersucht und diskutiert in
Bezug auf die literarischen Quellen und deren heutige archäologische Interpretationen.
Anhand der archäologischen Funde werden deren Schlussfolgerungen überprüft. Dabei wird
1 Matthusch 1996, ix 2 Vgl. Haynes 1992, 57
4
insbesondere das Problem der Verwendung eines Modells beim Bronzegussverfahren
analysiert, aus dem sich die entscheidenden Argumentationen für die Arbeitshypothese dieser
Arbeit entwickeln.
Ich vertrete bei dieser Arbeit folgende Arbeithypothese:
Die technische Entwicklung des Bronzegusses und im Besonderen des Naturabgusses spielte
eine wichtige Rolle bei der Wandlung in der Wahrnehmung der Künstler bei der Darstellung
des Körpers, die die stilistische Wandlung der griechischen Skulptur von der archaischen Zeit
bis hin zur Klassik verursachte.
Meine Argumentation wird strukturiert durch die folgenden Fragen:
1. Was hat sich in der griechischen Skulptur zwischen der archaischen und der klassischen
Epoche verändert?
2. Wie wurden diese Veränderungen bisher erklärt? (Forschungsgeschichte)
3. Was für eine Rolle spielte das Bronzegussverfahren für diese Veränderungen?
4. Könnte der Naturabguss eine Rolle bei diesem Prozess gespielt haben?
Um diese Fragen zu beantworten, werden hier zunächst die stilistischen Merkmale dieser
beiden Epochen anhand der archäologischen Forschung im 2. Abschnitt erläutert, um auf die
erste Frage, was sich zwischen den beiden Epochen verändert hat, eine Antwort geben zu
können.
Um die zweite Frage zu beantworten, werde ich auf die durch die Forschung gegebenen
Erklärungen für diese Wandlung im 3. Abschnitt eingehen.
Um die dritte Frage zu beantworten, wird zuerst die Häufigkeit der Verwendung von Bronze
bei der griechischen Bildhauerei während dieses Wandlungsprozess im 4. Abschnitt
festgestellt, um die Relevanz der Verwendung der Bronzegusstechnik für der Forschung nach
den Gründen dieser Wandlung festzustellen. Dann wird im 5. Abschnitt versucht, die antike
Bronzegusstechnik zu rekonstruieren, um auf die vierte Frage zu antworten. Die
Forschungsgeschichte und die antiken literarischen Quellen über dieses Thema werden in den
Abschnitten 5.1. und 5.2. vorgestellt, um danach bei der theoretischen Rekonstruktion im
Abschnitt 5.3. und bei der gleichzeitigen kritischen und punktuellen Untersuchung in dem
Abschnitt 6.1. ausführlich dargestellt zu werden. Dabei führe ich die alternative Interpretation
5
und Rekonstruktion dieses Verfahrens mit der Möglichkeit der Anwendung des
Naturabgusses im Abschnitt 6.2. an. Diese alternative Technik soll dem stilistischen Ergebnis
der oben erwähnten Wandlung entsprechen. Schließlich werden erhaltene große
Bronzestatuen unterm Licht dieser alternativen Rekonstruktion des Bronzegussverfahrens der
Antike im 7. Abschnitt neu interpretiert. Zuletzt werden die Schlussfolgerungen in einem
Ausblick zusammengefasst.
2. Stilistische Merkmale der Entwicklung der griechischen Skulptur von der archaischen Zeit bis der Klassik im Aufbruch (Strenger Stil)
Im Rahmen der Fragestellung dieser Arbeit fange ich mit der Erläuterung der
stilistischen Merkmale der griechischen Skulptur während ihrer Entwicklung von der
archaischen Zeit, insbesondere der spätarchaischen Zeit, bis zur Frühklassik an. Dies
geschieht, um auf die erste Frage dieser Arbeit, was sich in der griechischen Skulptur
zwischen der archaischen und der klassischen Epoche verändert hat, eine Antwort zu geben.
Die Entwicklung des Kuros-Typus der reifarchaischen Stile geht bis etwa 530 v. Chr. im
Vergleich zu den Jahren vor 570 v. Chr. ohne Abweichung in der Haltung und bei geringer
Veränderung in den Proportionen unausweichlich in Richtung auf eine wirklichkeitsgetreue
Darstellung:
„…Die Körperteile werden präziser wiedergegeben. Ohren werden nicht länger als Volutenmuster [Abb. 1] gebildet, sondern beginnen wie Ohren [Abb. 2] auszusehen. Die unnatürliche Drehung, mit der die Unterarme nach vorne geführt sind, während die Fäuste gleichzeitig nach innen [Abb. 3] weisen, ist jetzt richtig korrigiert. Die Muskel- und Sehnenstränge, die als Furchen und Wulste gegeben waren, werden nun in subtilere, wirklichkeitsnähere Flächen eingebettet, sie selbst nehmen lebensechtere Formen an: eine doppelte (keine drei- oder mehrfache) Teilung zwischen Rippenbogen und Nabel und über den Kniescheiben eine anatomisch richtige Asymmetrie der Muskeln. Alles dies wird von der wachsenden Fertigkeit begleitet, die einzelnen Elemente zu einem überzeugenden Ganzen zusammenzuschließen…[Abb. 4]“3
Obwohl die Bildhauer dieser Zeit bewusst nach wirklichkeitsgetreuen Resultaten strebten:
„…Doch man kann nicht bewußt ein Ziel angehen, das man nicht kennt. Ein Künstler, der ein Ohr oder ein Auge der Wirklichkeit entsprechend meißeln oder zeichnen wollte, brauchte nur um sich, auf seinesgleichen zu schauen und
3 Boardman 1981, 76 f.
6
wiederzugeben, was er sah: Er konnte wohl kaum durch die Überlegung zurückgehalten werden, daß ein solcher ‚Realismus’ innerhalb der nächsten fünfzig Jahre nicht fällig war. Gänzlich gegenständliche Kunst wurde von den griechischen Künstler der archaischen Zeit weder verstanden noch angestrebt. Sie – Bildhauer und Maler – befolgten weiterhin die alte geometrische Formel der Zusammensetzung der Teile, die jeweils für sich und frontalansichtig wahrgenommen wurden, und schufen Bilder und Kompositionen, die ’gelesen’ und nicht mit dem Leben verglichen werden sollten. Sie brachten es jedoch weit auf ihrem Weg, Wirklichkeitsgetreue zu erreichen, nicht durch Absicht oder Zufall, sondern durch eine Art natürliche Wahl. Ein Künstler malt oder bildhauert, wie er es gelehrt wurde. Er wird Darstellungsspielarten im Interesse einer besseren Verwirklichung seiner Idee, in diesem Fall vom Bild des Mannes, einführen, und zwar mit Hilfe des erlernten Muster- und Formenschatzes. Dank der Vorbilder im fremdländischen Kunstschaffen trägt seine Arbeit etwas von Stempel der Wirklichkeitstreue – sie ist bereits weit entfernt, zumindest im Detail, von der fast abstrakten Gestaltung der geometrischen Zeit. Jene sich dem Naturvorbild stärker annähernden Neuerungen wurden als wirkungsvollere Realisationen der Darstellungsabsicht eher instinktiv eingeschätzt als tatsächlich rational erfaßt, und mit einer besseren Beherrschung der Technik und dem Verständnis für Massengestaltung mußte das Ergebnis notwendig realistischer ausfallen. Aber die Gestalten sind noch immer nicht mehr als eindrucksvoll mitgeteilte Symbole für Leben oder lebendige Handlung, additiv zu lesen, Figur für Figur – so wie ein Gedicht Vers für Vers zu lesen ist. Ein weiteres Jahrhundert muß erst vergehen, bis der Künstler erkennt, daß er Wiederholungen von Menschen und Handlungen zuschaffen vermag, und zwar mit einem solchen Erfolg, daß er zum ersten Mal in der abendländischen Kunst das Auge durch die Durchdringung von Kunst und Natur täuscht.“4
Der Weg zu diesem Erfolg beginnt, sich während der spätarchaischen Stile ab etwa 530 v. Chr.
bis etwa 480 v. Chr. abzuzeichnen. Die Verbreitung und Qualität des Kuros-Typus werden
durch mehrere vollständig oder fast vollständig erhaltene Kouroi aus dieser letzten Phase gut
bezeugt. Zum Beispiel ist der um 530 v. Chr. datierte Kouros von Keos (Abb. 5) „…in Haar
und Anatomie noch altertümlich, zeigt aber bereits die neue Kühnheit bei der künstlerischen
Darstellung des Körpervolumens…“5. Der etwa 20 Jahre später geschaffene Aristodikos (Abb.
6) ist nahezu vollkommen gebildet:
„…In der Ausgewogenheit der Glieder und in den Einzelheiten der Modellierung der Figur zeigt der Künstler ein größeres Verständnis von der Struktur des Körpers. Er hat aber noch zu lernen, wie der Körper sich bewegt und wie die Bewegung der Glieder sich auf das Gleichgewicht und die Gesamthaltung auswirkt. Die Figur verharrt beinahe verwirrend unbewegt…“6
Die Lösung für dieses Problem Boardman nach, die die attische Bildhauer finden:
„…erfährt in einer Statue, die etwa 20 Jahre nach dem Aristodikos anzusetzen ist, dem ‚Kritios-Knaben’ von der Akropolis [Abb. 7] ihren triumphierenden
4 Boardman 1981, 77 f. 5 Boardman 1981, 107 6 Boardman 1981, 107
7
Ausdruck. Er ist nicht so sehr der letzte in der Reihe der Kuroi als der Vorläufer der klassischen Athleten-Statuen […] Der Gegensatz zum Aristodikos ist auffallend, doch war eine Veränderung unaufhaltsam. Zu groß ist der Erfolg der Bildhauer bei der steten Paraphrasierung des Themas, die die Künstler dem wirklichen Bild des Mannes immer näherbrachte [sic.]. Nicht nur sind Proportion und Oberflächenbehandlung richtig wiedergegeben, sondern auch die zugrunde liegende Form und das Erfassen der Tektonik von Gliedern und Muskeln. Von jetzt an steht eine Statue nicht bloß als Symbol oder als Ersatz für den Mann, sondern sie ahmt ihn nach. Die entscheidenden physischen Änderungen sind geringfügig, aber sie vermögen die starre, vertikale Achse, auf der alle frühere freistehende Plastik basierte, zu durchbrechen. Das rechte Knie ist gebeugt, wobei das Gewicht des Körpers vor allem auf dem linken Bein ruht; folgerichtig ist die rechte Hüfte gesenkt, das Gesäß entspannt. Die Schulter senkt sich ebenfalls zu dieser Seite, und der Kopf ist leicht in die gleiche Richtung geneigt.“7
Der Aufbruch der Klassik wird hier als der Endentwicklungsprozess verstanden, innerhalb
dessen sich die griechische Skulptur von der archaischen Zeit bis in die Klassische Zeit
entwickelt. Obwohl der Beginn der spätarchaischen Zeit ab 560 v. Chr. festgesetzt ist8, wird
für diese Arbeit der Zeitraum etwa ab 530 v. Chr. berücksichtigt, da, wie wir oben gesehen
haben, der stilistische Wandlungsprozess in Richtung Klassik auffälliger wird. Ridgway
begrenzt diesen Wandlungsprozess wie folgt: „In absolute terms, these changes cover the last
decades of the Archaic period proper, from ca. 510 to 480 B.C….”9
Das Ergebnis dieses Prozesses wird mit dem Begriff „Strenger Stil“ bezeichnet. Sigismonde
Ridgway bezieht den Begriff „Strenger Stil“ nach L. Vlad Borrelli auf den „Style of that
generation of artists active in Greece between 480-450 B.P.“10 Der erste, der diesen Begriff
im Jahr 1837 verwendete, war Gustav Kramer im Bezug auf die frühen rotfigürlichen Vasen.
Dieser „strenge“ Charakter ist auch sichtbar in der Bildhauerei der gleichen Zeit. Obwohl
schon Winckelmann die Werke vor Phidias als streng bezeichnete, bekam dieser Begriff seine
spezifische und chronologische Bedeutung, als er auf alle künstlerischen Darstellungen nach
der persischen Invasion ausgedehnt wurde. Infolge der wichtigen Monographie Der Strenge
Stil im Jahr 1937 von Vagn Poulsen wurde die Definition „Strenger Stil“ spezifisch mit der
Bildhauerei in Verbindung gebracht.11 Für Gabriele Kaminski scheint sich der Begriff schon
mit der Besprechung der Olympiaskulpturen durch Ernst Buschor 1924 nachhaltiger
durchgesetzt zu haben.12
7 Boardman 1981, 108 8 Vgl. Hölscher 2006, 34 9 Ridway 1981, 9 10 Vgl. Ridgway 1970, 3 11 Vgl. Ridgway 1970, 3 12 Vgl. Kaminski 2004, 64
8
Ridgway begrenzt das strenge Zeitalter auf den Zeitraum zwischen 480-450 v. Chr.. Sie
unterscheidet zwischen „Strengem Stil“ und „Strengem Zeitalter“. Spätere Werke mit
„strengen“ Merkmalen bezeichnet sie als Adaptionen oder Neuinszenierungen.13
Kaminski dehnt diesen Zeitraum bis etwa zur ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. aus.14
Die Konzeption des strengen Zeitalters variiert: Für manche Theoretiker ist es die logische
Entwicklung der archaischen Phase und Vorläufer der Klassischen Kunst; für andere erscheint
es als ein stark differenziertes Bindeglied in der Entwicklung der Skulptur, ziemlich
verschieden in Vergleich zu dem Vorhergehenden und dem Nachfolgenden.15 Dies wird von
Kaminski wie folgt definiert:
„Hatte man in der älteren Forschung bei der Charakterisierung dieser Epoche noch von einem Übergangsstil gesprochen, so findet sich heutzutage der Begriff des Strengen Stils beziehungsweise die allgemeinere Bezeichnung Frühklassik, an die sich die vor allem mit der Kunst des Phidias und Polyklet verbundene Phase der Hochklassik anschließt…“16
Die stilistischen Merkmale des „Strengen Stils“ werden von Kaminski wie folgt beschrieben:
„…Insbesondere hat man festgestellt, daß in den Werken dieser Epoche im Vergleich zum spätarchaischen, eher kleinteiligen Formenreichtum eine Tendenz zu großflächigeren, schweren plastischen Formulierungen zu erkennen ist, die gleichzeitig auch die Gesamtproportionierung der Figuren bestimmt. Die auffallend häufig leicht gesenkten Köpfe zeichnen sich durch eine betont voll gestaltete Kinnpartie und kräftig gerahmte Augenlider aus. Ebenso wandelt sich der Ausdruck der Gesichter. Anstelle des sogenannten archaischen Lächelns tragen sie nun vornehmlichernste, verhaltene Züge. Hinzu kommt ein erweitertes Spektrum auch situativ mimischer Darstellungsmöglichkeiten. […] Der Blick auf den Menschen ist ein anderer. Die jetzt von verhaltenen Ernst geprägten, häufig eher auf sich selbst bezogen erscheinenden Darstellungen stehen nicht mehr mit leicht vorgesetztem Bein, gleichmäßig belastet gerade und aufrecht, den Blick geradeaus gerichtet, sondern in den nun der Schwerkraft unterworfen gezeigten Körper wird der Ausgleich von tragenden und lastenden Kräften, also von Kraft und Gewicht, zum Ausdruck gebracht. Die menschliche Darstellung erhält hierdurch eine neue Lebendigkeit. Den Figuren ist ein gesteigertes Bewegungspotential zu eigen, was bereits in der Phase des Strengen Stils zu einer Vielzahl vergleichsweise komplizierter Bewegungsmotive führt. In besonderem Maß zeigt sich diese neue Form des Körperaufbaus, die mit […dem] modernen […Begriff] Ponderation […] umschrieben wird, in der nackten männlichen Figur. Die zukunftsweisende Neuerung ergab sich zunächst durch eine Veränderung des
13 Vgl. Ridgway 1970, 3 14 Vgl. Kaminski 2004, 64 15 Vgl. Ridgway 1970, 4 16 Kaminski 2004, 64
9
Standmotivs, bei dem jetzt belastetes Stand- und Spielbein unterschieden wurden. Dies hatte Konsequenzen für den gesamten Aufbau der Figuren, wobei im weiteren Verlauf immer ausgefeiltere Formen gefunden wurden, die ausgleichenden Verschiebungen in Körperaufbau und Muskelspiel darzustellen. Inder Forschung wird häufiger zunächst von der ponderierter Figur gesprochen, womit man im engeren Sinn die durch das veränderte Standmotiv bedingte Gewichtsverlagerung bezeichnet. […] Bei den bekleideten Frauen mußte in der neuen Darstellungsform viel mehr durch die Führung des Gewandes ausgedrückt werden. […] in dessen Anordnung und Faltenwurf sich die Be- und Entlastungen des verhülltes Körpers ausdrücken. Bereits ein erster Blick zeigt, wie bei jenen die Körperstruktur vor allem durch Schrägen „durchkreuzt“ wird, bei diesen blockhaft gebauten Körper hingegen veranschaulichen betonte Vertikalen und Horizontalen den Aufbau und Kräfteausgleich.“17
Der Begriff des Strengen Stils bei der griechischen Skulptur wurde von den Theoretikern im
Sinne der Konzepte der Ponderation und Kontrapost gegenüber der symmetrischen
statuarischen Darstellung der archaischen Zeit definiert18. Die Tatsache, dass sowohl die
naturalistische Proportionierung der Körper Gestaltung der Klassik, als auch dass die
Ponderation und Kontrapost naturalistischer als die archaische Symmetrie hielt man mehr
oder weniger für selbstverständlich.
Das 5. Jh. v. Chr. wird von Boardman19 als die Blütezeit der klassischen Plastik bezeichnet,
da die griechischen Bildhauer zu dieser Zeit ihre Arbeitstechniken verfeinerten und ihre
Fähigkeit unter Beweis stellten, wirklichkeitsgetreue Abbilder des bewegten oder ruhenden
menschlichen Körpers zu schaffen:
„…Wir sollten nie vergessen, daß es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in diesem Jahrhundert und in Griechenland Künstlern gelang, ein ausgeprägtes Formgefühl mit vollkommener Wirklichkeitstreue in Einklang zu bringen; daß sie ganz bewußt nicht nur das Ideal in der figürlichen Darstellung anstrebten, sondern auch die Möglichkeiten erforschten, Gemütsbewegung, Stimmung, ja sogar die Individualität eines Porträts wiederzugeben. Mit dieser Leistung wird ein kritisches Stadium markiert, in dem sich entschied, daß zumindest eine Kultur in der Geschichte der Menschheit einen völlig neuen Weg zu Funktion und Ausdruck ihrer bildenden Künste einschlug“20
Kaminski stimmt mit Boardman überein, was der allgemeinen Forschungsmeinung entspricht:
„Im Strengen Stil kommt eine neue Sicht auf den Menschen zum Durchbruch, die sich bereits gegen Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. in verschiedenen Tendenzen wie einer aufs höchste gesteigerten potentiellen Beweglichkeit der Figuren oder der fortschreitenden Wiedergabe des menschlichen Körpers in seiner organischen
17 Kaminski 2004, 64 f. 18 Vgl. Kaminski 2004, 64 f. 19 Vgl. Boardman 1987, 9 20 Boardman 1987, 9
10
Ganzheit vehement ankündigt, die schließlich zur Aufgabe der für die archaischen Zeit kennzeichnenden additiven Sichtweise führt.“21
Ridgway versuchte beim Symposium an der Universität von Cincinnati, das im April 1982
stattfand, die folgende Frage zu beantworten: Wie hat sich die späte archaische Skulptur
verändert?
Ihre Antworten auf diese Frage fast sie zusammen wie folgt:22
1. „through increased correspondence with natural forms and proportions“
2. “through an increase in motion, visible both in stance and in the rendering of drapery”
3. “through more elaboration, in hair styles and costumes, which is eventually rejected”
4. “through more characterization, which is capable of identifying athletes or divinities
beyond the presence of specific attributes”
5. “by moving in two directions, determined by all the above considerations: one leads to the
Severe Style, the other to Archaistic.”
Aus dieser Aufzählung beleuchte ich den ersten Punkt als eine Prämisse meiner Arbeit, da die
gesteigerte Übereinstimmung mit den naturalistischen Formen und Proportionen nicht nur die
auffälligsten Merkmale der Veränderungen der spätarchaischen Skulptur in Richtung des
klassischen Aufbruchs sind, sondern weil sie auch meiner Arbeitshypothese entsprechen.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass die griechische Skulptur bereits in der
archaischen Zeit eine naturgetreue Wiedergabe des menschlichen Körpers anstrebte. Dennoch
begann dies den griechischen Bildhauern erst in der spätarchaischen Zeit zu gelingen. Das
Ziel einer organischen und naturgetreuen Darstellung des menschlichen Körpers wurde erst
im Aufbruch der Klassik vollkommen erreicht. Jedoch strebte man noch nicht eine
porträthafte Wiedergabe des Gesichts an, sondern eine durch eine ideale Schönheit geprägte
Gesichtsdarstellung. Dies gilt als stilistisches Grundmerkmal des Strengen Stils.
21 Kaminski 2004, 65 22 Ridgway 1985, 14
11
3. Die Wandlung der griechischen Skulptur von der archaischen Zeit bis zur Klassik
Um die zweite Frage meiner Arbeit zu beantworten, werden hier die verschiedenen
Erklärungen für die stilistische Wandlung der griechischen Skulptur von der archaischen Zeit
bis zur Klassik, die von der archäologischen Forschung gegeben werden, erläutert.
In seinem Buch Griechische Plastik23 erklärte Ludger Alscher die Wandlung zur Klassik der
griechischen Skulptur sowohl durch die historischen Ereignisse des persischen Ansturms,
„…die sich in den beiden ersten Jahrzehnten des fünften vorchristlichen Jahrhunderts im
griechischen Mutterland zugetragen haben…“24, als auch durch die Bedeutung des Bruches
mit den Daseinordnungen des archaischen Zeitalters durch den „…Sturz der Tyrannis im
Jahre 510 und die zwei Jahre darauf eingeleiteten Reformen des Kleisthenes...“ 25. Viele
publizierte Theorien für die Wandlung der griechischen Skulptur von der archaischen Zeit bis
zur Klassik wurden von Renate Thomas in ihrem Werk Athletenstatuetten der Spätarchaik
und des strengen Stils zusammengefasst:
„…Ungeklärt bleibt weiterhin die Bedeutung der Spätarchaik. Ist sie schon eine Antwort auf das erwachende Selbstbewußtsein , welches dann im „Strengen Stil“ durch eine selbstauferlegte Ordnung zurückgehalten wird (K. Schefold), oder hat sich seit der Spätarchaik ein neuer befreiter Geist entwickelt, der aber erst im „Strengen Stil“ bzw. sogar erst in der Klassik deutlich sichtbar wird (G. v. Lücken, E. Langlotz, B.Schweitzer)? Hat die „Entdeckung des Geistes“ im 6. Jh. v. Chr. zwei unterschiedliche Wirkungen gehabt (F. Schachermeyr), von denen sich die eine in einem ungestürmen, „destruktiven“ Selbsbewußtsein artikuliert, während die andere in der Besinnung auf traditionelle Normen neue Gesetzmäßigkeiten herausstellt? Oder geht nur die starke Bewegungsfreiheit in der bildende Kunst der spätarchaischen Zeit, die selbstbewußte Erkenntnis der eigenen Individualität auf einen Wandelim 6. Jh. v. Chr. zurück, während die Ursachen der „geläuterten Formenwelt“ des „Strengen Stils“ andere sind?“26
Diese Theorien scheinen Ridgway ideale und historische Gründe für die Veränderungen in
der Kunst. Philosophische und historische Gründe seien zu ausweichend und problematisch,
um Veränderungen in der Kunst zu erklären.27 „…That philosophical ferment existed around
them should not be denied, but the extent of its translation into sculptural forms remains, at
least for us, unfanthomable.“28 und in Bezug zu den politischen Gründe für diese Veränderung
23 Vgl. Alscher 1961, 165–219 24 Alscher 1961, 165 25 Alscher 1961, 166 26 Thomas 1981, 15 27 Vgl. Rigdway 1985, 2 f. 28 Ridgway 1985, 3
12
schließt Thomas auf den Beweisen der Athletenstatuetten zum Beilspiel, dass die Sozialen
Veränderungen, die durch die Einführung der Demokratie am Ende des 6. Jahrhunderts v.
Chr., keine eindeutige Beziehung mit den veränderten Formen des Strengen Stils hatten, denn
weder die Widmungen noch die Themen der kleine Bronzen zeigen kein großen Unterschied
im Vergleich zur Vergangenheit.29
Ridgway versuchte auch beim Symposium an der Universität von Cincinnati, das im April
1982 stattfand, die folgende Frage zu beantworten: Warum hat sich die späte archaische
Skulptur verändert? Ihre Antworten auf diese Frage fast sie wie folgt zusammen:30
Die späte archaische Skulptur veränderte sich aus verschiedenen Gründen:
1. „increased technical skills on the part of sculptors“
2. “increased sculptural production because of great architectural demands”
3. “narrative purposes, which result in a need to incorporate new concepts and stories into
the sculpture, rather than just Symbolism; the widespread representation of myths”
4. “historical opportunities, promoting new contacts and new awareness”
5. “perhaps even philosophical reasons”
Der erste Punkt aus Ridgways Aufzählung ist ebenfalls für meine These von großer
Bedeutung, weil diese Arbeit in dem Bereich der technischen Weiterentwicklung nach den
Ursachen für die Veränderung der griechischen Skulptur forscht. Deshalb beleuchte ich hier
diesen Punkt als eine weitere Prämisse meiner Arbeit. Deswegen wird im Laufe dieser Arbeit
nach einer Erklärung für diese Wandlung in diesem technischen Bereich gesucht.
29 Vgl. Ridgway 1985, 5 30 Ridgway 1985, 14
13
4. Die vorwiegende Verwendung von Statuen aus Bronze im 5. Jh. v. Chr.
Im diesem Abschnitt wird mit der Suche nach einer Antwort auf die dritte Frage
meiner Arbeit begonnen, nämlich: Was für eine Rolle spielte das Bronzegussverfahren für
diese Veränderungen?
Dafür sollte man zuerst feststellen, in welchem technischen Bereich sich die griechische
Skulptur während der Wandlung von der archaischen Zeit bis zur Klassik entwickelt hat, also
welches Material wurde damals am häufigsten verwendet. Die Antwort auf diese Frage findet
man in den erhaltenen griechischen Statuenbasen.
Ridgway zählt die vorwiegende Verwendung von Bronze zu den Grundmerkmalen des
strengen Stils in ihrem Buch The severe style in Greek sculpture. Die Statuenbasen der
Akropolis bestätigen dies. Marmor wurde nach 480 v. Chr. fast nicht mehr verwendet.31
Carol Mattusch verweist darauf, dass dasselbe Phänomen in Olympia zu sehen ist:
„Today there are rows and rows of statue bases, many still bearing inscriptions […]. The socket holes for attaching the feet of the statues to the bases indicate that the missing statues usually were standing bronze figures…“32
Infolgedessen wird bei dieser Arbeit innerhalb der Bronzegusstechnik nach den technischen
und materiellen Gründen für diese Wandlung der griechischen Skulptur gesucht.
31 Vgl. Ridgway 1970, 10 32 Mattusch 1997, 44
14
5. Zum antiken Bronzegießen
Da im letzten Abschnitt festgestellt wurde, dass die Bronze das am häufigsten
verwendete Material bei der stilistischen Wandlung von der archaischen Zeit bis zur Klassik
wurde, wird innerhalb des technischen Bereiches ihrer Verwendung nach der Erklärung für
diese Wandlung gesucht. Um weitere Antworten auf die dritte Frage der Arbeit, nach der
Rolle des Bronzegussverfahrens für diese Veränderungen, zu geben, wird hier versucht, das
Bronzegussverfahren zu rekonstruieren, das in der Klassik im Aufbruch verwendet worden
sein könnte. Dafür werden sowohl die antiken literarischen Quellen mit deren Interpretationen
durch die archäologische Forschung, die literarischen Quellen der Renaissance und die
verschiedenen Rekonstruktionen der archäologischen Forschung mit den Funden der
archäologischen Ausgrabungen kritisch verglichen und analysiert.
5.1. Die Forschungsgeschichte der Technik des Gussverfahrens griechischer Bronzestatuen
Edilberto Formigli zählt ausführlich die Werke der Forschung über die Technik des
Gussverfahrens griechischer Bronzestatuen in seinem Artikel „Bemerkungen zur technischen
Entwicklung des Gußverfahrens griechischer Bronzestatuen“ 33 auf. Als Pionierleistung dieser
Forschung werden die Arbeiten von E. Pernice, Karl Kluge und K. Lehmann-Hartleben
genannt, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts diesem Thema widmeten.34 Seitdem haben
viele Kunsthistoriker und Archäologen eine objektivere und wissenschaftlichere Überprüfung
der Hypothesen der genannten Autoren geführt. Dies wurde durch viele neue Funde und die
Verfeinerung der technischen Analyse unternommen.35 Zu der Literaturliste Formiglis bei der
33 Vgl. Formigli 1981, 15 f. 34 Formigli listete die Literatur dieser Pionieren wie folgt: E. Pernice, ÖJh 7, 1904, 154–180; ders. ÖJh 11, 212–228; K. Kluge – K. Lehmann-Hartleben, Die Antiken Großbronzen I. (Berlin 1927); K. Kluge, JdI 44, 1929, 1–30, K. Lehmann-Hartleben, Drei Entwicklungsphasen griechischer Erzplastik, (Stuttgart 1937). Vgl. Formigli 1981, 15, Anm. 1 35 Formigli 1981, 15, Anm. 2: “G. Piccardi, Sui Bronzi sacri del bagno di Sellene. StEtr 21 (1951), 249-260; S. Haynes, The Bronze Priests and Priestesses from Nemi. Rm 67 (1960), 34-47; C. Blümel, Zur Echtheitfrage des antiken Bronzepferdes im Metropolitan Museum in New York. AA 1962,208-216; T. Dohrn, Der Arringatore in Florenz. Technische Beobachtungen. AA 1965, 124-142; S. Delbourgo, L’Etude au Laboratoire d’une statue découverte à Agde. Bullentin du Laboratoire du Musée du Louvre 1966, 7-12; M. Picon, S. Boucher, J. Condamin, Recherces techniques sur des bronzes de Gaule romaine. Gallia 24 (1966), 189-215; dies., Gallia 25 (1967), 153-168; B.S. Ridgway, The Lady from the Sea. AJA 71 (1967), 329-334; D.E.L. Haynes, The Technique of the Catsworth Head. RA 1968, I, 101-112; W.D.Heilmeyer, Gießereibetriebe in Olympia. JdI 847(1969), 1-28; E.R. Caley, Chemical Composition of Greek and Roman Statuary Bronzes, in: Art and Technology. Cambridge/ Mass. 1970, 37-49; H. Lechtmann, A. Steinberg, Bronze Joining: A Study in Ancient
15
Anmerkung 35 dieser Arbeit sollte man u. a. die folgenden neueren wichtigen Werke
ergänzen: Edilberto Formigli „Bemerkungen zur technischen Entwicklung des Gußverfahrens
griechischen Bronzestatuen“; Anna Maria Carruba „Der Ephebe von Seliunt: Untersuchungen
und Betrachtungen anläßlich seiner letzten Restaurierung“; Peter C. Bol, „Antike
Bronzetechnik: Kunst und Handwerk antiker Erzbildner“; Christa Landwehr “Die antiken
Gipsabgüsse aus Baiae : Griechische Bronzestatuen in Abgüssen römischer Zeit“; Gerhard
Zimmer „Schriftquellen zum antiken Bronzeguß“ und „Griechische Bronzegusswerkstätten“;
Denys Haynes „The Technique of Greek Bronze Staturay“; Carol C. Mattusch “Greek Bronze
Statuary: From the beginnings through the fifth century B.C.”, “Classical bronzes: The art and
craft of Greek and Roman statuary”, „The Victorious Youth“ und “Greek Bronze Statuary,
from the beginnings through the fifth century B.C.”; Olga Tzachou-Alexandri, „Some
remarks on bronze god of Artemision“; Nigel Konstam und Herbert Hoffmann „Casting the
Riace bronzes (2): a sculptor’s discovery“.36
Die Thesen und Theorien dieser Autoren werden im Laufe der Argumentation dieser Arbeit
ausführlich analysiert und diskutiert.
Technology, ebd. 5-35; D:E:L: Haynes, Ancient Bronze-Casting Methods, AA 85 (1970), 450-452; F. Roncalli, Il Marte di Todi, Atti della Pontificia Accademia Romana di Archeologia S. III, 11 (1973), 35-56; C. Mattusch Casting Techniques of Greek Bronzes Sculpture: Foundries and Foundry Remains from the Athenian Agora with Reference to other Ancient Sources. Diss. Chapel Hill 1975, 1-320; F.V. Frazzoli, L. Vlad Borrelli, P. Fiorentino, Indagine XRF su frammenti di statue bronze sottoposte a corrosione marina. Atti dei Convegni Lincei 11 (1976), 339-356; C. Mattusch, Bronze and Ironworking in the Bronze Statue from the Athenian Agora. Hesperia 46 (1977), 340-379; dies., Molds for an Archaic Bronze Statue from the Athenian Agora. Archaeology 30 (1977), 328-332; P.T. Craddock, The Composition of the Copper Alloy used by the Greek, Etruscan and Roman Civilisations II. The Archaic, Classical and Hellenistic Greeks. Journal of Archaeological Science 1977, 4, 103-123; P.C. Bol, Große Plastik in Olympia. Olympische Forschungen 9. Berlin 1978, 71-98; Il restauro dell’Efebo di Selinunte, Mostra didattica. Istituto Centraledel Restauro. Roma 1979; K. Faltermeier, Der Bronzekopf von Soloi. Rückformung des Abgusses und technische Notizen zur Herstellung des Originals. Arbeitsblätter für Restauratoren 2. Mainz 1979, 109-115; E. Formigli. Tradizione ed innovazioni nella metellotecnica etrusca, in: L’Etruria miniraria. Tai del XII convengo di Studi Etruschi. Firenze 1981, 52-78; ders., Il torso del museo archeologico di Firenze. Originale greco o copia romana? Prospectiva 19 (1979), 36-38; I Cavalli di S. Marco. Catalogo della mostra. Venecia 1977 (The horses of San Marco, Venice. Cat. London 1979); C. Mattusch, The Berlin Foundry Cup: The Casting of Greek Bronze Statuary in the Early Fifth Century B.C. AJA 84 (1980), 435-444; W. Rostoker, E.R. Gebhard, Metal Manufacture at Isthmia. Hesperia 49 (1980), 347- 363; W.D. Heilmeyer, Antike Werkstättenfunde in Griechenland. AA 1981, 440-453.” 36 Formigli 1981; Carruba 1983; Bol 1985; Landwehr 1985; Zimmer 1985; Zimmer 1990; Haynes 1992; Mattusch 1988; Mattusch 1996; Mattusch 1997; Mattusch 1998; Tzachou-Alexandri 2000; Konstam – Hoffmann 2004
16
5.2. Zu den literarischen Quellen
Über den Bronzeguss berichten die antiken Quellen nicht ausführlich, aber sie geben
uns Hinweise zur Rekonstruktion dieses Verfahrens. Der Autor in der Antike, der
hauptsächlich darüber berichtet hat, ist Plinius in seiner Historia Naturalis, insbesondere die
Bücher XXXIV und XXXV. Eine weitere wichtige Schrift hierzu findet sich bei Lukians
Jupiter Tragödus. Auch Textstellen von Plutarch und Xenophon werden hier untersucht.
Aufschlussreichere literarische Quellen zu diesem Thema liefern die Autoren der Renaissance,
u. a. Gauricus, Biringuccio und Cennini, die zu ihrer Zeit anhand von Texten aus dem
Mittelalter und der Antike das antike Bronzeverfahren rekonstruiert und verwendet haben.
Deren Berichte helfen beim Versuch im Rahmen dieser Arbeit, das antike
Bronzegussverfahren zu rekonstruieren.
5.3. Das Gussverfahren griechischer Bronzestatuen in der Antike im Überblick
Zimmer nach hat der Bronzeguss zwei verschiedene Phasen in der Entwicklung der
Gießereitechnik in der Antike, nämlich die der Verwendung des direkten Gussverfahrens
während der archaischen Epoche und die Phase der Verwendung des indirekten
Gussverfahrens seit dem beginnenden 5. Jh. v. Chr.37 Formigli behauptet, dass es das
Verdienst von D. E. L. Haynes sei, die indirekte Gusstechnik an griechischen Funden des 5.
Jahrhunderts v. Chr. deutlich erkannt zu haben. „…Er hat die Verwendung der negativen
Hilfsabdrücke durch die typischen Spuren auf dem Wachs, die sich anschließend positiv auf
der Innenwand der Bronze abzeichnen, nachgewiesen.“38 Formigli gelangte über andere
Spuren und Analysen im Fall der beiden griechischen Statuen aus der Mitte des 5.
Jahrhunderts von Riace zu denselben Schlüssen.39 Wir werden später sehen bei der
Untersuchung früherer Bronzestatuen, dass das indirekte Gussverfahren sogar bereits in der
spätarchaischen Zeit verwendet worden sein könnte.
Zunächst möchte ich einen kurzen Überblick jeweils über das direkte und indirekte
Gussverfahren geben.
37 Vgl. Zimmer 1990, 127 38 Formigli 1981, 19 39 Vgl. Formigli 1981, 19 f.
17
Bei der einfachsten Weise des direkten Gussverfahrens wird eine Figur aus massivem Wachs
modelliert und mit feuerfestem Ton bekleidet. An der Tonbekleidung bohrt man ein Loch,
damit, wenn die Tonform Gebrannt wird, durch dieses Loch das Wachs heraus schmelzt.
Dann wird die geschmolzene Bronze darein gegossen und nachdem sie ausgekühlt ist,
zerbricht man die Tonform, um den Guss zu befreien. Dadurch dieser Guss massive ist, ist
dieses Verfahren nur für kleine Werke geeignet. Eine lebensgroße Statue muss hohl gegossen
werden. Sonst wäre es nötig eine sehr große Menge Bronze dafür und das Risiko von einem
Bruch bei auskühlen ist höher. Um ein hohler Bronzeguss herzustellen, das Wachsmodell
muss einen Tonkern haben, der durch eine innere Kernrüstung aus Eisen abgestützt wird.
Nachdem dies gebrannt wird und das Wachs ausgeschmolzen ist, wird die Bronze in dem
inzwischen Raum gegossen.40
Die allgemeine Forschungsmeinung41 zum indirekten Gussverfahren rekonstruiert dieses
Verfahren wie folgt (Abb. 8):
In der Antike – wie heute – beginn das Gussverfahren einer Bronzestatue mit dem Bau eines
Modells, dem „Original-Modell“ . Dieses Modell kann von einem geschickten Handwerker
aus glyptischen oder formbaren Materialien gefertigt werden. Nachdem das Modell in der
richtigen Größe und endgültigen Form hergestellt ist werden Ton- oder Gipsformen
(Hilfsnegative) vom Modell in getrennten und zusammenpassenden Teilen abgenommen.
Wenn das origainale Modell aus Ton ist, muss es im sog. „ledeharten“ Zustand, d.h. noch
nicht ganz Trocken, abgeformt werden. Da das Modell hat zu diesem Zeitpunkt noch keinen
Schrumpfungsprozess durchgemacht, und es hatten sich noch keine Risse und Verzerrungen
gebildet. Dann werden die Abdrücke getrocknet und in Gruppen von handlicher Größe
zusammengesetzt. Normalerweise sind diese Gruppen: Der Kopf, der Torso, die Arme und die
Beine. Hier ist es wichtig festzustellen, dass Hilfsnegative aus Ton in Gegensatz zu denen aus
Gips einen Schrumpfungsprozess, wie bei dem originalen Tonmodell, beim trocknen
durchmachen. Bei diesem Prozess bilden sich Risse und Verzerrungen42. Dies spricht gegen
die Annahme von Mattusch, demzufolge die Hilfsnegative aus Ton seien.43
Jede zusammengesetzte Gruppe von Abdrücken wird mit einer Wachsschicht, der Dicke der
geplanten Bronzewandung entsprechend, ausgekleidet, die gegossen oder mit einem Pinsel
40 Vgl. Haynes 1992, 24–26 41 Vgl. Mattusch 1997, 66–70; Haynes 1992, 27–29; Formigli 1981, 17–19; Bol, 1978, 75; Kluge 1927, 98 42 Vgl. Formigli 1981, 17 43 Vgl. Mattusch 1997, 67
18
aufgetragen oder in dünnen Platten angebracht werden kann. Formigli behauptet, dass
Eisenstäbe (Kerngerüst) nachträglich in den Hohlraum innerhalb des Wachses eingeführt
werden. Man füllt dann einen Kern aus einer Tonart ein, die geeignet ist, die Hitze
auszuhalten und Luft im Inneren sowie Gas, das sich beim Guss bildet, durchzulassen.
Danach nimmt man die Formen wieder ab. Mit den Formen (Hilfsnegativen) kann man das
originale Modell so oft wie nötig kopieren, um Fehlgüsse zu korrigieren oder um mehrere
Statuen desselben Typus herzustellen. Außerdem kann man eine Serie Statuen von ähnlicher
Dimension und Komposition aber mit verschiedenem Charakter durch die Manipulation des
Wachsmodells (inter-Modell) anfertigen. Schließlich wird der mit Wachs umkleidete
Gusskern wiederum mit Ton ummantelt. Dieser Tonmantel wird durch das Wachs bis in dem
Kern hinein durch Verbindungsstege fixiert. Dann kann das Wachs ausgeschmolzen und
ausgeglüht werden. Bei diesem Schritt werden der Tonkern und der Tonmantel gebrannt, so
dass sie nicht brechen, wenn die geschmolzene Bronze danach gegossen wird. Nach dem
Guss wird den Tonmantel gebrochen und entsorgt, um mit der Kaltarbeit endlich anfangen zu
können.
Formigli versichert, dass bislang keine großen Bronzestatuen bekannt sind, die das direkte
Verfahren bezeugen können und gleich alt oder älter sind als der Torso von Florenz, der in
das zweite Viertel des 5. Jahrhundets v. Chr datiert wird. Dieser stellt die im Augenblick
älteste Statue dar, an der man die Anwendung der indirekten Technik demonstrieren kann.44
Formigli nach sind die „Beweise“ für die Verwendung des direkten Verfahrens, die einige
Autoren anführen, im Allgemeinen:
„…die grobe Dicke, die Unregelmäßigkeit der inneren Oberfläche und die Existenz von Eisenstangen im Inneren. Die ersten beiden Charakteristika können einen Hinweis auf die direkte Technik, aber keinen sicheren Beweis abgeben; man versteht nicht, wie das Vorhandensein von Eisenstangen des Gerüsts die Verwendung der direkten Methode belegen könnte…“45
Da die Eisenstangen einer Kernrüstung einer Statue, die durch die indirekte Technik
hergestellt wird, nicht mit einander verbunden sein können, wäre das
Miteinanderverbundensein dieser Eisenstangen ein Beweis für die Anwendung der direkten
Technik.
44 Vgl. Formigli 1981, 20 45 Formigli 1981, 20, Anm. 16
19
Wann hat sich der Übergang von der einen zur anderen Technik vollzogen? In Bezug auf
diese Frage zieht Formigli in Zweifel, dass die direkte Technik überhaupt jemals für
Großbronzen angewandt worden sei, und nimmt an, dass die indirekte Form die technische
Voraussetzung darstellt, ohne die es den antiken Griechen gar nicht möglich war, räumlich
bewegte Statuen von großen Ausmaßen herzustellen.46
Daher werde ich mich bei dieser Arbeit hauptsächlich mit der Analyse des indirekten
Gussverfahrens beschäftigen.
Da oben eine kurze Beschreibung des ganzen indirekten Gussverfahrens gemacht wurde, wird
anschließend in den nächsten Abschnitten nur den Schritt dieses Verfahrens ausführlich
untersucht, der bei der Formgebung der Statue eine entscheidende Rolle spielt. Denn das Ziel
dieser Arbeit ist die technischen Gründe für die stilistische Wandlung der griechischen
Skulptur zu suchen, die dazu führte, dass der menschliche Körper zunehmend organischer und
naturgetreuer dargestellt wurde. Dieser Schritt ist die Herstellung eines originalen Modells
oder die Verwendung eines lebenden Modells.
6. Holz-Tonmodell oder Naturabguss?
Bei dem indirekten Bronzegussverfahren spielt das Urmodell oder das originale
Modell die entscheidenste Rolle in Bezug auf die Formgebung der Statue. Dadurch wird
hauptsächlich innerhalb des Problems des Urmodells die Erklärung für die stilistische
Wandlung der griechischen Skulptur zu suchen sein. Der folgende Abschnitt soll auf die
vierte Frage der Fragestellung dieser Arbeit eine Antwort geben, nämlich: Könnte der
Naturabguss eine Rolle bei diesem Prozess gespielt haben? Dafür ist zunächst die
forschungsgeschichtlich ältere Theorie, die von einem Holz-Modell ausgeht, zu referieren,
und direkt danach die aktuell vorherrschende Theorie von einem Tonmodell darzustellen
(6.1.). Danach diskutiere ich die im Rahmen meiner Hypothese gesetzte Annahme eines
Naturabgusses (6.2.). Schließlich werden im 6.3. Abschnitt nach Indizien gesucht, ob Wachs
in der griechischen Antike verwendet worden sein könnte, um Abdrücke des menschlichen
Körpers vorzunehmen. Dann wird auf die Gegenargument der „Überlebensgröße“ der Statuen
eingegangen, die gegen die Verwendung der Technik des Naturabgusses bei der Herstellung
von Bronzestatuen damals in Griechenland spricht.
46 Formigli 1981, 20
20
6.1. Holz-Tonmodell
Kurt Kluge erläuterte bereits im Jahr 1927 das indirekte Gussverfahren mit Hilfsnegativen in
seinem Buch Die antiken Grossbronzen47. Bei der Beschreibung dieses Verfahrens geht er auf
das Thema des Modells wie folgt ein:
„…Das eigentliche Modell kann hierbei aus einem beliebigen Stoffe bestehen: Gips, Wachs, Metall o. a. Von diesem Originalmodell wird eine negative Form abgenommen, jedoch noch nicht in feuerfeste Gießformmasse, sondern nur in Gips…“48
Kluge erwähnt an anderer Stelle, dass das Material des „Urmodelles“ gleichgültig sei. „…Es
kann aus Ton, Gips, Wachs, Stein, Erz, Holz o. a. bestehen…“49. Trotzdem behauptet er, dass
die Werke aus der spätarchaischen und vom Übergang zur frühklassischen Zeit, die eine
Zeitspanne von rund 50 Jahren von etwa 510 – 460 v. Chr. umfassen, dickwandige Hohlgüsse
nach Holzmodell ohne Hilfe von Wachs seien. Er ordnet die folgenden Werke dieser Gruppe
zu:50 der Zeuskopf von Olympia51 (Abb. 9), der behelmte Kopf von der Akropolis52(Abb. 10),
der Körper des Poseidon von Livadhostro in Athen53 (Abb. 11), die delphische
Schlangensäule54(Abb. 12) und der delphische Wagenlenker55(Abb. 13). Formigli behauptet,
dass diese These Kluges weder durch irgendwelche Belege noch durch ernsthafte technische
Hinweise bestätigt sei.56
Haynes argumentiert für die Verwendung eines formbaren Materials wie Ton oder Wachs für
die Herstellung des originalen Modells anstatt der Verwendung eines glyptischen Materials
wie Holz:
„There is, however, a more generally cogent reason for believing that the classical bronze-casters would have chosen to make their models in plastic, rather than glyptic media. In an illuminating chapter of Art and Illusion Gombrich convincingly argues that so-called “Greek revolution” in art – its liberation from archaic conventions and its undeviating progress towards illusionistic representation – could never have come about except as a result of continual experimentation. Of the countless small advances contributing to the eventual perfection of illusion each was achieved by an artist who started from some conceptual image or schema already familiar to him and then, by a process of trail
47 Kluge 1927 48 Kluge 1927, 73 49 Kluge 1927, 99 50 Vgl. Lehmann-Hartleben 1981, 8 51 Vgl. Kluge 1929, 14 f. 52 Vgl. Kluge 1929, 15f. 53 Vgl. Kluge 1929, 16 54 Vgl. Kluge 1929, 3 55 Vgl. Kluge 1929, 16–19 56 Vgl. Formigli 1981, 16
21
and error, modified or corrected it to match it ever more closely with the appearance of reality. To predetermine the required alterations in the mind’s eye would have been impossible, for “the mind”, as Vasari says, “can neither perceive nor perfectly imagine such inventions within itself unless it opens up and shows its conceptions to the corporal eyes, which aid it to arrive at a good judgement.” But to proceed by trial and error when carving a wooden model would be impossibly laborious; for whenever experiment resulted in the removal of too much wood, it would be necessary to replace it with a new piece, on which to try again. Clay and wax, on the other hand, positively encourage experimentation by the ease with which they can be formed and re-formed; and there can be little doubt that if they had not adopted these plastic media, the classical bronze-casters would never have made the fundamental contribution to the Greek revolution which they unquestionably did.”57
Gerhard Zimmer behauptet, dass das Rohmaterial für das Modell der Ton sei, obwohl er
zugibt:
„Unsere Kenntnis antiker Modelle für den Bronzeguss nach dem indirekten Verfahren ist gering und kann sich nur auf wenige Nachrichten und Hinweise stützen. Vor allem besitzen wir bisher keinerlei Fragmente oder Reste von Modellen…“58.
Zimmer schließt daraus, dass die Modelle nur aus luftgetrocknetem Ton bestanden und in
keiner Weise gebrannt oder auch nur erhitzt worden seien; denn sonst hätten sich in
Einzelfällen Fragmente davon in dem zahlreich gefundenen Werkstattschutt erhalten haben
müssen und dieses Argument hätte umso mehr Gewicht, als Gips in der Bodenlagerung sehr
stabil und leicht nachzuweisen ist.59 Hiergegen kann man argumentieren, dass Fragmente
dieser luftgetrockneten Tonmodelle auch hätten erhalten bleiben müssen.
Zimmer zufolge sei eine wichtige Quelle für seine Argumentation das Bild auf der bekannten
attischen Oinochoe im Berliner Antikenmuseum aus der Zeit um 470 v. Chr.60 Sie zeigt im
Bildfeld Athena (Abb. 14), wie sie ein auf einer Plinthe stehendes Pferd formt. Der
verwendete Werkstoff ist eindeutig Ton. Das zeigt der Batzen in der linken Hand der Göttin
ebenso wie der große Haufen zu ihren Füßen. Athena sei dabei, an den Nüstern des Pferdes
die letzten Feinheiten auszuformen. Die Arbeiten an dem übrigen Pferdekörper seien dagegen
noch nicht so weit gediehen. Zimmer stellt die Frage nach der Funktion des angeblichen
Tonpferdes und danach, dass in der frühen Klassik kaum mehr Terrakotten dieser Größe
hergestellt wurden, sondern der Rohstoff längst durch die wertvolleren und dauerhafteren
Werkstoffe Bronze und Marmor abgelöst worden seien. Zimmer zufolge dürften wir daher in
57 Haynes 1992, 59 58 Zimmer 1990, 128 59 Vgl. Zimmer 1990, 128 60 Vgl. Zimmer 1982, 6, Frb. Taf. I; Zimmer 1990, 128, Taf. 10
22
dem Pferd das Modell für einen Bronzeguss nach dem indirekten Verfahren sehen. Meiner
Meinung nach könnte man dies anders interpretieren: Anstatt ein Tonmodell eines Pferdes
auszuformen, könnte Athena dabei sein, den Tongussmantel auf die Wachsform zu streichen
für den Bronzeguss nach dem indirekten Verfahren oder alternativ könnte es sich auch um die
Abformung eines Pferdes in Ton oder Gips handeln. Hierbei ist es wichtig zu erklären, dass
die Größe des Pferdes im Vergleich zu der Größe der Göttin irrelevant ist, da die Götter in der
griechischen Kunst immer größer dargestellt wurden als die anderen Lebewesen. Trotzdem
auch wenn es sich hier um ein Tonmodell handelt, muss es sich nicht zwingend um ein
Modell für den Bronzeguss handeln, denn Modelle aus verschiedenen Materialien wurden für
die Herstellung von Statuen aus Marmor verwendet. „…Nearly all the extant large-scale
marble originals of the classical period come from architectural contexts and will have been
carved after clay or plaster models. “61
Nach Zimmer bestätigen zwei kaiserliche Schriftquellen die Annahme, dass Tonmodelle zum
Gießen von Statuen verwendet wurden. Zum einen bei Plutarch in den Quaestiones
conviviales [II 3,2]:
„Denn die Künstler formen zuerst roh und formlos, dann aber gliedern sie alles im Detail. So meinte der Bilder Polyklet, das Werk sei am schwierigsten, wenn der Ton auf dem Fingernagel liege.“ 62
Daraus ein Tonmodell abzuleiten, ist nicht zwingend. Tatsächlich wird innerhalb des
Prozesses des Bronzegusses mit Ton gearbeitet, aber diese Stelle liefert keine Informationen
darüber, die in direkten Zusammenhang mit der Anfertigung eines angeblichen Tonmodells
stehen könnten.
Zum anderen argumentiert Zimmer, dass die Nachricht von Plinius für die Verwendung eines
Tonmodells bei dem antiken Bronzegussverfahren spricht:
„…verum omnen amplitudinem statuarum eius generis vicit aetate nostra Zenodorus Mercurio facto in civitate Galliae Arvernis per annos decem, HS CCCC manupretii; postquamsatis artem ibi adprobaverat, Roman accitus a Nerone, ubi destinatum illius principis simulacro colossum fecit CXIXS pedum in longitudinem, qui dicatus Soli venerationi est damnatis sceleribus illius principis, mirabamur in officina non modo ex argilla similitudinem insignem, verum et de parvis admodum surculis quod primun operis instaurati fuit. Ea statua indicavit interisse findendi aeris scientiam, cum et Nero largiri aurum argentumque paratus esst et Zenodorus scentia fingendi caelandique nulli veterum posponeretur. Statuam Arvenorum cum faceret provinciae Dubio Avito praesidente, duo pocula
61 Haynes 1992, 57 62 Plutarchus, Moralia IV, ed. C. Hubert (1971) 636 B.; zitiert in: Zimmer 1990, 129
23
Calamidis manu caelata, quae Cassio Salano avunculo eius, praeceptori suo, Germanicus Caesar admata donaverat, aemulatus est, vix ut ulla differentia esset artis. Quanto maior Zenodoro praestantia fuit, tanto magis deprehenditur aeris obliteratio.”63
Die Übersetzung dieses Textes lautet:
“...Die ganze Größe der Standbilder dieser Art übertraf aber zu unserer Zeit Zenodoros durch den Merkur, den er in der Stadt der Arverner in Gallien in zehn Jahren für einen Arbeitslohn von 40 000 000 Sesterzen herstellte; nachdem er seine Kunst dort genügend bewiesen hatte, wurde er von Nero nach Rom berufen, wo er den zum Standbild jenes Kaisers bestimmten Koloß von 119,5 Fuß Höhe ausführte, der, dem Sol geweiht, Verehrung findet, nachdem man die Verbrechen jenes Kaisers verurteilt hat. Wir bewunderten in der Werkstatt <des Zenodoros> nicht nur die auffallende Ähnlichkeit an dem aus Ton gefertigten Modell, sondern auch noch die sehr kleinen Stäbchen, womit zuerst das Werk hergestellt wurde. Dieses Standbild zeigte, daß die Kenntnis des Bronzegusses verloren gegangen war, obwohl Nero bereit war, Gold und Silber reichlich zu spenden, wie auch Zenodoros in der Fähigkeit des Modellierens und Ziselierens keinen der Alten nachgesetzt wird. Als er der Arvener herstellte, – Dubius Avitus war damals Gouverneur der Provinz–, ahmte er zwei von der Hand des Kalamis ziselierte Becher, die Germanicus Caesar sehr schätzte undseinem Lehrer Cassius Salanus, dem Onkel des Dubius, geschenkt hatte, so täuschend nach, daß in der Kunstfertigkeit kaum ein Unterschied bestand. Je größer die Vortrefflichkeit eines Zenodoros war, desto mehr erkennt man den Verfall der Kunst der Erzgießerei.”64
Das Tonmodell wird hier verwendet, um die kollosale Statue Neros zu gestalten. Daher sind
die Voraussetzungen für die Gestaltung von Bildwerken von einer größeren Dimension als bei
der Gestaltung einer lebensgroßen Statue. Außerdem behauptet Plinius, dass er in dem
Verfahren des Tonmodells den Verfall der Erzgießereikunst erkennt. Deswegen halte ich
dieses Argument für zu schwach, um damit die Hypothese eines Tonmodells zu beweisen und
es als Norm in der griechischen Skulptur zu bezeichnen.
Carol Mattusch ist ebenfalls dieser Meinung. Die Verwendung des Tonmodells sieht sie als
selbstverständlich an, obwohl es bislang keine archäologischen Beweise bei den
archäologischen Funden der Ausgrabungen gibt, die ihre Behauptungen bestätigen würden.65
Da weder die Quellen einen zwingenden Beweis für ein Tonmodell liefern noch
archäologische Beweise existieren, scheint es mir notwendig, eine alternative Erklärung
ernsthaft zu prüfen: den Naturabguss.
63 Plin. nat. 34, 18, 45–47 64 Plinius 1989, 41–43 65 Vgl. Mattusch 1988, 19. 219–240
24
6.2. Das Naturabgussverfahren Zunächst werde ich auf die Forschungsgeschichte des Naturabgusses kurz eingehen, um
dann die ersten Belege für die Verwendung des Naturabgusses in Ägypten darzustellen. Vor
diesem Hintergrund zeige ich, dass die oben bereits zitierten Quellen auch mit der Theorie des
Naturabgusses vereinbar sind. Dann erläutere ich anhand der Renaissance-Quellen die
eigentliche Technik des Naturabgusses, um die Praktikabilität dieses Verfahrens einsichtig zu
machen. Zuletzt setze ich mich mit der Hoffmann und Konstam-Interpretation der Riace-
Krieger auseinander, weil sie wie ich von einem Naturabguss der meisten großen Statuen in
diesem Wandlungszeitraum ausgehen.
Joseph Pohl schreibt in seinem Buch Die Verwendung des Naturabgusses in der italienischen
Porträtplastik der Renaissance (1938):
„Den Schritt vom Sinnbild zum Abbild tat zuerst Ägypten, und zwar lösen sich zuerst im Mittleren Reich die starren Formen, wird die Natur befragt, wird die Physiognomie individuell. Diese Zeit erfindet dann auch folgerichtig den Gipsabguß. Daß um 1370 v. Chr. drei- bis vierteilige Formen angewandt wurden, beweist, daß die Erfindung nicht mehr neu und sogar weit entwickelt war. In derselben Bildhauerwerkstatt, in der diese Formen ausgegraben wurden, im Atelier des Thutmes, des Meisters der Nofretete, in El-Amarna, fand man die ältesten erhaltenen Totenmasken […]. Sie sind teilweise überarbeitet, da sie als Modelle für Steinfiguren gedacht waren. Die Augen sind geöffnet und Haare hinzugefügt. Trotzdem blieb der Charakter des Naturabgusses unverkennbar[…]“66
Die Ausgrabung der Werkstatt des Thutmes fand im Jahr 1912 statt. Die Funde werden heut
in die Zeit des Endes der 18. Dynastie zwischen 1351 und 1334 v. Chr. datiert. Die Funde
bestehen aus siebenundzwanzig Objekten aus Gips. Die meisten sind Abgüsse von Köpfen
oder Gesichtern, einige davon sind eindeutig Portraits des ägyptischen Königshauses, zum
Beispiel die Gesichter von Pharao Echnaton (Abb. 15) und seiner Frau Nofretete (Abb. 16),
als auch Abbilder einer unbekannten alten Frau (Abb. 17) und eines unbekannten Mannes
(Abb. 18).67
Die meisten Amarna-Abgüsse sind Gesichter und deswegen war es einfach, sie in offenen
einteiligen Formen abzugießen. Die meisten Köpfe waren Abgüsse in nur zwei getrennten
Teilen, die nach dem Abguss zusammengesetzt wurden.68
66 Pohl 1938, 10 67 Vgl. Frederiksen 2010, 15 f. 68 Vgl. Frederiksen 2010, 16
25
Erst kürzlich formulierte Frederiksen im Gegensatz zu Pohl, dass die Amarna-Abgüsse keine
Naturabgüsse seien, sondern von Ton- oder Wachsmodellen abgenommen würden.69 Obwohl
diese Interpretation Frederiksen neuer ist, erscheint sie mir wenig sinnvoll, da bereits das erste
Ton- oder Wachsmodell die Modellfunktion für die spätere Anfertigung von Steinstatuen
erfüllen würde.
Durch den Fund der Amarna-Gipsabgüsse, behauptet Pohl, wäre der Bericht des älteren
Plinius70, demzufolge dem Lysistratos, dem Bruder des Lysipp, der Ruhm der Erfindung
gebührt, als unhaltbar erwiesen. Trotzdem ist er der folgenden Meinung:
„…Das Verfahren der Gipsabformung war in Griechenland allerdings bekannt. So sind mit großer Wahrscheinlichkeit die Gewänder vieler Statuen nach Modellen gearbeitet, die mit in Gips getränkten Tüchern drapiert waren…“71
Doch argumentiert er gegen die Verwendung des Naturabgusses vor der hellenistischen
Epoche wie folgt:
„… für das Porträt wurde der Naturabguß bis zur hellenistischen Epoche nicht verwendet. Den griechischen Künstler interessierte nicht der Mensch mit all seinen zufälligen Eigenarten, sondern das Wesen der Gattung, das Idealbild z. B. des Kriegers, des Athleten, der Frau“72
Peter Bol stimmt mit Pohls überein, argumentiert auf Grundlage desselben Berichtes des
Plinius weiter wie folgt:
„Indessen gibt Plinius hier keine Neuerung an, die unmittelbar den Bronzeguß betrifft. Das Zitat bezieht sich vielmehr nur auf Wachsmasken mittels unmittelbar abgenommener Gipsformen, die die Gesichtszüge somit völlig naturgetreu wiedergaben. Entsprechend fährt Plinius auch fort, daß jener Lysistratos als erster damit begonnen habe, die Ähnlichkeit zu reproduzieren, während man früher Abbilder möglichst schöngestaltig wissen wollte. Es folgt dann aber noch die Mitteilung, daß derselbe auch erfunden habe, von Statuen Abbilder abzuformen, und daß dieses einen solchen Umfang angenommen habe, daß keine Skulptur ohne ein Model geschaffen wurde. Plinius sagt hier nichts über die Technik der Bronzegießerei aus. Seine Aussage, daß seit der Zeit des Lysistratos Abgusse von Statuen – vermutlich von berühmten Meisterwerken – verbreitet und in auswärtigen Ateliers als Vorlagen verwendet wurden, ist eher kunstgeschichtlich zu verstehen. Sie betrifft den Beginn der hellenistischen Kunst, in der die Wiederholung bewährter Vorlagen üblich wurde und man etwa auch einen Portraitkopf mit einem anerkannten statuarischen Typus verband.“73
Untersuchen wir diese Nachricht des Plinius und ihre Übersetzung genauer:
69 Vgl. Frederiksen 2010, 16 70 Vgl. Plin. nat. 35, 44, 153 71 Pohl 1938, 10 72 Pohl 1938, 10 73 Bol 1985, 124 f.
26
„Hominis autem imaginem gypso e facie ipsa primus omnium expresit ceraque in eam faorman gypsi infusa emendare instituit Lysistratus Sicyonius, frater Lysippi, de quo diximus. hic et similitudines reddere instituit; ante eum quampulcherrimas facere studebant. Idem et de signis effigies exprimere invenit, crevitque res in tantum, ut nulla signa statuaeve sine argilla fierent. Quo apparet antiquierem hanc fuisse scientiamquan fundendi aeris.”74
Die Übersetzung dieses Passages von R. König und G. Winkler lautet:
“Der erste von allen aber, der es unternahm, das Bild eines mensches am Gesicht selbst in Gips abzuformen und Wachs in diese Gipsform zu gießen und es dann zu verbessern, war Lysistratos aus Sikyon, der Bruder des bereits erwähnten [34,51.61] Lysippos. Dieser machte es sich auch zur Aufgabe, den Bilder Ähnlichkeit zu verleihen; vorher bemühte man sich nur eine möglichst Schöne Ausführung. Er erfand es auch, von Standbildern Abgüsse zu formen, und dieses Verfahren breitete sich so aus, daß man kein Bildwerk oder Standbild ohne Ton <modell> herstellte. Hieraus geht hervor, daß diese Kunst älter gewesen ist als Erzgießerei.”75
Die Ergänzung des Übersetzers “<Modell>”, auf der Zimmer seine Interpretation basiert,
sehe ich als einen Interpretationsfehler des Übersetzers an. Bei dieser Passage ist keineswegs
von Modell die Rede, sondern es handelt sich um das Abformen in Gips. Daher liegt es nahe,
den Ton in Zusammenhang mit der Abformung (und den daraus entstehenden Hilfsnegativen)
zu sehen. Meiner Meinung nach deutet diese Passage darauf hin, dass Ton als Material zur
Abformung von Körperteilen vor der Einführung der Verwendung von Gips durch Lysistratos
verwendet worden sein könnte.
Die schweren Gesichtszüge des Kinns der griechischen Skulptur des früheren 5. Jahrhunderts
v. Chr. lassen tatsächlich das Streben nach Schönheit in der Gestaltung erkennen. Der
Gegensatz zu den späteren realistischeren oder impressionistischeren hellenistischen
Abbildern schließt keineswegs aus, dass die Abformung bei lebenden Körperteilen und
Gesichtern vorgenommen wurde. Möglicherweise wurden die nach der Abformung der
Hilfsnegative gewonnenen Wachsmodelle weiter bearbeitet, um ein ideales, schöngestaltiges
Ergebnis zu erreichen. Deswegen sind die leicht stilisierten Gesichtszüge durchaus noch
vereinbar mit der Annahme eines Naturabgusses und stellen kein zwingendes Argument für
ein Tonmodell dar, wie Pohl annimmt.
An anderer Stelle gibt Plinius uns noch einen Hinweis auf die Verwendung von lebenden
Modellen für die Anfertigung von Standbildern: „…placuere et nudae tenentes hastam ab
74 Plin. nat. 35, 44, 153 75 Plinius 1997, 117
27
epheborum e gymnaiis exemplaribus; quas Achilleas vocant…“76 Die Übersetzung lautet:
„…Es gefielen auch nackte Standbilder, die nach dem Vorbild der Epheben aus den
Sportplätzen einen Speer halten und Achilleusstatuen genannt werden…“77
Durch die oben dargestellten Argumentationen, kann man nicht sicher annehmen, dass die
Verwendung von originalen Modellen aus glyptischen oder plastischen Materialien eine
Tatsache ist. Außerdem gibt diese Methode keine befriedigende Erklärung für die im 5. Jh. v.
Chr. erreichte naturgetreue Darstellung des menschlichen Körpers. Denn, obwohl in Wachs
oder Ton tatsächlich modellierte Bronzestatuetten, wie die Bronzestatuette des Knaben von
Ligurio (Abb. 19), eine naturgetreue Wiedergabe der menschlichen Körperhaltung, deren
Standmotiv mit den Bezeichnungen Ponderation und Kontrapost definiert werden, bis zum
Ausgang des Strengen Stils entwickeln konnten, konnten sie nie die naturgetreue Formgebung
der verschiedenen Teile des menschlichen Körpers so entwickeln, dass die Natur täuschen
können wie die lebensgroßen Bronzen. Da die Verwendung von Tonmodelle diesen Schritt zu
solcher naturgetreuen Wiedergabe des menschlichen Körpers nicht erklären kann, möchte ich
die Hypothese der möglichen Verwendung des Naturabgusses als eine alternative Erklärung
dafür anbringen. Dafür werde ich im Folgenden die Praktikabilität des Naturabgusses anhand
der Autoren der Renaissance aufzeigen.
Edgar Lein, der zum Bronzeguss in der Renaissance geforscht hat, beschreibt das Verfahren
des sog. Naturabgusses wie folgt:
„Abgüsse nach der Natur können sowohl im direkten Gussverfahren mit verlorener Form als auch im indirekten Wachsausschmelzverfahren unter Verwendung von Hilfsnegativen aus Gips hergestellt werden. Ausschlaggebend für die Wahl des Herstellungsverfahrens dürfte der in Bronze zu gießende Bildgegenstand gewesen sein.“78
Das direkte Naturabgussverfahren wird von Lein wie folgt charakterisiert:
„Zur Herstellung eines Naturabgusses mit verlorener Form wurde der Körper eines toten Tieres, zum Beispiel einer Eidechse oder eines Frosches, in die gewünschte Position gebracht und an den Beinen sowie am Kopf mit Einguß- oder Entlüftungskanälchen aus Wachs versehen. Um selbst kleinste Details in Bronze nachbilden zu können, wurde die Oberfläche des Tieres mit dünnflüssigem Ton umhüllt, dann mit festerem Ton ummantelt, getrocknet und gebrannt. Dabei schmolz das Wachs der Gußkanälchen und der Körper des Tieres verbrannte. Die Aschenreste wurden nach dem Brennen durch sorgfältiges Auspusten der Form aus dem Tonmantel entfernt. Anschließend konnte Bronze in
76 Plin. nat. 34, 10, 18 77 Plinius 1989, 25 78 Lein 2004, 42
28
die Gußform eingefüllt werden. Sobald die Bronze ausgekühlt war, wurden der Gußmantel zerschlagen, der Abguß des Tieres freigelegt, die Gußkanäle entfernt und die Oberfläche der Bronze gesäubert. Auf diese Weise erhielt man den vollplastischen Abguß eines Lebewesens. Obwohl Gußfehler bei der Anwendung des direkten Bronzegußverfahrens nicht ausgebessert werden konnten, war die Wiederholung des Gusses mit einem anderen Tier jederzeit möglich und mit nur geringem zeitlichem Mehraufwand zu bewerkstelligen.“ 79
Dann gibt uns Lein Informationen über die Verwendung dieser Technik sowohl in der
Renaissance als auch in der griechischen Klassik:
„Das Verfahren des Naturabgusses wurde zuerst von Lorenzo Ghiberti zur Herstellung der Kleintiere an der zweiten Bronzetür des Florentiner Baptisteriums angewendet. Auf dem Rahmen der Türflügel finden sich zwischen dem Blattwerk zahlreiche in Bronze gegossene kleine Frösche, Eidechsen, Käfer und Heuschrecken […] Durch das Einfügen von Abgüssen kleiner Tiere in den Blattrahmen der Nordtür konnte sich Ghiberti unmittelbar auf den antiken Bronzegießer Myron beziehen, von dem Plinius – unter Berufung auf die Dichterin Erinna – überliefert hatte, er habe ein Denkmal für eine Heuschrecke und eine Grille aus Bronze gefertigt…“80
Die originale Nachricht Plinius lautet: „…fecisse et cicadae monumentum ac locustae
carminibus suis Erinna significat“81 und ihre Übersetzung: „…Daß er auch ein Denkmal für
eine Grille und eine Heuschrecke verfertig habe, deutet Erinna in ihren Gedichten an…“82.
Lein beschreibt wie folgt weiter:
„…Auch Ghiberti setzte den Grillen, Heuschrecken, Eidechsen, Fröschen und Käfern auf dem Rahmen der Bronzetüre ein Denkmal, welches – entsprechend den der Bronze nachgesagten Eigenschaften – von ewiger Dauer sein sollte […] Das direkte Gußverfahren war jedoch ausschließlich zur Herstellung von Naturabgüssen aus organischem Material geeignet, da dieses im Brennofen verglüht, Gegenstände aus anorganischem Material wie Muschelschalen oder die Gehäuse von Schnecken mussten vor dem Guß in Gips oder Ton abgeformt werden. Die durch Abformung gewonnenen Hilfsnegative bildeten dann die Grundlage der weiteren Verarbeitung.“83
Das indirekte Naturabgussverfahren wird im von Cennino Cennini geschriebenen Buch Libro
dell’arte beschrieben, Lein berichtet darüber wie folgt:
„…Im Anschluß an eine Einleitung zum Thema Naturnachbildung, die Beschreibung der Abformung menschlicher Gesichter und deren Umsetzung in Metall mittels Bronzeguß folgt die Schilderung der Herstellung eines Abgusses ganzer menschlicher oder tierischer Körper und schließlich die Darstellung der Methode zur Abformung des eigenen Körpers uns dessen Umsetzung in Metall […] Mit Hilfe des Naturabgusses konnten jedoch nicht nur Kleintiere in Bronze
79 Lein 2004, 42 80 Lein 2004, 43 81 Plin. nat. 34, 19, 57 82 Plinius 1989, 49 83 Lein 2004, 43
29
gegossen werden, das Verfahren war auch zur Abformung und Nachbildung des menschliches Körpers oder seiner Teile geeignet. Cennino Cennini beschreibt detailgenau die Abformung eines menschlichen Körpers mit Gips und empfiehlt, diesen in zwei Teilen, den Kopf jedoch in einem gesonderten Arbeitsgang abzuformen…“84
Die ideal stilisierten Gesichtszüge der griechischen Skulptur zu Anfang des 5. Jahrhunderts v.
Chr. können durch den nächsten von Lein beschriebenen technischen Schritt erklärt werden:
„…Bevor die mit Gips abgeformten Teile in Metall gegossen werden könnten, müsse das Negativ zuvor mit Wachs ausgekleidet werden. Cennini weist ausdrücklich darauf hin, daß dieser entsprechend dem indirekten Bronzegußverfahren eingefügte Zwischenschritt nicht nur technisch, sondern auch künstlerisch notwendig ist, weil nur im Wachsbild körperliche Mängel des Modells durch Hinzufügen oder Wegnehmen ausgebessert werden könnten…“85
Lein schließ dieser Beschreibung mit der Hinweis Ceninis, dass man auf diese Weise:
„…den Arm, die Hand, den Fuß und das Bein eines Menschen Stück für Stück abformen könne, aber auch Vögel, Fische und wilde Tiere jeder Art. Die Tiere müßten jedoch tot sein, weil sie nicht fähig seien, die Abformung geduldig zu ertragen: ‘e per lo simile di membro in membro spezzatamente puoi imprentare: cioè un braccio, una mano, un piè, una gamba, un uccello, una bestia e d’ ogni condizione animale, pesci, e altri simili. Ma vogliono essere morti, perché non arieno il senno naturale, né la fermezza di stare fermi e saldi’ […]”86
Der Renaissance-Autor Giorgio Vasari rühmt Andrea del Verrochio als Erfinder des
Naturabgusses mit Gipsnegativen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und fordert dazu
auf, ihm gebührenden Dank zu zollen. Dazu schreibt Lein:
„Obwohl Andrea del Verrocchio das Abformverfahren nicht erfunden hat, erlauben Vasaris Äußerungen den Schluß, daß Verrochio häufig mit Gipsabformungen arbeitete. Indem Vasari die Erfindung des vermeintlich neuen, auch für die Malerei nützlichen Verfahrens Verrochio zuschreibt, stellte er ihn als legitimen Nachfolger des antiken Künstlers Lysistratos aus Sikyon dar. Von diesem hatte Plinius berichtet, er habe als erster das Gesicht eines Menschen mit Gips abgeformt und in Wachs ausgegossen und sei der Erfinder des Naturabgusses gewesen […]“87 “Aber bereits dem antiken Künstler diente der Abguß des menschlichen Gesichtes nur als ein Mittel zur Verbesserung des Naturvorbildes, denn Plinius berichtet weiter, daß ein im Abformverfahren gewonnenes Wachsbild des Menschen von Lysistratos korrigiert wurde. Entsprechende Korrekturen am Naturabguß forderte auch Cennino Cennini in seinem Libro dell’arte. Wirkliche Naturabgüsse, die das Vorbildoriginaltreu in Bronze umzusetzen in der Lage waren demnach nur von Tieren gefertigt. Menschliche Körper konnten zwar abgeformt werden, die danach gefertigten Wachsmodelle sollten jedoch vom Künstler vor dem Guß in Bronze
84 Lein 2004, 43 f. 85 Lein 2004, 44 86 Lein 2004, 44 87 Lein 2004, 45
30
überarbeitet werden, um die künstlerisch Leistung über die technische zu erheben.“88
Diese Renaissance-Quellen und ihre Auswertung durch Edgar Lein zeigen eindrucksvoll, dass
das Naturgussverfahren in der Renaissance und auch in der hellenistischen Zeit durch
Lysistratos tatsächlich verwendet wurde.
Ein anderes Indiz für die direkte Abformung auf die Körper im 5. Jh. v. Chr. findet man bei
einem Epigramm in der Griechischen Anthologie. Hier wird über die Statue berichtet, der
Myron seinen Ruhm zu verdanken hat, nämlich eine Bronzekuh, die Berichten nach durch
ihre Lebensähnlichkeit einen Stier anlocken und Hirten verwirren konnte. Viele hätten gefragt,
ob eine echte Kuh als Modell verwendet wurde. Ein aus dem 5. Jh. v. Chr. stammendes, dem
elegischen Dichter Evenus zugeschriebenes Epigramm impliziert, dass die Natur eher als
Myron verantwortlich für die präzise und realistische Gestaltung der Kuh war89: „…Perhaps
Myron himself would say this: I did not form this heifer, but of her I modeled [sic.] the
statue…”90
Einen weiteren wichtigen Beitrag für meine Arbeitshypothese, dass der Naturabguss im
Übergang von der Spätarchaik zum klassischen Aufbruch eine entscheidende Rolle spielt,
liefert der Artikel Casting the Riace Bronzes (2): a Sculptor’s Discovery91 von Nigel Konstam
und Herbert Hoffmann. Bei diesem Artikel werden Beweise dafür präsentiert, dass die Riace-
Bronzen (Abb. 20–21), und zwar die meisten erhaltenen monumentalen griechischen Bronzen
des 5. Jahrhunderts v. Chr., durch das Naturabgussverfahren gefertigt worden sind, anstatt ein
Tonmodell zu verwenden. Auch wenn diese Bronzen erst im Übergang von der Frühklassik
zur Hochklassik gefertigt wurden, ist das Argument, das Konstam und Hoffmann hier
entwickeln auch anwendbar auf frühere Werke im Übergang von der Spätarchaik zur
Frühklassik, um die es mir geht. In den Interpretationen des 6. Abschnitts werde ich dieses
Argument von Konstam und Hoffmann zurückkommen.
Als der Bildhauer und Gießer Nigel Konstam im Jahr 1998 die Riace-Krieger untersuchte,
fand er durch Messungen der Statuen, dass gewisse Merkmale ihrer Anatomie
übereinstimmten. Darüber hinaus kam er zu der Vermutung, dass die beiden Statuen von
88 Lein 2004, 45 89 Vgl. Mattusch 1988, 144 90 Mattusch 1988, 144 91 Vgl. Kostam – Hoffmann 2004, 397–402
31
derselben Abgussform stammen und diese Form aus einem lebenden Modell abgedruckt
worden sein könnte. Dies brachte ihn dazu die Füße der Statuen genauer zu untersuchen.
Dabei bemerkte er, dass sie verschiedene Zeichen der Auflage des Körpergewichts zeigten:
„…Their edges splay out, their toes curve downward, and whereas the tendons of the right foot are hardly visible, as characteristic for a live foot supporting the weight of a body, those of the foot of the relaxed left leg are clearly visible. The undersides of both feet, moreover, are like naturalistic in every detail. The ball of the big toe and the two toes next to it flattened by being pressed down against the ground (Fig. 1) [hier Abb. 21g]. The little toe is curled under and in, exactly as in nature.”92
Konstam und Hoffmann argumentieren weiter: wenn der Abdruck aus einem Tonmodell ist,
ist die Fußsohle, die einen Körper trägt, offen, nur ein Rand aus Bronze (Abb. 22) berührt den
Boden und die eigentliche Fußsohle fehlt, denn sie sitzt auf dem Boden. Im Gegensatz dazu
hat eine antike Bronzestatue, die durch das Naturabgussverfahren gefertigt wurde,
naturalistische Füße in allen Details, sowohl das obere Ende als auch die Sohlen auch:
„…The reason that the bottom of the feet will be naturalistic is hat this was and is the easiest way of doing it. You simply have the model stand in a puddle of semi-liquid plaster, make a ridge of plaster around his foot and then proceed to plaster the leg upwards on that […]. The bottom of the foot that results from this simple procedure will reproduce all details of the model’s foot precisely. […] such details appear on the undersides of the feet of both Riace Warriors. They clearly duplicate the footprint in the plaster mould.”93
Konstam und Hoffmann schreiben weiter:
„What has been stated here fort he Riace bronzes applies to virtually all life-size Greek bronze statues from the Late Archaic period onwards, and no doubt to most Roman statuary bronzes as well. Theodoros and Rhoikos of Samos were surely not the only Greek artist to have visited Egypt and come in contact with Egypcian plastering technology. In Egypt, the use of plaster for statuary is attested by finds from about 700 BC onwards. The fact that ancient Greek sculptors employed plaster cast was known to artist of the Italian Renaissance, and it seems to have been rediscovered by them thanks to their familiarity with classical authors…”94
Wie wir oben erfahren haben, kann diese Annahme von Konstam und Hoffmann über die
frühe Verwendung von Gips in Ägypten ab das 7. Jh. v. Chr. durch die Amarna-Funde auf das
14. Jh. v.Chr. korrigiert werden.
92 Kostam – Hoffmann 2004, 397 93 Kostam – Hoffmann 2004, 398 94 Kostam – Hoffmann 2004, 401
32
Konstam und Hoffmann interpretieren den oben zitierten Plinius95 Text so, dass Lysistratos
den Naturabguss an sich erfunden hätte und nicht nur die Verwendung von Gips zu diesem
Zweck eingeführt zu haben. Sie bewerten diese Nachricht wie folgt: „…He was mistaken in
the date of the invention, but not in the substance…“96
Diese Argumentation könnte stimmen. Doch die archäologischen Funde der Gießereien
zeigen erst seit dem Hellenismus Reste von Gips ― also zur Zeit Lysistratos ―. Gips lässt
sich zum ersten Mal als Material für die Hilfsnegative bei den Grabungen von 1970 von K
Nicolaou im Haus des Dionysos in Nea Paphos auf Zypern nachweisen97. Hier stieß man
unter dem Triclinium in rund einem Meter Tiefe auf die Reste einer Gießerei aus der
späthellenistischen und römischen Zeit, d.h. zwischen dem ersten Jahrhundert v. Chr. und der
ersten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts.
Die ovalen Ausschnitte an den Fußsohlen der Riace-Statuen (Abb. 21g) werden von Konstam
und Hoffmann wie folgt erklärt:
„As the oval cut-outs in the soles of the Riace Warriors’ feet, these characteristic openings were cut out of the wax before casting so that the terracotta core of the statue would be supported directly by contact with the outside mould when the wax was burnt out. They also permitted lead to be poured through a cavity cut into the figure’s stone base and up through the bottom of the foot into the clay of the ankle in order to secure the statue to its base. This scheme for the bottoms of the feet is a characteristic of ancient monumental bronzes from the late sixth century BC onwards (fig.3).”98 [hier Abb. 23]
Weiter schlagen Konstam und Hoffmann eine Technik für das Abformen eines menschlichen
Körpers in Gips vor, die auf der von den Bildhauern der Renaissance verwendeten Technik
basiert ist:
„…First, a tall human model ―perhaps an athlete― was selected. After the model’s legs and feet had been covered with grease, he would have been asked to stand on a smooth base, perhaps of marble, and his pose would have been arranged as desired. He was most likely provided with a frame and chin-rest in order to reduce swaying and prevent cracks. His feet would then be covered with plaster. When it had set, keys would be cut in the top surface so as accurately to locate the sections of the mould. A length of strong thread would next be waxed and applied to the body from the top of the foot behind the middle toe, across the middle of the foot, up the front of the calf, over the knee, up the thigh and above the iliac crest. The same process would have been repeated for the back of the thigh, calf and heel. Plaster would
95 Plin. o. A. Anm. 74 96 Kostam – Hoffmann 2004, 401 97 Vgl. Reinholdt 1992, 710; Zimmer 1990, 119 f. 98 Kostam – Hoffmann 2004, 398
33
have been applied, building up the thickness over the thread to the maximum that gravity allowed, about 2 cm. It was thus possible to make one leg in two pieces up to the iliac crest and the top of the buttock. The second leg was done in the same manner, but since the Greeks did not life-cast the male genitals for reason of their hairiness and tender skin, it would have been necessary to cover these and lay a separate thread over the penis and up the crease of the buttocks in order to divide the mould. Two casters probably worked the back and front of one leg simultaneously in order that the one leg would be completed before going on to the other. When the plaster reached the consistency of putty, the ends of the threads would have been gently pulled up, cutting the two leg moulds apart. The casters then moved on to the other leg and repeated the same procedure. The top of the lower section would then have been flattened with a chisel and this area covered with clay wash before resuming work on the upper section. It would have been necessary to support the model’s upper arms away from the body while moulding the chest. Threads would have been placed to cut from the armpits down and from the neck to the outer shoulder. Above the waist, breathing would inevitably have cracked the cast in many places. These parts needed to be mended with fine cloth dipped in plaster. Dividing the thorax into four pieces, rather than two, would have greatly helped with this problem.”99
Wie oben argumentiert wurde, die Annahme, dass Gips als Material für die Abdrücke diente,
ist durch archäologische Funde erst ab der hellenistischen Zeit belegt und durch den oben
zitierten Plinius bestätigt.100 Gegen die alternative Annahme von Mattusch, derzufolge das
Material für die Abdrücke aus Ton sei, spricht der Schrumpfungsprozess beim Austrocknen
des Tons, der Risse und Verzerrungen am Ton bilden würde. Dagegen spricht ebenfalls die
Tatsache, dass Reste von Hilfsnegativen noch nicht gefunden wurden. Im Gegensatz zu Ton
oder Gips lässt sich die Verwendung von Wachs als Material für die Abdrücke durch seine
kurze Dauerhaftigkeit in den archäologischen Funden unmöglich belegen. Dies würde besser
die Abwesenheit von Abdrucksresten (Hilfsnegative) vor der Hellenistischen Zeit erklären.
Ein weiteres Argument gegen die Verwendung von Gips oder Ton als Material für die
Abdrücke ist ihre längere Erstarrungszeit im Vergleich zu der des Wachses. Diese
Erstarrungszeit würde den Prozess des Abformens verkomplizieren, da das lebende Modell
bis der Abdruck erstarrt still bleiben muss. Ich gehe aus diesen Gründen davon aus, dass wie
in der Renaissance Wachs hierfür verwendet worden sein könnte.
In der Renaissance erläuterte Gauricus in seinem Werk „De sculptura“ ein weiteres Verfahren
zur Abformung von Gegenständen, bei dem Wachs anstelle von Gips zur Herstellung des
Hilfsnegativs verwendet wird:
99 Kostam – Hoffmann 2004, 399 f. 100 Plin. nat. 35, 44, 153 o. A. Anm. 72
34
„Cera autem efformabimus sic. Liquefiat primum, mox ad eam rationem quam diximus superfundatur vel, si commodius fiet, in eam ipsa res commergatur emergatur donec amictu vestita fuerit crassiore. Frequentius desecetur, acie tenuissima, adaperiatur iungaturque...”101 “In Wachs werden wir aber so abformen: erst wird es geschmolzen, dann auf die gesagte Art darüber gegossen, oder der Gegenstand selbst, wenn das bequemer zu machen ist, hineingetaucht und wieder herausgenommen, so oft, bis er mit einer ziemlich dicken Hülle überkleidet ist; dann wird es mit einer ganz feinen Klinge zerschnitten, aufgedeckt und wieder zusammengesetzt...” (Übersetzung von Heinrich Brockhaus)102
Edgar Lein erwähnt in seinem Werk “Ars Aearia”, dass das von Gauricus beschriebene
Verfahren, “...einen Gegenstand mit Wachs abzuformen und diese Form mit Wachs zu füllen,
um eine exakte Kopie des Gegenstandes in Wachs zu erhalten...”103 ausführlicher auch in
Vannoccio Biringuccios im Jahr 1540 zum ersten Mal publizierten Traktat De la pirotechnia
beschrieben würde:
„In dieser Form habe ich mit Stuck oder mit Gips abgeformt, wenn ich diesen gehabt habe. Auch habe ich darin mit Wachs gearbeitet, das zuvor in handwarmem Wasser erweicht, aber noch nicht geschmolzen war. Das Verfahren gelingt leicht, wenn ein Mittel benutzt, das ich euch beschreiben will. Diese besteht darin, dass man den abzuformenden Gegenstand […] in Honigwasser taucht. Mit diesem Schutzmittel kann man ein Bildwerk aus Wachs abformen, obgleich sonst ein Wachsmodell sehr schwer aus einer Wachsform herausgeht. Man gießt auch Wachs in den Hohlraum, ein Verfahren, das ich zwar niemals ausgeführt habe, das mir aber als durchaus wahr geschildert wurde. Hierzu leimt man an jede Stelle des Wachsbildes, die nicht heraus geht, einen Zwirnsfaden oder nagelt ihn mit Stiften und Nägeln fest; es genügt aber auch, wenn man ihn mit Wachs festklebt. Nach dieser Vorbereitung badet man das Bildwerk mit gut in Honigwasser. Dann nimmt man ein großes Gefäß von der Höhe des abzuformenden Gegenstandes, füllt es mit reinem geschmolzenen Wachs und läßt es so lange stehen, bis ein bestimmtes Maß von starker Hitze vorüber ist und die Masse den Zustand des beginnenden Erstarrens erreicht hat. Dann zerbricht man die sich an der Oberfläche bildende Haut, taucht das Standbild, oder was man sonst abformen will, rasch unter und zieht es sofort wieder heraus. Dies wiederholt ihr vier- bis sechs mal und bringt dadurch die Wachsschicht auf die Dicke eines kräftigen Seils. Dann faßt ihr die Enden der auf dem Gegenstand befestigen Fäden, zieht diese an und zerschneidet dadurch den ganzen Wachsmantel. Nun laßt ihr das Ganze gut abkühlen, indem ihres in kaltes Wasser legt, damit das Wachs recht fest wird. Dann nehmt ihr Stück für Stück ab. Wie es durch die Schnitte gegeben ist, setzt die Stücke wieder richtig zusammen und dichtet alle Nähte und Schnitte, die von den Fäden herrühren, mit schmalen Leinwandstreifen oder mit Wachs. Diese Form badet ihr zuerst gut in Honigwasser oder Honigöl, wie man es nennt, und füllt sie dann nach Belieben mit geschmolzenem, mäßig erwärmtem Wachs.
101 Lein 2004, 258 102 Lein 2004, 259. 103 Lein 2004, 20, Anm. 74
35
Wenn sie voll ist, gießt ihr das Wachs rasch aus. Dann füllt ihr sie von neuem, bis die Schicht nach vier- bis sechsmaliger Wiederholung die gewünschte Dicke hat. Dabei haltet ihr die Form immer in kaltes Wasser. Zum Schluß laßt ihr sie gut abkühlen. Dann nehmt ihr den Abguß heraus und habt nun ein zweites Positiv aus Wachs, das genau so ist wie das Original“104
Da Biringuccio dieses Verfahren niemals selbst ausgeführt hat, setzte ich seine
Anweisungen in die Praxis um und formte meinen Finger in Bienenwachs ab, um dies
zu überprüfen. Dies ergab ein hervorragendes Ergebnis. Bemerkungswert ist die
Schnelligkeit dieses Prozesses: Nachdem ich den Finger in das erstarrende Wachs
getaucht und danach mit kaltem Wasser abgekühlt hatte, wurde das Wachs sofort fest.
Die so entstandenen Wachsnegative konnte ich gleich abnehmen. Als Trennmittel
sowohl am Finger als auch zwischen den negativen und positiven Wachsabdrücken
habe ich Honigwasser105 erfolgreich verwendet. Das positive Wachsmodel ist so perfekt,
dass die Fingerabdrücke wiedergegeben wurden (Abb. 24). Ein wichtiges Merkmal
dieser Technik, das für ihre Praktikabilität spricht, ist, dass das für den Abdruck
verwendete erstarrende Wachs warm aber nicht mehr heiß ist.
In diesem Abschnitt habe ich die prinzipielle Praktikabilität und Plausibilität des
Naturabgusses und der Verwendung von Wachs als Material für den Hilfsabdruck aufgezeigt.
Im Folgenden suche ich nach Hinweisen auf die Verwendung von Wachs zu diesem Zweck in
der griechischen Antike. Dafür wende ich mich der Rüstungsherstellung zu.
6.3. Die Rolle der Technik der Rüstungsherstellung bei der Anfertigung von Großbronzestatuen
Auf der Berliner Erzgießereischale sieht man auf einer Seite die Herstellung bronzener
Standbilder (Abb. 25b–c) und auf der anderen Seite Hephaistos, der dabei ist, Kriegsrüstung
für Athena herzustellen (Abb. 25a). Da wird die enge Verbindung zwischen der Herstellung
von Waffen und von bronzenen Standbildern deutlich gezeigt.
Diese Hypothese entspricht der Meinung von Caroline Houser. Sie schreibt in ihrem Buch
Greek Monumental Bronze Sculpture106:
104 Johannsen 1925, 394 f. 105 Honigwasser: drei TL. Honig in einem Glass Wasser. 106 Houser 1983
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„…The Greeks cast body armor before they cast large statues, and such military production may have contributed to both the capacity to make lifesize metal statuary and the interest in doing so.“107
Die Herstellung der Rüstungen in der archaischen Zeit entwickelt sich dahin, dass diese der
menschlichen Anatomie angepasst werden:
Die erste Phase wird wie folgt beschrieben:
„Ebenso wichtig wie der Helm waren, den Funden nach zu schließen, für die Rüstung der Hopliten offenbar die Beinschienen, die anders als im 8. Jh. […] seit früharchaischer Zeit den ganzen Unterschenkel samt der Wade bedeckten. […] Wie bei den frühen Helmen wird der Rand der älteren durch Löcher begleitet, an denen das Futter befestigt war. Größere Löcher rühren von der Verschnürung her.“108
Die zweite Entwicklungsphase dieser Herstellung beschreibt Pohl so:
„Zunächst nur zögernd geht die Gestalt der Beinschienen im Laufe des 7. und 6. Jh. v. Chr. mehr und mehr auf die anatomische Gestalt der Unterschenkel ein. Der Wadenmuskel, dessen Umriß zunächst nur als einfache Kerbe erscheint, wird wie das Knie immer nuancierter anatomisch nachgebildet. […] Ähnlich wie bei den Helmen hat man auch bei den Beinschienen die Elastizität des Metalls ausgenützt und seit der 2. Hälfte des 6. Jh. v. Chr. darauf verzichtet, die Beinschienen hinten zu verschnüren, die nun allein durch ihre innere Spannung am Schenkel Halt fanden. Dies setzt freilich voraus, daß ihre plastische Form dem Volumen der Schenkel ihre Besitzer genau entsprach. Das bedingte nicht nur hohe Kunstfertigkeit, sondern unterband gleichzeitig auch wirtschaftlichere Arbeitsformen. Zwar haben in der Regel gewiß Spezialbetriebe solche Beinschienen geliefert, doch waren diese an Einzelaufträge gebunden, da jedes Waffenstück genau auf seinen Träger abzustimmen war. Helm oder Beinschienen waren daher auch alles andere als teile einer Uniform, sie waren vielmehr besonders individuelle Kleidungsstücke.“109 (Abb. 26. 27)
Bei der Untersuchung eines chalkidischen Helmes110 des Anfangs des 5. Jhs. v. Chr. deutet
Gerhard Zimmer auf die entscheidende Rolle des Tragekomforts der Rüstung hin. Dies sei
nicht nur eine Frage der Bequemlichkeit, sondern erhöhe auch die Kampfkraft des Trägers.111
Dabei war die Passung der Rüstung an dem Leib des Trägers entscheidend, wie die
Memorabilien des Xenophons uns ein Gespräch des Sokrates mit dem Panzerschmied Pistias
überliefern:
„Als Sokrates dann zu dem Panzerschmied Pistias kam, zeigte ihm dieser schön gearbeitete Panzer. Da sagte er: Fürwahr, bei der Hera, das ist schon eine schöne
107 Houser 1983, 10 108 Bol 1985, 55 109 Bol 1985, 55 f. 110 Nebenbei möchte ich darauf hindeuten, dass die griechischen Helme wurden in einer Kombination von Guss und Treibarbeit hergestellt. Vgl. Zimmer 2001, 22 111 Vgl. Zimmer 2001, 19
37
Erfindung, Pistias, dass der Panzer die des Schutzes bedürftigen Teile des Menschen bedeckt, den Gebrauch der Hände aber nicht hindert. Doch sage mir, Pistias, so fuhr er fort, wieso verkaufst du deine Panzer für einen höheren Preis, obwohl du sie weder stärker noch kostbarer herstellst als die anderen? Weil ich sie so herstelle, dass sie besser passen, war die Antwort. […]Die gut passenden Panzer, erwiderte er (Sokrates), drücken gewichtsmäßig weniger als die nicht gut passenden, mögen sie auch dasselbe Gewicht haben; denn die schlecht passenden lasten entweder ganz auf den Schultern oder sie drücken eine anderen Teil des Körpers sehr, und dadurch werden sie lästig und beschwerlich; bei den gut sitzenden Panzern dagegen ist das Gewicht verteilt einmal auf Schüsselbeine und Nacken, dann auf Schultern und Brust, auf Rücken und Leib, und so scheinen sie beinahe keine Last mehr zu sein, vielmehr nur ein geringfügiges Anhängsel. Was du da eben erläutert hast, so erwiderte jener, das ist der Grund, weshalb ich für meine Person meine Erzeugnisse für besonders wertvoll halte. Gleichwohl kaufen manche die bunten und vergoldeten Panzer lieber.“ … „So meinst du also, sagte er daraufhin, dass nicht die fest anliegenden Panzer passend sind, sondern die, welche im Gebrauch nicht lästig sind. Du sagst es selbst, Sokrates, erwiderte jener, und verstehst es ganz richtig.“112
Christa Landwehr bezieht sich auf die stelle Lukians, wo die Anfertigung eines Brustpanzers
beschrieben wird:
„Wir erfahren durch Lukian, Jup, trag. 33, dass in der Antike verformbares Material für Negativformen gebräuchlich war: „Aber wer ist denn der eherne Mann dort, der mit solcher Eilfertigkeit herangelaufen kommt? Der so schön von Formen, so untadelig in allen seinen Konturen ist und die Haare nach der alten Mode aufgebunden trägt? Wahrlich, Hermes, es ist dein Bruder, der auf dem Markt neben der Poikile steht; ich sehe es an dem vielen Pech, womit er überschmiert ist, weil er sich alle Tage von Bildhauern abformen lassen muss… Hermagoras: Soeben hatten unsere Bildergießer mich unter Händen; sie bepichten mich an Brust und Rücken, und ein lächerlicher Panzer, mit nachgeahmter Kunst mir um den Leib gegossen, drückte meine ganze Form wie ein in Wachs gedrucktes Siegel ab; … (Übersetzung von Wieland-Floerke) […]. Wir hören, dass Bronzestatuen abgeformt wurden; dass Statuen durch Abformung verunstaltet wurden; dass zur Abformung Plastisches Material benützt wurde. Unter πίττα dürfen wir Bitumen verstehen, das in fester Form als Erdpech oder Erdharz vorkommt und knetbar und schwarz ist…“113
Biringuccio überliefert uns eine Technik der Abformung, die durch den Hinweis Lukians
bestätigt würde: Das Rezept für die Abformmaße besteht aus 2 Teilen griechischem Pech und
1 Teil Wachs, diese Mischung des Wachses mit dem Pech hätte die Funktion dem Wachs eine
größere Knetbarkeit zu verleihen.114
112 Zitiert in: Zimmer 2001, 19 f. 113 Landwehr 1985, 16 f. 114 Vgl. Johannsen 1925, 394
38
Die oft zitierte 115 Textstelle des Lukians des Jupiter Tragödus lautet:
„Zeus: […] ― Aber wer ist denn der eherne Mann dort, der mit solcher Eilfertigkeiten herangelaufen kommt? Der so schön von Formen, so untadelig in allen seinen Konturen ist und die Haare nach der alten Mode aufgebunden trägt? Wahrlich, Hermes, es ist dein Bruder, der auf dem Markte neben der Poikile steht; ich sehe es an dem vielen Pech, womit er überschmiert ist, weil er sich alle Tage von den Bildhauern abformen lassen muß […] Hermagoras: Soeben hatten unsre Bildergießer mich unter Händen; sie bepichten mich an Brust und Rücken, und ein lächerlicher Panzer, mit nachgeahmter Kunst mir um den Leib gegossen, drückte meine ganze Form wie ein in Wachs gedrucktes Siegel ab; …“116.
Bei ihrer Interpretation dieses Textes erwähnte Landwehr trotz Bedenken, dass man anstatt
Erdpech auch andere einfache Materialien wie Gelatine zur Herstellung einer plastischen
Negativform benutzen könne, dass K. Faltenmeier, Basel eine andere Verwendung für das
Pech (pichtum) in Betracht zieht. Er interpretierte pichtum als eine Art Trennmittel. Das
würde innerhalb dieses Erzählungskontextes mehr Sinn ergeben. Da man eben dieses
erwähnte Trennmittel braucht, um eine Negativform in Gips abzunehmen. 117
Bei Lukian wird deutlich, dass der Abdruck des Körpers des Hermagoras wie ein Siegel in
Wachs angefertigt wird. Auf Grund der Machbarkeit dieses Verfahren in Wachs könnte dies
wörtlich genommen werden.
Dieser Abschnitt hat gezeigt, dass für die Herstellung von Panzern und Beinschienen in der
griechischen Antike Wachs verwendet worden sein könnte, um Abdrücke des menschlichen
Körpers vorzunehmen. Schon in der archaischen Zeit gab es im direkten Bronzegussverfahren
einen Umgang mit Wachs.
115 Zitiert in: Landwehr 1985, 16 f. 116 Lukian 1911, 283 f. 117 Vgl. Landwehr 1985, 17
39
6.4. Zur Statuengröße
Ein wichtiger Einwand gegen die Annahme, dass das Naturabgussverfahren bei
Bronzestatuen in der Spätarchaik und Klassik verwendet wurde, besteht im Verweis auf
„überlebensgroße“ Statuen. Mit diesem Einwand möchte ich mich hier kurz
auseinandersetzen.
Während die meisten archaischen Statuen kolossal und überlebensgroß sind, findet gerade im
uns interessierenden Übergang zur Frühklassik gerade die Wandlung zur Lebensgröße statt.118
Gerade diese Wandlung zu diesem Zeitpunkt ist deshalb ein Argument für die Verwendung
des Naturabgusses in dieser Periode.
Vieles spricht dafür, dass die Bildhauer der damaligen Zeit als lebende Modelle keine
durchschnittlich großen Menschen der damaligen Zeit gewählt haben, sondern
überdurchschnittlich große athletische Menschen.
Ein Beleg dafür ist folgende Äußerung von Plinius: „…placuere et nudae tennetes hastam ab
epheborum e gymnaiis exemplaribus; quas Achilleas vocant…“119„…Es gefielen auch nackte
Standbilder, die nach dem Vorbild der Epheben aus den Sportplätzen einen Speer halten und
Achilleusstatuen genannt werden…“120
Auch Konstam und Hoffmann diskutieren in Bezug auf die Riace-Krieger (Abb. 20–21), ob
diese – wie häufig angenommen – überlebensgroß seien und kommen zum Ergebnis, dass sie
eher überdurchschnittlich lebensgroße Statuen seien:
„The Riace Warriors are often and misleadingly referred to as being ‘over-life size’ (e.g. A. Di Vita in Borelli and Pelagatti (1985), 252) – and photographed accordingly. Their heights are not prodigious: 198 cm for Warrior A; 197 cm for Warrior B – corresponding approximately to the height of a later Attic Kouroi such as the Kroisos (194 cm) [Abb. 31] and the Aristodikos (198 cm) [Abb. 2], both ‘life-size’ grave-statues. Considerably taller male corpses are documented from excavations.”121
118 Vgl. Mattusch 1997, 88 f.: „On an Attic cup in Berlin depicting a bronze foundry, a colossal statue of a striding warrior is represented with a frontal torso, and with head, arms, and legs in profile [Abb. 25d]. This “Archaic” rendering contrast sharply with another statue illustrated on the same cup. The second statue has all of the features that we associate with-fifth-century athletic statuary: it is life size, and its position and anatomy are just as naturalistic as those used for the human figures represented on the same cup [Abb. 25e].” 119 Plin. nat. 34, 10, 18 120 Plinius 1989, 25 121 Konstam – Hoffmann 2004, 399, Anm. 5
40
Nachdem auch der Einwand der Statuengröße nicht gegen meine Hypothese spricht, möchte
ich im Folgenden nun, an konkreten Interpretationen von Statuen meine bisherigen
Annahmen erproben.
7. Die technische Entwicklung der Großen Bronzen während der Wandlung von der archaischen Zeit bis zur Frühklassik
Formigli behauptet, dass es viele gewichtige Gründe anzunehmen gibt, dass sich
innerhalb des Wachsausschmelzverfahrens in Griechenland von der archaischen Zeit bis zum
Hellenismus ein Fortschritt über verschiedene Stufen technologischer Entwicklung abspielte.
Die Interpretation der Neuerungen und der technischen Varianten könnte dazu beitragen, das
Problem der wechselseitigen Beziehung zwischen Technik und Stil, zwischen Technik und
künstlicher Schöpfung zu ergründen.122 Im Rahmen dieser These Formiglis werden hier die
stilistischen Veränderungen der griechischen Skulptur, die sich während der Wandlung von
der archaischen Zeit bis zur Frühklassik abgespielt haben, durch die Neuinterpretation
wichtiger Großbronzestatuen dieser Zeit anhand der möglichen Verwendung des
Naturabgusses zu ergründen versucht.
7.1. Der Apollon von Piräus
Im Juli 1959 wurde ein Bronzekouros unter anderen Bronzestatuen bei Bauarbeiten in
Piräus gefunden. Diese Statuen finden sich heute im Piräus-Museum. Der sog. „Apollon von
Piräus“ (Abb. 28) wurde aus stilistischen Gründen im späten 6. Jh. v. Chr. ca. 520 v. Chr.
datiert.123
Der Kouros ist 1,91 Meter groß und wurde als lebensgroß bezeichnet. Durch diese
monumentale Größe vermutet man, dass Apollon dargestellt ist. Spuren von seinen Attributen
(Bogen und Patera oder Phiale) (Abb. 28b) unterstützen diese Identifizierung. Die
Bronzestatue hat massiv gegossene Augen, die zusammen mit dem Kopf gegossen wurden.124
(Abb. 28a) Das kommentiert Mattusch wie folgt:
122 Vgl. Formigli 1981, 16 123 Vgl. Mattusch 1988, 6 f. 124 Vgl. Mattusch 1988, 60. 74–76
41
„…These are an unexpected feature in the more familiar context of bronze statuary with colourful inlays. Artist who shunned inlays may have been adhering to the stylistic conventions of stone sculpture; other artists, working in the tradition of small bronzes, had chosen to inset eyes from as early as the Geometric period onward.”125
Dadurch, dass der Apollon von Piräus die älteste gefundene gegossene griechische
Großbronze ist126, kann man vermuten, dass es zum ersten Mal den Bronzegießern gelang,
eine annähernd so große Bronzestatue wie die Kouroi aus Stein zu gießen. Daher scheint die
Vermutung Mattuschs sinnvoll, dass die Bronzegießer sich an die stilistischen Gebräuche der
Steinskulptur anzupassen strebten.
Im Bezug zur Technik, die für die Herstellung dieser Statue verwendet worden sein kann,
wurden verschiedene Interpretationen des originalen Modells vorgeschlagen. Eine davon
lautet: „…the hard shape of the chin and the jaw, the cut of the eyelids and above all the
almost undivided, unchiselled rendering of the locks recall the technique of wood-carving;”127
(Abb. 28a)
In Gegensatz hierzu argumentiert Ridway wie folgt für die Verwendung eines Tonmodells:
“...If the Peiraeus kouros is, however, to be considered truly archaic, it provides ample evidence of the use of clay in the making of bronzes with the ‘doughy’ appearance of its locks and its rounded forms.”128 (Abb. 28a)
Die einfache frontale Haltung des Apollon von Piräus ist charakteristisch für Werke des 6.
Jahrhunderts v. Chr., doch die deutliche Senkung des Kopfes zusammen mit den frei
ausgestreckten Armen ist ungewöhnlich für den Kouros Typus129. Dies wird von Mattusch
technisch interpretiert wie folgt:
„Through the Archaic period this freedom of movement is associated more with bronze statuette than with marble sculptures of kouroi, and in this respect the artist of the Piraeus Apollo may have been influenced by small works in bronze and by the stylistic opportunities afforded by the ease of modelling instead of carving a work.”130
Dies unterstützt die oben zitierten Interpretation Ridgways131 in Bezug auf das Material des
originalen Modells.
125 Mattusch 1988, 63 126 Vgl. Tzachou-Alexandri 2000, 89 127 Homann-Wedeking, Archaic Greece (London 1968) 143; zitiert in: Haynes 1992, 57 128 Ridgway 1970, 20 129 Vgl. Mattusch 1992, 77 130 Mattusch 1992, 77 131 Vgl. Anm. 126.
42
Der Torso und die Beine des Bronzekouros von Piräus wurden zusammen gegossen. Der
Kopf, die Arme, sowie die Schamhaare wurden separat gegossen und metallurgisch an den
Körper gefügt. Die Fußsohlen sind offen so wie die Unterkanten der großen Zehe. Die Statue
ist möglicherweise ein indirekter Guss, da der Kern aus feinem Ton so dicht der Außenform
und der ungebundenen Kernrüstung folgt.132
Die erstaunliche naturalistische Modellierung der Füße (Abb. 28c) und der Hände kontrastiert
mit dem archaischen Charakter des restlichen Körpers. Dies führt zur Vermutung, dass das
originale Modell der Arme und Hände dieser Statue nicht, wie der Rest des Körpers, in Ton
oder Wachs modelliert wurde, sondern mittels des Naturabgussverfahrens. Es gibt leider keine
Abbildung der Fußsohlen. Aber anhand der Abbildungen 28 b–e kann man vermuten, dass
die Fußsohlen naturalistisch geformt wurden, so wie die Zehe, in einer ähnlichen Form zur
Fußsohle der Riace-Statue B auf der Abbildung 21g und anders als die Fußsohle der moderne
Bronzestatue auf der Abbildung 22 die durch die Verwendung eines Tonmodells hergestellt
wurde. Dies würde vor dem Hintergrund der oben im Abschnitt 6.2. untersuchten
Argumentation von Konstam und Hoffmann die Vermutung der Verwendung des
Naturabgussverfahrens bestätigen.
Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich untersuchen, ob die Körpermodellierung der
Bronzestatue des Apollons von Piräus Einfluss auf die Körpermodellierung der Steinstatuen
aus der gleichen Zeit hatte. Dafür haben wir die gegen 520 v. Chr. datierte Marmorstatue des
Kroisos (Abb. 31). Die Gesichtszüge und die Frisur beider Statuen sind ähnlich. Doch sowohl
die schlankeren Gesichtszüge des Apollons als auch die ernsthafte Form seines Mundes
sprechen für eine spätere Herstellung dieser Statue als der des Kroisos. Der schlankere Körper
des Apollons und seine naturalistischere Modellierung vergliechen mit der Statue des Kroisos
unterstützen ebenfalls diese Annahme. Der auffälligste Unterschied zwischen diesen beiden
Statuen liegt in der unterschiedlichen Modellierung der Hände und Füße: während die des
Kroisos schwer und unnaturalistisch wirken, zeigen die des Apollons eine perfekte
naturgetreue Modellierung, sogar im Fall der Füße, noch naturgetreuer als die des später
datierten Aristodikos (Abb. 6). Daher nehme ich an, dass die Bronzestatue des Apollon von
Piräus der Steinbildhauerei den Weg in Richtung zu einer naturgetreuen Modellierung der
menschlichen Körperteile aufzeigte. Zuerst – hier im Flall des Apollons – geschah dies nur
bei der modellierunf der Hände und Füße. Die griechischen Bildhauer nahmen durch den
132 Vgl. Mattusch 1992, 79
43
Naturabguss die erweiterten Möglichkeiten der naturgetreuen Wiedergabe des menschlichen
Körper wahr.
7.2. Der Ephebe von Seliunt
Der Ephebe von Seliunt (Abb. 29) stammt aus Sizilien. Er wurde 1882 in der Nähe
von Seliunt in einem Tonsarkophag gefunden und befindet sich heute im Museo Nazionale in
Palermo. Er wird allgemein gegen Ende der archaischen und den Beginn der
strengklassischen Zeit datiert.133
Vor der ersten Restaurierung bestand diese Bronzestatue aus sechs Teilen. In 1929 berichtete
Pirro Marconi, dass die Statue schwärzliche Erde gemischt mit gebrannten Tonscherben
beinhaltete. Es wurden auch Eisen Stücke innerhalb der Statue gefunden und als
Eisenschlacke oder Eisenreste vom Guss identifiziert. Mattusch behauptet, dass man diese
Eisen Stücke als korrodierte Stangen der Kernrüstung interpretieren könnte. Die Dicke der
Bronzewände des Epheben misst zwischen 0,003 und 0,007 Meter. Die Fußsohle des rechten
Fußes ist 0,012 Meter dick. Das hinterteil des linken Fußes und die Hände bis zu den
Handgelenken sind Massiv gegossen. 134
Ein Loch in der linken Fußsohle wurde als ein Ventil für das durch den Guss entstandene Gas
identifiziert, doch scheint dieses Loch, laut Mattusch, nach der Anbringung eines Stiels zur
Fixierung der Statue auf der Basis gedient zu haben. Die vorderen Halbfüße wurden getrennt
von dem Rest des Fußes gegossen.135
Sowohl der Kopf (Abb. 29c) des Ephebes weist im Vergleich mit dem Körper (Abb. 29a)
archaischere Züge auf, als auch die Arme sind wenig zum Körper passend, da die in einer
etwas rohen und vereinfachenden Art modelliert sind. Diese Mängel im organischen Aufbau,
die Ungenauigkeit in den Proportionen, der Wechsel von gut modellierten und nachlässig
behandelten Partien haben manchen Archäologen dazu gebracht, den Ephebe von Seliunt als
mittelmäßiges, provinzielles Werk herabzustufen.136 Dieser Unterschied wurde von Carruba
durch einen zeitlichen Unterschied oder durch die Arbeit von unterschiedlich orientierten
133 Vgl. Carruba 1983, 44 134 Vgl Mattusch 1988, 137 135 Vgl Mattusch 1988, 137 136 Vgl. Carruba 1983, 44 f.
44
Künstlern erklärt. Es wurde auch vermutet, dass der stilistische Unterschied zwischen Kopf
und Körper ein Hinweis auf einen Rettungsversuch eines Fehlgusses ist.137
Anna Maria Carruba behauptet, dass sich durch eine Reihe von objektiven Daten aus den
Analysen und Untersuchungen, die in Verlauf der Restaurierung der Statue durch Alberto di
Maio gewonnen werden konnten, leicht ablesen ließe:
„…daß die Ursachen für die Interpretationsschwierigkeiten […] statt auf dem Gebiet der Kunstgeschichte auf dem […] der antiken Bronzearbeittechniken zu suchen sind.“138
Die Daten aus der Restaurierung zeigten, dass die Statue 5cm verlängert wurde: Carruba
erklärt dies durch Reparaturen von Gussfehlern in der Taille, den Armen und den Beinen der
Statue139 (Abb. 29f–g). Sie vermutet, dass die Statue zerbrach und durch das Abgießen von
neuem Metall zwischen den beiden Stümpfen wieder verbunden wurde. Im Gegensatz zu dem
von Carruba vermuteten Bruch der Statue, scheint es mir plausibler, dass die Statue in Teilen
gegossen wurde und die „Reparaturen“ eigentlich die Zusammenlötungen der Teile sind.
Dieses Verfahren würde ich wie folgt interpretieren:
Die Hilfsnegative in Ton oder in Wachs wurden in Teilen abgeformt auf einem lebenden Kind:
die Füße zusammen mit den Beinen bis zur Mitte der Oberschenkel. Ab der Mitte der
Oberschenkel bis zur Taille. Ab der Taille bis zum Hals und zur Schulter. Die Hände bis zur
Mitte der Oberarme.
Kopf und Hals wurden nicht auf dem lebenden Modell abgeformt, sondern wurde direkt in
Wachs oder in Ton manuell modelliert. Dadurch entstand der große „stilistische“ Unterschied
zwischen Kopf und dem Rest des Körpers, der, verglichen mit dem Kopf, naturalistisch
Formgebung aufweist. Dies kann ein weiterer Hinweis auf die Herstellung dieser Statue mit
Hilfe des Naturabgussverfahrens: die nicht naturalistische Modellierung des Kopfes zeigt,
dass der Künstler dabei nicht geschickt war und die naturalistische Modellierung des Körpers
musste deswegen durch eine anderes technisches Verfahren angefertigt werden; dem
Naturabgussverfahren. Ich vermute, dass die Erzgießer damals Hemmungen hatten,
Abdrücke vom Gesicht abzunehmen und deswegen den Kopf manuell aus Ton oder Wachs
modellierten.
137 Vgl. Mattusch 1988, 138 138 Carruba 1983, 45 139 Vgl. Carruba 1983, 47–50
45
Carruba nach deutet der Eingriff, der die Figur in „unnatürlicher Weise verlängert hat, auf ein
nebeneinander zweier unterschiedlicher künstlerischer Tendenzen hin.
„…Damit verliert die im klassischen Sinn modellierte Plastik ihre ruhige natürliche Struktur, gewinnt aber einen dynamischen Anstoß, der in die Nähe der andersartigen, intensiven Ausdruckskraft eines barbarischen „schlanken Idols“ (idolo snello) versetzt.“140
Im Gegensatz zu dieser stilistischen Interpretation Carrubas tendiere ich zu einer
Interpretation innerhalb der Entwicklung der Bronzetechnik, und zwar für die neue Technik
der Abformung von Hilfsnegativen von lebenden Modellen (Naturabguss). Die Abgüsse der
einzelnen Teile wirken naturgetreu (Abb. 29b. d–e). Sie werden jedoch ungenau
zusammengefügt. Dies führte zu unnaturalistischen Proportionen des Körpers. Da die
Wahrnehmung der Körperproportionen noch nicht reif genug war, um die späteren Ergebnisse
der griechischen klassischen Bronzeskulptur zu erreichen.
Um dies zu erklären, sollte man auf die naturalistische Modellierung der einzelnen Teile der
Statue (Abb. 29 b. d–e) achten, außer dem Kopf (Abb. 29c), der mit dem Rest kontrastiert, der
aus einem originalen Wachs- oder Tonmodell stammen muss. Das entscheidende Argument
für diese Theorie findet man bei der Untersuchung der Modellierung der Fußsohlen (Abb.
29e). Diese sind in derselben naturalistischen Form modelliert, wie die von den Riace-Krieger
B (Abb. 21g). Dies deutet die Verwendung des Naturabgussverfahrens bei ihrer Herstellung
an.
In Bezug zu der Statuengröße wird die Statue des Epheben von Seliunt als halblebensgroß
bezeichnet. Diese Statue erreicht nach der Restaurierung die Höhe 84,7cm. Obwohl sie
verlängert wurde, entspricht ihre ursprüngliche Größe von ca. 80 cm der Größe eines kleinen
Kindes, das zwischen 2 und 3 Jahre alt ist. Die zarten Züge der Hände und Füße erscheinen
wie die eines relativ schlanken Kindes. Das spricht für den lebensgroßen Naturabguss eines
Kinderkörpers.
Bei einem früheren Schritt der Entwicklung der Verwendung des Naturabgussverfahrens in
der griechischen Skulptur wurden nur die Hände und Füße des Apollons von Piräus mit Hilfe
dieses Verfahrens angefertigt. Die Herstellung des ganzen Körpers des Epheben von Seliunt,
abgesehen von Hals und Kopf, mit Hilfe des Naturabgussverfahrens, erscheint ein weiterer
140 Carruba 1983, 60
46
Schritt dieser Entwicklung in Richtung einer naturgetreuen Modellierung des menschlichen
Körpers zu sein. Bei diesem Schritt wurde jedoch eine organische Zusammengehörigkeit der
getrennt abgeformten Teile des Körpers wie bei dem Aristodikos (Abb. 6) noch nicht erreicht.
Dies spricht für eine frühere Datierung des Epheben von Seliunt auf die Zeit vor der
Herstellung des Aristodikos, das heißt vor 510–500 v. CHr.
7.3. Der Poseidon von Livadhostro
Im Jahr 1897 wurde eine Bronzestatue in der Bucht von Livadhostro gefunden und
befindet sich heute im Nationalarchäologischen Museum in Athen. An der Vorderseite und an
der rechten Seite der recheckigen Plinthe fand man eine Inschrift, in der „dem Poseidon
geweiht“ im Boiotischen Dialekt stand. Der Poseidon von Livadhostro141
(Abb. 11) wird auf
ca. 480 v. Chr. datiert, da sowohl sein Bart, Schnurrbart und Mund (Abb. 11a. c) denen des im
frühen 5. Jh. v. Chr. datierten Kriegers von der Akropolis (Abb. 10) ähneln und sein Körper
ähnliche Merkmale wie der um 480 v. Chr. datierte Kritios-Knabe (Abb. 7a–b).
Die frontale Haltung des Poseidons (Abb. 11a–b) ist kaum beweglicher als die eines Kouros.
Wie beim Apollon von Piräus (Abb. 28c–e) steht der rechte Fuß des Poseidons vor dem
linken. Der Kritios-Knabe (Abb. 7a–b) steht in derselben Körperhaltung wie der Poseidon.
Diese beiden Statuen zeigen die gleiche leichte Abweichung von der Senkrechten. Die Köpfe
der beiden Statuen sind fast unmerklich nach rechts gedreht.
Obwohl die meisten Merkmale des Kopfes des Poseidons von Livadhostro bemerkungswert
naturalistisch wirken, erscheint der Kopf wirkt leicht stilisierter als der Rest des Körpers (Abb.
11a. c). Der gleiche Kontrast zwischen einer leicht stilisierten Modellierung des Kopfes und
einer ganz naturalistischen Modellierung des Körpers kann auch bei dem Kritios-Knaben
beobachtet werden.
Mattusch behauptet, dass die Bronzestatue des Poseidons von Livadhostro durch das indirekte
Gussverfahren hergestellt wurde. Ihre Argumentation lautet:
„The walls of the bronze are thin and of uniform thickness throughout, following the exterior contours of the statue. The inner surface is fairly smooth and regular,
141 Vgl. Mattusch 1988, 79–83
47
a characteristic of an indirect lost-wax casting, which this statue must be. Once again, we surely have evidence here for the early use of this technique.”
142
Die Größe der Statue entspricht der des Kritios-Knaben sowie der eines lebenden Jungen. Der
Kritios-Knabe wird als leicht unter lebensgroß bezeichnet. Vielleicht deswegen, weil seine
relativ starke Muskulatur sowie seine Gesichtszüge älter als die eines Jungen dieser Größe
wirken. Hier sollte man bedenken, dass die Kinder damals keine Autos, Fernseher, usw.
nutzen weswegen ihre Muskulatur entwickelter als die eines modernen Jungen sein musste.
Dadurch sowie durch die anatomisch naturalistischen Merkmale des Körpers der Poseidon-
Bronzestatue nehme ich an, dass die Hilfsnegative für die Modellierung des Körpers dieser
Bronzestatue von einem lebenden Jungen abgenommen wurden. Die angeblich stärkere
Muskulatur konnte durch die Überarbeitung des Wachsmodells erreicht werden.
Der Kopf des Poseidons (Abb. 11c)hat eine naturalistischere Form als der des Apollon von
Piräus (Abb. 28a. e). Dies deutet auf die Verwendung des Naturabgussverfahrens bei seiner
Modellierung hin. Dagegen sprechen die leicht stilisierten Züge des Gesichtes, der Bart zum
Beispiel (Abb. 11c). Doch diese könnten bei der Wachsmodellüberarbeitung so modifiziert
werden, dass die Gesichtzüge den vom Künstler gewünschten Charakter bekommen. Im Fall
des Kopfes des Kritios-Knaben (Abb. 7a–c)wurde oft darauf hingewiesen, dass er typische
Merkmale der Bronzeskulptur (Abb. 13a. e. 20h)zeigt143
, wie die eingesetzten Augen oder
seine Frisur (Abb. 7c). Darüber hinaus vermute ich, dass er eine Marmorstatue nach einem
durch Hilfsnegative von einem lebenden Modell gewonnenen Wachsmodell oder einer
dadurch gegossenen Bronzestatue ist und die leicht stilisierten Gesichtszüge, die denen des
Strengen Stils entsprechen, davon übernommen wurden.
In diesem Schritt der Entwicklung der Verwendung des Naturabgussverfahrens in der
griechischen Skulptur, wurde zum ersten Mal die organische Zusammengehörigkeit der
verschiedenen Teile des menschlichen Körpers wiedergegeben.
142 Mattusch 1988, 83 143 Vgl. Dörig 1992, 129
48
7.4. Der delphische Wagenlenker
Polyzalos, Tyrann von Gela während der 470er Jahre v. Chr., weihte eine lebensgroße
Wagengruppe in Delphi zur Ehre des Sieges seines Wagens bei dem phythischen
Wagenrennen im Jahr 478 oder 474 v. Chr. Die Wagengruppe stand dort bis sie durch eine
Katastrophe zerstört wurde. Infolgedessen wurde sie vergraben. Was davon erhalten
geblieben ist, wurde im Jahr 1895 entdeckt: Die beiden Hinterbeine eines Pferdes, ein linker
hinterer Huf, der Schwanz eines Pferdes, eine Radspeiche, ein Joch, Entlastungskissen, Zügel
und andere Pferdegeschirrfragmente, der Arm eines Jungen und ein fast kompletter
Wagenlenker – es fehlt nur der linke Arm – (Abb. 13). Die zusammen mit der Statue
gefundene beschriftete Base identifiziert die Widmung als die des Polyzalos und fixiert die
Datierung der Bronzestatue um 474 v. Chr. Heute steht die Statue des Wagenlenkers im
Museum von Delphi.
Der Kopf ist ziemlich klein, ca. 11% (1/9) der gesamten Größe der Statue. Es wird vermutet,
dass der Körper des Wagenlenkers verlängert wurde, um den durch den Wagen verbogenen
Teil der Statue zu kompensieren.144
Die Statue wurde in drei Teilen gefunden: Der Kopf und Torso, der Teil ab dem Gürtel bis zu
den Füßen und der rechte Arm zusammen mit der Hand, die drei Zügel hält. Der linke Arm ist
immer noch verschwunden. Nach langen Diskussionen der verschiedenen Forscher versichert
Mattusch, dass der Wagenlenker in 8 großen Abschnitten gegossen wurde: Das obere Ende
des Kopfes bis zur Stirnband, der Rest des Kopfes und der Hals, der Torso, der Unterteil des
Chitons, die Arme und die Unterschenkel mit den Füßen. Die mechanischen Verbindungen
sind heute deutlich zu sehen. Allein ist die Verbindung mit dem Hals durch den Chiton
verborgen.145
Im Jahr 1896 untersuchte Théodore Homolle das Innere der Statue und beschrieb den Kern als
hartes, schwarzes, gebranntes Material, das durch Hämmern zerstäubt werden kann. Bei der
Untersuchung fand er eine Kernrüstung. Trotz dieser Beobachtungen brachte Kluge seine
Theorie im Jahr 1929 ein, demzufolge die Füße und das Unterteil des Chitons in einem Stück
gegossen wurden und der Torso in einem anderen. Die beiden Teile seien durch die
Verwendung von Holzmodellen hergestellt worden. Er behauptete, dass Abdrücke im Sand 144 Vgl. Mattusch 1988, 130 145 Vgl. Mattusch 1988, 131–134
49
von den Holzmodellen abgenommen wurden. Dann wurden der Kern und die Kernrüstung
innerhalb jeder Sandform eingehängt, um danach die Bronze in den Raum zwischen der Form
und dem Kern zu gießen. Dies sei ohne die Hilfe von Wachs gemacht worden. Kluge
begründete dies mit dem Argument, dass die Bronzewände dieser Statue zu dick seien, um
durch die Verwendung des Verlorenen-Wachs-Gussverfahrens hergestellt worden zu sein.146
Im Jahr 1955 wurde von Chamoux argumentiert, dass der Wagenlenker durch die
Verwendung des Verlorenen-Wachs-Bronzegussverfahrens hergestellt wurde. Dies wird bis
heute angenommen.
Für die Forschung ist es heute noch immer umstritten, ob der Wagenlenker durch das direkte
oder das indirekte Bronzegussverfahren hergestellt wurde. Das Innere der Statue wurde in den
letzten Jahren nicht untersucht. Deshalb bleibt nur Kluges Beschreibung des Inneren: „…Die
Gußwände sind sehr stark, nur sind sie nicht mehr gußgefährdend ungleichmäßig. Die
Innenseite zeigt glatte, erdige Wände. Sie folgt nur ganz wenig und summerisch der
Außenplastik. Nirgends ist die Innenwand unterschnitten…“147
Mattusch interpretiert diese
Beschreibung, dass die Innenseite den Abdruck des Tonkerns mit seinen Blasen,
Protuberanzen und Brüchen erhält. Dies soll Mattusch zufolge ein Hinweis auf die
Verwendung eines direkten Gussverfahrens sein, weil diese „raue“ Oberfläche sich nur
ergeben kann, wenn das Wachs auf den Kern angebracht wird. 148
Ich nehme an, dass
Mattusch aus der Beschreibung der Innenseite der Statue von Kluge als „erdige Wände“ diese
Rauheit ableitet. Sie berücksichtigt jedoch nicht den Teil der Beschreibung Kluges, der die
Innenseite als glatt bezeichnet. Dies würde diese Argumentation von Mattusch in Richtung
der Verwendung des indirekten Gussverfahrens führen. Da die beiden Bezeichnungen Kluges
eine gegensätzliche Bedeutung haben, ist es schwer, die verwendete Technik bei der
Herstellung des Wagenlenkers durch diese Kriterien zu bestimmen.
Sowohl die Füße (Abb. 13c–d), der rechte Arm als auch die rechte Hand (Abb. 13f) sind so
realistisch modelliert, dass die Adern deutlich bemerkt werden können.149
Die Fußsohlen sind
ebenfalls naturalistisch modelliert (Abb. 13g). Diese beiden Merkmale sind deutliche Beweise,
der Argumentation Konstam und Hoffmann folgend, für die Verwendung des
146 Vgl. Mattusch 1988, 131 f. 147 Kluge, 1929, 16 f. 148 Vgl. Mattusch 1988, 134 149 Vgl. Mattusch 1988, 130
50
Naturabgussverfahrens bei der Herstellung dieser Statue. Die Lebensgröße des Wagenlenkers
(1,80 m) entspricht ebenfals dieser Annahme.
Wir wissen mit Sicherheit, dass die Gusswände der Statue „sehr stark“ sind. Dies könnte
bedeuten, dass das Wachsmodell, das durch die Verwendung von Hilfsnegativen, die von
einem lebenden Modell abgenommen wurden, gewonnen wurde, zusätzliche Wachs bei der
Überarbeitung dieses Modells bekam, vorausgesetzt, diese starken Bronzewände befinden
sich am Gesicht der Statue. Dies würde die leicht stilisierten Gesichtszüge dieser Statue, die
ihr ihren strengen Charakter verleihen, erklären.
Das obere Ende des Kopfes bis zur Stirnband des Wagenlenkers (Abb. 13a. e) wurde getrennt
gegossen. Dies könnte ein Indiz für die Verwendung des Naturabgusses sein. Ein Abdruck der
Haare in Wachs ist nicht möglich Es konnte nur ein Abdruck von Gesicht und Hals
abgenommen werden. Erst danach könnte das in Wachs modellierte und anschließend
getrennt gegossene obere Ende des Kopfes an den bereits gegossenen unteren Teil des Kopfes
gefügt worden sein.
7.5. Der Gott aus dem Meer (Artemision God)
Die sog. „Gott aus dem Meer“-Bronzestatue (Abb.30) wurde in den Jahren 1926 und
1928 im Meer gegenüber dem Kap Artemision in Euboia gefunden und befindet sich heute im
National Museum im Athen. Diese Statue wird auf ca. 460 v. Chr. datiert.150
Durch die frühe Entdeckung und den ausgezeichneten Erhaltungszustand dieser Statue wurde
ihr physischer Zustand kaum erforscht, infolgedessen hat man fast keine technischen
Informationen über sie. Auf alten Fotos (Abb. 30a) sieht man, dass die Arme der Statue an
den Deltamuskeln genau unter den Schultern abgebrochen waren. Daher wird vermutet, dass
die Arme an denselben Punkten getrennt wurden, an denen sie ursprünglich zusammengefügt
wurden.151 Dadurch, dass diese Statue restauriert wurde, sei es Mattusch nach unmöglich, die
Dicke der Bronzewände zu bestimmen. Dennoch kann man anhand der alten Fotos (Abb.
30a–b) die Dicke der Bronzewände bestimmen. Die sind dünn und gleichmäßig. Ihre innere
150 Vgl. Mattusch 1988, 150. 152 151 Vgl. Mattusch 1988, 152 f.
51
Oberfläche scheint glatt und regelmäßig zu sein. Deshalb kann man versichern, dass die
Statue mit Hilfe des indirekten Bronzegussverfahrens hergestellt wurde.152 Mattusch
behauptet, dass man bei äußerer Betrachtung der Statue eine feine Linie durch beide
Fußbögen finden kann. Dies deutet an, dass die Vorderteile der Füße getrennt vom Körper
gegossen wurden.153 Diese Annahme von Mattusch wurde bei näherer und aktueller
Untersuchung der Oberfläche der Statue bestätigt. Außerdem wurden dabei die
Gussabschnitte identifiziert: Die Statue wurde gegossen in einem großen Abschnitt, der aus
dem Torso und den Beinen besteht und neun kleinen Abschnitten, nämlich Kopf, Arme,
Hände, Penis, Hoden und die vordere Hälfte der Füße.154 (Abb. 30c)
Mattusch findet, dass die Gestaltung und Figur bei dem Gott aus dem Meer wichtig seien,
doch: „…the Artemision god is also a study of anatomical structure and of the complexity of
the human form…“155 (Abb. 30f–g)
Die Arme der Statue sind schlank und in einer Länge von 2,1m ganz ausgebreitet. D.h. leicht
über die gesamte Größe der Statue (2,09m) aber die Beine stehen weit auseinander getrennt in
einer Haltung, die die gesamte mögliche Größe der Figur reduziert.156 Das heißt, dass die
Proportionen der Statue mit den konventionellen Proportionen des menschlichen Körpers
überstimmen. Mattusch behauptet, dass der Kopf mit 14% der gesamten Größe des Körpers
verhältnismäßig zu klein sei. Wenn man bedenkt, dass 14% = 1/7 noch größer ist als die 1/8
Maßverhältnis der Amazon des Polyklets157, finde ich keinen Grund für die Behauptung von
Matusch.
Tzacho-Alexandri nimmt an, dass jeder Gussabschnitt durch sein jeweiliges eigenes
Wachsmodell hergestellt wurde und ein Gussmantel für jeden Abschnitt umgekleidet
wurde.158
Wovon wurden die Hilfsnegative für die Anfertigung dieser Wachsmodelle abgenommen?
Der rechte Fuß steht nur auf seiner Spitze und der linke nur auf seiner Ferse (Abb. 30e–g).
Um ein Tonmodell anzufertigen, soll der Ton stehen können. Dafür ist logischerweise nötig,
152 Vgl Tzachou-Alexandri 2000, 90 153 Vgl. Mattusch 1988, 153 154 Vgl Tzachou-Alexandri 2000, 90 155 Mattusch 1988, 150 156 Vgl. Mattusch 1988, 150 157 Vgl. Steuben 1973, 60, Abb. 16 158 Vgl Tzachou-Alexandri 2000, 90
52
dass eine breite Oberfläche der Unterseite des Modells Kontakt mit dem Boden hat, sonst
würde ein solches Tonmodell zusammenbrechen. Deswegen halte ich es für unmöglich ein
originales Modell aus luftgetrocknetem Ton von solchen Dimensionen und mit dieser
Körperhaltung herzustellen.
Die Füße des Artemison-Gottes sind so naturalistisch modelliert, dass die Adern auf dem
Fußbögen eindeutig zu sehen sind. Die Fußsohlen scheinen auf die Abbildungen 30f–g
ebenfalls naturalistisch modelliert worden zu sein. Diese Merkmale sprechen für die
Plausibilität des Arguments der Fußsohlen (Abschnitt 6.2) von Konstam und Hoffmann auch
in diesem Fall.
Dieses Argument zusammen mit der naturalistischen Körperhaltung sowie seine hoch
naturalistische Muskulatur führen mich dazu anzunehmen, dass diese Statue auch durch das
Naturabgussverfahren hergestellt wurde. Obwohl die Größe der Statue (2,09m) gegen meine
Annahme spricht, ist es doch möglich, dass es zur damaligen Zeit so große Modelle gab.
Diese Möglichkeit wird durch die Argumentationen im Abschnitt 6.4. unterstützt: Die oben
zitierte Nachricht159 des Plinius, nach dem die Bildhauer damals Sportler als Modelle
verwendet haben. Andererseits kämen als Bestätigung dieser Hypothese die menschlichen
Überreste von großen Männern dieser Zeit, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden
wurden.160
Die Röntgenaufnahmen des oberen Endes des Kopfes des Artemision-Gottes sind
undurchsichtig, das heißt, dass die Bronzewände seines Kopfes stark und unregelmäßig sind.
Diese Ungleichmäßigkeit in der Dicke der Wände deutet darauf hin, dass die Bronze hier dick
wegen der Hinzufügungen ist. Direkte Hinzufügungen aus Wachs müssten für die Ohren, die
Nase, das Haar an der Stirn und für den Bart auf das Wachsmodell zugefügt worden sein, um
danach alles zusammen zu gießen.161 Das würde die nicht porträthaften Gesichtszüge (Abb.
30d) dieser Statue erklären, trotz meiner Annahme der Verwendung des
Naturabgussverfahrens bei der Herstellung.
Der Mund (Abb. 30c) und die Brustwarzen wurden mit Hilfe des direkten Gussverfahrens
getrennt in Kupfer gegossen und an das Wachsmodell angefügt. Die silbernen Brauen (Abb.
159 Vgl. Plin. nat. o. A. Anm. 121. 122 160 Vgl. Konstam – Hoffmann, o. A. Anm. 123 161 Vgl Tzachou-Alexandri 2000, 92
53
30c) wurden an das bereits gegossene Bronzegesicht gefügt. Die eingesetzten Augen sind
heute nicht mehr vorhanden.162
7.6. Die Riace-Bronzen
Im Jahr 1972 wurden die Riace-Bronzen (Abb. 20–21) an der Küste von Calabria
entdeckt und stehen heute im Museo Nazionale Regio Calabria.
Jede Statue wurde in Abschnitten gegossen: Einem großen Abschnitt, der aus dem Torso und
den Beinen besteht, und vielen kleinen Abschnitten: Kopf, Arme, Hände, Geschlecht, die
Vorderhälften der Füße und die mittleren Zehen (Abb. 20g). Manche Locken der Statue A
(Abb. 20d) wurden getrennt gegossen und an der fertige Statue gefügt, sowie das obere Ende
des Kopfes der Statue B. (Abb. 21d)163
Formigli behauptet, dass Hilfsnegative von den originalen Modellen jeder Statue
abgenommen und mit Wachs ausgekleidet wurden. Dann wurden diese mit einem Tonkern
ausgefüllt um eine einfache Kernrüstung herum, die aus unverbundenen Eisenstäben besteht.
Nachdem der Kern ausgetrocknet war, wurden die Hilfsnegative entfernt und das
Wachsmodell wurde im Detail überarbeitet.164
Formigli nach war das originale Modell des Kopfes der Statue A sehr grob und hatte weder
Haare noch Bart. Das mit einem Tonkern ausgefüllte Wachs wurde als ein Modell verwendet,
an dem die stark hinterschnittenen Haare und der Bart (Abb. 20d) aus Wachs hinzugefügt
wurden. Die weitgehend hinterschnittenen Haarlocken, die zu schwierig abzuformen und zu
gießen waren, wurden entfernt, massiv gegossen und danach an den fertigen Kopf gefügt.
Formigli deutet an, dass die Lippen der Statue A (Abb. 20d) auch getrennt modelliert und in
Kupfer gegossen wurden, bevor sie in das Wachs von außen her wieder eingesetzt wurden. Im
gleichen Schritt wurden auch der Bart und der Schnurrbart aus Wachs an das Wachsmodell
des Kopfes angesetzt und zusammen mit dem Kopf gegossen. Nachdem die beiden Statuen
162 Vgl. Mattusch 1988, 153; Vgl Tzachou-Alexandri 2000, 92 f. 163 Vgl. Mattusch 1988, 204 164 Vgl. Mattusch 1988, 205
54
gegossen worden waren, wurden die durch eine Kupferplatte umhüllten Augen aus weißem
Calcit, Elfenbein und Glaspaste von Außen her eingefügt. Die Kanten dieser Kupferplatten
wurden so geschnitten, dass sie Augenwimpern darstellen. Silberne Zähne wurden in den
Mund der Statue A auch eingefügt und auf die beiden Statuenköpfe wurden Helme gesetzt.
Die kürzeren und zurückhaltenden Haare der Statue B (Abb. 21d) hatten keine getrennt
gegossenen Haarlocken. Das obere Ende seines Kopfes wurde getrennt gegossen und danach
angelötet. Die Gründe dieses Phänomens konnten noch nicht erklärt werden. 165 Das gleiche
Phänomen wurde bereits bei der Untersuchung des Wagenlenkers im Abschnitt 7.4. (Abb. 13a)
beobachtet und es dient auch hier bei der Untersuchung der Statue B als Argument für die
Herstellung der Statue unter Verwendung des Naturabgusses.
Wie wir oben im Abschnitt 6.1 gesehen haben, argumentieren Hoffmann und Konstam für die
Verwendung des Naturabgusses bei der Herstellung der beiden Riace-Statuen. Die Argumente,
auf die sie diese Annahme stützen, sind sowohl die naturgetreue Modellierung der Körper als
auch insbesondere der Füße und der Fußsohlen dieser Statuen. Diese hervorragende
naturgetreue Modellierung, zum Beispiel die des Riace-Kriegers A, wird von Mattusch wie
folgt beschrieben:
„…The young man is poised with muscles flexed and veins raised, and the rippling surface of the flesh reflects the light. Copper nipples further highlight the fluid musculature of the chest.”166
Ein weiterer Hinweis für die Verwendung des Naturabgussverfahren bei der Herstellung der
Statue des Riace-Krigers A ist, dass seine Ohren ebenfalls ganz und naturalistisch in allen
Details modelliert sind 167, obwohl seine Haarlocken sie fast komplett verbergen.
8. Zusammenfassung
In dieser Arbeit wurde versucht, eine Erklärung für die stilistische Wandlung der
griechischen Skulptur von der archaischen Zeit bis zur Klassik zu finden. Zuerst wurden im 2.
Abschnitt die stilistischen Veränderungen der Skulptur aufgezählt, die die griechische
Skulptur im Laufe dieser Wandlung zeigte, nämlich: eine zunehmende organische und
naturgetreue Darstellung des menschlichen Körpers. Dann wurden im 3. Abschnitt die Gründe
165 Vgl. Mattusch 1988, 205 166 Mattusch 1988, 203 167 Vgl. Mattusch 1988, 205
55
für diese stilistischen Veränderungen, die bisher von der Forschung gegeben wurden,
untersucht. Da ideale und politische Gründe für die Veränderungen in der Kunst zu
ausweichend und problematisch sind, wurde als Ziel dieser Arbeit formuliert, diese Gründe
innerhalb des technischen Bereichs zu suchen. Da im 4. Abschnitt die vorwiegende
Verwendung der Bronze in dieser Zeit festgestellt wurde, entschiede ich mich, diese Suche im
Rahmen der Forschung der Entwicklung der griechischen Bronzegusstechnik vorzunehmen.
Dafür wurden zunächst die Werke der Forschung zu diesem Thema aufgezählt. Schließlich
wurde das Bronzegussverfahren im Überblick erläutert, um danach eine ausführliche,
kritische Untersuchung der technischen Schritte dieses Verfahrens vorzunehmen, die eine
wichtige Rolle bei dieser stilistischer Wandlung gespielt haben könnten, nämlich das Problem
des originalen Modells, das die entscheidend zur Formgebung der Herstellung einer
Bronzestatue beigetragen hat. Bei der ausführlichen Untersuchung dieses Problem wurde
zuerst auf die Theorien der verschiedenen Autoren, die im Laufe der Forschungsgeschichte
entwickelt wurden, eingegangen, nämlich, die Hypothesen, die zuerst von einem Holzmodell
zuerst und danach von einem Tonmodell ausgehen. Dann wurden die Argumente, auf denen
diese Theorien sich stützen, sorgfältig untersucht und anhand einer Untersuchung der antiken
Quellen und der archäologischen Funde überprüft. Das Ergebnis dieser Untersuchung und
Überprüfung zeigt, dass diese Argumente nicht hinreichend sind, um eine alternative
Erklärung für das Problem des originalen Modells auszuschließen. Da die stilistischen
Veränderungen der griechischen Skulptur während der Wandlung von der archaischen Zeit
bis zur Klassik als eine Entwicklung in Richtung einer zunehmenden organischen und
naturgetreuen Darstellung des menschlichen Körpers erscheinen, sollte die verwendete
Technik für die Herstellung von Statuen dieser Entwicklung entsprechen und dadurch, dass
die Modellierung eines originalen Modells aus Holz oder aus Ton diesem Ergebnis nicht
zwingend entspricht, schlage ich das Naturabgussverfahren als eine alternative Lösung dieses
Problems vor. Dafür wurden die Praktikabilität und Plausibilität dieses Verfahrens überprüft,
sowohl in technischer als auch in historischer Hinsicht. Zuletzt wurde diese hypothetische
Annahme bei der Untersuchung von sechs der wichtigsten erhaltenen Großbronzen dieser Zeit
erprobt. Mit dem Ergebnis, dass das Naturabgussverfahren in einem technischen
Entwicklungsprozess eingeführt wurde. Dieser Prozess entspricht der stilistischen Wandlung
der griechischen Skulptur von der archaischen Zeit bis zur Klassik und übte einen
entscheidenden Einfluss auf die gesamte stilistische Entwicklung der griechischen Skulptur in
Richtung einer naturgetreuen Widergabe des menschlichen Körpers aus.
56
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Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Dipylon-Meister. Kouroskopf. Marmor. H. 44,0 cm. Gegen 600 v. Chr. – Athen, Nat.
Mus. 3372. Boardman u. a. 1992, Taf. 80, Links Abb. 2: Kopf eines Reiters, sog. Kopf Rampin. Marmor. H. 29,0 cm. Kurz vor Mitte 6. Jh. v.
Chr. – Paris, Louvre 3104. Boardman u. a. 1992, Taf. 110 Abb. 3: Kouros, aus Sunion. Marmor. H. 3,05 m. Ertes Viertel 6. Jh. v. Chr. – Athen, Nat.
Mus. 2720. Boardman u. a. 1992, Taf. 80, Rechts Abb. 4: Kouros, von Tenea nahe Korinth. Marmor. H. 1,53 m. Mitte 6. Jh. v. Chr. – München
Glyptothek 168. Boardman u. a. 1992, Taf. 108 Abb. 5: Kouros von Keos. H. 2,07 m. Um 530 v. Chr. – Athen, Nat. Mus. 3686. Bol 2002,
Abb. 308 Abb. 6 a–b: Attischer Kouros Aristodikos. H. 1,95 m. Um 510-500 v. Chr. – Athen, Nat. Mus.
3938. Bol 2002, Abb. 307 Abb. 7 a–c: „Kritios-Knabe“, Jüngling von der Akropolis in Athen. H. 116,7 cm. Um 480 v.
Chr. – Athen, Akrop. Mus. 698. a–b, Boardman u. a. 1992, Taf. 162; c, Hirwit 1989, 54, Fig. 15
Abb. 8: Indirektes Bronzegussverfahren. Zeichnungen: Séan A. Hemingway. Mattusch 1997,
68, Fig. 48a–g Abb. 9 a–b: Zeuskopf von Olympia. Bronze. H. 0,17 m. Späte 6. Jh. v. Chr.–frühe 5. Jh. V.
Chr. – Athen, Nat. Mus. 6440. a, Houser 1983, 35; b, Mattusch 1988, 64. Abb. 4.15 Abb. 10 a–b: Behelmeter Krieger der Akropolis. Bronze. H. 0,29 m. Frühe 5. Jh. v. Chr. –
Athen, Nat. Mus. 6446. a, Boardman u. a. 1992, Taf. 152; b, Mattusch 1988, 92, Abb. 5.2
Abb. 11 a–c: Poseidon von Livadhostro. Bronze. H. 1,18 m. ca. 480 v. Chr. – Athen, Nat.
Mus.11761. a–b, Houser 1983, 46 f.; c, Mattusch 1988, 80, Abb. 4.20 Abb. 12 a–b: Schlangensäule von Delphi. Bronze. H. 5,35 m. 479 v. Chr. in Istanbul. Pres.
Mattusch 1988, 96, Abb. 5.6 Abb. 13 a–g: Wagenlenker Von Delphi. Bronze. H. 1,80 m. ca. 474 v. Chr. – Delphi, Museum
3484, 3540. a–b, Boardman u. a. 1992, Taf. XXVII. 156; c–d, Houser 1983, 27. 26; e, Bol 2004, Abb. 10g; f, Landwehr 1985, Taf. 113d; g, Mattusch 1988, 4, Abb. 1.1
Abb. 14: Rotfigurige attische Oinochoe aus Capua. H. 0,215 m. Um 470 v. Chr. – Berlin,
Antikenmuseum F2415. Zimmer 1982, 9, Fb. Taf. I Abb. 15: Kopf des Echnatons von Amarna. Gips. H. 0,21 m. Mitte 14. Jh. v. Chr. – Berlin,
Ägyptisches Museum 21 355. Frederiksen 2010, Fig. 1.2
62
Abb. 16: Kopf der Nefertete von Amarna. Gips. H. 0,256 m. Mitte 14. Jh. v. Chr. – Berlin, Ägyptisches Museum 21 349. Frederiksen 2010, Fig. 1.3
Abb. 17: Kopf einer unbekannten Frau von Amarna. Gips. H. 0,267 m. Mitte 14. Jh. v. Chr. –
Berlin, Ägyptisches Museum 21 261. Frederiksen 2010, Fig. 1.4 Abb. 18: Kopf eines unbekannten Mannes von Amarna. Gips. H. 0,27 m. Mitte 14. Jh. v. Chr.
– Berlin, Ägyptisches Museum 21 228. Frederiksen 2010, Fig. 1.5 Abb. 19 a–d: Knabe von Lingurio. Bronze. H. 0,135 m. Frühklassisch. Berlin Staatliche
Museen Preußischer Kulturbesitz, Antikensammlung 8089. Bol 2004, Abb. 5 a–d
Abb. 20 a–h: Riace-Krieger A. Bronze. H. 1,98 m. Vor 461 v. Chr. – Regio Calabria, Museo
Nazionale. a–f. h, Busignani 1982, Taf. I. V. VII. III. 34. 36. 24; g, Formigli 1981, Taf. 3.2
Abb. 21 a–g: Riace-Krieger B. Bronze. H. 1,97 m. Nach 452 v. Chr. – Regio Calbria, Museo
Nazionale. a–f, Busignani 1982, Taf. II. VI. VIII. IV. 26: 37; g, Konstam – Hoffmann 2004, Fig. 1
Abb. 22: Fußsohle einer durch die Verwendung eines originalen Tonmodells hergestellten
Bronzestatue. Modern. Konstam – Hoffmann 2004, Fig. 2 Abb. 23 a–b: Apollon Piobimbo. Bronze. H 1,16 m. Wohl 1. Jh. v. Chr. – Paris, Louvre Br. 2.
a, Konstam – Hoffmann 2004, 400, Fig. 3; b, Mattusch 1996, Pl. 6 Abb. 24 a–b: Wachsabdruck eines lebenden Fingers: Positiv und Negativen. Bienenwachs.
Positive H. 0,06 m. Negative H. ca. 0,065 m. 2011 n. Chr. – Berlin. Fotos: Pablo Jimenez Salinas
Abb. 25 a–e: Erzgießereischale. H. 0,12 m Dm. 0,305 m. Um 480 v. Chr. – Berlin,
Antikenmuseum F 2294. a. d–e, Zimmer 1982, 51, Taf. 9. 43, Taf. 1. 45, Taf. 3,2; b–c, Mattusch 1988, 102, Abb. 5.7
Abb. 26: Bein eines Reiters von Taras-Bronze. Bronze. H. 0,82 m. Zwischen 470–450v. Chr.
– London, British Museum GR 1886.3-24.1. McCann 2000, 101, Fig. 3 Abb. 27: Archaische Beinschiene. Bronze. – Olympia, Museum. Bol 1985, 56, Abb. 32 Abb. 28 a–e: Apollon von Piräus. Bronze. H. 1,91 m. ca. 520 v. Chr. – Piräus-Museum. a. c–e,
Houser 1983, 53. 54. 56. 56; b, Boardman 1981, Abb. 150 rechts Abb. 29 a–g: Ephebe von Seliunt. Bronze. H. 0,847 m. Frühklassisch. – Palermo, Museo
Nazionale. a, Mattusch 1988, 135, Abb. 6.7; b–g, Carruba 1983, Taf. 7.3. 1.2. 7.7. 7.6, Abb. 2. 6–8
Abb. 30 a–g: Der Gott aus dem Meer. Bronze. H. 2,09 m. ca. 460 v. Chr. – Athen, Nat. Mus.
15161. a–b. d, Tzachou-Alexandri 2000, 90, Fig. 4. 89, Fig. 3. 86, Fig. 1c; c. e–g, Houser 1983, 76. 80. 81. 82
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Abb. 31 a–b: Grabstatue des Kroisos, aus Anavyssos in Attika. Marmor. H. 1,94 m. Gegen 520 v. Chr. – Athen, Nat. Mus. 3851. Boardman u. a. 1992, Taf. 117