Die Rhetorizität der Sprache. Zur Sprachauffassung Friedrich Nietzsches im Spannungsfeld von...

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Michael Peter Hehl Die Rhetorizität der Sprache Zur Rhetorikauffassung Friedrich Nietzsches im Spannungsfeld von Philosophie und poststrukturalistischer Literaturtheorie Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades „Magister Artium“ im Fachbereich Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen vorgelegt bei: Prof. Dr. Achim Geisenhanslüke (Regensburg) Prof. Dr. Gunter E. Grimm (Duisburg) Duisburg, 16. 1. 2006

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Michael Peter Hehl

Die Rhetorizität der Sprache

Zur Rhetorikauffassung Friedrich Nietzsches im Spannungsfeld von

Philosophie und poststrukturalistischer Literaturtheorie

Schriftliche Arbeit zur Erlangung des Akademischen Grades „Magister Artium“ im

Fachbereich Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen

vorgelegt bei:

Prof. Dr. Achim Geisenhanslüke (Regensburg)

Prof. Dr. Gunter E. Grimm (Duisburg)

Duisburg, 16. 1. 2006

Inhaltsverzeichnis

Einleitung.................................................................................................................2

I. Das aktuelle Interesse an der Rhetorik.............................................................7

1. Rhetorik als kritische Anthropologie ...........................................................8

2. Rhetorik und Postmoderne.........................................................................11

II. Geschichte einer Verdrängung.......................................................................14

1. Die Sprachauffassung Gorgias’ .................................................................16

2. Die Rhetorikkritik Platons .........................................................................21

3. Die Geburt der abendländischen Metaphysik ............................................24

4. Zur Rhetorik Aristoteles’ ...........................................................................26

5. Philosophie gegen Rhetorik – Gefahren des Schematismus......................28

III. Rhetorikrezeption in der Moderne.................................................................31

1. Zum Verhältnis von Rhetorik und philosophischer Ästhetik um 1800 .....33

2. Das Verhältnis von Universalpoesie und Rhetorik in der deutschen Frühromantik..............................................................................................38

IV. „Ein bewegliches Heer von Metaphern“. Nietzsches Rhetorikauffassung und die Kritik der philosophischen Sprache ..................................................44

1. Rhetorik und Ästhetik ................................................................................46

2. Nietzsches Überwindung der Frühromantik ..............................................50

3. Konsequenzen für das Verhältnis von Literatur und Philosophie ............56

4. Die Figuration als Modus des Denkens und Empfindens..........................61

4.1. Metapher – Metonymie – Synekdoche................................................64 4.2. Spuren der Rhetorik in Nietzsches Spätwerk......................................67

5. Nietzsche und die Sophisten ......................................................................69

V. Nietzsches Rhetorikauffassung und die Literaturtheorie...............................76

1. Nietzsche – de Saussure – Barthes – Derrida ............................................77

2. Das Abenteuer der Spur .............................................................................84

3. Forschungspraktische Konsequenzen ........................................................86

VI. Schlussplädoyer für die theoretische Literaturwissenschaft ..........................89

Literaturverzeichnis ...............................................................................................93

1

Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge. (F. Nietzsche)

Der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz. (H. Blumenberg)

2

Einleitung

Die Einsicht in das unabwendbare Scheitern aller Versuche der Letztbegründung

wissenschaftlicher Aussagen und Aussagensysteme ist ein grundlegender

Bestandteil neuerer Theoriebildungsprozesse in den historischen

Kulturwissenschaften. War die theoretische Grundlagenforschung der

Literaturwissenschaft lange Zeit mit der Frage beschäftigt, was das Wesen der

Literatur sei, so deutet sich spätestens seit den sechziger Jahren des letzten

Jahrhunderts ein Wandel an. Die ontologische Frage nach dem Wesen der

Literatur wird abgelöst von der Frage nach den Funktionen, die Literatur innerhalb

von Diskursen erfüllt.1 In Terry Eagletons lakonischer Feststellung, dass das

Wesen der Literatur schlichtweg nicht existiere,2 kommt dieser Zusammenhang

plakativ zum Ausdruck.

Wenn die Literaturwissenschaft sich auf diese Weise über die Kontingenz ihrer

Grundbegriffe bewusst wird, erscheint die Literaturtheorie als eine Art

Metadiskurs, in dem Legitimationsmuster literaturwissenschaftlichen Wissens

transparent gemacht werden. Unterscheidet man dabei die Ebene der

wissenschaftlichen Aussagen von der Ebene der Untersuchungsgegenstände,

nimmt die Reflexionsebene der Literaturtheorie in dieser Konstellation eine

doppelte Position ein. Sie befindet sich sowohl zwischen als auch außerhalb dieser

beiden Ebenen, indem sie zwischen literarischem Diskurs und Wissenschaft

vermittelt und zugleich das Verhältnis und die Konstitution dieser beiden

Aussagenbereiche reflektiert und problematisiert.3

Als Reflexion über die Legitimation von Wissen ist die Literaturtheorie dabei nie

frei von Einflüssen teilweise konträrer Weltanschauungen. Sie wird stets im

Rahmen wissenschaftspolitischer Machtkonstellationen betrieben, die ihrerseits in

einem komplexen Zusammenspiel gesellschaftlicher Diskurse situiert sind. In ihr

kreuzen und verbinden sich wissenschaftspolitische Interessen mit theoretischen

Reflexionen über die Grundlagen der Fachdisziplin.

1 Vgl. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur

Medienwissenschaft. Darmstadt 2003b, S. 9. 2 Vgl. Eagleton, Terry: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1994, S. 10. 3 Vgl. Geisenhanslüke 2003b, S. 10.

3

Wenn sie diese Verflechtung mitreflektiert, ist das ein Zeichen ihrer Stärke.

Allerdings macht sie sich dadurch auch leicht angreifbar. So ist die

Literaturtheorie und der mit ihr assoziierte Methodenpluralismus in den letzten

Jahren für die erneute Legitimationskrise der Germanistik verantwortlich gemacht

worden.4 Die gegenwärtige Situation ist daher nicht nur von der an sich positiv zu

bewertenden Pluralität, Transparenz und Komplexität der Reflexion über die

Grundlagen literaturwissenschaftlicher Forschung bestimmt, sondern auch von

dem Gegensatz zwischen Theoriebefürwortern und Theoriegegnern.

Eine Hauptthese der vorliegenden Arbeit besagt, dass diese Konstellation die

Variation eines weltanschaulichen Gegensatzes ist, der auf ähnliche Art bereits in

der griechischen Antike zu Konflikten geführt hat. Bereits Platons Streit mit der

sophistischen Rhetorik ist Ausdruck einer Differenz, die zwischen der Suche nach

letztgültiger Wahrheit und der Einsicht in das notwendige Scheitern dieser Suche

trennt. Aus diesem Grund ist es kein Zufall, dass theoretische Reflexionen der

Literaturwissenschaft, die sich als Kritik an der Metaphysik verstehen, in neuerer

Zeit gerne auf die Rhetorik zurückgreifen. Allerdings ist es hier nicht das

spätestens mit der Genieästhetik des Sturm und Drang in Verruf geratene

kanonisierte Regelwissen der Rhetorik, das auf Interesse stößt, sondern vielmehr

das gespannte Verhältnis, das die Rhetorik seit der Antike zur Philosophie sowie

seit der Institutionalisierung der ‚septem artes liberales‘ zu den Disziplinen Logik

und Grammatik einnimmt.5 Angesichts der in alle historischen

Kulturwissenschaften hineinwirkenden paradigmatischen Wende von der

Bewusstseinsphilosophie zur Sprachphilosophie6 kann es nicht überraschen, dass

die Rhetorik nicht als Regelwerk wiederentdeckt wird, sondern als theoretische

Reflexion über das Verhältnis von Sprache und Wissen.

Die mit dieser Wiederentdeckung verbundene Aufwertung der mit

Wahrscheinlichkeiten operierenden Rhetorik gegenüber dem Wahrheitsglauben

der Wissenschaft ist der Ausdruck eines allgemeinen Bruchs in der Geschichte des

modernen Denkens. Im Werk Friedrich Nietzsches, welches für verschiedene

4 Vgl. ebd., S. 143. 5 Vgl de Man, Paul: Der Widerstand gegen die Theorie. In: Bohn, Volker (Hrsg.): Romantik.

Literatur und Philosophie. Frankfurt a.M. 1987, S. 80-106, hier S. 95. 6 Vgl. Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a.M.

1992, S. 14 ff.

4

Strömungen gegenwärtiger Theoriebildung in der Literaturwissenschaft eine

wichtige Rolle spielt, wird dieser Bruch zum ersten Mal manifest.

Mit der Neubestimmung des Verhältnisses von Sprache und Wissen im Zeichen

neuerer Literaturtheorien wird ein grundlegender Wandel des

literaturwissenschaftlichen Selbstverständnisses eingeleitet, der vorwiegend über

die französische Nietzsche-Rezeption vermittelt wird. Nicht das Erkennen einer

letztgültigen Wahrheit über den Text ist seither die Aufgabe der

literaturwissenschaftlichen Arbeit, sondern die kritische Reflexion über das

Verhältnis von Literatur, Wissen und Gesellschaft.

In der vorliegenden Arbeit soll dieser Wandel des Wissenschaftsverständnisses am

Beispiel von Nietzsches Rhetorikauffassung und deren Bedeutung für die neuere

Literaturtheorie untersucht werden. Dafür wird ein weit gespannter historischer

Rahmen gewählt, der von der antiken Rhetorik bis zur Gegenwart reicht. Obwohl

die Selektivität der Beobachtung aus dieser Makroperspektive vergleichsweise

hoch ist, wird erst so sichtbar, welche Zusammenhänge noch heute die

Differenzen zwischen dem Streben nach disziplinärer Einheit auf der einen sowie

nach theoretischer und methodologischer Pluralität auf der anderen Seite

bestimmen.

Methodisch orientiert sich die Untersuchung am Konzept einer Archäologie des

Wissens, wie sie Michel Foucault in Auseinandersetzung mit seinen historischen

Analysen entwickelt hat.7 Nicht die Kontinuitäten der Rhetorikgeschichte stehen

im folgenden im Vordergrund, sondern zwei Ereignisse, die als Brüche in der

Geschichte des Wissens in Erscheinung treten: die systematische Trennung

zwischen Philosophie und Rhetorik in der griechischen Antike und die Aufhebung

dieser Trennung in der Postmoderne. Wenn im Zusammenhang mit diesen

Brüchen von Platon und Nietzsche die Rede ist, sind keine Autorsubjekte im

traditionellen Sinne gemeint, sondern diskursive Phänomene, die wie

Markennamen etwas kennzeichnen, das in Wirklichkeit das Ergebnis komplexer

kollektiver Produktionsprozesse ist.

Ähnliches gilt für die Begriffe der metaphysischen und rhetorischen Tradition.

Traditionen können nur um den Preis einer differenzierten Analyse als Einheiten

7 Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen. Frankfurt a.M.

1981.

5

angesehen werden, weswegen es methodisch sinnvoller erscheint, von vorneherein

auf die Heterogenitäten, Diskontinuitäten und Differenzen zu achten, durch

welche die Geschichte des abendländischen Denkens als ein offener Prozess

bestimmt wird. Die Wahl einer an die diskurstheoretischen Arbeiten Foucaults

angelehnten Untersuchungsmethode versteht sich hier deshalb nicht als eine

antithetische Alternative zu traditionellen Zugriffen, sondern als eine

methodologische Erweiterung, die möglicherweise Aspekte sichtbar macht, die

vor dem Hintergrund eines ideengeschichtlichen Ansatzes zu schnell an den Rand

der Beobachtung gedrängt werden würden. Es wird daher weiterhin von Autoren,

Denkbewegungen und Traditionen die Rede sein, allerdings werden diese Begriffe

als analytische Konstrukte und in Kombination mit neueren Begriffen eingesetzt,

die eine differenziertere Beobachtung ermöglichen.

Im ersten Teil der Untersuchung wird das aktuelle Interesse an der Rhetorik in den

historischen Kulturwissenschaften erörtert. Dabei sollen einige

Anknüpfungspunkte aufgezeigt werden, die sich in der gegenwärtigen

Rhetorikrezeption als besonders relevant erweisen. Im Mittelpunkt dieser

Rezeption steht zumeist das Interesse, mit dem Wegbrechen epistemologischer

Gewissheiten im Zeichen der Postmoderne wissenschaftlich umzugehen. Die

Rhetorik erscheint hier als eine der Dezentrierung und Relativierung der Wahrheit

im Zeichen der Kontingenz gegenüber affine Theorieform, die bereits in der

Antike über ein hohes Reflexionsniveau verfügte. Im Zuge der Geschichte des

abendländischen Denkens sind die epistemologischen und

argumentationstheoretischen Aspekte der Rhetorik, wie im zweiten Teil gezeigt

werden soll, mehr und mehr in Vergessenheit geraten.

Den Beginn dieses Vergessens markiert die Auseinandersetzung Platons mit der

sophistischen Rhetorik. Mit Platons Kritik an der Rhetorik wird ein

Machtanspruch der Philosophie formuliert, der lange Zeit Gültigkeit besitzt. Die

Fixierung der Philosophie auf den Begriff der letztgültigen Wahrheit führt zu einer

Marginalisierung der sophistischen Sprachspiele, denen eine zur platonischen

Philosophie alternative Auffassung über den Zusammenhang von Sprache und

Wissen zu Grunde liegt.

Diese Marginalisierung bestimmt auch die Rhetorikrezeption der Moderne, was

im dritten Teil der Arbeit am Beispiel des Verhältnisses der philosophischen

Ästhetik und der frühromantischen Sprachreflexion zur rhetorischen Tradition

6

erörtert werden soll. Zwar entwickeln die Frühromantiker die Idee der

ursprünglichen Figuralität der Sprache weiter, die bereits die sprachtheoretischen

Arbeiten Herders prägte, allerdings stellt dies bei näherer Betrachtung keine

Abkehr von der durch Platon formulierten Autorität der Philosophie gegenüber der

Rhetorik dar. Vielmehr wird der Begriff der Wahrheit hier in einen Begriff des

authentischen Sprechens transformiert, der lediglich die epistemologische

Funktion der Figuralität betont, aber letztlich noch dem platonisch-

philosophischen Paradigma verhaftet bleibt.

Der vierte Teil der Arbeit widmet sich der genauen Analyse der

Rhetorikauffassung Nietzsches vor dem Hintergrund der im zweiten und dritten

Teil der Arbeit herausgearbeiteten historischen Zusammenhänge und der Wirkung,

die Nietzsches Werk auf die dezidiert antimetaphysische Philosophie und

Literaturtheorie des späten zwanzigsten Jahrhunderts hatte. Anders als die

philosophische Ästhetik und die frühromantische Sprachphilosophie kann

Nietzsches Auffassung von Rhetorik als ein Bruch mit traditionellen Auffassungen

des Verhältnisses von Rhetorik und Philosophie gelten, da Nietzsche die Begriffe

von Wahrheit, Authentizität und Ursprünglichkeit radikal in Frage stellt. Zugleich

entwickelt er in Anknüpfung an die Terminologie der Rhetorik Ansätze zu einer

kritischen Epistemologie, welche die Philosophie der metaphysischen Tradition

dekonstruierbar macht. Insbesondere im Umfeld der poststrukturalistischen

Literaturtheorie werden diese Gedanken vielfach aufgenommen.

Im letzten Teil werden die Ergebnisse dieser Analyse auf die

Ausgangsfragestellung zurückbezogen und im Hinblick auf die Rolle der

Nietzsche’schen Rhetorikauffassung in der Literaturtheorie der Gegenwart

reflektiert. Dabei deutet sich an, dass diese Rhetorikauffassung nicht nur für die

theoretische Reflexion über das Verhältnis von Sprache, Literatur und Wissen

attraktiv ist, sondern auch auf eine Form der wissenschaftlichen

Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Theorie- und Methodenvielfalt

verweist, die in vielerlei Hinsicht interessant erscheint. Das Schlusswort fasst die

Ergebnisse der Arbeit im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der

Literaturtheorie in der germanistischen Literaturwissenschaft zusammen.

7

I. Das aktuelle Interesse an der Rhetorik

In den Auseinandersetzungen zwischen Philosophie und Rhetorik stand von der

Antike bis zur Moderne die Unterscheidung zwischen letztgültiger Wahrheit und

zustimmungsabhängiger Wahrscheinlichkeit im Mittelpunkt.8 Die Kritik am

perspektivischen Meinungswissen der Rhetorik wurde aus der Perspektive der

Möglichkeit letztgültigen Wissens formuliert. Wenn die Möglichkeit letztgültiger

Wahrheit jedoch nicht mehr ohne weiteres gegeben ist und die Idee einer von

Zustimmung unabhängigen Geltung selbst zum Gegenstand argumentativer und

zustimmungsabhängiger Auseinandersetzungen wird, kann von einem Aufgehen

der Wahrheit in einem pluralistischen Sprachspiel gesprochen werden. Eben diese

Situation ist im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts eingetreten. Jean-Francois

Lyotard hat sie in Das postmoderne Wissen dokumentiert.9

In den Geistes- und Kulturwissenschaften lässt sich seit einigen Jahrzehnten ein

Anstieg an Publikationen verzeichnen, die sich mit Rhetorik beschäftigen.

Insbesondere Wissenschaftstheoretiker, Erziehungs- und Literaturwissenschaftler

wenden sich in zunehmendem Maße der Theorie der Rhetorik zu.10 Als kleinster

gemeinsamer Nenner der jeweiligen Zugriffe kann das Anliegen gelten, mit den

Folgen des Zerfalls epistemologischer Gewissheiten, für den sich die Metapher

des ‚Todes der Metaphysik‘ etabliert hat, theoretisch umzugehen. Die antike

Rhetorik, insbesondere des Aristoteles, bietet dafür in vielerlei Hinsicht ein

systematisch ausgearbeitetes Modell, das in puncto Systematik und

Differenziertheit immer noch maßgeblich ist. Rhetorik ist von ihrem Beginn an

eine Lehre des Umgangs mit Kontingenz gewesen. In der Postmoderne kann sie

ihre Stärke entfalten.

8 Vgl. Ijsseling, Samuel: Rhetorik und Philosophie. Eine historisch-systematische Einführung.

Stuttgart 1988, S. 16 f. 9 Vgl. Lyotard, Jean-Francois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsg. v. Peter Engelmann.

Wien 1994. 10 Vgl. die Beiträge in Dörpinghaus, Andreas / Helmer, Karl (Hrsg.): Zur Theorie der

Argumentation in der Pädagogik. Würzburg 1999; Haverkamp, Anselm (Hrsg.): Theorie der Metapher. Darmstadt 1983; Kopperschmidt, Josef (Hrsg.): Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. München 2000; Ders. (Hrsg.): Rhetorik. Zwei Bände. Darmstadt 1991; Plett, Heinrich F. (Hrsg.): Die Aktualität der Rhetorik. München 1996.

8

Wissenschaftstheoretisch zeigt sich die Stärke der Rhetorik beispielsweise in den

Arbeiten von Chaïm Perelman.11 Unter dem Etikett einer nouvelle rhétorique

werden unter anderem die aristotelischen Überlegungen zum enthymematischen

Schluss aufgegriffen und zu einer der formallogisch-analytischen bzw.

syllogistischen Beweisführung gegenüber stehenden Theorie der Argumentation

ausgearbeitet.12 Auch die Erziehungswissenschaft bedient sich dieser

Überlegungen und betont darüber hinaus die Möglichkeit, Bildungsdiskurse vor

dem Hintergrund des Paradigmas einer grundlegenden Rhetorizität des

menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses neu zu begreifen.13 In der

Literaturwissenschaft sind es vor allem die Praxis dekonstruktivistischer Lektüren

und die poststrukturalistische Theoriereflexion, in deren Rahmen eine Renaissance

der Rhetorik zu verzeichnen ist.14

Was für alle Disziplinen, die sich in Anbetracht der Kontingenz wissenschaftlicher

Urteile auf die Rhetorik berufen, eine Rolle spielt, ist die Infragestellung von

idealistischen Subjektivitätsbegriffen, die zugleich eine kritische Relativierung des

Begriffs vom Menschen mit sich bringt. Als die historisch älteste Reflexion über

das Verhältnis von Sprache und Wissen impliziert die Rhetorik ein Wissen, das

sich als kritische Anthropologie im Rahmen postmoderner Theoriereflexionen

entfalten lässt.

1. Rhetorik als kritische Anthropologie

Hinsichtlich der Frage nach der Entstehung der Rhetorik existieren in der

Rhetorikforschung ein politisch-historisches und ein anthropologisches

Ursprungsmodell. Das politisch-historische Modell geht davon aus, dass die

Einrichtung der demokratischen Staatsform im antiken Griechenland die

Voraussetzung für die Entwicklung einer öffentlichen Gesprächskultur sei, aus der

dann die Rhetorik erwuchs.15 Das anthropologische Modell geht hingegen von der

11 Vgl. Perelman, Chaïm: Die neue Rhetorik. Eine Theorie der praktischen Vernunft. In:

Kopperschmidt 1991, Bd. 2, S. 325-358; Ders.: Das Reich der Rhetorik. Rhetorik und Argumentation. München 1980.

12 Vgl. Perelman 1991. 13 Vgl. Dörpinghaus, Andreas: Logik der Rhetorik. Grundriss einer Theorie der argumentativen

Verständigung in der Pädagogik. Würzburg 2002, S. 12 ff. 14 Vgl. etwa Paul de Mans Programm einer ‚rhetorischen‘ Dekonstruktion in Allegorien des

Lesens. Frankfurt a.M. 1988, S. 31 ff sowie die Beiträge in Haverkamp 1983 und Ders. (Hrsg.): Die Paradoxe Metapher. Frankfurt a.M. 1998.

15 Vgl. Dörpinghaus 2002, S. 28 ff.

9

These aus, dass die Rhetorik sich aus einer gattungsspezifischen Disposition des

Wesens Mensch heraus notwendig entwickele. „Der Mensch ist biologisch

indisponiert und deshalb metaphorisch konstituiert. Damit sind wir bei Nietzsches

Definition des Menschen als Metapherntier.“16

Josef Kopperschmidt kommt angesichts der bereits von Nietzsche betonten

‚Rhetorizität‘ menschlicher Erfahrung zu der These, dass die in der antiken

Rhetorik enthaltene implizite Anthropologie im Zusammenhang mit neueren

anthropologischen sowie kommunikations- und medientheoretischen

Fragestellungen mit Gewinn herauszuarbeiten sei.17 Entscheidende Impulse dieser

anthropologischen Fragestellung an die Adresse der Rhetorik gehen dabei von

Hans Blumenberg aus, der in seinem Aufsatz Anthropologische Annäherung an

die Aktualität der Rhetorik den Streit zwischen Rhetorik und Philosophie als

Ausdruck des Gegensatzes zweier anthropologischer Basisprämissen

interpretiert.18

Die Differenz von sicherem Wissen und perspektivischem Meinungswissen ist

Blumenberg zufolge mit einer anthropologischen Differenz verbunden, die sich

mit dem Begriffspaar ‚armes Wesen/reiches Wesen‘ beschreiben lässt.19 Während

eine Rhetorik, die den Menschen wie Platon als ein ‚reiches Wesen‘ interpretiert,

den Begriff der perspektivischen Überzeugung immer aus der Gewissheit über die

Existenz ‚epistemischen‘ und objektiven Wissens herleite, liege dem Denken der

sophistischen Rhetorik eine radikale Skepsis zu Grunde, in der sich das Verhältnis

von Perspektivismus und Objektivismus umkehrt.

An diese von Blumenberg getroffene Unterscheidung knüpft Kopperschmidt an

und unterscheidet zwei Formen von Rhetorik voneinander. Eine Rhetorik, die der

Möglichkeit des Wahrheitsbesitzes Tribut zollt, könne als ‚Konzessionsrhetorik‘

gelten.20 Eine Rhetorik, deren Gebrauch sich aus einer gattungsspezifischen

16 Bolz, Norbert: Das Gesicht der Welt. Hans Blumenbergs Aufhebung der Philosophie in

Rhetorik. In: Kopperschmidt 2000, S. 89-98, hier S. 89. 17 Vgl. Kopperschmidt, Josef: Was weiß die Rhetorik vom Menschen? Thematisch einleitende

Bemerkungen. In: Ders. 2000, S. 7-37; zu Nietzsches Auffassung von Rhetorik vgl. die Beiträge in Ders. (Hrsg.): Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“. München 1994.

18 Vgl. Blumenberg, Hans: Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart 1981, S. 104-136.

19 Vgl. ebd., S. 104 f. 20 Vgl. Kopperschmidt 2000, S. 19.

10

Verlegenheit herleitet, nämlich der Unmöglichkeit des Wahrheitsbesitzes, stelle

hingegen eine ‚Verlegenheitsrhetorik‘ dar.21

Eine der Philosophie verpflichtete Konzessionsrhetorik impliziert zugleich die

Verkürzung des rhetorischen Gegenstandsbereichs auf die Kunstmittel zur

Erzeugung erwünschter Zuhörereffekte, während eine Verlegenheitsrhetorik

immer auch auf die Grenzen der philosophischen Wahrheitssuche verweist:

Der Mensch als das reiche Wesen verfügt über seinen Besitz an Wahrheit mit dem Wirkungsmitteln des rhetorischen Ornatus. Der Mensch als das arme Wesen bedarf der Rhetorik als der Kunst des Scheins, die ihn mit seinem Mangel an Wahrheit fertig werden lässt.22

Damit findet die Reduktion der Rhetorik auf die ‚elocutio‘, die sich seit der

Spätantike zunehmend abzeichnet,23 eine systematische Erklärung. Den

historischen Wandlungen der Rhetorik sowie dem Antagonismus zwischen

Rhetorik und Philosophie liege eine anthropologische Differenz zu Grunde, die

zugleich die Differenz zwischen den epistemologischen Positionen ‚Skepsis‘ und

‚Gewissheit‘ markiert. Diese Differenz führe zu konträren Interpretationen des

Verhältnisses von Mensch und Welt.

Der Mensch birgt in sich den wohlaufgeschichteten Ertrag aller physischen Wirklichkeit oder er ist das von der Natur in Stich gelassene Mängelwesen, geplagt von unverstandenen und funktionslos gewordenen Instinktresiduen.24

Blumenberg zufolge ist es die offene Form eben dieser doppelten Metaphorik,

durch die der Mensch sich als ein in wesenloser Unbestimmtheit verharrendes

Dasein auszeichnet und nicht sein biologisch defizitäres Verhältnis zur Natur.25

Was eine ‚Verlegenheitsrhetorik‘ für die gegenwärtige postmetaphysische

Philosophie interessant macht, ist jene ‚implizite Anthropologie‘26, die als eine

skeptische Anthropologie davon ausgeht, dass der Mensch Wahrheit nicht besitzen

kann und jedes Wissen letztlich perspektivisch bleibt. Diese Anthropologie weiß

als eine skeptische Reflexion daher keine Antworten auf die Frage, was der

Mensch ist. Sie versteht sich vielmehr als eine kritische Anthropologie, nach der

das, was der Mensch ist, in immer neuen Sprachspielen rhetorisch ausgehandelt

21 Vgl. ebd. 22 Blumenberg 1981, S. 105. 23 Vgl. Dörpinghaus 2002, S. 23 ff. 24 Blumenberg 1981, S. 104. 25 Vgl. ebd., S. 118 f. 26 Kopperschmidt 2000, S. 8.

11

wird und auf keiner letztbegründeten Substantialität beruht. Rhetorische

Anthropologie untersucht die Bedingungen, unter denen es zum Eindruck von

Wesensmerkmalen und zur Illusion substantieller Subjektivität überhaupt erst

kommen kann.

Vor diesem Hintergrund rückt die rhetorische Anthropologie, wie sie im Rekurs

auf Blumenberg begründet wird, in direkte Nähe zum Programm der eng mit dem

Namen Jacques Derrida verbundenen Dekonstruktion. Auch die Dekonstruktion

geht davon aus, dass substantielle Subjektivität, philosophische Gewissheit und

die Vorstellungen über die Wirklichkeit auf kontingenten Operationen beruhen,

die sich kritisch nachzeichnen lassen. Anders als in der rhetorischen

Anthropologie steht in der Dekonstruktion aber nicht die Frage im Vordergrund,

welche Bedingungen angesichts dieser Kontingenz gelten müssen, damit eine

selbstreflexive Konstruktion von Subjektivität in modernen Gesellschaften

gelingen kann. Aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive heraus gilt die

Bemühung der Dekonstruktion vielmehr

zum einen dem kritischen Nachweis der verschiedenen Supplementierungsprozesse, die die Geschichte der Metaphysik erfahren habe, zum anderen der Erarbeitung einer anti-systematischen Wissenschaft, die das unendliche Spiel der Zeichen als Selbstauflösung jenen wissenschaftlichen Anspruchs nachzeichne.27

Dekonstruktion und rhetorische Anthropologie erscheinen so als komplementäre

Konsequenzen aus der Einsicht in die rhetorische Konstitution des menschlichen

Selbst- und Weltverhältnisses, die sich als theoretische Grundlagen

literaturwissenschaftlicher Forschung sinnvoll kombinieren ließen.28

2. Rhetorik und Postmoderne

Die paradigmatische Wende von der Bewusstseinsphilosophie zur

Sprachphilosophie zeigt, dass die Renaissance der Rhetorik in der Postmoderne

nicht allein durch die Auflösung binärer Differenzierungen wie ‚armes

27 Geisenhanslüke 2003b, S. 98 f. 28 Anselm Haverkamp zufolge sei die ‚Metaphorologie‘ Hans Blumenbergs nicht nur eine

Dekonstruktion ‚avant la lettre‘; sie ginge in wesentlichen Punkten auch über die Dekonstruktion hinaus: „Die Differenz der Schrift und die in ihr konstituierte Spur, die in Derridas Grammatologie für Bewegung sorgt in der Geschichte, ist in Blumenbergs Metaphorologie eher eine ‚triviale‘ Voraussetzung.“ (Haverkamp, Anselm: Paradigma Metapher / Metapher Paradigma. In: Ders. 1998, S. 268-286, hier S. 279.) Auf die Differenzen zwischen Dekonstruktion und Metaphorologie, insbesondere hinsichtlich des Begriffs der Textualität, kann an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden.

12

Wesen/reiches Wesen‘, ‚skeptisch/gewiss‘ oder ‚perspektivisch/objektiv‘ zu

Gunsten der jeweils ersten Alternative bestimmt wird. Die Philosophie selbst

bewegt sich, wegen ihrer Fixierung auf Sprache, auf den Gegenstandsbereich der

Rhetorik zu.

Rhetorik ist als die älteste Wissenschaft, die mit Kontingenz umzugehen versucht,

eine in vielerlei Hinsicht adäquate Reflexionsform für den Menschen in der

Postmoderne. „Bricht die prinzipielle Möglichkeit auf Wahrheit und Gewissheit

weg, so bleibt dem Mensch die Rhetorik als konjekturaler Umgang mit seiner

kontingenten Lebenswelt, und zwar nur die Rhetorik.“29

In der Postmoderne wird die Rhetorik damit streng genommen zur einzig

möglichen Form von Philosophie, weil die ontologische Basis philosophischer

Wahrheitsbegriffe nach dem ‚linguistic turn‘ nur noch sprachimmanent denkbar

bzw. Wahrheit nur noch als sprachlich generiertes Wahres denkbar ist. Die

Rhetorik ist damit nicht länger eine Form des Wissens, die gegenüber

philosophischen Wissensformen, wie der Analytik oder Dialektik, unterprivilegiert

ist. Die philosophischen Disziplinen werden vielmehr zu Sonderfällen der

Rhetorik, zu unter bestimmten wissenschaftshistorischen Voraussetzungen

entstandenen Sprachspielen.

Diese Aufwertung des Rhetorischen gegenüber der Philosophie hat in der

Moderne als erster Friedrich Nietzsche begründet und in eine radikale Kritik an

der Metaphysik überführt. Zugleich hat Nietzsche sowohl für Vertreter des

französischen Poststrukturalismus als auch für Blumenberg eine wichtige Rolle

gespielt, indem er die mit der Einsicht in die Rhetorizität der Sprache

einhergehende Paradoxie als erster entfaltete, anstatt sie zu kaschieren.

Das Komplemetärphänomen zu dieser Denkbewegung findet sich in der

griechischen Antike. Im Zuge des Streits zwischen Platon und den Sophisten

kommt es zu einer Abwertung des Rhetorischen gegenüber der Philosophie. Damit

setzt zugleich sowohl die systematische Trennung zwischen den Disziplinen

Rhetorik und Philosophie als auch die Geschichte der abendländischen

Metaphysik ein.30 Dieser Bruch, der häufig mit der Aufkündigung einer

29 Dörpinghaus 2002, S. 37. 30 Vgl. Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Die Philosophie der Vorsokratiker. Der Anfang der

abendländischen Metaphysik. Würzburg 1992, S. 141.

13

ursprünglichen Einheit des Denkens im antiken Griechentum verwechselt wird,

soll im folgenden nachgezeichnet werden.

14

II. Geschichte einer Verdrängung

Das öffentliche Leben des klassischen Altertums war in weiten Teilen von der

Rhetorik geprägt. Rhetorik war sowohl die Kunst eine überzeugende Rede zu

halten, „als auch die theoretische Wissenschaft, die die Regeln und Bedingungen

einer schönen und kraftvollen, gut gegliederten und verantwortlichen Darstellung

formulierte“.31 Über Fragen der rednerischen Performanz hinausgehend, waren für

den professionellen Redner deshalb auch die Entstehung von Wissen und die

Bedingungen der Geltung von Argumenten von großer Bedeutung. Wer die

Rhetorik beherrschte, war umfassend gebildet, sowohl hinsichtlich seines

sprachlich-leiblichen Auftretens als auch in philosophischen und literarischen

Belangen.

Seit der Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts stand die Rhetorik in

Griechenland im Zentrum öffentlicher Kommunikationsprozesse. Als

institutionalisierte Form performativer Sprachkunst war sie zuständig für die

Bereiche der Rechtsprechung, der Politik, der Erziehung und der literarisch-

ästhetischen Bildung.32 Im antiken Gemeinwesen genossen die professionellen

Redner und Rhetoriklehrer daher hohes Ansehen.33

Daran konnte auch Platons Feindseligkeit gegenüber den Sophisten zunächst

nichts ändern. In Folge seiner scharfen Kritik an der Rhetorik hat diese zwar als

philosophische Disziplin ausgedient, blieb aber auch in der römischen Antike

dennoch die wichtigste Staatskunst.34 Erst in der Spätantike büßt die Rhetorik an

Bedeutung ein, wird aber nach dem Zerfall der antiken Welt als Bildungsgut

jahrhundertelang weiter tradiert.

In der Neuzeit beginnt sich die platonische Abwertung der Rhetorik auch

außerhalb des philosophischen Diskurses durchzusetzen. Die Rhetorik ist als

soziale Praxis und Theorie, mit dem siebzehnten Jahrhundert langsam beginnend,

nach und nach in Verruf geraten.35 In Deutschland kann seit dem achtzehnten

31 Ijselling 1988, S. 9. 32 Vgl. Kühnert, Friedmar: Das gesellschaftliche Leitbild des Redners in Griechenland und in

Rom. In: Ders.: Bildung und Redekunst in der Antike. Kleine Schriften. Hrsg. v. Volker Riedel. Jena 1994, S. 36-42, hier S. 36 f.

33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Ijselling 1988, S. 27; zur Rhetorik in Rom vgl. ebd., S. 54 ff. 35 Till 2004, S. 101 ff.

15

Jahrhundert eine regelrechte Tradition der Rhetorikverachtung beobachtet

werden,36 so dass der junge Altphilologe Friedrich Nietzsche 1872 konstatiert:

„Die Bildung des antiken Menschen kulminiert gewöhnlich in der Rhetorik: es ist

die höchste geistige Betätigung des politischen Menschen – ein für uns sehr

befremdlicher Gedanke!“37

Damit bezieht Nietzsche sich zum einen auf den nach seinem Urteil eklatant

schlechten Sprachstil, der unter deutschen Gelehrten und Politikern gepflegt

werde,38 zum anderen auf den im Zeichen des Neohumanismus Humboldt’scher

Prägung stehenden Bildungsgedanken seiner Zeit. Unter Bildung versteht das

späte neunzehnte Jahrhundert – zumindest theoretisch – die Veredelung des

Menschen durch die Suche nach Wahrheit und die Harmonisierung der

Seelenkräfte39 – nicht jedoch die Kunst, schön zu reden.

Dieser aus der aufklärerischen Philosophie hergeleitete Bildungsgedanke geht

historisch auf Platon zurück,40 der auch als erster eine radikale Kritik an der

Rhetorik formulierte. Nietzsches Kritik an den Grundlagen dieser Sichtweise,

seine radikale Kritik an der Metaphysik, die im zwanzigsten Jahrhundert zu einem

Hauptbezugspunkt poststrukturalistischer Theoriebildung wird, ist eng mit einer

Aufwertung der Rhetorik gegenüber dieser philosophischen Rhetorikfeindlichkeit

verbunden.

Ihren Anfang nahm dieser Konflikt in der Auseinandersetzung Platons mit den

Sophisten. Die Sprachauffassung der Sophistik soll daher im folgenden am

Beispiel eines ihrer prominentesten Vertreters, Gorgias von Leontinoi, dargelegt

werden. Der darauf folgende Teil stellt dieser Sprachauffassung die Rhetorikkritik

Platons entgegen, die die Rezeption der Rhetorik in der Geschichte des

abendländischen Denkens entscheidend geprägt hat. Der dritte Teil des Kapitels ist

der Aufgabe gewidmet, den Gegensatz zwischen Platon und den Sophisten als

Ausdruck des Beginns eines die Wissenschaftsgeschichte bestimmenden

Herrschaftsdiskurses nachzuzeichnen. Der letzte Teil reflektiert kritisch die Frage,

36 Vgl. Fuhrmann, Manfred: Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der

Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert. Konstanz 1983, S. 14 ff. 37 Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe [KGW]. Zweite Abteilung. Vierter

Band. Hrsg. v. Fritz Bornemann. Berlin und New York 1995, S. 416. 38 Vgl. Goth, Joachim: Nietzsche und die Rhetorik. Tübingen 1970, S. 12 ff. 39 Vgl. Langewand, Alfred: Bildung. In: Lenzen, Dieter (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Ein

Grundkurs. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2000, S. 69-98, hier S. 77 f. 40 Vgl. ebd.

16

inwiefern der Begriff des Herrschaftsdiskurses sinnvoll im Rahmen einer

rhetorikgeschichtlichen Untersuchung eingesetzt werden kann.

1. Die Sprachauffassung Gorgias’

Von Gorgias von Leontinoi, einem der einflussreichsten voraristotelischen

Vertreter der Rhetorik, sind vollständig nur zwei Reden überliefert, in denen am

Beispiel mythischer Stoffe die sprachlich-argumentative Virtuosität des Redners

präsentiert und vermittelt wird.41 Es handelt sich um eine Verteidigungsrede für

Palamedes und um eine Lobrede auf Helena. In beiden Texten soll das gängige

negative Urteil über die jeweilige Figur aufgehoben werden und beide Texte

folgen derselben argumentativen Struktur.42 Die Helenarede besteht dabei zu

etwas mehr als einem Drittel aus Reflexionen über die Wirkungsmöglichkeiten

von Sprache, die in der Forschung als ein Dokument der Sprachauffassung

Gorgias’ gelten.43

Im Sprachverständnis Gorgias’ steht der Zusammenhang der Rede (λόγος) mit

der affektiven Konstitution des Menschen im Mittelpunkt. Der professionelle

Redner sei dazu in der Lage, die Gefühlslage des Zuhörers zu steuern und bei

Bedarf seinen eigenen Interessen gemäß auszurichten:

Rede [λόγος] ist ein großer Bewirker; mit dem kleinsten und unscheinbarsten Körper vollbringt sie göttlichste Taten: vermag sie doch Schrecken zu stillen, Schmerz zu beheben, Freude einzugeben und Rührung zu mehren.44

Der λόγος erscheint in diesem Gedanken weder als eine ‚ursprüngliche

Gesammeltheit des Seienden‘, wie bei Heraklit, noch als Äußerungsform der

Vernunft, wie bei Platon, sondern als eine an die Materialität des Körpers

gebundene rhetorische Wirkmacht.45 Als Substantiv zum griechischen λέγειν –

das sowohl ‚auflesen‘ und ‚sammeln‘ als auch ‚auslegen‘ und ‚sprechen‘ bedeuten

kann – ist der λόγος keine dem Prozess des Redens und Zuhörens vorgeordnete

Instanz, sondern eine Abstraktion. Er beschreibt die Struktur des

41 Vgl. Taureck, Bernhard H. F.: Die Sophisten. Eine Einführung. Hamburg 1995, S. 15 f. 42 Vgl. Gomperz, Heinrich: Sophistik und Rhetorik. Das Bildungsideal des ευ λέγειν in seinem

Verhältnis zur Philosophie des V. Jahrhunderts. Darmstadt 1965, S. 16 f. 43 Vgl. dazu die Einleitung zu Gorgias von Leontinoi: Reden, Fragmente und Testimonien. Mit

Übersetzung und Kommentar hrsg. v. Thomas Buchheim. Hamburg 1989, S. VII-XXXIII, insbesondere S. XI ff.

44 Gorgias: Lobpreis der Helena [LdH]. In: Buchheim 1989, S. 1-17, hier S. 9. 45 Zum Begriff des λόγος vgl. Halder, Alois / Müller, Max (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch.

Freiburg 1993, S. 176 f.

17

Kommunikationsprozesses und kann bewusst gestaltet werden, um die affektuelle

Konstitution des Zuhörers zu modifizieren. Dieser Zusammenhang werde

besonders am Beispiel der Dichtung deutlich:

Die gesamte Dichtung erachte und bezeichne ich als Rede [λόγος], die ein Versmaß [μέτρον] hat. Von ihr aus dringt auf die Hörer schreckenerregender Schauder ein und tränenreiche Rührung und wehmütiges Verlangen, und in Fällen von Glück und Unglück für fremde Angelegenheiten und von fremden Personen leidet die Seele stets vermittelt durch Reden ein eigenes Leiden.46

Als metrisch durchstrukturierte Form der Rede sei die Dichtung dazu in der Lage,

ein breites Spektrum an Affekten zu induzieren. Hinsichtlich der Frage nach der

Erkenntnisfunktion von Dichtung stellt dies eine dezidiert agnostische Position

dar.47 Die Dichtung habe nicht die Aufgabe spezifisches Wissen zu vermitteln,

sondern modifiziere die affektuelle Konstitution des Rezipienten in spezifischer

Art durch eine besondere zeitlich-semantische Strukturierung. Rhetorischer und

dichterischer Sprachgebrauch sind zwei unterschiedlich strukturierte Varianten

derselben affektbezogenen Gestaltung des λόγος, deren Beherrschung sich im

Einfluss auf andere äußert und die Kontrolle seiner selbst voraussetzt.48

Wie Manfred Fuhrmann betont, vertritt Gorgias damit „eine Theorie des Logos,

die gänzlich auf ethische Kontrollen verzichtet, die absolute teils formale, teils

wirkungsästhetische Kriterien anwendet“.49 Den Grund dafür sieht Fuhrmann in

Gorgias’ erkenntnistheoretischer Relativierung festen Wissens sowie in seiner

Betonung des sinnlichen Aspekts der Rede:

Beides zusammengenommen, der Sensualismus und der erkenntnistheoretische Relativismus, bedingte den Glauben an die Omnipotenz des Logos: da die Seele ganz und gar von außen her geprägt werde, könne man versuchen, sie mit Hilfe des Logos ganz und gar zu prägen; da es kein festes Wissen gebe, brauche man sich hierbei den Kriterien der Wahrheit und der sittlichen Norm nicht verpflichtet zu fühlen.50

46 Gorgias LdH, S. 9. 47 Die Frage nach der Erkenntnisfunktion von Dichtung ist Gegenstand der ältesten

literaturtheoretischen Auseinandersetzung der europäischen Literaturgeschichte. Sie lässt sich bereits in Hesiods Reflexionen über den Gesang der Musen in den Eingangsversen der Theogonia als eine Replik auf Homers Odyssee nachweisen. Vgl. Kannicht, Richard: ‚Der alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung‘. Grundzüge der griechischen Literaturauffassung. In: Ders.: Paradeigmata. Aufsätze zur griechischen Poesie. Heidelberg 1996, S. 183-223.

48 Buchheim zufolge leitet sich dieses Rhetorik- und Literaturverständnis aus der literaturtheoretischen Position Pindars her. Anders als die Dichtung bei Pindar sei die Rede bei Gorgias aber nicht an die Verpflichtung zum Lob gebunden. Vgl. Buchheim 1989, S. XXI ff.

49 Fuhrmann, Manfred: Einführung in die antike Dichtungstheorie. Darmstadt 1973, S. 93. 50 Ebd., S. 93 f.

18

Das ästhetische Spiel mit der Sprache, das den Menschen affiziert, wird von

Gorgias daher als autonom begriffen.51 Im Schlusswort seiner Helena-Rede wird

diese Haltung ironisch unterstrichen: „Ich suchte das Unrecht der Beschimpfung

und den Unverstand der Ansicht aufzulösen und wollte die Rede verfassen – zum

Lobpreis für Helena, für mich dagegen zum Spiel.“52 Die Rede wird als ein

ästhetisches Spiel mit der Sprache betrieben und nicht als eine ernsthafte

Auseinandersetzung über die Frage nach dem einzig richtigen Urteil.

Die sprach- und literaturtheoretische Position, die diesen Überlegungen zu Grunde

liegt, steht im Zusammenhang mit einer philosophischen Haltung, welche die in

der vorsokratischen Philosophie übliche Herleitung von Sitten und Gesetzen aus

der einer transzendenten Ordnung in Frage stellt.53 In den Augen der Sophisten

sind es allein menschliche Setzungen, aus denen sich Gesetzmäßigkeiten des

Handelns herleiten und keine natürlichen oder transzendenten Gegebenheiten. Im

Homo-Mensura-Satz des Protagoras kommt diese Relativierung am pointiertesten

zum Ausdruck. Nicht vom objektiven Gegenstand hänge die Wahrheit ab, sondern

vom perspektivischen Standpunkt des Subjekts.54

Dass Gorgias einen solchen epistemologischen Perspektivismus55 vertritt, wird

besonders in der Argumentation der sekundär überlieferten Schrift Über das

Nichtseiende56 deutlich. Gorgias bezieht sich dort parodistisch auf Parmenides’

Lehrgedicht Über die Natur und entfaltet eine radikale Skepsis hinsichtlich der

Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis. In einer dreistufigen

Gedankenbewegung macht er auf Aporien im eleatischen Denken aufmerksam

und begründet zugleich sein eigenes Sprachverständnis: es existiere nichts; wenn

etwas existierte, wäre es nicht erkennbar; selbst wenn etwas erkennbar wäre,

könne man diese Erkenntnis sprachlich nicht mitteilen.57 Die Art, in der bei der

51 Vgl. Kannicht 1996. 52 Gorgias LdH, S. 17. 53 Vgl. Hirschberger, Johannes: Geschichte der Philosophie. Bd. 1, S. 52 ff. 54 Vgl. ebd., S. 54 ff sowie Taureck 1995, S. 98 ff. 55 Der vorklassischen Auffassung über die transzendente Herkunft von Sitten und Gebräuchen

setzten die Sophisten jedoch einen naturrechtlichen Physis-Begriff entgegen. Vgl. Taureck 1995, S. 29 ff.

56 Eine Zusammenfassung findet sich in Adversus Mathematicos von Sextus Empiricus und der pseudoaristotelischen Schrift Über Melissos, Xenophanes und Gorgias. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die letztere Quelle (Buchheim 1989, S. 40-53, i. f. zitiert als Gorgias ÜdN), da diese in der heutigen Forschung als das verlässlichere Dokument gilt. Vgl. Taureck 1995, S. 85.

57 Vgl. ebd., S. 85 ff sowie Buchheim 1989, S. XVI ff.

19

Begründung dieser Thesen das Verhältnis von Erkenntnis und Sprache reflektiert

wird, weicht von der durch Parmenides erstmals vertretenen klassischen Position

ab, nach der die Sprache das ihr übergeordnete Denken und Erkennen abbilde.

Zusätzlich erhält die Rede bei Gorgias, entgegen dem in der abendländischen

Tradition gängigen repräsentationistischen Sprachverständnis, eine eigene

ontologische Qualität:

Wenn die Dinge aber auch erkennbar wären, wie könnte sie einer, sagt er [Gorgias, M.H.], einem anderen verdeutlichen? Denn was man sah, wie sollte man dies durch Rede aussprechen? Bzw. wie könnte jenes dem Hörer deutlich werden, wo er’s nicht sieht? Wie nämlich auch das Sehen nicht Laute erkennt, so auch hört das Gehör keine Farben, sondern Laute. Und es spricht, wer spricht – aber nicht eine Farbe und auch kein Ding.

Was nun einer nicht auffaßt, wie wird er das von anderer Seite durch Rede oder irgendein Zeichen, andersartig als das Ding, auffassen, außer eben im Fall einer Farbe, sehend, im Fall eines <Geräusches>, hörend? Denn im Prinzip redet, wer spricht kein <Geräusch> und auch keine Farbe, sondern eine Rede. Daher ist eine Farbe auch nicht auszudenken, sondern zu sehen, ebenso kein Geräusch, sondern zu hören.58

Gorgias unterscheidet hier explizit zwischen Zeichen, Sinneseindrücken und Rede.

Der λόγος nimmt dabei einen eigenen Raum ein, der sich nicht in die Ebenen der

materiellen Signifikation in Laut und Schrift und den damit verbundenen

Zeichenfunktionen aufspalten lässt. Ihm wird zugleich ein von den anderen

Wahrnehmungsmodi zu unterscheidender Sinn zugesprochen. Das Wort wird

weder wie ein Geräusch gehört, noch wie ein schriftliches Zeichen gesehen,

sondern spezifisch aufgenommen. In diesem ‚Entfaltungsraum der Rede‘ sind

„Lautcharaktere und Bedeutungsfunktion der Sprache amalgamiert in einem

eigenen Spiel von Intensität und Konfiguration begriffen“.59

Bernhard Taureck kommt zu der Einschätzung, dass Gorgias in seinen Texten

damit „offenbar tatsächlich die gesamte repräsentationistische Deutung von

Sprache und Welt in Frage“ stellt.60 Für Gorgias bleibt jeder sprachliche Bezug

auf Welt letztlich perspektivisch und im Rahmen jenes ontologischen

‚Sprachraums‘ verhaftet, der zugleich die affektuellen Wirkungsmöglichkeiten der

Rede garantiert.61 Die Sprache richte sich daher nicht nach dem Wesen der Dinge,

58 Gorgias ÜdN, S. 51 [Herv. i. Orig.]. 59 Buchheim 1989, S. XIII. 60 Taureck 1995, S. 94. 61 Vgl. Buchheim 1989, S. XI ff.

20

sondern habe ihr eigenes ‚Sein‘. Abstrakte Begriffe – wie λόγος – werden damit

zu perspektivischen Konstrukten und das Reden (λέγειν) über letztgültige

Wahrheiten zu einem lediglich sprachimmanenten Bild, zu einem rhetorischen

Schein.

Als Rhetor ist Gorgias daher nicht daran interessiert sich auf philosophische

Wahrheitssuche zu begeben. Ihm geht es vielmehr darum, die Mittel der

Sprachgestaltung und Argumentation spielerisch-virtuos zu beherrschen. Wie

Heinrich Gomperz zeigt, hat Gorgias den Inhalt seiner Texte nie wirklich ernsthaft

vertreten, sondern lediglich versucht, schwierige Thesen durch ein virtuoses Spiel

mit Sprache so glaubhaft wie möglich zu machen. Das rauschhafte „Schwelge[n]

in rhetorischen Kunstmitteln“62 sei die Geisteshaltung, in der Gorgias in

sportlichem Eifer damit beginne, auch abwegige – und deshalb herausfordernde –

Annahmen zu begründen:

Versetzt man sich in diesen Geisteszustand, so begreift man, daß ein Mann wie Gorgias sich von einer paradoxen und absurden These in gleicher Art magisch angezogen fühlte, wie ein virtuoser Kletterer von einer scheinbar unersteiglichen Felsspitze: der Drang, die eigene Kraft und Kunst zu bewähren, das anscheinend Unmögliche möglich zu machen, mag in beiden Fällen gleich unwiderstehlich wirken.63

Unabhängig vom problematischen Urteil Gomperz’, dass die Schrift Über das

Nichtseiende aus der Philosophiegeschichte zu streichen sei,64 wird an dieser

Charakterisierung deutlich, dass für das von Gorgias vertretene Selbst- und

Weltverhältnis weniger die Wahrheit, als vielmehr ein rhetorisch vermittelbarer

Begriff des Erhabenen im Mittelpunkt steht. Wie Samuel Ijsseling bemerkt, wird

der Mensch von Gorgias als ein Wesen begriffen, das auf Rhetorik angewiesen ist

62 Gomperz 1965, S. 26. 63 Ebd., S. 27. 64 Auch der ‚philosophische‘ Text Gorgias’ sei nur ein ‚rhetorisches‘ Spiel mit Sprache und

Argumenten und keine Abhandlung im eigentlichen Sinne. Den Texten Gorgias’ geht für Gomperz daher insgesamt jegliche philosophische Relevanz ab. Er sei nicht an philosophischen Fragen interessiert gewesen. „Er wollte einfach zeigen, daß seine ‚Kunst’ auch auf philosophischem Gebiete Unglaubhaftes glaubhaft zu machen vermöge. […] Der Stoff, an dem er seine Kunst beweisen wollte, war ihm schlechthin gleichgültig“ (ebd., S. 35). Die vermeintlich philosophische Haltung, die häufig als Nihilismus eingestuft wird, sei daher „aus der Geschichte der Philosophie zu streichen. Die verschollene Schrift Über das Nichtseiende habe „ihren Platz in der Geschichte der Rhetorik“ (ebd.). Dieses Urteil setzt jedoch voraus, dass die Rhetorik mit der Philosophie in einem Gegensatz stehe. Das ist allerdings bereits der Ausdruck einer bestimmten philosophischen Haltung, welche die mit Platon beginnende Geschichte der Rhetorikverdrängung fortsetzt (Vgl. S. 21 ff der vorliegenden Arbeit).

21

und nur im Modus des Rhetorischen kommunizieren und überleben kann.65 Daher

findet er im an der Erhabenheit orientierten ästhetischen Spiel mit Sprache eher

seine Bestimmung, als im Versuch, letztbegründete philosophische Wahrheiten zu

ergründen.

Da letztbegründete Wahrheiten für ihn ohnehin nicht existieren und auch nicht

generierbar sind, geht es ihm nur darum, die Kunst der sprachlich-argumentativen

Auseinandersetzung zu perfektionieren ohne eine letztgültige Erkenntnis des

Wahren und Guten anzustreben. Die Grenzen der Möglichkeit von Erkenntnis

durch Sprache werden dabei weder negiert, noch als Leid empfunden, sondern als

unvermeidbar affirmiert und in ein rhetorisches Sprachspiel umgemünzt. Im

Ausblick auf Nietzsche kann man diese philosophische Haltung als eine Art

,fröhlichen‘ Nihilismus bezeichnen.

Das damit verbundene Rhetorikverständnis ist dem gängigen Rhetorikverständnis

im Athen des fünften vorchristlichen Jahrhunderts nicht fern.66 Als Kunst und

Lehre der zentralen kommunikativen Praxis gehört die Rhetorik zu den

wichtigsten Machtinstrumenten in der attischen Polis. Den professionellen

Rednern und Rhetoriklehrern kommt damit ein besonders hohes Maß an

gesellschaftlicher Macht zu, was sich auch in deren Selbstverständnis

niederschlägt. Da die Welt des Menschen in den Augen der sophistisch

ausgebildeten Rhetoriklehrer nur aus Bildern und Überzeugungen besteht, besitzt

schließlich der Redner die Macht, in diese Welt einzugreifen und Veränderungen

in ihr vorzunehmen.67 Aus der Perspektive letztbegründeter Wahrheiten musste

eine solche Position verächtlich und bedrohlich erscheinen.

2. Die Rhetorikkritik Platons

Anders als Gorgias und die Sophisten ist Platon der Auffassung, dass die Ordnung

der Welt sich nicht nach der Willkür der Rede richte.68 Es gebe vielmehr eine

transzendente Ordnung – die Ideenwelt –, an welcher sich wahrhaftiges Reden zu

65 Ijsseling 1988, S. 45. 66 Fuhrmann, Manfred: Die antike Rhetorik. München 1984, S. 15 ff. 67 Insbesondere Gorgias’ Schüler Isokrates hat den Gedanken der Macht des Redners

wirkungsvoll und schulbildend weiterentwickelt. Vgl. Ijsseling 1988, S. 31 ff. 68 Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die sprachtheoretischen Gegensätze zwischen

Platon und den Sophisten eingegangen werden. Eine knappe und für die vorliegende Fragestellung passende Zusammenfassung findet sich bei Thurnher, Rainer: Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 9 (1980), S. 38-60, hier S. 39 ff.

22

orientieren habe. Die Rhetorik erscheint aus dieser Sicht geradezu wie eine ethisch

illegitime Lehre zur Abkehr vom Wahren. Im Dialog Gorgias, in dem der

gleichnamige Rhetor als fiktiver Dialogpartner auftaucht, wird sie systematisch

aus der Philosophie ausgeschlossen und in die Kategorie der niederen Künste

eingeordnet:

Wie sich die Putzkunde zur Gymnastik verhält, so das Kochen zur Heilkunst; oder besser so: wie die Putzkunde zur Gymnastik, so die Sophistik zur Gesetzgebungskunst, und wie das Kochen zur Heilkunst, so die Rhetorik zur Rechtspflege.69

Die Rhetorik befördert hier als eine oberflächliche Gestaltung der Sprache nicht

das Wahre und Gute, sondern versucht bei Zuhörern lediglich durch Schein und

Wohlgefälligkeit Zustimmung zu erlangen. Mit Platons idealistischem Begriff von

Wahrheit ist sie daher inkompatibel.70 Der Philosoph im Sinne Platons sucht nach

apodiktischen und letztbegründeten Wahrheiten und gibt sich weder mit nur

vorläufig gültigen Überzeugungen zufrieden, noch mit der Haltung, dass das

gesellschaftliche Leben als ein Spiel aufzufassen sei. Dass die Rhetorik als die

Theorie eben dieses Spiels aber

möglicherweise eine formale Disziplin ist, d.h. daß sie die Konzeption ihrer Regeln nicht an der Überzeugung von einem inhaltlich bestimmten Wohl eines Individuums oder der Gesellschaft orientiert, sondern inhaltlich neutrale Argumentationstechniken […] bereitstellt, dieser Gedanke wird in Platons Gorgias nicht erwogen.71

Während Platon im Gorgias eine allgemeine und nicht unproblematische Kritik an

der Rhetorik formuliert, fällt das Urteil im Dialog Phaidros aber differenzierter

aus. Hier wird zwischen einer dem Wahren und Guten verpflichteten und einer nur

auf Überzeugung ausgerichteten Rhetorik unterschieden. Eine Rhetorik, welche

die Vorrangigkeit des außersprachlichen Seins akzeptiert, findet Platons

Zustimmung. Der ontologische Bezug zur außersprachlichen Realität

„disqualifiziert oder qualifiziert den Wahrheitscharakter sprachlicher Urteile. Die

Erkenntnis des wahren Seins ist Voraussetzung wahrer, guter und schöner

69 Gorgias, 465b. In: Platon: Sämtliche Werke [SW]. Hrsg. v. Erich Loewenthal. Berlin 1940, Bd.

1, S. 327. 70 Vgl. Sprute, Jürgen: Philosophie und Rhetorik bei Platon und Aristoteles. In: Classen, Carl

Joachim / Müllenbrock, Heinz-Joachim (Hrsg.): Die Macht des Wortes. Aspekte der Rhetorikforschung. Marburg 1992, S. 29-45, hier S. 29 f.

71 Ebd., S. 34.

23

Rede.“72 Das Urteil über die Rhetorik hängt damit von der Haltung des Redners

gegenüber dem Wahrheitsglauben Platons ab. Wer die erkenntnistheoretischen

Prämissen Platons teilt, ist ein akzeptabler Redner, wer sie nicht teilt, bleibt im

pejorativen Sinn ein Sophist.

Sokrates fordert im Dialog Phaidros daher, dass die philosophische Ausbildung

auch für die Ausbildung des Redners die Grundlage sein müsse:

Muß nun nicht für Reden, welche gut und schön vorgetragen werden wollen, als Bedingung gelten, daß der Geist des Sprechenden das Wahre von dem wisse, worüber er sprechen will?73

Hier wird das Streben nach philosophischer Wahrheit zur notwendigen

Voraussetzung guter Rednerschaft, denn „[e]ine echte Kunst zu sprechen […]

ohne die Wahrheit ergriffen zu haben, gibt es weder jetzt noch wird es je später

geben.“74 Die Autorität der Philosophie gegenüber der Rhetorik äußert sich daher

auch in der erzieherischen Haltung, die Platon Sokrates seinem Schüler Phaidros

gegenüber einnehmen lässt: „Herbei denn, ihr edeln Tierchen, überzeuget den

Phaidros, den mit den schönen Sprößlingen, daß, wenn er nicht tüchtig

philosophiere, er auch niemals tüchtig sein werde, über irgend etwas zu reden!“75

Platon gesteht der Rhetorik damit nur insofern eine Existenzberechtigung zu, als

sie in den Dienst der epistemischen Wahrheiten tritt. Der rhetorisch gebildete

Redner ästhetisiert und verkündet bestenfalls die Wahrheiten, die der platonisch-

sokratische Philosoph zuvor ergründet. Diese Kritik wird aus der Perspektive eines

Glaubens an letztbegründete Wahrheiten formuliert, der für die platonische

Philosophie eine Grundlage darstellt.76 Für Platon ist „[d]ie Kenntnis der Wahrheit

[…] conditio sine qua non der wahren Rede und begründet den Vorrang der

Philosophie vor der Rhetorik und Sophistik.“77

Dabei spielt die Unterscheidung zwischen unveränderlichem Wissen (επιστήμη)

und perspektivischer Ansicht (δόξα) die wohl entscheidendste Rolle. Sie bleibt für

das philosophische Denken des Abendlandes insgesamt konstitutiv. Philosophie

hat seit Platon die Aufgabe, epistemisches Wissen zu ermitteln. Doxatische

72 Dörpinghaus 2002, S. 56. 73 Phaidros, 260a. In: Platon SW, Bd. 2, S. 453. 74 Ebd., S. 455. 75 Ebd. 76 Vgl. Dörpinghaus 2002, S. 56f. 77 Ebd.

24

Ansichten hingegen stellen nur eine Reihe minderwertiger Überzeugungen dar, die

es durch das philosophische Streben nach Wahrheit zu überwinden gelte.78

3. Die Geburt der abendländischen Metaphysik

Diese Neubestimmung der Funktionen von Philosophie und Rhetorik verändert

den Diskurs der Antike entscheidend. Trotz des hohen gesellschaftlichen Status

der Rhetorik wird hier eine Unterscheidung möglich, die den Philosophen

aufwertet und den Redner denunziert, sofern er sich den Diskursregeln der

platonischen Philosophie nicht unterordnet. Das Sprechen in der Gemeinschaft

rückt seit Platon zunehmend in den Rahmen einer zusätzlichen Differenzierung,

die zu den Stil- und Argumentationsregeln der Rhetorik in Konkurrenz tritt. Der

ästhetische Charakter des rhetorischen Sprachspiels, die Wahrscheinlichkeit der

Thesen und die Überzeugung des Publikums werden nun von der Unterscheidung

zwischen ‚epistemischem‘ Wissen und ‚doxatischer’ Ansicht überschattet. Die

Orientierung des Redners an der Erhabenheit des ästhetischen Spiels wird abgelöst

von der Orientierung an Platons Vorstellung vom Wahren, Guten und Schönen.

Mit diesem Wechsel beginnt zugleich die Geschichte der abendländischen

Metaphysik. Volkmann-Schluck zufolge sei das Entstehen der Metaphysik nur im

Zusammenhang mit der Auseinandersetzung Platons und Sokrates‘ mit der

Sophistik verstehbar. Es müsse erkannt werden, „daß das platonische

Philosophieren mit Sokrates und seinem Kampf gegen die Sophistik angefangen

hat und durch den Kampf gegen die Sophistik bestimmt ist“.79 Das Ausgrenzen

der Rhetorik aus dem philosophischen Diskurs erscheint aus dieser Sicht als ein

grundlegendes Konstitutionsmoment der Geschichte des abendländischen

Denkens.

Ähnlich sieht es auch Michel Foucault in Die Ordnung des Diskurses.80 Die

Entgegensetzung der philosophischen Kategorien ‚wahr‘ und ‚falsch‘ ist für

Foucault die Leitdifferenz einer der drei großen ‚Prozeduren der Ausschließung‘,

78 Wenn in diesem Zusammenhang im folgenden von doxatischem ‚Wissen‘ die Rede ist, weicht der dabei zu Grunde gelegte Wissensbegriff von dem Platons ab. Für Platon stellt die δόξα einen Gegenbegriff zum Wissen (επιστήμη) dar. Aus heutiger Sicht ist es allerdings unproblematisch, die δόξα retrospektiv als alternativen Wissensbegriff aufzufassen. Zu den Wissensformen bei Platon vgl. Ebert, Theodor: Meinung und Wissen in der Philosophie Platons. Untersuchungen zum 'Charmides', 'Menon' und 'Staat'. Berlin 1974.

79 Volkmann-Schluck 1992, S. 141. 80 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Aus dem Französischen von Walter Seitter.

Frankfurt a.M. 1991.

25

durch welche die abendländische Geschichte bestimmt wird.81 Durch die

Verbannung der Sophisten und ihren Sprachspielen sei die Geschichte der

Denksysteme in eine bestimmte Richtung gelenkt worden. Das rohe ‚Sein der

Sprache‘, dessen Verschwinden Foucault in Die Ordnung der Dinge am Beispiel

des Übergangs von der Renaissance zur Klassik untersucht,82 wird mit Platon

erstmalig zu Gunsten eines repräsentationistischen Verhältnisses von Sprache und

Denken verknappt. Sprache habe nur noch ein Repräsentant des Denkens zu sein,

aber nicht mehr jener eigene ontologische Raum, wie noch bei Gorgias:

Seitdem die Spiele und die Geschäfte der Sophisten verbannt worden sind, seitdem man ihren Paradoxien einen Maulkorb angelegt hat, scheint das abendländische Denken darüber zu wachen, daß der Diskurs so wenig Raum wie nur möglich zwischen dem Denken und der Sprache einnehme; es scheint darüber zu wachen, daß der Diskurs lediglich als Kontaktglied zwischen dem Denken und dem Sprechen erscheine; daß er nichts anderes sei als ein Denken, das mit seinen Zeichen bekleidet und von den Wörtern sichtbar gemacht wird, oder als die Strukturen der Sprache, die einen Sinneffekt herbeiführen können.83

Dadurch werde die spezifische Realität der Sprache eliminiert. Die Philosophie

begründet so einen Machtanspruch gegenüber der sophistischen Rhetorik, der in

Folge Platons auch durchgesetzt werden konnte. Die Philosophie bestimmt fortan,

welche Form der Sprache als der epistemischen Wahrheit adäquat gilt und welche

Rhetorik ihrer Vermittlung dienlich sein kann.84

Die Kritik an der Rhetorik kennzeichnet somit eine Verschiebung von

Machtkonstellationen. Die zentrale kommunikative Praxis der Gesellschaft des

antiken Griechenland wird zum Vermittler philosophischer Wahrheiten degradiert.

Die Philosophen dominieren nun den Diskurs. Nicht in den ästhetischen

Sprachspielen wird ausgehandelt, was gültig ist, sondern in der philosophischen

Reflexion.

Dabei wird die Rhetorik auch als politische Praxis in Frage gestellt. Während der

Endphase des perikleischen Zeitalters bestand in Athen ein erhöhter Bedarf an

rhetorisch ausgebildeten jungen Männern, was zur Ausbreitung einer

81 Vgl. ebd., S. 11 ff. Die anderen beiden ‚Prozeduren‘ sind das ‚Verbot‘ und die Entgegensetzung von Vernunft und Wahnsinn. In ihrer gegenseitigen Verflechtung begreift Foucault diese drei Ausschließungsmechanismen als den Ausdruck eines Willens, der dazu tendiert, sich des Diskurses – der Steuerungsinstanz kollektiver Aussagesysteme – zu bemächtigen.

82 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a.M. 1974, S. 74 ff.

83 Foucault 1991, S. 31. 84 Vgl. Ijsseling 1988, S. 27.

26

karrieristischen Mentalität innerhalb der jüngeren Generation führte.85 Bereits

Sokrates hatte dies als Sittenverfall wahrgenommen und zu bekämpfen versucht.

Platon hat dieses Interesse weiterverfolgt. Nach Foucault umfassen die

historischen Folgen dieses Kampfes daher sowohl den Bereich der Wissenschaft

als auch den der Politik:

Zwischen Hesiod und Platon hat sich eine Teilung durchgesetzt, welche zwischen dem wahren und dem falschen Diskurs trennte; diese Teilung war neu, denn nunmehr war der wahre Diskurs nicht mehr der kostbare und begehrenswerte Diskurs, der an die Ausübung von Macht gebunden ist. Der Sophist ist vertrieben.86

Die neue Qualität dieses Wandels liegt für Foucault in der Trennung von Wahrheit

und Macht. Allerdings ist diese Trennung nur eine scheinbare: der ‚wahre

Diskurs‘ der Philosophie ist zwar nicht an die direkte Ausübung von politischer

Macht gebunden, jedoch wird mit Platons Rhetorikkritik ein Machtanspruch der

Philosophie gegenüber der Rhetorik formuliert, der Wirkung zeitigte und bis in die

Gegenwart tradiert wird. Über Jahrhunderte hinweg genoss er breite Zustimmung

und konnte erst in Folge von Nietzsches Metaphysikkritik ernsthaft in Frage

gestellt werden. Doxatische Ansichten und epistemisches Wissen stehen seit

Platon in einem hierarchischen Verhältnis, das von dem Begriff des Wahren

dominiert wird. Die binäre Opposition zwischen ‚wahrem‘ und ‚falschem‘ Diskurs

ist dabei zugleich eine Trennung zwischen politisch legitimierter Ausübung von

Macht und dem subtilen Machtanspruch des Herrschaftsdiskurses der Wahrheit.

4. Zur Rhetorik Aristoteles’

Diese Dominanz der Philosophie bedeutet allerdings nicht, dass vor Nietzsche

keine Gegenpositionen formuliert worden sind. Eine solche findet sich in gewisser

Weise bereits bei Platons Schüler Aristoteles. Anders als bei Platon, besitzt das

doxatische Wissen in der Rhetorik des Aristoteles einen vergleichsweise hohen

Stellenwert.87 Erst die konsensuelle Entstehung doxatischer Ansichten in

Situationen gesellschaftlichen Handlungszwangs macht Menschen für Aristoteles

85 Vgl. Werner, Robert: Die griechische Oikumene – Die Welt der Griechen im Brennpunkt der

Weltgeschichte. In: Paschke, Uwe (Hrsg.): Weltgeschichte. Von der Urzeit bis zur Gegenwart. Erlangen 1994, S. 73-95, hier S. 90 f.

86 Foucault 1991, S. 14. 87 Vgl. Göttert, Karl-Heinz: Einführung in die Rhetorik. Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption.

München 1991, S. 81.

27

sozial überlebensfähig. Der Mensch kommt nicht umhin, mit unsicherem

Meinungswissen zu operieren, weil ein Zusammenleben sonst nicht möglich wäre.

Deshalb ist die Rhetorik bei Aristoteles nicht nur die Kunst, andere zu überreden,

sondern eine durchaus wissenschaftliche Theorie, die argumentative Prozesse in

ihrem sozialen Kontext methodisch kontrollierbar macht.88 Als solche ist sie in

moralischer Hinsicht neutral:

Wenn es aber so ist, daß jemand großen Schaden anrichtet bei der Anwendung einer solchen Fähigkeit der Worte in unrechter Weise, so besteht hier eine Gemeinsamkeit mit den anderen Gütern – außer mit der Tugend – und vornehmlich mit den nützlichsten: wie körperliche Stärke, Gesundheit, Reichtum, Feldherrenkunst; denn durch diese kann jemand durch richtigen Gebrauch den größten Nutzen erzielen, durch unrechten Gebrauch den größten Schaden.89

Aristoteles koppelt die Rhetorik von Fragen der Ethik ab und integriert sie so in

sein philosophisches System. In diesem hat die Rhetorik die Aufgabe, an

Gegenständen der Argumentation diejenigen Gesichtspunkte herauszustellen, die

Überzeugungskraft besitzen, und über die Bedingungen der Überzeugung zu

reflektieren. „Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand

das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen. Denn dies ist die Funktion

keiner anderen Theorie“.90 Damit ist eine folgenreiche Aufgabenteilung

verbunden: Während die Analytik sich um die epistemischen Wahrheiten zu

kümmern hat, besteht die Aufgabe von Dialektik und Rhetorik darin, systematisch

über die Regeln der Entstehung doxatischen Meinungswissens zu reflektieren. Die

Dialektik tut dies durch die Untersuchung logischer Argumentationsmittel,

während die Rhetorik sich auch mit solchen Argumentationsmitteln beschäftigt,

die logisch unvollständig sind und sich an die Affekte der Zuhörer richten.

Die aristotelische Rhetorik kann so gesehen als ein Versuch zur Rettung der

Rhetorik vor der vernichtenden Kritik Platons gelten – ein Rettungsversuch, der

aber die grundlegende Unterscheidung zwischen epistemischem Wissen und

doxatischer Ansicht beibehält. Den mit Platon beginnenden Ausschluss der

Rhetorik aus der Philosophie konnte Aristoteles damit nicht aufhalten.

88 Vgl. Dörpinghaus 2002, S. 59 ff. 89 Rhetorik, 1355b. In: Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen

und einem Nachwort v. Franz G. Sievke. 2. Aufl. München 1987. 90 Ebd. [Herv. i. Orig.].

28

5. Philosophie gegen Rhetorik – Gefahren des Schematismus

Platons Rhetorikkritik hat sich also mit weitreichenden Folgen in die

Rezeptionsgeschichte der Rhetorik eingeschrieben.91 Rhetorik spielt in der

Geschichte des abendländischen Denkens seit Aristoteles zwar eine ungemein

wichtige Rolle, aber eben nicht als philosophische Disziplin, sondern vielmehr als

Kunst der schönen Rede.

Die argumentationstheoretischen Teile der inventio wurden philosophisch stillschweigend vereinnahmt, und die Rhetorik wurde über die Jahrhunderte hinweg immer mehr auf die elocutio, die vorwiegend sprachliche Ausschmückung eines Gedankens, reduziert.92

Hinsichtlich der Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten kann daher

durchaus gelten, dass Platon den Streit zwischen Rhetorik und Philosophie

gewonnen hat: „Kraft seiner Worte war er imstande, seine Auffassung von

Philosophie durchzusetzen. In der Philosophie hat man der Sprache in der Folge

wenig oder überhaupt keine Aufmerksamkeit geschenkt.“93

Allerdings wird mit dieser rhetorikgeschichtlichen Repressionshypothese auch

eine Linearität suggeriert, die zu ideengeschichtlichen Missverständnissen führen

kann. Der Umstand, dass der platonische Wahrheitsbegriff und das damit

verbundene Sprachverständnis den philosophischen Diskurs bestimmt haben,

bedeutet nämlich noch nicht, dass die theoretische Reflexion über Rhetorik, die

außerhalb der institutionellen Grenzen der Philosophie kontinuierlich fortgeführt

wurde, philosophisch gänzlich uninteressant ist. Die Rhetoriken der römischen

Antike, des Mittelalters, der Renaissance und des Barock können nur auf Kosten

einer differenzierten Betrachtung als bloße Stationen einer kontinuierlichen

Verdrängung und eines Verfalls der Rhetorik angesehen werden. Sie liefern

interessantes theoretisches Material, auch wenn die Rhetorik sich in der Folge von

Platon institutionell weitgehend von der Philosophie abkoppelt. Das Sprach- und

Rhetorikverständnis Giambattista Vicos, das sich gegen den Wahrheitsbegriff des

cartesianischen Rationalismus richtet, dürfte aus heutiger Sicht beispielsweise

moderner erscheinen, als etwa die Rhetorikkritik Kants.94 Interessant erscheint

daher die Frage, ob die Rhetorik als Gegenstand der Auseinandersetzung nicht

91 Vgl. Dörpinghaus 2002, S. 23 ff; Göttert 1991, S. 75 ff; Ijsseling 1988, S. 27 ff. 92 Dörpinghaus 2002, S. 25. 93 Ijsseling 1988, S. 27. 94 Vgl. dazu S. 33 ff der vorliegenden Arbeit.

29

vielmehr einen diskursiven Raum begrenzt, in dem die Auseinandersetzung um

Sprache als ein binäres Verhältnis zweier Weltanschauungen über die

Jahrhunderte fortgeführt wurde.

Maßgeblich bleibt aber trotz dieses kritischen Hinweises, dass die Rhetorik bis ins

zwanzigste Jahrhundert hinein unter dem Strich in erster Linie Verluste zu

verzeichnen hat. Letztlich hat sie die meisten ihrer theoretischen Gegenstände an

die Philosophie abtreten müssen. Erst nach dem Scheitern der

Einheitsphilosophien im zwanzigsten Jahrhundert kommt es im Rahmen des

sprachphilosophischen Paradigmas zu einer Neu- und Umbewertung der Rhetorik

in systematischer und historischer Hinsicht.95

In Anbetracht der Komplexität der Rhetorikgeschichte weist Dietmar Till in seiner

Arbeit Transformationen der Rhetorik aber darauf hin, dass es problematisch sei,

„die abendländische Geschichte schablonenhaft auf den Antagonismus eines

philosophischen ‚Rationalismus‘ und eines rhetorischen ‚Irrationalismus‘“96 zu

verengen. Denn bei aller historischen Variation ist es zwar so, dass die

Unterscheidung zwischen letztgültigem Wissen, provisorischen oder heuristischen

Annahmen und affektuell evozierten Ansichten immer im Zentrum der

Auseinandersetzungen zwischen Philosophie und Rhetorik steht. Dabei steht die

Philosophie aber nicht allein für das Rationale und die Rhetorik nicht für das

Irrationale ein. Bereits die gängige Assoziation von rhetorischer Kunst mit List

und Verstand macht diese Einteilung fragwürdig.

Naheliegender ist es hingegen anstatt Rationalität und Irrationalität die Begriffe

von Wahrhaftigkeit und Scheinhaftigkeit zur Grundlage einer Unterscheidung von

Philosophie und Rhetorik zu machen. Allerdings geht die frühe Rhetorik – wie am

Beispiel von Gorgias gezeigt wurde – davon aus, dass es außerhalb der

Scheinhaftigkeit nichts gibt, das der ‚wahrhaftigen‘ Philosophie als

Legitimationsgrundlage dienen könne.

Wie auch immer diese Positionen zu beurteilen sind, wird deutlich, dass am

Anfang der Opposition von Philosophie und Rhetorik zwei konkurrierende

Weltanschauungen einander gegenüberstehen. Es geht in Platons Kampf gegen die

Sophisten nicht nur um die Legitimation von Wissen. Es geht ganz allgemein

95 Vgl. Kopperschmidt 2000 sowie Plett 1996. 96 Till 2004, S. 377.

30

darum, eine Weltanschauung zu bekämpfen, die für das kulturelle, soziale und

politische Leben der antiken Polis eine zentrale Rolle spielt.

Die Zentrierung des Begriffs der Wahrheit, die mit der Opposition von ‚wahr‘ und

‚falsch‘ möglich wird, ist so betrachtet der verschleiernde Ausdruck einer

Zentrierung von diskursiver Macht. Jedes Wissen muss sich auf den Begriff der

Wahrheit bezogen legitimieren. Das ästhetische Spiel mit der Sprache wird

abgelöst vom dialektischen Verfahren zur Genese wahren Wissens. Das Netz des

‚Dispositivs‘ wird nach Platon neu geknüpft.97

Jede Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Philosophie und Rhetorik,

die nach Platon geführt wird, bleibt im Rahmen dieses Herrschaftsdiskurses

verfangen und verhält sich zu ihm in einer je bestimmten Weise. Erst mit

Nietzsches ‚Umwertung‘ des normativen Gehalts philosophischer Positionen wird

eine radikale und wirkungsvolle Kritik formuliert, welche diesen Diskurs

tendenziell subvertiert.98

Ohne nun die komplexe Geschichte der Rhetorik auf ein simples Schema

reduzieren zu wollen, kann der Begriff dieses die Geschichte der Rhetorik

steuernden Herrschaftsdiskurses methodisch als eine Kontrastfolie für

Konzeptionen von Rhetorik benutzt werden. Dadurch werden Differenzen der

einzelnen Konzeptionen sichtbar, die von einem einfachen Schematismus eher

verdeckt werden würden. Um die diskursive Position einer nachplatonischen

Konzeption von Rhetorik bestimmen zu können, lässt sich untersuchen, wie sie

sich zum philosophischen Herrschaftsdiskurs verhält. Jede Rhetorik, die nach

Platon entsteht, kann zur Sprachauffassung und zur Skepsis der Sophistik in ein

Verhältnis gebracht werden, das zugleich ihre Haltung zur platonischen

Philosophie markiert.

97 Unter dem Begriff des ‚Dispositivs‘ versteht Foucault ein „heterogenes Ensemble, das Diskurse,

Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. […] Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“ (Foucault 1978, S. 119 f).

98 Vgl. S. 44 ff der vorliegenden Arbeit.

31

III. Rhetorikrezeption in der Moderne

Vergleicht man die Antike mit der Moderne,99 wird deutlich, dass die

Erfolgsgeschichte der Rhetorik auch die Geschichte einer Verdrängung und eines

Verfalls ist.100 Was verdrängt wird, ist zum einen ihr philosophischer Gehalt, ihre

Theorie der Sprache und Argumentation, zum anderen ihr spezifisch ästhetisches

Verständnis des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit, das als Alternative

zur philosophischen Weltanschauung gelten kann. Die Rhetorik spielt für die

Bildung bis ins späte neunzehnte Jahrhundert hinein zwar eine wichtige Rolle,101

ist jedoch weitgehend auf die lateinische Stilkunde beschränkt und liefert kaum

Beiträge zur Philosophiegeschichte.

Hinsichtlich der Rhetorik der französischen Klassik formuliert Roland Barthes in

seinen Rhetorikaufzeichnungen: „Die Rhetorik triumphiert: sie beherrscht den

Unterricht. Die Rhetorik ist todgeweiht: auf diesen Sektor eingeschränkt, gerät sie

allmählich in intellektuellen Verruf.“102 Der Rationalismus, der seit dem

siebzehnten Jahrhundert den philosophischen Diskurs zu dominieren beginnt,

fördert philosophische Vorbehalte gegenüber der Rhetorik zu Tage, die in

systematischer Hinsicht bereits in der Rhetorikkritik Platons enthalten sind. Die

Idee Descartes’, durch eine bestimmte philosophische Methode in langer Sicht

vollkommen evidentes Wissen zu generieren, lässt für die Theorie der Rhetorik als

einer Theorie des nur wahrscheinlichen Wissens keinen Raum. Auch das

Ausbleiben dieser ‚wissenschaftlichen Eschatologie‘ konnte, so Blumenberg,103

99 Mit ‚Moderne‘ ist an dieser Stelle die mit der europäischen Aufklärung beginnende umfassende

Makroepoche gemeint, die im soziologischen Kontext auch ‚Modernisierung‘ genannt wird. Davon zu unterscheiden ist der Begriff der zweiten bzw. reflexiven Moderne, zu der auch Nietzsche und die ‚klassische Moderne‘ der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts zählen. Vgl. Beck, Ulrich / Bonß, Wolfgang / Lau, Christoph: Theorie reflexiver Modernisierung – Fragestellungen, Hypothesen, Forschungsprogramme. In: Beck, Ulrich / Bonß, Wolfgang (Hrsg.): Die Modernisierung der Moderne. Frankfurt a.M. 2001, S. 11-59.

100 Vgl. auch Ptassek, Peter: Rhetorische Rationalität. Stationen einer Verdrängungsgeschichte von der Antike bis zur Neuzeit. München 1993.

101 Noch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gehörte die Rhetorik, da sie in der allgemeinen Schulbildung verankert war, zum selbstverständlichen Bildungshintergrund jedes Gymnasiasten. Vgl. Ueding, Gerd / Steinbrink, Bernd: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 3. Aufl. Stuttgart und Weimar 1994, S. 151 ff.

102 Barthes, Roland: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 1988, S. 45.

103 Vgl. Blumenberg 1981, S. 110.

32

nicht verhindern, dass die Rhetorikrezeption bis in die Gegenwart hinein vom

Glauben an letztbegründete Wahrheiten überschattet wird:

Die angekündigte Endleistung der [cartesianischen, M.H.] ‚Methode’ verhindert die gegenwärtige Selbstverständigung des Menschen, verhindert auch Rhetorik als eine Technik, sich im Provisorium vor allen definitiven Wahrheiten und Moralen zu arrangieren.104

Dieselbe Argumentationsstruktur, die schon Platon als Rahmen seiner Kritik

diente und im Rationalismus wieder auftaucht, äußert sich auch in der deutschen

Rhetorikkritik des späten 18. Jahrhunderts. Die Kritik an der Redekunst aus der

Perspektive philosophischer Wahrheitsbegriffe wird hier aber nicht nur in der

Philosophie selbst laut, sondern auch in der Dichtungstheorie. Während bis in die

Aufklärung hinein Rhetorik und Poetik, bereits auf das Handwerkliche reduziert,

für Dichtung zuständig waren, erhalten mit dem Aufkeimen der philosophischen

Ästhetik durch Baumgarten die Philosophie und ihr Wahrheitsbegriff auch Einzug

ins Literarische.105 Aus der Sicht Hans-Georg Gadamers spielt dabei insbesondere

die Genieästhetik eine wichtige Rolle: „Der Werteverfall der Rhetorik im 19.

Jahrhundert ist […] die notwendige Folge der Anwendung der Lehre von der

unbewußten Produktion des Genies.“106 Ihre Grundlage habe dieser Werteverfall

in der ‚Subjektivierung der Ästhetik durch Kant‘ und den literaturtheoretischen

Reflexionen Goethes und Schillers.107

Letztlich leitet sich der für die Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts zentrale

Gedanke des Genies von Platons Dichtungstheorie her, die als

‚Inspirationstheorie‘ in den literaturwissenschaftlichen Diskurs eingegangen ist.108

Allerdings finden sich auch in der römischen Rhetorik Ansätze einer Ingenium-

Lehre, wie etwa in Ciceros Begriff des ‚orator perfectus‘,109 der stellenweise

ebenfalls Anknüpfungspunkt ist. Im folgenden soll deshalb untersucht werden, wie

sich die Rhetorik als Gegenstand der Rezeption zum ästhetisch-philosophischen

104 Ebd. 105 Vgl. Geisenhanslüke 2003b, S. 42 f. 106 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen

Hermeneutik. 4. Aufl. Tübingen 1975, S. 68. 107 Vgl. ebd., S. 39 ff. 108 Vgl. Fuhrmann 1973, S. 71 ff sowie Büttner, Stefan: Die Literaturtheorie bei Platon und ihre

anthropologische Begründung. Tübingen und Basel 2000. Dies soll an dieser Stelle aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die Entstehung der deutschen Genieästhetik insbesondere die Rezeption englischer Aufklärer wie Edward Young sowie das Vorbild Shakespeares maßgeblich gewesen sind. Das historisch früheste Vorläufermodell liefert jedoch Platon.

109 Vgl. Fuhrmann 1984, S. 52 ff.

33

Diskurs verhält und wie dieses Verhältnis im Hinblick auf Kontinuitäten und

Brüche beschaffen ist. In einem ersten Schritt wird dabei die Ästhetik Kants und

Baumgartens Gegenstand der Auseinandersetzung sein. Nach der Untersuchung

der Frage, wie sich Kants und Baumgartens Auffassung von Rhetorik zum

philosophischen Herrschaftsdiskurs verhält, soll die Sprachphilosophie der

Frühromantik gleichermaßen befragt werden.

1. Zum Verhältnis von Rhetorik und philosophischer Ästhetik um 1800

Anders als Kants Kritik der Urteilskraft ist die philosophische Ästhetik Alexander

Gottlieb Baumgartens zu Teilen noch der rhetorischen Tradition verpflichtet

gewesen.110 Wie Alfred Baeumler betont, stehen „Cicero und Quintilian […] von

Muratori bis Baumgarten bei der Schöpfung der neuen Ästhetik Pate“.111 Vor dem

Hintergrund der vorliegenden Fragestellung empfiehlt es sich, den Begriff der

rhetorischen Tradition, der dieser in der Forschung zur Ästhetik des 18.

Jahrhunderts häufiger auftretenden These zu Grunde liegt, auf sein Verhältnis zum

philosophischen Herrschaftsdiskurs zu prüfen. Mit ‚Rhetorik‘ verweist Baeumler

auf die Tradition der römischen Rhetorik, und diese steht ihrerseits in einer

Denktradition, die von der Philosophie Platons bestimmt wird.

Platons Philosophie geht von einer Identität des Wahren und Schönen aus.112 Der

Philosoph, der durch Wahrheitssuche nach sittlicher Vollkommenheit strebt,

erkennt im Wahren zugleich immer auch das Schöne wieder, was dem Rhetor,

sofern er nicht ebenfalls der Philosophie Platons zugetan ist, verwehrt bleiben

muss. Die schöne Rede und die Dichtkunst vermögen nur eine oberflächliche

Schönheit zu vermitteln, die zwar Wohlgefallen hervorrufen, aber nie zur

Erkenntnis des wahrhaft Schönen führen kann. Daher bleibt die Philosophie auch

in ästhetischen Fragen gegenüber der Rhetorik privilegiert.

Während nun in der platonischen Philosophie das Streben nach dem Wahren auch

zum wahrhaft Schönen führt, kehrt sich dieses Verhältnis in der römischen Antike

zum Teil um. Die Kunst der schönen Rede befördere, wenn sie zum Bildungsideal

einer Gemeinschaft erhoben wird, auch das Wahre und sittlich Gute.113 Allerdings

110 Vgl. Geisenhanslüke 2003a, S. 28. 111 Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts

bis zur Kritik der Urteilskraft (1923). Darmstadt 1975, S. 123. 112 Vgl. Grassi, Ernesto: Die Theorie der Schönheit in der Antike. Köln 1980, S. 70. 113 Vgl. dazu Dörpinghaus 2002, S. 83 ff.

34

liegt dieser Sichtweise ein Bild des idealen Redners zu Grunde, der philosophisch

gebildet und in jeglicher Hinsicht tugendhaft ist. Dieser ‚orator perfectus‘

verkörpert sittliche Tugend, rednerische Kompetenz und Bildung auf allen

Gebieten und ist somit qualifiziert Verantwortung für die Gemeinschaft zu

übernehmen. Quintilian versucht dieses Ideal in der institutio oratoria

pädagogisch und bildungstheoretisch zu entfalten. In der rhetorischen Bildung

liegt für Quintilian – angeregt von Ciceros Begriff des ‚orator perfectus‘ – daher

die wichtigste Bedingung wahrer Sittsamkeit.114 So setzt sich in der römischen

Rhetorik der Gedanke der Identität von Schönem und Wahrem fort und führt

bereits bei Cicero zur Forderung, die Trennung von Philosophie und Rhetorik

wieder rückgängig zu machen.115 Allerdings steht für Cicero und Quintilian außer

Frage, dass die sittlichen Tugenden des Redners von einer entsprechenden

Ingeniösität herrühren, die durch philosophische Bildung veredelt werden muss.

Dieser Begriff der Ingeniösität verortet die rhetorische Rationalität, die Aristoteles

noch als intersubjektiv begriffen hatte, im Individuum.116 Indem sie das Wahre mit

dem Schönen in einer pädagogischen Zielsetzung vereint, verkörpert die Rhetorik

Ciceros und Quintilians einen Bildungsgedanken, der im wesentlichen auf Platon

zurückgeht. Als Institution stellt sie das Bindeglied zwischen ästhetischer und

ethischer Bildung in der römischen Antike dar.

Wenn nun Baumgarten an diese Tradition anknüpft, setzt er implizit eben jenen

Platonismus fort, der die römische Rhetorik ganz in den Dienst einer implizit

platonischen Vorstellung vom Wahren und Schönen stellt. Wie Baeumler betont,

hat Baumgarten es verstanden

auch aus den rhetorischen Rubriken etwas herauszuholen, was zu seinem logischen Grundgedanken in Beziehung stand, indem er die Frage der Gewißheit der (rhetorischen) Wahrheit in den Mittelpunkt rückt. […] Damit ist die Rhetorik im Kerne überwunden, und es verschlägt nichts, daß die Aesthetica im Technischen völlig von der Rhetorik abhängig blieb.117

Diese Linie, die Baumgarten mit der römischen Rhetorik verbindet, mit der

rhetorischen Tradition insgesamt gleichzusetzen, würde viele Strömungen

innerhalb dieser alles andere als einheitlichen Tradition ausblenden.

114 Vgl. ebd., S. 91. 115 Vgl. Ijsseling 1988, S. 28. 116 Vgl. Ptassek 1993, S. 87. 117 Baeumler 1975, S. 124.

35

Das Rhetorikverständnis Giambattista Vicos weicht von dieser Linie

beispielsweise in einigen Punkten ab.118 Vico, der seit 1697 einen

Rhetoriklehrstuhl in Neapel besaß, wendet sich gegen den Wahrheitsglauben des

Rationalismus und plädiert für eine Wissenschaft, die den Wahrheitsbegriff der

Philosophie historisch relativiert. Der Gedanke, der als ‚Vico-Axiom‘ im

zwanzigsten Jahrhundert in die soziologische Theoriedebatte eingeführt wurde,119

steht im Zusammenhang mit einer Aufwertung der Rhetorik gegenüber dem

cartesianischen Rationalismus, die zwar durch ihre Nähe zum italienischen

Humanismus einerseits den Bildungsgedanken Quintilians fortschreibt,

andererseits aber die Sprachkunst von der römischen Tradition abweichend

begründet:

Nach Vico hat nicht der menschliche Geist (ingenium) die Sprache, sondern umgekehrt, die Sprache den Geist geformt. […] Das mythische und poetische Wort haben die Welt, in der wir jetzt leben, erschlossen. Die großen Wortführer sind in der Lage, diese Welt […] zu verändern.120

Ein Rhetorikverständnis wie dieses, das auf einem Primat des Sprachlichen beruht,

knüpft an ein Sprachdenken an, das von der platonischen Vorstellung des Wahren

und Schönen abweicht und an die Position der Sophisten erinnert. Vico scheint

dem in der Antike entstandenen philosophischen Herrschaftsdiskurs, der ihm im

Mantel des cartesianischen Rationalismus begegnet, zu widersprechen. Wie auch

immer diese Konstellation im einzelnen erscheint, ist in diesem Punkt eine

Differenz zu Cicero und Quintilian zu sehen. Eine Rhetorik, die den

Wahrheitsanspruch der Philosophie aus einer solchen Perspektive in Frage stellt,

hat für die Entwicklung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert keine

Rolle gespielt.

Diese diskurskritische Perspektive macht deutlich, dass sich die rhetorische

Tradition nicht einfach durch einen Begriff der Kontinuität bestimmen lässt. Die

Komplexität der Geschichte der Rhetorik und die Divergenz ihrer theoretischen

Angebote werden von einem Begriff der einheitlichen Tradition eher verdunkelt

118 Zum Rhetorikverständnis Vicos vgl. Müller-Richter, Klaus / Larcati, Arturo (Hrsg.): Kampf der

Metapher. Studien zum Widerstreit des eigentlichen und uneigentlichen Sprechens. Zur Reflexion des Metaphorischen im philosophischen und poetologischen Diskurs. Wien 1996, S. 149 ff sowie Ijsseling 1988, S. 85 ff.

119 Vgl. Fellmann, Ferdinand: Das Vico-Axiom. Der Mensch macht die Geschichte. Freiburg u.a. 1976.

120 Ijsseling 1988, S. 87.

36

als erhellt. Wenn eine bestimmte Konzeption von Rhetorik aber nach ihrem

Verhältnis zu dem Herrschaftsdiskurs befragt wird, aus dem sich die wertende

Unterscheidung von Rhetorik und Philosophie herleitet, lassen sich Kontinuitäten

und Brüche erkennen, die sonst nur verschwommen wahrgenommen werden.

Es ist zwar der Fall, dass Baumgarten sich teilweise positiv auf die römische

Rhetorik beruft, während Kant der Redekunst mit Verachtung gegenübersteht. Das

ist jedoch eine Differenz, die von einer entscheidenden Ähnlichkeit unterlaufen

wird: beide fügen sich mit ihrer philosophischen Ästhetik positiv in den

philosophischen Herrschaftsdiskurs ein, der seit der Antike das sophistische

Sprachverständnis verdrängt. Der Unterschied zwischen Baumgarten und Kant ist

daher eher in der Offenheit zu sehen, mit der Kant an die Rhetorikkritik Platons

anknüpft.

Anders als Baumgarten lässt Kant keinen Zweifel an seiner Abneigung. Bereits in

der Kritik der reinen Vernunft121 spielt er im Bezug auf die Dialektik in

platonischer Manier epistemisches gegen doxatisches Wissen aus, wie Tobia

Bezzola betont:

Kant verwirft die aristotelische Scheidung zweier selbstständiger Bereiche, demjenigen des apodiktisch Wahren und Evidenten (mit der Analytik als zugehöriger Wissenschaft) und dem des Wahrscheinlichen (dessen methodische Bewältigung der Dialektik obliegt).122

Kants eigene Konzeption einer transzendentalen Dialektik ist entgegen dem

Wortgebrauch der Tradition keine Theorie des adäquaten Umgangs mit

wahrscheinlichem Wissen mehr. Ihm geht es vielmehr darum, den ‚Schein‘ der

Wahrheit – so Kants Interpretation des Terminus Wahrscheinlichkeit – methodisch

abzuwehren.123

In ähnlicher Weise wird in der Kritik der Urteilskraft124 die Rhetorik einer

scharfen Kritik unterzogen. Auch hier spielt die Unterscheidung zwischen

epistemischem Wissen und den zu überwindenden ‚Ansichten‘ die entscheidende

Rolle. Wie bereits bei Platon ist die Redekunst dem Streben nach Wahrheit

abträglich und als solche von schädigendem Charakter. Sie „erscheint […] als

121 Kant, Immanuel: Werke in zehn Bänden. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1968, Bd. 3

u. 4 [KdV]. 122 Bezzola, Tobia: Die Rhetorik bei Kant, Fichte und Hegel. Ein Beitrag zur

Philosophiegeschichte der Rhetorik. Tübingen 1993, S. 16. 123 Vgl. ebd. 124 Kant 1968, Bd. 8 [KdU].

37

dezidiert antiaufklärerisches Zeichen für einen unaufhaltsamen moralischen und

politischen Niedergang“.125

Im Rahmen von Kants Kunsttheorie wird sie aber nicht nur gegen die Idee einer

allgemein gefassten philosophischen Wahrheit und die Moralität abgegrenzt,

sondern insbesondere auch gegen eine ästhetische Form der Wahrhaftigkeit und

Aufrichtigkeit, die der Dichtkunst zukomme:

Der Redner kündigt ein Geschäft an und führt es so aus, als ob es bloß ein Spiel mit Ideen sei, um die Zuschauer zu unterhalten. Der Dichter kündigt bloß ein Spiel mit Ideen an, und es kommt doch soviel für den Verstand heraus, als ob er bloß dessen Geschäft zu treiben die Absicht gehabt hätte.126

Die Kunst der schönen Rede ist somit immer auch die Kunst des schönen Scheins

und als solche unvermeidbar der Hinterlist verdächtig. Eine ernsthafte Sache als

Spiel auszugeben um das Publikum zu unterhalten kann für Kant nie eine im

moralischen Sinne gute Sache befördern. In Abgrenzung zur aufrichtigen

Dichtkunst erscheint sie als „gar keiner Achtung würdig“.127

Die Entgegensetzung von rhetorischem Regelwerk und genialer Schöpfungskraft,

die nicht nur Kants Ästhetik, sondern die ästhetisch-poetologische Debatte gegen

Ende des achtzehnten Jahrhunderts insgesamt bestimmt, steht damit im

Zusammenhang mit der Differenz von Verstellung und Aufrichtigkeit. Mit dieser

grenzt sich das Bürgertum im achtzehnten Jahrhundert von der höfischen

Verstellungskunst ab. In der Kritik an der Rhetorik fließen damit die

poetologische, philosophische und gesellschaftlich-politische Debatte der Zeit um

1800 zusammen. Das äußert sich im poetologischen Diskurs dadurch, dass die

Kritik an der Normpoetik von einer Kritik an der französischen Klassik begleitet

wird, die als paradigmatisch für eine unter dem Zeichen höfischer

Verstellungskunst stehende Kunstproduktion gilt.128 Bei Kant steht die Kritik an

125 Geisenhanslüke, Achim: Der Buchstabe des Geistes. Postfigurationen der Allegorie von

Bunyan zu Nietzsche. München 2003a, S. 35. 126 Kant KdU, §51, S. 423. 127 Kant KdU, §53, S. 431. Hierbei unterscheidet Kant jedoch zwei Spielarten der Rhetorik. Die

„Wohlredenheit“ (ebd.), die an das Ideal des vir bonus dicendi peritus anknüpft, welches von Cicero und Quintilian über Opitz bis Gottsched immer wieder aufgegriffen wird, sei philosophisch zwar ohne Belang, aber immerhin nicht schädlich. Die Kunst, zu überreden, führe hingegen notwendig zu Unfreiheit, da sie am Publikum Gewalt ausübe, insofern sie eine zweckgebundene und manipulative Wirkung entfaltet.

128 Vgl. Geisenhanslüke, Achim: „Drum sind auch alle französische Trauerspiele Parodien von sich selbst.“ Racine und die Rezeption der klassischen französischen Tragödie bei Schiller und Goethe. In: Komparatistik 16 (2002/2003), S. 9-32.

38

der Rhetorik aus der Perspektive von Wahrheit und Aufrichtigkeit insofern auch in

einem gesellschaftlichen Diskurs, als sein Gegenentwurf einer Dichtkunst, die

Regelhaftigkeit und Genialität vereint, zugleich für Originalität, Freiheit und

moralische Integrität einsteht.129 Eben dies sind Attribute, die sich das deutsche

Bürgertum gegenüber der höfischen Kultur auf die Fahnen schreibt.

Ideengeschichtlich leitet sich die Entgegensetzung von schöpferischer Genialität

und rhetorischer Regelhaftigkeit allerdings von Platon her. Aus Platons Aussagen

über Literatur lässt sich eine implizite Literaturtheorie entfalten, für die die

Begriffe des Enthusiasmus und der Inspiration zentral sind.130 Gleichwohl gibt es

in der platonischen Inspirationstheorie fundamentale Unterschiede zur

Genieästhetik des achtzehnten Jahrhunderts.

Während die Genieästhetik das Irrationale gegenüber dem Regelhaften aufwertet,

lokalisiert Platon diese Kreativität im intellektiven (nicht-rationalen, weil über-rationalen) Denken des Künstlers, dessen subjektive Leistung darin besteht, vom unausschöpflichen Reichtum des (jeweiligen) Intelligiblen soviel wie möglich zu erfassen.131

Im Zusammenhang mit Kants Konzeption des Verhältnisses von ‚ästhetischer

Idee‘ und ‚Vernunftidee‘132 stellt die platonische Vorstellung von der

künstlerischen Ingeniösität als Teilhabe am Intelligiblen und dessen Vermittlung

aber einen wichtigen Bezugspunkt dar. Die philosophische Ästhetik verhält sich

sowohl bei Baumgarten als auch bei Kant positiv gegenüber der durch Platon

gängig gewordenen Unterscheidung zwischen Philosophie, funktional-konzessiver

Redekunst und der von der Philosophie unabhängigen, sophistischen und auf ein

ästhetisches Spiel mit der Sprache abzielenden Rhetorik.

2. Das Verhältnis von Universalpoesie und Rhetorik in der deutschen Frühromantik

Die Entgegensetzung von genialem Schöpfungsakt und dem mechanischen

Befolgen kodifizierter Regeln ist auch für die Kunst- und Literaturreflexion der

Romantik konstitutiv. Friedrich Schlegels Diktum, nach dem die Kunst

„unendlich“ und „frei ist, und […] als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür

129 Vgl. Bezzola 1993, S. 25 ff. 130 Vgl. Büttner 2000, S. 255 ff. 131 Ebd., S. 374. 132 Vgl. Kant KdU, §49, S. 413 ff.

39

des Dichters kein Gesetz über sich leide“133 richtet sich gegen die tradierte

Normpoetik und macht ihr gegenüber die Idee eines autonomen Subjekts stark,

dessen Textproduktion keiner äußeren Reglementierung unterliegen dürfe. Die

Kunst soll sich vielmehr von innen her selbst bestimmen. Damit ist auch die

kanonisierte Schulrhetorik angesprochen, die zum Bildungshintergrund aller

Frühromantiker gehörte.134

Während die Genieästhetik des Sturm und Drang normpoetische Vorgaben unter

Berufung auf die Natürlichkeit des Genies kritisiert, ist es in der Kritik der

Frühromantik aber nicht die Entgegensetzung von Natürlichkeit und Künstlichkeit,

die das Urteil über die Normpoetik begründet. Vielmehr wird in der Frühromantik

die Differenz zwischen Natur und Regelwerk selbst zum Gegenstand der Kritik im

Zeichen eines universellen Begriffs von Poesie. In Friedrich Schlegels

Athenäumsfragment 116 heißt es:

Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. […] Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.135

Rhetorik und Philosophie sollen somit als institutionalisierte Formen prosaischer

Textproduktion miteinander verbunden werden, um dann mit der Natur- und

Kunstpoesie zu einer universellen Gattung zu verschmelzen. Zugleich sollen das

Leben und die Gesellschaft ‚poetisiert‘ werden. Das eigene Schreiben wird bei

Friedrich Schlegel dabei in ein gattungsgeschichtliches Modell integriert, das im

133 Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe [KA]. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-

Jacques Anstett und Hans Eichner. München, Paderborn und Wien 1958 ff, 1. Abt., Bd. 2, S. 182.

134 Vgl. Krause, Peter D.: Unbestimmte Rhetorik. Friedrich Schlegel und die Redekunst um 1800. Tübingen 2001, S. 23 ff. Zum Verhältnis von Rhetorik und Poetik bei F. Schlegel vgl. Härter, Andreas: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000.

135 F. Schlegel KA, 1. Abt., Bd. 2, S. 182 f.

40

Zusammenhang mit der frühromantischen Geschichtsphilosophie steht.136 Auf die

Entwicklung der tradierten Dichtarten, die die Frühromantiker in der Klassik

vollendet sehen, folgt für Schlegel eine Phase der reflexiven Zergliederung im

Zeichen der romantischen Poesie, die sich ins Unendliche fortschreibt:

Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden […].137

Die für die Frühromantik repräsentative Idee der Auflösung von

Gattungsunterschieden in einer progressiven Universalpoesie, die wegen nie

einzuholender Differenzen die Form einer unendlichen Reflexionsschleife hat,138

wird hier vor dem Hintergrund eines an den Begriff des Poetischen gebundenen

Absolutheitsdenkens konzipiert, das noch ganz in der Tradition der Metaphysik

steht. Obwohl die Identitätsphilosophie der Frühromantik einen Begriff der

unhintergehbaren Duplizität des Subjekts begründet, der stark an neuere

differenztheoretische Konzepte erinnert,139 spielt in anderen Zusammenhängen

immer auch der Begriff des einheitlichen Ursprungs eine wichtige Rolle. Das zeigt

sich insbesondere in der frühromantischen Reflexion über Sprache, in deren

Mittelpunkt die Frage nach dem Ursprung von Sprache und Poesie steht.140

Der Ursprung des sprachlichen Kunstwerks wird in der Frühromantik gemeinsam

mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache selbst gestellt. Sowohl die

Normpoetik des Klassizismus als auch Kants freies Spiel von Einbildungskraft

und Vernunft „erweisen sich in der frühromantischen Reflexion bereits als

sekundär und derivativ gegenüber dem viel fundamentaleren Phänomen der

136 Zur Geschichtsphilosophie bei F. Schlegel vgl. Arndt, Andreas: Naturgesetze der menschlichen Bildung: zum geschichtsphilosophischen Programm bei Friedrich Schlegel. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), S. 97-105.

137 F. Schlegel KA, 1. Abt., Bd. 2, S. 182. 138 Vgl. Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung

der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a.M. 1987, S. 72 ff. Dass in der Annahme unhintergehbarer Differenzen im Rahmen der frühromantischen Identitätsphilosophie zentrale Gedanken der Dekonstruktion und des Poststrukturalismus vorweggenommen werden, hat Menninghaus überzeugend dargelegt. Seine Argumentation funktioniert allerdings nur dadurch, dass er Identitätsphilosophie und Geschichtsphilosophie voneinander trennt, was eine leichte und von ihm bewusst in Kauf genommene Verzerrung der ideengeschichtlichen Umstände bewirkt. Das Erkenntnisinteresse Menninghaus’ liegt in diesem Zusammenhang aber eher in der systematischen Erweiterung gegenwärtiger Theoriepositionen, als in der Frühromantik selbst. Vgl. ebd., S. 215 ff.

139 Vgl. ebd., S. 89 ff. 140 Vgl. Bär, Jochen A.: Sprachreflexion in der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen

Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin und New York 1999, S. 84.

41

menschlichen Sprache“.141 Indem der Ursprung der Poesie und der Ursprung der

Sprache zusammenfallen, erhält die Frage nach dem Sprachursprung einen

mythopoetischen Anstrich, der bei Autoren wie F. Schelling, F. Schlegel und

besonders A.W. Schlegel zur Annahme einer ursprünglichen Figuralität und

Poetizität im Rahmen einer spekulativ-metaphysischen Anthropologie führt.142

Sprache erscheint hier als eine Urpoesie der Menschheit, eine ursprüngliche Schöpferkraft des menschlichen Geistes, die allen gebildeten Sprachen zu Grunde liegt und unseren ersten spontanen Kontakt mit der Welt darstellt.143

Dieser Gedanke zeigt sich insbesondere auch in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik

– einem Werk, das zwar nicht direkt der Frühromantik zuzurechnen ist, aber

hinsichtlich der Frage nach dem Ursprung von Sprache wichtige Gedanken mit

dieser Strömung teilt:144

Ursprünglich, wo der Mensch noch mit der Welt auf einem Stamme geimpfet blühte, war dieser Doppel - Tropus noch keiner; jener verglich nicht Unähnlichkeiten, sondern verkündigte Gleichheit; die Metaphern waren, wie bei Kindern, nur abgedrungene Synonymen des Leibes und Geistes.145

Bereits an dieser kurzen Passage wird deutlich, dass im frühromantischen

Sprachursprungsdenken um 1800, anders als in der Identitätsphilosophie Fichtes

und Schellings, nicht die unhintergehbare ‚Duplizität‘ des Subjekts im

Vordergrund steht,146 sondern die Vorstellung einer ursprünglichen Einheit von

Ich und Welt. Damit geht auch eine Priorität des gesprochenen Wortes gegenüber

der Schrift einher:

Wie im Schreiben Bilderschrift früher war als Buchstabenschrift, so war im Sprechen die Metapher, insofern sie Verhältnisse und nicht Gegenstände bezeichnet, das frühere Wort, welches sich erst allmählich zum eigentlichen Ausdruck entfärben mußte. Das tropische Beseelen und Beleiben fiel noch in

141 Behler, Ernst: Die frühromantische Sprachphilosophie und ihr Einfluß auf Nietzsche und

Foucault. In: Athenäum 11 (2001), S. 193-214, hier S. 197. 142 Vgl. Bär 1999, S. 170 ff. Mit dem Gedanken einer ursprünglichen Metaphorik setzt die

Frühromantik einen Gedanken fort, der bereits bei Herder zur Vorstellung einer ‚heiligen Poesie‘ geführt hat. Was die Ursprungsmodelle der Frühromantiker vom Konzept der ‚heiligen Poesie‘ unterscheidet, kann an dieser Stelle jedoch nicht ausgeführt werden.

143 Behler 2001, S. 199. 144 Vgl. dazu Müller, Götz: Jean Pauls Ästhetik im Kontext der Frühromantik und des deutschen

Idealismus. In: Jaeschke, Walter (Hrsg.): Der Streit um die Grundlagen der Ästhetik (1795-1805). Hamburg 1999, S. 159-173.

145 Jean Paul: Werke. Hrsg. v. Norbert Miller und Gustav Lohmann. 6 Bde. München 1959-1963, 1. Abt., Bd. 5, S. 184.

146 Vgl. Menninghaus 1987, S. 89 ff.

42

eins zusammen, weil noch Ich und Welt verschmolz. Daher ist jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblasseter Metaphern.147

Die Vorstellung einer ursprünglichen Figuralität der Sprache, die bei Nietzsche

und besonders in der Dekonstruktion zur radikalen Kritik an der Metaphysik führt,

wird hier noch ganz im Zeichen des präsenzmetaphysischen Einheitsdenkens

konzipiert. Die Differenz zwischen eigentlicher Bedeutung und Figuralität von

Sprache wird dabei im Begriff einer ursprünglich ungeteilten Ausdrucksweise

sprachlich-leiblichen Seins aufgelöst, in der Ich und Welt noch vereint seien.

Diese einheitliche und ungeteilte Ausdrucksweise ist als gesprochenes Wort

sowohl jeder Form von Schrift als auch jedem künstlich überformten Sprechen

übergeordnet.148

Befragt man die deutsche Frühromantik vor diesem Hintergrund nach ihrem

Verhältnis zur Rhetorik, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Während einerseits die

Schulrhetorik, ganz im Einklang mit dem poetologischen Diskurs um 1800,

kritisiert wird, entdecken die Frühromantiker den Begriff der Figuralität für das

spekulativ-metaphysische Modell eines Sprachursprungs wieder, der für die

frühromantische Sprachphilosophie zentral ist. Anders als die Tradition der

Affekt-Rhetorik, die seit Bernard Lamys L’art de parler den Ursprung der Tropen

in den Leidenschaften des Menschen verortet,149 wird hier der Ursprung des

sprachlich-leiblichen Seins überhaupt, also einschließlich der Vernunft und den

Affekten, zum Ort, in dem auch der figurale Sprachgebrauch genealogisch

beheimatet ist. Die Ursprungsfigur ist also eine doppelte: aus dem ursprünglich

einheitlichen Sein von Ich und Welt entfaltet sich das ursprünglich figurale

Sprechen.150 Dadurch wird es möglich, zwischen zwei Arten der Figuralität zu

unterscheiden. Der ursprünglichen Figuralität steht die ‚unreine‘ Schulrhetorik der

147 Ebd., S. 184 f. 148 Diese Form der Sprachreflexion fügt sich damit in die logozentristische Tradition

abendländischen Denkens ein, wie sie Jacques Derrida am Beispiel Rousseaus kritisiert. Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a.M. 1983, S. 171 ff.

149 Zur Tradition der Affektrhetorik vgl. Till 2004, S. 376 ff. 150 Damit ist auch die Vorstellung verbunden, dass das geologische, klimatische und kulturelle

Umfeld der Sprecher eine nationenspezifische Art zu sprechen hervorbringen. Sprachen sind daher für die meisten Frühromantiker immer auch der Ausdruck von Nationalcharakteren. Das hat die Erforschung der Sprachenvielfalt seitens der sich neu entwickelnden Sprachwissenschaft im neunzehnten Jahrhundert vielfach angeregt. Auf die Sprachauffassungen Herders, Hamanns und Humboldts, die in diesem in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen, kann an dieser Stelle jedoch nicht eingegangen werden. Vgl. dazu Bär 1999, S. 239 ff.

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Gegenwart gegenüber. Die Tendenz zur Verschmelzung der Gattungen zu einer

‚progressiven Universalpoesie‘ ist in den Augen der Frühromantik zugleich die

Tendenz, diesen Zustand der Divergenz zu überwinden.

Noch im späten neunzehnten Jahrhundert hat dieser Gedanke einer ursprünglichen

Figuralität der Sprache fortgewirkt. Gustav Gerber hat ihn in seiner 1871

erschienenen philosophischen Arbeit Die Sprache als Kunst aufgegriffen und

entfaltet.151 Sein Versuch, aus dem Gedanken der Figuralität von Sprache heraus

im Rückgriff auf die antike Rhetorik ein philosophisches System zu entwerfen, hat

wiederum das Interesse Friedrich Nietzsches geweckt. Dieser entnahm Gerbers

Entwurf viele Anregungen für seine Baseler Rhetorikvorlesungen.152 Wie sich das

auf die Entwicklung von Nietzsches Denken ausgewirkt hat und inwiefern

Nietzsche über Gerber hinausgeht, ist einer der Aspekte, die im nächsten Teil der

Arbeit thematisiert werden.

151 Gerber, Gustav: Die Sprache als Kunst. 2 Bde. 2. Aufl. Berlin 1885. 152 Vgl. Meijers, Anthonie: Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund

der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche. In: Nietzsche-Studien 17 (1988), S. 369-390.

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IV. „Ein bewegliches Heer von Metaphern“. Nietzsches Rhetorikauffassung und die Kritik der philosophischen Sprache

Friedrich Nietzsche hat sich als junger Altphilologe in den Jahren 1872 bis 1874

im Rahmen seiner Baseler Lehrveranstaltungen intensiv mit der antiken Rhetorik

beschäftigt. Zwei Vorlesungsskripte, die seit 1995 vollständig und historisch-

kritisch ediert vorliegen,153 dokumentieren diese Auseinandersetzung als

wichtigen Schritt in der Entwicklung seines Denkens. Insbesondere der

systematische Zugriff auf die Rhetorik in seiner Vorlesung aus dem Sommer

1874154 führt zu Thesen, die für Nietzsche wegweisend gewesen sind.

Sowohl die Kritik am Einheits- und Ursprungsdenken der Philosophie als auch

Nietzsches Konzeption einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘ leiten sich zu nicht

unbeträchtlichem Teil aus seiner im Rahmen der Beschäftigung mit der Rhetorik

gewonnenen Einsicht her, dass die Sprache immer bereits rhetorisch und das

Verhältnis von natürlicher und rhetorischer Sprache von der Rhetorizität aus zu

denken sei.155 Der 1872 verfasste Text Ueber Wahrheit und Lüge im

aussermoralischen Sinne156 zeigt die unmittelbare Anwendung dieser Einsichten

in einer für Nietzsche typisch gewordenen Schreibpraxis, die sich in den

folgenden Jahren, die Phase seines Spätwerks ansteuernd, zunehmend

radikalisiert.157 Im folgenden soll Nietzsches Auffassung von Rhetorik in ihrem

153 Geschichte der griechischen Beredsamkeit und Darstellung der antiken Rhetorik. In: Werke. Kritische Gesamtausgabe [KGW]. Begr. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Weitergef. v. Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Abt. 2. Bd. 4: Vorlesungsaufzeichnungen: (WS 1871/72 – WS 1874/75). Hrsg. v. Fritz Bornmann. Berlin und New York 1995, S. 363-411 und S. 413-502. Im folgenden werden diese beiden Texte als Nietzsches Rhetorikvorlesungen gelten. Selbstverständlich wusste Nietzsche die Begriffe ‚Rhetorik‘ und ‚Beredsamkeit‘ auseinander zu halten, hat aber theoretisch nicht trennscharf zwischen ihnen differenziert. Seine Ausführungen in der Vorlesung über ‚Beredsamkeit‘ geben Aufschluss über sein Verständnis von ‚Rhetorik‘, und umgekehrt. Der ältere Text nähert sich dem Thema eher historisch, während die Darstellung der antiken Rhetorik systematischer vorgeht.

154 Nietzsche KGW, Abt. 2, Bd. 4, S. 363-411. Gegenüber der Münchener Musarion-Ausgabe beinhaltet die Vorlesung zur Darstellung der antiken Rhetorik der KGW alle sechzehn Abschnitte des Textes. In der Musarion-Ausgabe, die allen älteren Publikationen über die Rhetorikvorlesungen Nietzsches zu Grunde liegt, wird der Text auf die ersten sieben Abschnitte gekürzt wiedergegeben. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Gesammelte Werke. 23 Bde. Hrsg. v. Richard Oehler, Max Oehler und Friedrich Würzbach. München 1920-'29, Bd. 5, S. 288 ff.

155 Vgl. Lacoue-Labarthe, Philippe: Der Umweg. In: Hamacher, Werner (Hrsg.): Nietzsche aus Frankreich. Berlin und Wien 2003, S. 125-163.

156 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA]. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1999, Bd. 1, S. 873-890.

157 Dass die Beschäftigung mit der Rhetorik und der Essay Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, kann als Konsens der

45

Verhältnis zu dem vom philosophischen Herrschaftsdiskurs bestimmten gängigen

Rhetorikverständnis in fünf Schritten untersucht werden.

Der erste Schritt widmet sich dem Stellenwert des Ästhetischen in Nietzsches

Baseler Rhetorikvorlesungen. Es zeigt sich, dass Nietzsche die Rhetorik als ein

ästhetisches Spiel mit der Sprache begreift, welches für das Lebensgefühl des

Menschen der griechischen Antike charakteristisch sei. Indem er den figurativen

Modus der Rede dabei zugleich als die unhintergehbare Grundlage jeglichen

Sprachgebrauchs denkt, scheint er sich in die Tradition romantischer

Sprachphilosophie einzuschreiben.

Wie im darauf folgenden Abschnitt gezeigt werden soll, unterscheidet ihn seine

dezidierte Ablehnung teleologischen Denkens und seine Kritik des Begriff der

Wahrheit jedoch fundamental von seinen scheinbaren romantischen Vorläufern.

Welche Konsequenzen sich daraus für das Verhältnis von Literatur und

Philosophie ergeben, soll im dritten Teil des Kapitels untersucht werden.

Das Rhetorische ist für Nietzsche dabei aber nicht nur die fundamentale

Existenzbedingung von Sprache, sondern wird im Zuge seiner epistemologischen

Radikalisierung der Einsichten in die Rhetorizität der Sprache auch zur

grundlegenden Existenzweise des Denkens, Erkennens und sinnlichen

Empfindens. Im vierten Schritt soll diese Auffassung anhand seiner Ausführungen

zu den Begriffen ‚Metapher‘, ‚Synekdoche‘ und ‚Metonymie‘ systematisch

entfaltet werden. Dabei wird deutlich, dass Nietzsches Rhetorikauffassung eine

rhetorische Epistemologie impliziert, deren Grundzüge auch die Metaphysikkritik

seiner Spätphase prägen.

Im letzten Teil des Kapitels wird dies zur Sprachauffassung der Sophistik in ein

Verhältnis gebracht. Nietzsches Dekonstruktion der Metaphysik, die sich zum Teil

aus seiner spezifischen Rhetorikrezeption herleitet, rückt nicht nur das

vorklassische Hellenentum, sondern auch die Sprach- und Rhetorikauffassung der

Sophisten in ein positives Licht. Indem Nietzsche die Metaphysik im Rahmen

neueren Nietzsche-Forschung gelten. Vgl. hierzu Kopperschmidt, Josef: Nietzsches Entdeckung der Rhetorik oder Rhetorik im Dienste der Kritik der unreinen Vernunft. In: Ders. / Schanze, Helmut (Hrsg.): Nietzsche oder „Die Sprache ist Rhetorik“. München 1994, S. 39-62, hier S. 42 sowie Kaiser, Stefan: Über Wahrheit und Klarheit. Aspekte des Rhetorischen in „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“. In: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 65-78.

46

einer immanenten Kritik gegen sich selbst wendet, wird der philosophische

Herrschaftsdiskurs tendenziell subvertiert.

1. Rhetorik und Ästhetik

Dass Nietzsches ästhetizistische Sichtweise auf das Verhältnis von Sprache und

Welt fundamentale Gewissheiten der Tradition metaphysischen Denkens in Frage

stellt, wurde in der Nietzsche-Forschung häufig betont.158 Sprache erscheint bei

Nietzsche nicht als Repräsentation einer präexistenten Welt, sondern als Medium

einer ästhetischen Interpretation, welche im Akt des Interpretierens die Welt für

den Menschen erst greifbar macht. Bereits der von der Ordnung der Sprache

überformte Akt des Wahrnehmens wird dabei als ein Teil dieser Interpretation

begriffen.159 Die Welt erscheint so in jeglicher Hinsicht als ein ästhetisches

Phänomen, da sie immer bereits die ästhetische Interpretation eines dem

Menschen gänzlich verschlossenen und schwer zu benennbaren ‚Anderen‘

darstellt.

Das Rhetorikverständnis, das sich in Nietzsches Vorlesungsschriften der frühen

siebziger Jahre äußert, kann als ein wichtiger Schritt in der Entwicklung dieses

erkenntniskritischen Ästhetizismus gelten.160 Dabei kommt es zu einer

Aufwertung des Rhetorischen, die dem im neunzehnten Jahrhundert gängigen und

von der metaphysischen Tradition bestimmten pejorativen Beigeschmack des

Begriffs von Rhetorik widerspricht. Nietzsche tritt dem gängigen Verständnis von

Rhetorik in seiner Aufwertung aber nicht explizit entgegen, sondern argumentiert

mit einem dezidierten Verächter der Redekunst – mit Kant.

In seiner Darstellung der antiken Rhetorik greift Nietzsche auf Kants Bestimmung

der Beredsamkeit zurück, nach der dieselbe die Kunst sei, „ein Geschäft des

Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben“.161 Dieser

Rückgriff lässt eine Kritik an der Rhetorik vermuten, formuliert Kant damit doch

158 Vgl. Abel, Günter: Bewusstsein – Sprache – Natur. Nietzsches Philosophie des Geistes. In:

Nietzsche-Studien 30 (2001), S. 1-43; Ellrich, Lutz: Rhetorik und Metaphysik. Nietzsches ‚neue‘ ästhetische Schreibweise. In: Nietzsche-Studien 23 (1994), S. 241-272; Hofmann, Johann Nepomuk: Hermeneutik nach Nietzsche. Thesen und Überlegungen im Anschluß an Nietzsches Begriff der Interpretation. In: Nietzsche-Studien 25 (1996), S. 261-306; Tebartz-van Elst, Anne: Ästhetik der Metapher. Zum Streit zwischen Philosophie und Rhetorik bei Friedrich Nietzsche. Freiburg und München 1994, S. 76 ff.

159 Vgl. Abel 2001, S. 7. 160 Vgl. Ellrich 1994. 161 Vgl. Kant KdU, §51, S. 422.

47

einen radikalen Einwand gegen die Redekunst. Ein ernstes ‚Geschäft‘ als

leichtfertiges Spiel anzusehen widerspreche jeder Sittlichkeit. Rhetorik ist für

Kant ein Zeichen des Verfalls und nichts läge ihm ferner, als die griechische

Antike insgesamt als ein Zeitalter der Rhetorik zu charakterisieren. Nietzsches

überraschende Wendung der Kant’schen Kritik besteht daher darin, in diesem

Zusammenhang zu behaupten, dass gerade mit Kants Bestimmung der Rhetorik

„das Spezifische des hellenischen Lebens charakterisirt“ sei, nämlich „alle

Geschäfte des Verstandes, des Lebensernstes, der Noth, selbst der Gefahr noch als

Spiel aufzufassen“.162 Die Leichtigkeit des ästhetischen Spiels wird bei Nietzsche

damit, anders als bei Kant, zum Kennzeichen für das Lebensgefühl des antiken

Menschen.

Damit zeichnet Nietzsche ein Bild des antiken Griechenland, in welchem die

Rhetorik ins Positive gewendet und in den Rang eines ästhetischen Bildungsideals

erhoben wird. Denn weder die kontemplative Ernsthaftigkeit philosophischer

Wahrheitssuche noch eine naive Kunsttätigkeit sei für den Menschen der

griechischen Antike charakteristisch, sondern ein spielerisches Verhältnis zur

Welt. Die institutionalisierte Form des ästhetischen Spiels mit der Sprache – die

Rhetorik – gebe zugleich den Maßstab der höchsten Form von Bildung für den

freien Bürger der griechischen Polis vor.163

Diese für Nietzsches Verständnis der griechischen Antike zentrale Hypothese,

dass die Kommunikationsprozesse in der griechischen Polis gemeinhin als ein

ästhetisches Spiel aufgefasst wurden, überschattet dabei auch die politisch

konnotierten Aspekte der Rhetorik. Auch die persuasive Kraft der Rede wird in

Nietzsches Rhetorikauffassung als Teil des ästhetischen Spiels begriffen, und zwar

sowohl in systematischer als auch in historischer Hinsicht. So wird in der

Vorlesung über die Geschichte der griechischen Beredsamkeit zwar betont, dass

erst mit der Entstehung der Demokratie die „ganze excessive Schätzung der Rede“

als das „größte Machtmittel inter pares“164 beginne. Dies sei jedoch das Ergebnis

einer kulturhistorischen Entwicklung, die lange vor der Entstehung der

Demokratie bereits zur ‚naturgemäßen Beredsamkeit‘ in den Epen Homers geführt

habe und aus einer besonderen Veranlagung der griechischen Sprache zur

162 Nietzsche KGW, Abt. 2, Bd. 4, S. 416. 163 Vgl. ebd. 164 Ebd., S. 369.

48

gesprochenen Rede resultiere.165 Während die politische Beredsamkeit der

attischen Demokratie bereits eine fortgeschrittene und funktional spezifizierte

kulturelle Praktik darstelle, sei die Sprache Homers noch direkter Ausfluss einer

spezifisch hellenischen Veranlagung zur ästhetischen Gestaltung des

gesprochenen Wortes. Das Reden in der Volksversammlung und vor Gericht steht

für Nietzsche noch ganz im historischen Schatten Homers.

Durch diese Einschätzung wird das Ästhetische gegenüber den politischen

Funktionen von Rhetorik und Beredsamkeit historisch und systematisch

priorisiert. Anders als in konsenstheoretischen und persuasorischen

Rhetorikkonzeptionen, die im forensischen Akt des Überzeugens und Überredens

die Hauptfunktion der Redekunst sehen,166 sieht Nietzsche mit der Idee des

ästhetischen Spiels eher Formen der sublimen Sprachinszenierung als wesentlich

an. Nicht den anderen zu überzeugen stehe im Zentrum und am Ursprung der

griechischen Beredsamkeit, sondern im rhetorischen Spiel mit der Sprache zu

glänzen. Der Redner habe zunächst die Virtuosität seiner sprachlichen

Kunstfertigkeit im Auge und nicht die politische oder manipulative Funktion

seiner Rede.167

Für einen Leser, dessen Griechenlandbild von der deutschen Klassik geprägt ist,

muss eine solche Charakterisierung – wie schon die Lektüre der Geburt der

Tragödie – befremdend wirken: die griechische Antike erscheint hier nicht als die

historische Urstätte naiver Kunst und humanistischer Philosophie, sondern als der

historische Ort einer in Vergessenheit geratenen Lebensweise, in der die

Erscheinungsformen der Vernunft sich im Begriff des freien ästhetischen Spiels

auflösen und aufhören, selbstevidente Autoritäten zu sein.168 Nietzsche bedient

sich bei der Herleitung dieses Gegenbilds eines intertextuellen Zugriffs auf die

165 Vgl. ebd., S. 368. 166 Vgl. Kopperschmidt, Josef: Zur Anthropologie des forensischen Menschen oder: Wo der

„homo rhetoricus“ entdeckt wurde. In: Ders. 2000, S. 205-243, hier S. 208 ff. 167 In diesem Punkt sieht Nietzsche zugleich einen Unterschied zwischen der griechischen und der

römischen Rhetorik. Bei letzterer werde, anders als bei den Griechen, die Kraft der Persönlichkeit des Redners in den Vordergrund gestellt. Schopenhauers Charakterisierung der Rhetorik als die „Fähigkeit, unsere Ansicht einer Sache oder unsere Gesinnung hinsichtlich derselben, auch in anderen zu erregen“ (Schopenhauer, Arthur: Werke in fünf Bänden. Nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. v. Ludger Lüttkehaus. Zürich 1999, Bd. 2, S. 138) treffe eher auf die römische als auf die griechische Antike zu.

168 In den achtziger Jahren formuliert Nietzsche: „Winckelmanns und Goethes Griechen […] – irgend wann wird man die ganze Komödie entdecken: es war Alles über alle Maaßen historisch falsch, aber — modern, wahr!“ (KSA, Bd. 13, S. 140).

49

Rezeption der antiken Rhetorik im philosophischen Diskurs, die der gängigen

Auffassung von Rhetorik nicht einfach eine antithetische Alternative

entgegensetzt, sondern die bestehende ‚umwertet‘.

Es wird von Nietzsche nachdrücklich bestätigt, dass Kant mit seinem Urteil über

die Rhetorik sachlich gesehen recht habe. Allerdings zieht das für ihn keine

negative Wertung im Kant’schen Sinne nach sich. Zwar aktualisiert Nietzsche in

seinem eigenen Text den Herrschaftsdiskurs, der die Rhetorik gegenüber der

Philosophie abwertet; dieser wird aber nicht affirmativ reproduziert, sondern in

der Reproduktion gegen sich selbst gewendet. Nietzsche stimmt Kants

Einschätzung der Rhetorik zu, versteht diese aber nicht pejorativ, sondern leitet

aus ihr das höchste Bildungsideal der griechischen Polis her.

Damit liegt eine intertextuelle Referenz vor, die sich nicht eindimensional auf den

Kant’schen Prätext bezieht, sondern seinen normativen Kontext ins Gegenteil

wendet. Der von Ulrich Broich und Manfred Pfister entwickelten Terminologie

der Intertextualität folgend, kann man von einer Referenz sprechen, die sich durch

ein signifikant hohes Maß an Dialogizität auszeichnet.169 Fasst man Kant dabei als

einen modernen Hauptrepräsentanten des philosophischen Herrschaftsdiskurses

auf, lässt sich an diesem Aspekt von Nietzsches Rhetorikvorlesung eine

Schreibstrategie ablesen, die für seine Kritik an der metaphysischen Tradition

typisch ist. Nietzsche greift die Metaphysik nicht von außen an, sondern

argumentiert – wenn auch paradox und radikal – im Rahmen einer immanenten

Kritik.170

So ist auch die in der Nietzsche-Forschung häufig thematisierte Anknüpfung

seiner Rhetorik- und Sprachauffassung an die romantische Sprachphilosophie171

nur oberflächlich betrachtet eine eindimensionale Fortsetzung. Für Nietzsches

Denken sind letztlich nicht die Kontinuitäten der ein oder anderen Denkfigur

entscheidend, sondern die Stellen, an denen mit alten Denkweisen gebrochen wird.

169 Zum Begriff der Dialogizität in der Intertextualitätstheorie sowie seiner Herkunft in der

Philosophie Michail Bachtins vgl. Broich, Ulrich / Pfister, Manfred (Hrsg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985, S. 1 ff sowie S. 29.

170 Vgl. Žunjić, Slobodan: Begrifflichkeit und Metapher. Einige Bemerkungen zu Nietzsches Kritik der philosophischen Sprache. In: Nietzsche-Studien 16 (1987), S. 149-163.

171 Vgl. etwa Behler 2001; Lacoue-Labarthe 2003, S. 131 f; Kopperschmidt 1994, S. 40.

50

2. Nietzsches Überwindung der Frühromantik

Die Betonung des Ästhetischen der Rhetorik geht bei Nietzsche eng mit

erkenntnistheoretischen Zugriffen auf die Bildlichkeit von Sprache einher. Diese

markieren im Vergleich zur Frühromantik, der Nietzsche wichtige Impulse für

seine kunsttheoretischen Auffassungen verdankt,172 einen Wechsel der

Frageperspektive. Im Zuge der durch die Beschäftigung mit der Rhetorik

aufgeworfenen Frage, welche Konsequenzen aus der grundsätzlichen Rhetorizität

der Sprache zu ziehen seien, entfernt er sich, wie im folgenden zu zeigen sein

wird, deutlich von den ontologischen Sprachursprungsmodellen der

frühromantischen Schule.

In der Darstellung der antiken Rhetorik greift Nietzsche in einem gesonderten

Abschnitt die Frage auf, wie das Verhältniß des Rhetorischen zur Sprache

beschaffen sei.173 Gleich zu Beginn dieses Abschnitts kommt er auf den Gegensatz

von natürlicher und rhetorischer Sprache zu sprechen. Im Zuge der Argumentation

wird dieser Gegensatz radikal aufgelöst. Was als eigentliche Rede erscheint, sei im

Grunde immer rhetorisch: „Eigentlich ist alles Figuration, was man gemeinhin

Rede nennt.“174 Am Ursprung jeder Sprache sei Rhetorik am Werk, weil es eine

Form der natürlichen Referenz auf Welt schlichtweg nicht gebe. Die Rhetorik

wird damit zum verlängerten Arm einer grundlegenden Rhetorizität der Sprache:

Es ist aber nicht schwer zu beweisen, dass was man als Mittel bewusster Kunst ‚rhetorisch‘ nennt, als Mittel unbewusster Kunst in der Sprache und deren Werden thätig waren, ja, dass die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische ‚Natürlichkeit‘ der Sprache, an die man appellieren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten.175

Die Verortung der ‚Kunstmittel‘ in den Tiefenschichten von Sprache und

Bewusstsein ist zugleich eine Erweiterung des Bedeutungsfeldes von Rhetorik.

Das was als ästhetischer und persuasiv wirkender Sprachgebrauch an der

Oberfläche des Diskurses erscheint, ist bereits das Produkt einer Kette von

unbewussten rhetorischen Operationen. Es gibt für Nietzsche damit keine

172 Vgl. Hennemann-Barale, Ingrid: Subjektivität als Abgrund. Bemerkungen über Nietzsches

Beziehung zu den frühromantischen Kunsttheorien. In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 158-181, hier S. 158 ff.

173 Vgl. Nietzsche KGW, Abt. 2, Bd. 4, S. 425 ff. 174 Ebd., S. 427. 175 Ebd., S. 425.

51

natürliche Form der Referenz, die der rhetorischen vorausginge. Die Funktion von

Sprache besteht aus seiner Sicht nicht in der Übertragung von Wissen, sondern in

der Übertragung von perspektivischen Annahmen. Daher existiert kein

‚unrhetorischer‘ Sprachgebrauch: „Die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine

δόζα, keine επιστήμη übertragen.“176

Auch in der Frühromantik war die Ansicht verbreitet, dass die Sprache

ursprünglich rhetorisch sei. Allerdings wurde dieser Gedanke bei A.W. Schlegel,

Jean Paul und anderen unmittelbar von Reflexionen über den Ursprung der

Sprache als einer ‚ursprünglichen‘ Metaphorik gefolgt.177 Auch Gustav Gerbers

1871 veröffentlichter Entwurf einer rhetorischen Philosophie, die in der Sprache

und den rhetorischen Formen eine transzendentale Bedingung der Möglichkeit von

Erkenntnis sieht, geht diesem Gedanken nach und schließt an die romantische

Sprachphilosophie an.178 Der Umstand, dass Nietzsche in seiner

Rhetorikvorlesung teilweise wörtlich aus Gerbers Die Sprache als Kunst zitiert,

hat in der Nietzsche-Forschung daher häufig die These gestützt, dass Nietzsche

mit Gerber an die frühromantische Sprachphilosophie anknüpfe.179

Was Nietzsche Gerber zu verdanken hat ist ohne Zweifel der Hinweis darauf, dass

die Differenz zwischen ‚verbum proprium‘ und tropischem Ausdruck bereits bei

Quintilian kritisch reflektiert wird. Was als natürliche oder rhetorische Sprache

gilt hänge einerseits von der Etymologie der jeweiligen Sprache ab, andererseits

aber auch von den Konventionen innerhalb einer Sprachgemeinschaft.180 Wie

Anselm Haverkamp betont, hatte Gerber

seine Entdeckung allerdings gleich in Spekulationen über eine ursprüngliche ‚Bildlichkeit’ der Sprache überführt, die in der Rhetorik Quintilians keinen Anhalt haben kann und denen Nietzsche, ganz entgegen dem Anschein, den er erweckt hat, nicht folgt.181

Mit dem Gedanken ursprünglicher Rhetorizität ist sowohl in der Frühromantik als

auch bei Gerber die Vorstellung einer authentischen Metaphorik der

176 Ebd., S. 426 [Herv. i. Orig.]. 177 Vgl. Bär 1999, S. 170 ff. 178 Vgl. Meijers 1988, S. 372 ff. 179 Vgl. Most, Glenn / Fries, Thomas: <«>: Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung. In:

Kopperschmidt / Schanze 1994, S. 17-38. 180 Gerber 1885, Bd. 2, S. 9 ff. 181 Haverkamp, Anselm: Figura Cryptica. Theorie der literarischen Latenz. Frankfurt a.M. 2002, S.

31.

52

unverfälschten ‚Urpoesie‘ verbunden.182 Damit wird das Rhetorische letztlich als

eine Form der Authentizität konzipiert, wodurch die Unterscheidung zwischen

einer ursprünglichen ‚reinen‘ Figuralität und der gewissermaßen verunreinigenden

Schulrhetorik möglich wird. Genau diese Authentizität aber wird in Über

Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne in Frage gestellt. Nietzsche fragt

nicht nach der Beschaffenheit einer ursprünglichen und ‚wahren‘ Metaphorik,

sondern nach dem Begriff der Wahrheit selbst:

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.183

Indem Nietzsche die Wahrheit als eine Summe ‚menschlicher Relationen’ und die

Sprache als ein „Resultat von lauter rhetorischen Künsten“184 begreift, löst er sich

von der romantischen Vorstellung einer ‚Urpoesie der Menschheit‘. In seiner

Konzeption ist es nicht mehr die Einheit von Sprache, Ich und Welt, von der aus

der Ursprung gedacht wird, sondern der Akt der Übertragung selbst. Die Relation

der tropischen Figur ist eine Bewegung, die der Existenz einer eigentlichen

Bedeutung immer vorausgeht. Damit wird die Idee einer Einheit von Sprache, Ich

und Welt zu einer Illusion, deren Geltung sich aus dem Umstand speist, nicht

mehr als Illusion gehandelt zu werden. Ähnlich wie die vom Fetischcharakter

durchwachsene Ware bei Marx ist bei Nietzsche die Wahrheit ein

gesellschaftliches Produkt, das vom Menschen als etwas naturgegebenes und ihm

enthobenes begriffen wird.185 Die vermeintliche Authentizität der philosophischen

Sprache liegt im Vergessen der Rhetorizität ihrer Grundbegriffe begründet.

182 Gleich zu Beginn des Kapitels Vom Ursprung und vom Wesen der Sprache macht Gerber

seinen Standpunkt hinsichtlich des romantischen Ursprungsdenkens klar: „Die Sprache entstand zuerst, als die erste Wurzel, Werk der schöpferischen Kunst des Menschen, [die] den ersten zum Aussprechen reif gewordenen Seelenakt darstellte; – aber sie entsteht noch immer, und dieses Entstehen ist zu begreifen, wenn ihr Wesen verstanden werden soll.“ (Gerber, Gustav: Die Sprache als Kunst, Bd. 1, S. 118).

183 Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 880 f. 184 Nietzsche KGW, Abt. 2, Bd. 4, S. 425. 185 Vgl. Marx, Karl / Engels, Friedrich: Werke [MEW]. 43 Bde. Berlin 1960 ff, Bd. 23, S. 85 ff.

53

Was Nietzsche dabei aber von Marx ebenso wie von der Frühromantik

unterscheidet ist seine dezidierte Ablehnung jeglicher Geschichtsteleologie.186

Während die Frühromantik die Einsicht in die rhetorische Struktur der Sprache

teleologisch gleich wieder einfängt, führt Nietzsche den Gedanken der Rhetorizität

in die ihm gebührende Paradoxie: während in der Frühromantik der metaphorische

Ursprung der Sprache letztlich aus einem Begriff der Authentizität heraus gedacht

wird, kehrt sich dieses Verhältnis bei Nietzsche um. Das Rhetorische ist als eine

Form der Verstellung die Basis, ohne die sich ein Gedankengebäude, in dem die

Begriffe der Natürlichkeit und Authentizität im Zentrum stehen, überhaupt nicht

errichten lässt. Das bewegliche ‚Heer von Metaphern‘ wird zur ‚eigentlichen‘

Grundlage der philosophischen Sprache.187

Der durch die bellizistische Metaphorik hergestellte Bezug zum Kampf verweist

dabei zugleich auf die strategische Bedeutung, die das Reden über Wahrheit in

politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen besitzt. Hinter dem Schein der

Dinge sind gesellschaftliche Beziehungen am Werk, die sich im Reden über

Wahrheit manifestieren und, sofern ihr Geltungsanspruch erfüllt wird, stabilisiert

werden. Es kann aus dieser Sicht keinen Geltungsanspruch geben, der nicht

hinterfragt und auf die ihm zu Grunde liegenden ‚menschlichen Relationen‘ hin

geprüft werden könnte. Mit dieser Form der Erkenntniskritik wird das gesamte

Gebäude menschlicher Denksysteme, politischer Machtbeziehungen und sozialer

Konflikte in ihrer wechselseitigen Verflechtung sichtbar und hinterfragbar.188

Indem Nietzsche in diesem Zusammenhang nach der Wahrheit fragt, verlässt er

das Terrain ontologischer Fragestellungen, um sich der gesellschaftlichen

Funktion von Wahrheit zuzuwenden. Nicht was die Wahrheit ist steht fortan im

Vordergrund, sondern die Frage danach, wie es angesichts der fundamentalen

186 Bereits 1873 formuliert Nietzsche in Auseinandersetzung mit Karl Robert Eduard von

Hartmanns Kritik an Hegels Geschichtsmetaphysik: „Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern in den höchsten Exemplaren, die, zerstreut durch Jahrtausende, zusammen alle höchsten Kräfte, die in der Menschheit verborgen sind, repräsentiren“ (KSA 7, S. 649), oder radikaler formuliert: „Wir vermögen aber Anfang und Ende nicht zu denken: so lassen wir doch diese ‚Entwicklung‘ auf sich beruhen! Es ist sofort lächerlich! Der Mensch und der ‚Weltprozess‘! Der Erdfloh und der Weltgeist!“ (ebd., S. 650).

187 Vgl. Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 880. 188 Dieses Projekt versuchte im 20. Jahrhundert Michel Foucault umzusetzen. Zur Bedeutung

Nietzsches für das Werk Foucaults vgl. Geisenhanslüke, Achim: Foucault und die Literatur. Eine diskurskritische Untersuchung. Opladen 1997, S. 170 ff.

54

Rhetorizität der Sprache überhaupt zur Idee der Wahrheit kommen kann, wo doch

die Hauptfunktion des Intellekts in der Verstellung liege.189

Ungeachtet der Fragen, die ein solches Denken für die Analyse von Gesellschaften

aufwirft,190 bleibt hier zu betonen, dass die Natürlichkeit der Sprache für

Nietzsche keine ontologische Referenz darstellt, sondern eine rhetorische Form

unter anderen, eine Illusion. Die Konventionalisierung von Ausdrücken zum

Zwecke von Problemlösungen innerhalb der Sprachgemeinschaft würde vielleicht

auch ohne diese Illusion funktionieren. In jedem Fall wird das Rhetorische aber

nicht als eine Abweichung von Natürlichkeit aufgefasst, sondern als die

Bedingung, um von Natürlichkeit überhaupt reden zu können.

Diese Gedankenfigur taucht in Nietzsches Texten an verschiedenen Stellen immer

wieder auf, so etwa im ersten Buch von Menschliches, Allzumenschliches, wo es

über die Vernunft unter der Überschrift Aus der Erfahrung heißt: „Die Unvernunft

einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung

derselben.“191 Die Unvernunft, die Lüge, das Rhetorische, jene Antithesen zur

metaphysischen Tradition, werden bei Nietzsche zum Untergrund, auf dem die

Rede von Authentizität, Wahrheit, Vernunft – ja sogar Dasein – heimlich basiert.

Zugleich ist aber die Sprache, die zur Verfügung steht, um diesen Zusammenhang

zu formulieren, selbst von metaphysischen Begriffen durchwachsen. Das Paradoxe

an der Rhetorizität der Sprache ist deshalb der Umstand, dass auch der Akt des

Aufdeckens ein Teil des rhetorischen Spiels mit den Zeichen ist. Nietzsches Kritik

an der Metaphysik des christlichen Abendlands fällt selbst auch in den

Gegenstandsbereich eben dieser Kritik. Alle Versuche, die Rhetorizität zu

überwinden, führen nur zu neuen Sprachbildern und haben langfristig keine

Aussicht auf Erfolg, denn die Rhetorik ist für Nietzsche kein Modus der Sprache,

der unter anderen möglich ist, sondern der einzige und ‚ursprüngliche‘ Modus, aus

dem sich die Sprache selbst herleitet.192 Auch die Formulierung dieses

Zusammenhangs geschieht im Modus des Rhetorischen. Indem Nietzsche davon

spricht, dass die Sprache genuin rhetorisch sei, bewegt er sich deshalb nicht

189 Vgl. Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 876. 190 Nietzsche sieht die Ursachen des ihm rätselhaften ‚Wahrheitstriebs‘ in Formen der

massenhaften Vergesellschaftung begründet, die ein Resultat aus „Noth und Langeweile“ seien. Vgl. Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 877.

191 Nietzsche KSA, Bd. 2, S. 323. 192 Vgl. de Man 1988, S. 148.

55

außerhalb der Rhetorik, sondern ersetzt lediglich eine Metaphorik durch eine

andere.

Da dieser Prozess der fortschreitenden Ent- und Remetaphorisierung niemals an

ein Ende gelangen kann, setzt die unhintergehbare Rhetorizität eine unendliche

Reflexionsbewegung in Gang. Dieser Gedanke taucht bereits in der Frühromantik

auf. Die Frühromantik konzipiert jedoch den Anfang und das Ende dieser

Bewegung begrifflich vor dem Hintergrund eines Einheitsdenkens, wonach

Sprache, Ich und Welt ursprünglich vereint seien und in der utopischen

Vorstellung eines neuen ‚goldenen Zeitalters‘ eine Synthese auf höherem

Reflexionsniveau eingehen.193 Indem die Frühromantiker den Begriff der Utopie

dabei als ein prinzipiell unerreichbares Ziel der Geschichte konzipieren, speist

sich die Dynamik der unendlichen Reflexionsbewegung aus der Spannung

zwischen mythischer Urzeit und utopischem Endpunkt im Rahmen eines

geschichtsmetaphysischen Modells. Bei Nietzsche spielen diese beiden Pole

allerdings keine Rolle mehr. Am ehesten erinnert noch seine Entgegensetzung von

dionysischem und apollinischem Kunstwerk in der Geburt der Tragödie an die

romantische Schule,194 insbesondere an Friedrich Schlegel, der an einer häufig

zitierten Stelle ebenfalls die Begriffe ‚apollinisch‘ und ‚dionysisch‘ benutzt.195 Die

Dynamik der unendlichen Reflexionsbewegung leitet Nietzsche seit seiner

Rhetorikvorlesung jedoch nicht aus einem begrifflichen Gegensatz her, sondern

aus der paradoxen Struktur der Sprache, auf die er durch die Auseinandersetzung

mit der antiken Rhetorik aufmerksam geworden ist. Während also die

Frühromantik im Hinblick auf die Herkunft der ‚unendlichen Reflexion‘ eine

letztlich noch transzendentalphilosophische Position vertritt, entwickelt Nietzsche

eine Position der Immanenz. Diese tritt im Zuge der Entwicklung seines Werks in

immer schärfere Opposition zur metaphysischen Tradition und endet in der

radikalen Erkenntniskritik seiner Spätphase. Die Romantik, die Nietzsche in den

193 Vgl. Mähl, Hans-Joachim: Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis. Studien zur

Wesensbestimmung der frühromantischen Utopie und ihren ideengeschichtlichen Voraussetzungen. Heidelberg 1965, S. 232 ff.

194 Vgl. Behler, Ernst: Nietzsche und die frühromantische Schule. In: Nietzsche-Studien 7 (1978), S. 59-76 sowie Hennemann Barale, Ingrid: Subjektivität als Abgrund. Bemerkungen über Nietzsches Beziehung zu den frühromantischen Kunsttheorien. In: Nietzsche-Studien 18 (1989), S. 158-181.

195 „Im Gemüte des Sophokles war die göttliche Trunkenheit des Dionysos, die tiefe Erfindsamkeit der Athene, und die leise Besonnenheit des Apollo gleichmäßig verschmolzen.“ (F. Schlegel KA, 1. Abt., Bd. 1, S. 298).

56

achtziger Jahren aggressiv anfeindet,196 hatte er aber bereits zu seiner Baseler Zeit

überwunden.197

Die paradoxen Denkbewegungen Nietzsches, die sich zum Spätwerk hin

radikalisieren, kündigen sich bereits im Zusammenhang mit seiner 1872

getroffenen Feststellung an, dass die Rhetorik, deren ästhetische Qualitäten er in

den Texten der deutschen Gelehrten vermisst,198 die verborgene Grundlage der

metaphysischen Tradition des philosophischen Denkens sei. Indem er diese

Einsicht letztlich auch auf sein eigenes Schreiben bezieht, entfernt sich sein Text

mehr und mehr von den Gattungsmerkmalen der Philosophie und nimmt – am

deutlichsten und konsequentesten in Also sprach Zarathustra – literarische Züge

an.

3. Konsequenzen für das Verhältnis von Literatur und Philosophie

Die Auflösung des Unterschieds von natürlicher Referenz und rhetorischer Kunst

führt in Nietzsches Denken dazu, dass zwischen Wahrheit als der fetischisierten

Metaphorik einer prinzipiell nicht erkennbaren Wirklichkeit und dem rhetorischen

Schein ästhetischer Weltauslegung nicht mehr substantiell unterschieden werden

kann. Jedes Denken ist für Nietzsche bereits Interpretation199 und sowohl die

Sprachspiele der Rhetorik als auch die ‚Wahrheitsspiele‘ der Philosophie bestehen

aus interpretatorischen Versuchen, mit Sprache der Welt und der menschlichen

Handlungsmöglichkeiten Herr zu werden.

Durch diese Relativierung wird auch die Unterscheidung zwischen Literatur und

Philosophie brüchig. Aus traditioneller Sicht erfüllt die Sprache der Philosophie

ihre Funktion im Rahmen einer Suche nach Wahrheiten, während sich die Sprache

der Literatur durch rhetorische Formen und fiktionale Überhöhungen des

Wirklichen auszeichnet, also durch ästhetisierte Illusionen. Da für Nietzsche nun

letztere die Bedingungen dafür sind, von Wahrheit sprechen zu können, kann die

Literatur nicht mehr als subalterne Textgattung gegenüber der nach letzten

Wahrheiten strebenden Philosophie angesehen werden. Zwischen Literatur und

Philosophie besteht kein substantieller Unterschied mehr, denn die

196 Vgl. Nietzsche KSA, Bd. 12, S. 454. 197 Der Vergleich mit den sprachtheoretischen Positionen Hamanns und Herders ergibt ähnliche

Differenzen. Vgl. dazu Müller-Richter/Larcati 1996, S. 228 f. 198 Vgl. Goth 1970, S. 12 ff. 199 Vgl. Abel 1987, S. 115 f.

57

Unterscheidung zwischen wahrhaftigem und scheinhaftigem Sprachgebrauch kann

nun nicht mehr durch verschiedene Qualitäten ontologischer Referenz begründet

werden, sondern nur noch sprachimmanent, als die konventionalisierte Regelung

eines rhetorischen Sprachspiels.

Eben diese Regelung kann aber bestimmte Funktionen erfüllen und diese beziehen

sich auf die Art und Weise, wie sich eine Textproduktion zu der Rhetorizität der

Sprache verhält. Zwei Grundalternativen stehen zur Verfügung: die Tendenz, die

Rhetorizität zu verschleiern und die Tendenz zur offenen Prozedur des

rhetorischen Spiels.

Das authentische Reden muss im Moment seines Erscheinens verdecken, dass es

‚eigentlich‘ rhetorisch ist, da es ansonsten nicht als authentisch begriffen werden

kann.200 Die letztbegründete Wahrheit tritt – aus Unwissenheit, Schwäche oder

strategischen Gründen – immer unter dem Deckmantel einer Ursprünglichkeit auf,

die sich als nicht-rhetorisch ausgibt und damit ihre eigene Rhetorizität im selben

Moment umsetzt und verneint. Die Literatur muss hingegen immer als etwas

scheinhaftes gelesen werden, da sie sonst nicht als Literatur erkannt wird. Das

Verhältnis von Lüge und Wahrheit spiegelt damit zwar auch in seiner Umkehrung

noch das Verhältnis von Literatur und Philosophie wieder, allerdings in einer

paradoxen Weise: die Lüge ist nun zum einen nicht mehr die Abweichung von

einer der Sprache gegenüber präexistenten Wahrheit, sondern die Bedingung der

Wahrheit. Damit besitzt die Literatur zum anderen aber gerade auf Grund ihrer

offenen Scheinhaftigkeit die Eigenschaft der Aufrichtigkeit und die Wahrheit –

wegen des Schleiers, den sie über die Rhetorizität legt – die der Verstellung.

Philosophie und Literatur sind also immer Lüge und Verstellung zugleich, aber

unter entgegengesetzten Vorzeichen. Während die Funktion der ‚authentischen‘

Sprache der Philosophie in der Verschleierung der Rhetorizität besteht, ist die

rhetorische und literarische Sprache der ‚offene Vollzug‘ eben dieser Rhetorizität.

In der Entwicklung von Nietzsches Werk stellt diese paradoxe Umkehrung des

Verhältnisses von ästhetischen und wissenschaftlichen Textgattungen einen Bruch

mit dem zum Teil noch dialektisch geprägten Denken der Geburt der Tragödie

200 Vgl. Derrida, Jacques: Die weisse Mythologie. Die Metapher im philosophischen Text. In:

Ders.: Randgänge der Philosophie. Hrsg. v. Peter Engelmann. Wien 1999, S. 229-290 und 393-409, hier S. 232.

58

dar.201 Wie Josef Kopperschmidt darlegt, wechseln in der Phase nach der Geburt

der Tragödie die grundlegenden Binäroppositionen, mit denen Nietzsche sein

Schreiben organisiert:

Nicht mehr Dionysos/Apollo, Musik/Sprache, (tragische) Wahrheit/(schöner) Schein stützen als basale Begriffspaare die Reflexion ab, sondern wahrhaftiger/trügerischer Schein, ehrliche/unehrliche Lüge, schädliche/unschädliche Täuschung, gute/schlechte Illusion, bewußte/unbewußte Kunsttätigkeit der Sprache, vergessene/reflexiv eingeholte Metaphorizität u.a.m.202

Schein, Täuschung, Illusion, Metaphorizität – all diese dem semantischen Umfeld

von ‚Rhetorik‘ entnommenen Begriffe stellen nun nicht mehr eine Alternative zu

einer ebenso formulierbaren Wahrhaftigkeit dar, sondern werden zu

unumgehbaren Fundamenten der Sprache. Indem Nietzsche dabei die

grundlegende ‚Metaphorizität‘ seines eigenen Textes mitreflektiert, enttarnt er die

Rhetorizität der philosophischen Sprache, begeht aber nicht den gedanklichen

Kurzschluss, diese Enttarnung als einen der Rhetorizität entzogenen Akt der

Wahrheitsfindung zu interpretieren.203 Nietzsches Position ist in diesem Punkt von

einer unhintergehbaren Zweideutigkeit geprägt. Dadurch wird sein Text zu einer

Kritik an der philosophischen Sprache, die sich nicht außerhalb der an der

Philosophie kritisierten Metaphorik zu bewegen versucht, sondern von innen

heraus ihre Brüchigkeit demonstriert.

Im Anschluss an diese Überlegungen lässt sich die Frage stellen, wie sich mit

Nietzsche trotz dieser ontologischen Indifferenz von rhetorischer und

philosophischer Sprache eine funktionale Unterscheidung zwischen den historisch

entstandenen Diskursformen Literatur und Philosophie formulieren lässt. In Ueber

Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne finden sich Ansätze

literaturtheoretischer Folgerungen aus dem Verhältnis von rhetorischer und

‚natürlicher‘ bzw. philosophischer Sprache, die eine funktionale Unterscheidung

von Literatur und Philosophie ermöglichen. Sein späteres Konzept des ‚Willens

201 In Ecce Homo bezeichnet Nietzsche die Geburt der Tragödie als geradezu ‚anstössig

Hegelisch’: „Eine ‚Idee‘ – der Gegensatz dionysisch und apollinisch – ins Metaphysische übersetzt; die Geschichte selbst als die Entwicklung dieser ‚Idee‘ in der Tragödie dieser Gegensatz zur Einheit aufgehoben; unter dieser Optik Dinge, die noch nie einander ins Gesicht gesehn hatten, plötzlich gegenüber gestellt, aus einander beleuchtet und begr iffen…“ (KSA, Bd. 6, S. 310).

202 Vgl. Kopperschmidt 1994, S. 40. 203 Vgl. de Man 1988, S. 154 ff.

59

zur Macht‘ vorwegnehmend, konzipiert Nietzsche den Mythos und die Kunst hier

als Bereiche eines von der Wissenschaft ungebändigten Wirkens jener

sprachimmanenten Kraft, die auch die Grundbegriffe der Philosophie

hervorbringt:

Jener Trieb zur Metaphernbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, ist dadurch, dass aus seinen verflüchtigten Erzeugnissen, den Begriffen, eine reguläre und starre neue Welt als eine Zwingburg für ihn gebaut wird, in Wahrheit nicht bezwungen und kaum gebändigt. Er sucht sich ein neues Bereich seines Wirkens und ein anderes Flussbette und findet es im Mythus und überhaupt in der Kunst.204

Indem Philosophie und Wissenschaft die Rhetorizität der Sprache verneinen,

bändigen sie den ‚Trieb zur Metaphernbildung‘ und erzeugen, wenn auch

ungewollt, einen neuen Diskurstypus, in dessen Rahmen dieser Trieb noch

ungehindert fortwirken kann. Dieser wird von Nietzsche hier als der Bereich des

Mythos und der Kunst bezeichnet. In den Notizen aus der Entstehungszeit dieser

These wird der Bezug zur Literaturtheorie noch deutlicher: „Nun ist aber das

Seltenere und Ungewöhnliche das Reizvollere – die Lüge wird als Reiz

empfunden. Poesie.“205 Mit anderen Worten ist die Literatur die Fortsetzung des

‚Triebs zur Metaphernbildung‘ in einem wissenschaftsexternen Bereich.

Allerdings führt die Dominanz der Philosophie gegenüber der Literatur dazu, dass

die Bejahung der Rhetorizität in der Literatur als eine Abweichung von evidenten

Faktizitäten erscheint. Die Literatur ist nicht das Leben, sondern, wie der ‚Trieb

zur Metaphernbildung‘, eine Abweichung vom ‚Trieb zur Wahrheit‘.

204 Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 887. Hier kann eingewendet werden, dass die Konzeption des ‚Triebs

zur Metaphernbildung‘ als Selbsterhaltungstrieb des Menschen Nietzsche als einen letztlich noch ontologischen Denker offenbart. Dies würde jedoch voraussetzen, dass Nietzsche die Widersprüchlichkeit, die er sich damit angesichts der im selben Text behaupteten unhintergehbaren Rhetorizität der Sprache einhandelt, nicht erkannt hat. Während er einige Absätze zuvor erklärt, dass die Wahrheit ein ‚Heer von Metaphern‘ sei, heißt es in dieser Passage, dass der Trieb zur Metaphernbildung im starren Begriffsgebäude der Wissenschaft‚ in Wahrheit‘ nicht bezwungen sei. Dieser offene Widerspruch rührt an dieser Stelle nicht aus einer argumentativen Inkonsistenz her, sondern aus einer Konsequenz: Weil der Trieb zur Metaphernbildung eben ‚nicht wegzurechnen‘ ist, zählt auch der ‚Mensch‘ selbst streng genommen noch zu jenen Metaphern, mit denen die Welt interpretatorisch konzipiert wird. Es ist angesichts der Offenheit, mit der Nietzsche in seinem Spätwerk Paradoxien formuliert unwahrscheinlich, dass er diesen paradoxen Zusammenhang hier nicht mitreflektiert. Daher muss der ‚Trieb zur Metaphernbildung’ nicht als ein ontologisches Residuum gelesen werden. Plausibler erscheint an dieser Stelle, ihn als eine bewusst zwischen Sprachimmanenz und Ontologie changierend konzipierte Dynamik aufzufassen.

205 Nietzsche KSA, Bd. 7, S. 491.

60

Während die Funktion des philosophischen Diskurses also in der Domestikation

der dynamischen Rhetorizität der Sprache besteht, ist die Funktion der Literatur

eine gespaltene. Als eine domestizierte Form der Affirmation der Rhetorizität trägt

sie einerseits zur Stabilität der von der Philosophie dominierten Unterscheidung

zwischen wahrhaftiger und scheinhafter Sprache bei. Allerdings zeigen sich in der

Literatur immer auch Tendenzen, die von der Philosophie garantierten

Gewissheiten zu subvertieren. Für Michel Foucault, dessen Denken in weiten

Teilen von Nietzsche geprägt ist,206 hat sich die Literatur „des ganzen neunzehnten

Jahrhunderts und bis in unsere Zeit – von Hölderlin zu Mallarmé, zu Antonin

Artaud“207 von dem Repräsentationsmodell der philosophischen Sprache entfernt,

indem sie eine Art ‚Gegendiskurs‘ bildete und indem sie von der repräsentativen oder bedeutenden Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zurückging, das seit dem sechzehnten Jahrhundert vergessen war.208

Die Besonderheit der Literatur als einer sich von der Philosophie abspaltenden

Bejahung der Rhetorizität besteht also darin, durch diese Bejahung auch eine Art

‚Gegendiskurs‘ zu evozieren, der sich gegen den philosophischen Diskurs richtet.

Die Literatur schafft in ihrer Bejahung der Rhetorizität die Möglichkeit, die

Unterscheidung zwischen rhetorischer und natürlicher Sprache entweder zu

affirmieren oder zu verneinen. Sie kann die Differenz zwischen Literatur und

Philosophie stabilisieren, oder einen Gegendiskurs bilden, der diese Differenz

tendenziell auflöst. Letzteres kann mit Nietzsche als ein Aufbegehren des ‚Triebs

zur Metaphernbildung‘ gegen die Unterscheidung zwischen Rhetorizität und

Authentizität gelten.

Der Versuch, das Verhältnis von Literatur und Philosophie, so wie es sich in

Nietzsches Text darstellt, funktional zu bestimmen, kann damit folgendermaßen

zusammengefasst werden: Die Funktion der Philosophie besteht in der Bändigung

des Triebs zur Metaphernbildung durch die Verneinung der Rhetorizität. Die

Funktion der Literatur besteht in der Kompensation dieser Bändigung durch eine

diskursiv abgegrenzte Bejahung der Rhetorizität, die aber die Möglichkeit eines

subversiven Gegendiskurses beinhaltet. Für Nietzsche selbst gilt hingegen, dass

die Rhetorizität fundamental und die Unterscheidung zwischen rhetorischer und

206 Vgl. Geisenhanslüke 1997, S. 170 ff. 207 Foucault 1974, S. 76. 208 Ebd.

61

philosophischer Sprache eine nur durch das Vergessen der Unhintergehbarkeit der

Rhetorizität möglich gewordene Distinktion ist. Letztlich ist der Gegendiskurs die

unhintergehbare Bedingung der Philosophie. Die Unterscheidung zwischen

rhetorisch und philosophisch löst sich bei Nietzsche daher auf, jedoch ohne dass

Philosophie und Literatur in einer dialektischen Synthese zusammenfallen.

Vielmehr bleibt bei Nietzsche eine Differenz übrig, die jeder Auflösung enthoben

ist: die Paradoxie, dass die Einsicht in die Rhetorizität selbst von der Rhetorizität

nicht ausgenommen wird. Sie offenbart die Unhintergehbarkeit der Rhetorik als

eine Differenz, die prinzipiell durch keine reflexive Anstrengung einzuholen ist,

da sie den Versuch des Einholens erst ermöglicht.

Selbst das sinnliche Wahrnehmen ist von dieser Paradoxie nicht ausgenommen.

Auch die am meisten evident scheinende Erfahrung des eigenen Körpers ist als

Akt der Interpretation bereits von jener Differenz bestimmt, die Nietzsche in

seiner frühen Phase noch mit rhetorischem Vokabular erklärt.

4. Die Figuration als Modus des Denkens und Empfindens

Der Gedanke von der Rhetorizität der Sprache wird bei Nietzsche, wie Paul de

Man gezeigt hat, epistemologisch radikalisiert.209 Das Wissen über die Welt

entsteht für Nietzsche nicht in Folge einer ontologischen Referenz, sondern ist die

metaphorische Übertragung der Absenz einer nicht erkennbaren Wirklichkeit in

das Feld der Sprache. In Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

formuliert er:

Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den ‚Ton‘ nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. Wir Glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.210

Die grundlegende Metaphorizität des Wirklichkeitsbezugs des Menschen an dieser

Stelle mit einer Analogie zu erklären, trägt der Einsicht in die Unhintergehbarkeit

der Rhetorizität Rechnung. Die Wirklichkeit ist dem Menschen verschlossen, wie

209 Vgl. de Man 1988, S. 146 ff. 210 Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 879.

62

dem Gehörlosen der Klang. Alles Reden über sie setzt lediglich den Prozess der

poetischen und rhetorischen Bearbeitung des gesellschaftlichen Erzeugnisses fort,

welches man Wahrheit nennt. Die Wirklichkeit selbst hat für den Menschen dabei

immer den Modus der Abwesenheit.

Zu dieser Wirklichkeit gehört aber auch das eigene Selbst. Mindestens ebenso

gravierend wie die prinzipielle Nicht-Erkennbarkeit der Welt ist der Umstand,

dass der Gehörlose auch seine eigene Stimme nicht zu hören vermag. Was für das

Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit gilt, gilt insbesondere auch für sein

Selbstverhältnis. Das Selbst wird damit zur Metapher eines sprachunabhängig

nicht existenten Zentrums der sinnlichen und kognitiven Erfahrung. Ähnlich wie

das aporetische Verhältnis von rhetorischer und natürlicher Sprache erscheint aber

auch die Kritik dieses Zusammenhangs bei näherem Hinsehen als ein

Widerspruch, der Teil eines Programms ist, wie Paul de Man herausstellt:

Die Lüge erhebt sich zu neuer figuraler Macht, aber sie ist immer noch eine Lüge. Indem wir als Wahrheit behaupten, daß das Selbst eine Lüge ist, sind wir der Täuschung nicht entkommen. Wir haben bloß das gewöhnliche Schema umgekehrt, das Wahrheit aus der Übereinstimmung zwischen Selbst und Anderem herleitet, indem wir gezeigt haben, daß die Fiktion einer solchen Übereinstimmung für die Illusion des Selbst vonnöten ist.211

Auch die Einsicht in die Metaphorizität des Selbstverhältnisses ist Teil jenes

metaphorischen Prozesses, der die Abwesenheit von Sein kompensiert. Das

Verhältnis des Menschen zu sich selbst ist damit in jeglicher Hinsicht abhängig

von der Sprache, in welcher der Mensch sich bewegt. Die Unterscheidung von

Subjekt und Objekt ist dabei ein Teil jener Innen/Außen-Metaphorik, die für die

Reflexion über Sprache und Denken seit der Antike prägend ist. Indem Nietzsche

diese Metaphorik in Frage stellt, bewegt er sich aber, wie Paul de Man gezeigt hat,

immer innerhalb der durch dieselbe Metaphorik vorgegebenen Grenzen. Die

Frage, ob der Eindruck einer substantiellen Basis menschlicher Erfahrung ein

trügerischer ist, oder nicht, entpuppt sich damit als prinzipiell unentscheidbar.

Die Funktion der Sprache kann aus diesen Gründen nicht darin bestehen, das

wahre Sein der Dinge und des Selbst ausfindig zu machen und dieses abzubilden.

So ist für Nietzsche nicht die Referenz auf Dinge die wesentliche Funktion der

Sprache, sondern die rhetorische Konstruktion einer Wirklichkeit, in welcher der

211 de Man 1988, S. 155.

63

Mensch sich sprachlich bewegen kann. Diese rhetorische Konstruktion betrifft

aber bereits die sinnliche Erfahrung von Ich und Welt, die Nietzsche folgerichtig

im Wirkungsbereich der Rhetorik verortet:

Das ‚Ding an Sich‘ [...] ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal ein vollständiges Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.212

Der Mangel an unmittelbarer Erfahrung von innerer und äußerer Wirklichkeit wird

dadurch kompensiert, dass der Mensch die Referenz auf diese Wirklichkeit

metaphorisch fortwährend in andere Bereiche überträgt. Die Pointe Nietzsches ist

aber die, dass diese nicht erkennbare innere und äußere Wirklichkeit keine dem

rhetorischen Prozess enthobene ontologische Sphäre darstellt, sondern im Zuge

der Metaphernbildung, als Fortsetzung unbewusster rhetorischer Operationen, erst

konzipiert wird.213 Die epistemologische Funktion der Metapher betrifft damit

auch den Bereich des sinnlichen Erkennens. Sie wird zum Grundprinzip einer

erkenntniskritischen ‚Aisthesis‘ in der sich die eminent ästhetische Dimension der

Rhetorik offenbart: „Tropen sind’s, nicht unbewußte Schlüsse, auf denen unsere

Sinneswahrnehmungen beruhn.“214

Indem für Nietzsche das Rhetorische auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung

bereits präsent ist, kann nicht mehr zwischen rhetorisch-ästhetisch überformten

Eindrücken und authentischen Erfahrungen unterschieden werden. Selbst die

sinnliche Wahrnehmung ist schon Rhetorik, ist schon Kunstgebrauch. Daher kann

auch die Frage, ob Nietzsche das Sein des Menschen mitsamt der Sprache als

Form der Leiblichkeit im Sinne Schopenhauers konzipiert,215 oder die Leiblichkeit

wegen der Unhintergehbarkeit der Rhetorik vollständig in einer Form der

212 Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 879. 213 Im Nachlass der achtziger Jahre heißt es: „Ein ‚Ding an sich‘ ist ebenso verkehrt wie ein ‚Sinn

an sich‘, eine ‚Bedeutung an sich‘. Es gibt keinen ‚Thathbestand an sich‘, sondern ein Sinn muß immer ers t h ineingelegt werden, damit es e inen Thatbestand geben könne“. (Nietzsche KSA, Bd. 12, S. 140.)

214 Nietzsche KSA, Bd. 7, S. 487. 215 So die Position von Dörpinghaus, Andreas: Der Vorrang des Leibes vor dem Geiste in der

Philosophie Schopenhauers. Spurensuche im Denken Friedrich Nietzsches. In: Maier, Thomas (Hrsg.): Das Lachen des Dionysos. Nietzsche und die literarische Moderne. Essen 2002, S. 32-58.

64

Sprachimmanenz aufgeht, letztlich nicht entschieden werden. Rhetorik ist in dieser

Allgemeinheit begriffen weder rein sprachlich noch leiblich, sondern der

Ausdruck einer fundamentalen und ontologisch ambivalenten – und gerade

deshalb nicht-ontologischen – Differenz, die sich nicht vollständig auflösen lässt.

Vor diesem Hintergrund sollen Nietzsches Ausführungen zu den tropischen

Ausdrücken im folgenden auf ihren erkenntniskritischen Gehalt befragt werden.

Die Tropen Metapher, Metonymie und Synekdoche, die in der zweiten

Rhetorikvorlesung erörtert werden, sind gemeinsam der zentrale Teil eines

impliziten Modells rhetorischer Epistemologie, das sich durch eine Lektüre der

Vorlesung vor dem Hintergrund von Nietzsches Erkenntniskritik explizieren lässt.

4.1. Metapher – Metonymie – Synekdoche

Der Begriff ‚Metapher‘ beschreibt in Nietzsches Rhetorikverständnis das Prinzip,

mit dem der Mensch die prinzipielle Unmöglichkeit kompensiert, unmittelbar

Wirklichkeit zu erfahren. So wie einem gehörlosen Menschen die Erfahrung des

Klangs vorenthalten ist, kann der Mensch als solcher nie die Wirklichkeit oder

sich selbst erfahren, sondern lediglich Kausalattributionen zwischen Akten

metaphorischer Übertragungen knüpfen. Was als Rhetorizität das Sein der Sprache

charakterisiert, gilt als Metaphorizität auch für das Verhältnis des Menschen zur

Wirklichkeit im Allgemeinen.

Die Metapher ist damit nicht länger die Abweichung von einer ‚eigentlichen‘

Bedeutung, sondern die allgemeine Form eines fundamentalen Akts der

Sinnschöpfung, der auch die sinnliche Wahrnehmung bestimmt. Bereits das

Verhältnis von neuronalen und kognitiven Aktivitäten wird von Nietzsche als

metaphorisch begriffen: „Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste

Metapher.“216 Der visuelle Eindruck eines Gegenstands ist hier bereits eine

Metapher von Nervenreizen. Als solche ist sie eine kontingente

Anschlussoperation an dem Nervensystem äußere Irritationen und nicht die

kausale Konsequenz eines wahrnehmungsphysiologischen Faktums. Die Metapher

ist bereits auf dieser Stufe der Ausdruck des ‚Triebs zur Metaphernbildung‘.

Daher zeichnet sich auch die nächste Stufe der ‚Metaphorisierung‘ durch ein

hohes Maß an Kontingenz aus: „Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut!

216 Nietzsche KSA, Bd. 1, S. 879.

65

Zweite Metapher. Und jedesmal ein vollständiges Ueberspringen der Sphäre,

mitten hinein in eine ganz andere und neue.“217 Das Verhältnis von Sprache und

Welt ist in dieser Konzeption durchgehend kontingent und über zwei Ebenen

medialer Transformation vermittelt. Zwischen dem durch Sinnesreize

hervorgerufenen Empfinden und der Sprache existieren zwei Stufen der

‚Metaphorisierung‘, die durch keine analytische Anstrengung transparent gemacht

werden können. Die Rhetorik und ihre Dynamik bestimmen sowohl die

elementaren Wirklichkeitsbezüge des Menschen als auch seine kognitive und

sprachliche Aktivität. Die Form der Übertragung und medialen Transformation

bzw. ‚Umkodierung‘ von Informationen ist durch den Begriff der Metapher

beschrieben. Es gibt „keine ‚eigentlichen‘ Ausdrücke und kein eigentliches

Erkennen ohne Metapher“.218

Anders als Metaphern, entstehen synekdochische Tropen durch den „Austausch

eines Wortes mit weiter Bedeutung gegen ein Wort mit enger Bedeutung oder

umgekehrt“.219 In Nietzsches Rhetorikkonzeption wird die Synekdoche darüber

hinausgehend zu einem Grundprinzip der Begriffsbildung in der Sprache:

Alle Wörter aber sind an sich u. von Anfang <an>, in Bezug auf ihre Bedeutung Tropen. Statt des wahren Vorgangs stellen sie ein in der Zeit verklingendes Tonbild hin: die Sprache drückt niemals etwas vollständig aus, sondern hebt nur ein ihr hervorstechend scheinendes Merkmal hervor. Wenn der Rhetor ‚Segel‘ statt ‚Schiff‘ ‚Welle‘ statt Meer sagt, so ist das die Synekdoche, ‚ein Mitumfassen‘ tritt ein, aber dasselbe ist doch wenn δράκων Schlange heißt, eigentl. die ‚glänzend blickende‘ oder serpens die kriechende, aber warum heißt serpens nicht auch Schnecke? Eine einseitige Wahrnehmung tritt ein für die ganze und volle Anschauung.220

Während die Metapher allgemein die Form des menschlichen Wirklichkeits- und

Selbstbezugs darstellt, ist die Synekdoche hier die Form, in der Begriffe entstehen.

Aus einer komplexen Empfindung wird ein Teil selektiv herausgegriffen und

sprachlich repräsentiert, so dass der Mensch sich intersubjektiv in der Welt

einrichten kann. Der sprachliche Zugriff auf die rhetorisch konstituierte Welt

geschieht daher immer selektiv, nach dem Prinzip der Synekdoche. Die

Synekdoche gibt gewissermaßen den Rahmen vor, in dem der ‚Trieb zur

217 Ebd. 218 Nietzsche KSA, Bd. 7, S. 491. 219 Ueding / Steinbrink 1994, S. 289. 220 Nietzsche KGW, Abt. 2, Bd. 4, S. 426.

66

Metaphernbildung‘ sich bewegen kann. Um die Entstehung abstrakter Begriffe mit

rhetorischem Vokabular erklären zu können, bedarf es aber noch einer weiteren

Figur – der Metonymie.

Der Tropus ‚Metonymie‘ bezeichnet den Austausch zweier Begriffe, die in einem

Kontiguitätsverhältnis stehen.221 Im Unterschied zur Metapher, bei der die

Übertragung einer Bedeutung unter der Voraussetzung einer semantischen

Schnittmenge zweier Ausdrücke stattfindet,222 besteht bei der Metonymie ein

sachlicher Rahmen, der zwei austauschbare Ausdrücke verbindet. In Nietzsches

Konzeption wird die Metonymie als ein spezieller Fall dieser durch

Kontiguitätsbeziehungen ermöglichten Substitution begriffen.

Die Metonymie ist für Nietzsche eine Vertauschung von Wirkung und Ursache,

welche die Grundlage aller abstrakten Begriffe bilde. Bereits attributive

Zuschreibungen wie ‚hart‘ oder ‚bitter‘ stellen für Nietzsche Metonymien dar, da

sie letztlich nur Urteile über Empfindungen, also Folgen sind, jedoch keine

Ursachen.223 Was aber für Attribute gilt, gilt umso mehr für metaphysische

Termini, wie etwa den Ideenbegriff Platons, den Nietzsche als die Metonymie par

excellance begreift:

[D]ie abstrakten Substantive sind Eigenschaften in uns u. außer uns, die ihren Trägern entrissen werden, u. als selbstständige Wesen hingestellt werden […]. Jene Begriffe, die lediglich unserer Empfindung ihr Entstehen verdanken, werden als das innere Wesen der Dinge vorausgesetzt: wir schieben den Dingen als Grund unter, was doch nur Folge ist. Die Abstrakta erregen die Täuschung, als seien sie jenes Wesen, welches die Eigenschaften bewirkt, während sie nur in Folge jener Eigenschaften von uns bildliches Dasein erhalten. Sehr lehrreich der Übergang der ειδη in ιδέαι bei Plato: hier ist die Metonymie, Vertauschung von Ursache und Wirkung vollständig.224

Der vielleicht wichtigste Begriff der platonischen Metaphysik, die ‚Idee‘, wird

hier als eine durch die metonymische Bewegung ermöglichte Projektion

aufgefasst. Jeder abstrakte Begriff sei die Rückprojektion einer verallgemeinerten

Empfindung in die Wirklichkeit – als vermeintliche Ursache derselben. Damit ist

das Modell rhetorischer Epistemologie komplett: eine Metapher der Nervenreize

wird synekdochisch verallgemeinert und in Form der Metonymie als Ursache

221 Vgl. Plett, Heinrich F.: Einführung in die rhetorische Textanalyse. 8. Aufl. Hamburg 1991, S. 77 f.

222 Vgl. ebd., S. 79 ff. 223 Vgl. Nietzsche KGW, Abt. 2, Bd. 4, S. 427. 224 Ebd., S. 446.

67

seiner selbst konzipiert. Die Metonymie ist jene Täuschung, die das Vergessen der

Metaphorizität des Wirklichkeitsbezugs bewirkt. So entsteht letztlich auch Platons

Begriff der Idee und mit ihm die abendländische Metaphysik als das Ergebnis

einer rhetorischen Überformung der Nicht-Präsenz eines immer abwesenden

Ursprungs.225

Auch die Entstehung der Begriffe Subjekt und Objekt, die ihrerseits – als

grammatische Form – die Oberfläche der Sprache beschreiben, ist so betrachtet

eine metonymische Bewegung. Die Metonymie wird bei Nietzsche damit zu

jenem Prinzip, nach dem der Mensch ein rhetorisch hervorgebrachtes Bild von

sich und der Welt als ihm enthobene Ursache konzipiert und dadurch zum Subjekt

wird, das eine Sprache hat. Das rhetorisch konstituierte Verhältnis von Ich und

Welt wird als eine der Erfahrung gegenüber transzendente Gegebenheit aufgefasst.

Die Entstehung jeder Form von Metaphysik fußt damit auf rhetorischen

Operationen, die sich mit den Begriffen Metapher, Synekdoche und Metonymie

beschreiben lassen.

4.2. Spuren der Rhetorik in Nietzsches Spätwerk

In Nietzsches späten erkenntniskritischen Überlegungen tauchen kaum noch

rhetorische Begriffe auf. Dennoch erscheinen einige von Nietzsches Notizen aus

den späten achtziger Jahren wie eine konsequente Fortführung seiner Einsicht in

die rhetorische Konstitution menschlicher Erfahrung. Auch die ‚Phänomenalität

der inneren Welt‘ sei, so formuliert Nietzsche fünfzehn Jahre nach seiner

Rhetorikvorlesung, „durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht,

schematisirt, ausgelegt […] und vielleicht reine Einbildung“.226 Zwischen zwei

Gedanken gebe es, entgegen der Annahmen der philosophischen Logik, keine

unmittelbare und ursächliche Verbindung, sondern ein Spiel von Affekten. Die

Reflexion über das Denken, welche die Philosophie betreibt, greife nur selektiv

ein Merkmal aus diesem affektuell durchwobenen Prozess heraus:

225 Überraschender Weise deckt sich diese implizite Epistemologie strukturell mit den Begriffen

‚Deduktion‘, ‚Induktion‘ und ‚Abduktion‘, die Charles S. Peirce als die Grundbedingungen jedes semiotischen Prozesses begreift (Vgl. Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen. Hrsg. u. übers. v. Helmut Pape. Frankfurt a.M. 1983, S. 89 ff). Die Frage, inwiefern diese Gemeinsamkeiten von Differenzen durchbrochen werden, wie etwa hinsichtlich des Geschichtsoptimismus Peirces’, kann hier nicht behandelt werden.

226 Nietzsche KSA, Bd. 13, S. 53.

68

‚Denken‘, wie es die Erkenntnistheoretiker ansetzen, kommt gar nicht vor: das ist eine ganz willkürliche Fiktion, erreicht durch Heraushebung Eines (sic!) Elements aus dem Prozeß und Subtraktion aller übrigen, eine künstliche Zurechtmachung zum Zweck der Verständlichung…227

Was in der Rhetorikvorlesung für die Synekdoche charakteristisch ist wird als

Argument gegen erkenntnistheoretische Basisprämissen gebraucht. Auch die

Wahrnehmung der ‚inneren Welt‘ werde rhetorisch konstituiert und jede

philosophische Reflexion über sie synekdochisch gefiltert. Die Metaphern des

Selbst werden in Erkenntnistheorie und Logik zu scheinevidenten Synekdochen

eines amorphen und affektuell durchwachsenen Prozesses heruntergebrochen.

Was für die implizite Weiterführung und kritische Anwendung des Begriffs der

Synekdoche gilt, zeigt sich insbesondere auch am Beispiel des Begriffs der

Metonymie:

Das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projicirt als deren ‚Ursache’… In dem Phänomenalismus der ‚inneren Welt’ kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. Die Grundthatsache der ‚inneren Erfahrung‘ ist, daß die Ursache imaginirt wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist… [...] Die ‚innere Erfahrung’ tritt uns ins Bewußtsein, erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum vers teh t ... d.h. eine Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände — ‚verstehen‘ das heißt naiv bloß: etwas neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem […]228

Hier wird die Vertauschung von Ursache und Wirkung, die in der Baseler

Rhetorikvorlesung die Form der Metonymie ist, zur Grundlage der Erfahrbarkeit

der ‚inneren Welt‘. Nachdem ein metaphorischer Welt- und Selbstbezug

hergestellt ist und bevor über diesen reflektiert werden kann, muss ein Akt der

Imagination erfolgen, der das Subjekt sich selbst erfahrbar macht. Das Finden

einer Sprache, die diese innere Erfahrung ermöglicht, die metonymische

Bewegung, verweist auf jenem Kontiguitätszusammenhang, der das Dasein mit

der Zeit verbindet. Von der zweiten Rhetorikvorlesung bis zur Götzen-

Dämmerung229 bildet diese Form der Vertauschung von Ursache und Wirkung in

Nietzsches Augen die Grundlage des metaphysischen Denkens.

227 Ebd., S. 54. 228 Ebd., S. 459 f. 229 „Es giebt keinen gefährlicheren Irrthum als die Folge mit der Ursache zu verwechseln: ich

heisse ihn die eigentliche Verderbniss der Vernunft. Trotzdem gehört dieser Irrthum zu den ältesten und jüngsten Gewohnheiten der Menschheit: er ist selbst unter uns geheiligt, er trägt den Namen ‚Religion‘, ‚Moral‘ (Nietzsche KSA, Bd. 6, S. 88).

69

An dieser konsequenten Weiterführung der Einsicht in die rhetorische

Konstitution von Ich und Welt wird zugleich ein weiteres Mal deutlich, dass

Nietzsches teilweise wörtliche Übernahmen aus Gustav Gerbers Die Sprache als

Kunst230 zu völlig anderen Ergebnissen führen, als es der romantische Duktus

zunächst vermuten lässt. Nietzsches Rhetorikverständnis zeigt trotz der

intertextuellen Verweise auf romantische Sprachphilosophien bereits die

Grundzüge einer radikalen Kritik an der Metaphysik, die mit der Romantik schwer

zu vereinbaren ist.231

5. Nietzsche und die Sophisten

Da alle Formen der Sprache für Nietzsche in einem ubiquitären Begriff von

Rhetorik aufgehen, stellt sich aus seiner Sicht nicht mehr die Frage nach dem

wesentlichen Unterschied zwischen Rhetorik und Philosophie. Die Rhetorizität ist

für Nietzsche die grundlegende Differenz des Daseins, die auch die

Unterscheidung von Rhetorik und Philosophie ermöglicht. Die sprachtheoretisch-

epistemologischen Aspekte der Rhetorik liefern dabei eine Art Heuristik, mit der

sich die Entstehung dieser Unterscheidung und des dazugehörigen metaphysischen

Denkens systematisch erklären und zugleich dekonstruieren lässt.

Das Verhältnis dieses Zusammenhangs zum seit Platon manifesten

philosophischen Herrschaftsdiskurs wird deutlich, wenn die soziologische

Dimension, die Nietzsche in seine Überlegungen mit einbezieht, in den

Vordergrund rückt. Der Begriff des Wahren werde nicht nur durch die rhetorische

Arbeit der Begriffsbildung ermöglicht, sondern insbesondere auch durch

konsensuelle Festlegungen innerhalb einer Gesellschaft:

In der politischen Gesellschaft ist eine feste Übereinkunft nöthig, sie ist auf den usuellen Gebrauch von Metaphern gegründet. Jeder ungewöhnliche regt sie auf, ja vernichtet sie. Also jedes Wort so brauchen, wie es die Masse braucht, ist politische Convenienz und Moral. Wahr sein heißt nur nicht abweichen vom

230 Nietzsches Bestimmung der Synekdoche in der Rhetorikvorlesung ist zum Großteil eine

wörtliche Übernahme von unter anderem folgender Passage Gerbers: „Die Sprache drückt n iemals e twas vol ls tändig aus, sondern hebt überal l nur das am meis ten hervors techende Merkmal hervor . Diese Merkmal herauszufinden ist die Aufgabe der Etymologie.“ (Gerber 1871, Bd. 1, S. 337 f.) Allerdings stellt diese intertextuelle Referenz trotz ihres hohen Maßes an Selektivität (Vgl. Broich/Pfister 1988, S. 28) keine Übernahme des durch den Prätext mitaktualisierten romantischen Kontextes dar, wie am Beispiel anderer Stellen bereits verdeutlicht wurde. (Vgl. S. 53 ff dieser Arbeit.)

231 Vgl. dazu auch das Kapitel Nietzsche: Ambivalenz, Dialektik und Rhetorik in: Zima, Peter V.: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Tübingen und Basel 1994, S. 21-28.

70

usuellen Sinn der Dinge. Das Wahre ist das Seiende, im Gegensatz zum Nichtwirklichen. Die erste Convention ist die über das, was als ‚seiend‘ gelten soll.232

Das Wahre und Seiende sind also zur Gewohnheit verblasste Metaphern. Die

Entstehung der Wahrheits- und Seinsmetaphorik ist aus dieser soziologischen

Perspektive das Ergebnis eines Akts der Konsensbildung im Rahmen eines

rhetorischen Sprachspiels. Während aber das Wahre als konsensuelle Metapher im

Rahmen einer Rhetorik immer der Zustimmung bedarf und damit veränderbar,

modifizierbar und kritisierbar bleibt, behauptet die Philosophie seit ihrem Kampf

gegen die Sophistik die Existenz einer von jeder menschlichen Sprachschöpfung

unabhängigen Sphäre des Wahren und ermöglicht damit ihre diskursive Autorität.

Die Rhetorik ist daher im politisch-gesellschaftlichen Zusammenhang in

systematischer Hinsicht – als die Form jeder Konsensbildung – die Voraussetzung

ihrer eigenen Verdrängung durch den philosophischen Begriff des Wahren. Nur

im Modus des Rhetorischen konnte es Konsens werden, dass bestimmte

perspektivische Annahmen nicht mehr als Konsens gehandelt wurden, sondern als

Wahrheit an sich. So erweisen sich Platon und Sokrates als die heimlichen und

zugleich ‚wahren‘ Meister der Rhetorik, indem sie unter dem Deckmantel der

philosophischen Wahrheit das Sprachspiel der Rhetorik durch ungeheure

rhetorische Anstrengung gegen sich selbst wenden. Das offene und konfliktäre

Spiel mit der Sprache steht still, die Herrschaft des philosophischen Begriffs

beginnt.

Deshalb erscheint Nietzsche als der direkte Antipode zu Platon, indem er, angeregt

durch die Beschäftigung mit der Rhetorik, die Metaphysik gegen sich selbst

wendet und so ein Denken hervorbringt, das seit Platons Sieg über die Sophistik

verdrängt worden war. Diese indirekte Rehabilitierung der Sophistik ist eine

direkte Konsequenz aus seinen Überlegungen zur Rhetorik und fügt sich

gemeinsam mit seiner Ablehnung der Philosophie Platons in das Bild eines

‚anderen Griechenland‘, das bereits in der Geburt der Tragödie explizit gemacht

wird. In der Götzen-Dämmerung wird der Entwurf dieses Gegenbilds in

dezidierter Abgrenzung zu Platon fortgeführt und mit der durch die Beschäftigung

mit der Rhetorik angeregten Erkenntniskritik zusammengebracht.233

232 Nietzsche KSA, Bd. 7, S. 491. 233 Vgl. insbesondere das Kapitel Was ich den Alten verdanke in: Nietzsche KSA, Bd. 6, S. 154 ff.

71

So erscheint Nietzsches durchweg negatives Urteil über Platon vor dem

Hintergrund seiner Rhetorikauffassung folgerichtig und konsequent – sowohl im

Hinblick auf sachliche Einwände als auch hinsichtlich des Urteils über den Stil

und das Auftreten Platons. Der ‚präexistent-christliche‘234 Gestus Platons stößt bei

Nietzsche auf Verachtung. Mit Platon werde die ‚Sklavenmoral‘ des Christentums

vorweggenommen.235 Die diese Vorwegnahme begleitende autoritäre Art der

Argumentation, die in den platonischen Dialogen gepflegt wird, wirkt auf

Nietzsche aber nicht nur inhaltlich abstoßend sondern auch stilistisch reizlos:

Dass der platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, — Fontenelle zum Beispiel.236

Insgesamt lassen die konstatierten stilistischen Defizite der platonischen Dialoge

sowie ihr autoritärer Gestus Nietzsche seine Kritik in einer lakonischen

Feststellung zusammenfassen, die zugleich seiner Hochschätzung der auf Affekte

zielenden Redekunst Rechnung trägt: „Plato ist langweilig“.237

Neben Fontenelle und Machiavelli238 empfiehlt Nietzsche insbesondere auch die

Lektüre Thukydides’ als „Kur von allem Platonismus“.239 Der im direkten

Wirkungsbereich Gorgias’ von Leontinoi stehende Geschichtsschreiber240 ist für

Nietzsche der letzte Repräsentant jedes ‚anderen‘ Griechenland, das in der Antike

durch Platon verdrängt und in der Antikerezeption des deutschen Idealismus zu

Schiller’scher ‚Naivität‘ verklärt wurde:

Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in’s Ideal, die der ‚klassich-gebildete‘ Jüngling als Lohn für seine Gymnasial-Dressur ins Leben davonträgt, kurirt Nichts so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte: es giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-Cultur, will sagen die Realisten-Cultur zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. […]

234 Vgl. ebd. S. 155. 235 „[A]ls ob es die Verderbnis des Heidenthums gewesen wäre, die dem Christentum die Bahn

gemacht habe! Aber es war die Schwächung und Vermoralisierung des antiken Menschen!“ (KSA, Bd. 12, S. 347)

236 Nietzsche KSA, Bd. 6, S. 155. 237 Ebd. 238 Vgl. ebd. 239 Ebd., S. 156. 240 Vgl. Taureck 1995, S. 156.

72

Thukydides als die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkte lag.241

Explizit wird hier die Sophistik gegenüber dem Idealismus aufgewertet. Ohne dass

Nietzsche sich an dieser Stelle direkt auf Gorgias von Leontinoi bezieht, wird

dessen Sprach- und Rhetorikauffassung, die Platon als Angriffsfläche diente, in

ein positives Licht gerückt. Die markierte Referenz auf Thukydides aktualisiert, da

sie im Zusammenhang mit Platon gesetzt ist, den Konflikt der Philosophie mit der

sophistischen Rhetorik, aus dem sich die Problematik, die Nietzsche in seinen

späten Schriften beschäftigt, schließlich historisch herleitet.242 Dadurch gerät auch

Nietzsches eigenes Sprach- und Rhetorikverständnis in eine auffallende Nähe zu

den Ideen der Sophistik.

Dafür sprechen einige Gemeinsamkeiten von Nietzsches Denken mit dem

Rhetorikverständnis Gorgias’ von Leontinoi. Auch für Nietzsche spielt die

Erhabenheit des ästhetischen Spiels mit der Sprache eine wichtige Rolle und auch

Nietzsche vertritt einen epistemologischen Perspektivismus. Auch für Nietzsche

ist die Widersprüchlichkeit der Metaphysik und die Grenze des kognitiven

Potentials der Sprache kein Grund zum Schweigen, sondern ein Anlass zur

Textproduktion. Sowohl Nietzsche als auch Gorgias lassen die Frage nach dem

Ursprung offen.

Diese indirekte Rehabilitierung zeigte sich bereits in Nietzsches Rezeption der

Rhetorikkritik Kants. Der intertextuelle Verweis auf Kant, der zwar keine offene

Kritik ist, aber die Eigenschaften einer ‚dialogischen Lesart‘ im Sinne Bachtins

aufweist, kehrt das Denkschema des philosophischen Herrschaftsdiskurses um und

richtet es gegen sich selbst. Diese Denkbewegung zieht sich durch das Werk

Nietzsches hindurch. Sie bleibt von der Darstellung der antiken Rhetorik bis hin

zur Götzen-Dämmerung das Grundprinzip seiner Subversion der Metaphysik.

Auch in systematischer Hinsicht lassen sich zwischen Nietzsche und der Sophistik

Gemeinsamkeiten erkennen. Das Ergebnis von Nietzsches argumentativer

Kurzschließung der Metaphysik ist, wie gezeigt wurde, eine Paradoxie: es bleibt

241 Nietzsche KSA, Bd. 6, S. 156. 242 „Wo war die in tel lektuel le Rechtschaffenhei t damals? die griechische Cultur der

Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen: sie gehört zur Cultur der Perikleischen Zeit, so nothwendig, wie Plato n icht zu ihr gehört […] – und, sie hat schließlich Recht bekommen: jeder Fortschritt der erkenntnißtheoretischen und moralistischen Erkenntniß hat die Sophisten res t i tu ier t… [!]“ (Nietzsche KSA, Bd. 13, S. 293).

73

nichts anderes übrig, als mit und innerhalb der von der Metaphysik geprägten

Sprache gegen die Metaphysik zu argumentieren. Was Nietzsche damit gelingt ist

die Öffnung einer Differenz, die im philosophischen Diskurs von der scheinbaren

Kontravalenz der Aussagemodi ‚wahr‘ und ‚falsch‘ verdeckt wird.

Jean-Francois Lyotard bezeichnet diese Strategie der Umkehrung, mit der

Nietzsche die Metaphysik aushebelt, in Anknüpfung an Aristoteles als

‚sophistische Retorsion’.243 Die mit der Retorsion einhergehende Denkbewegung

sei eine die traditionelle zweiwertige Logik subvertierende Kraft, der etwas

Gewalttätiges anhafte:

Die sophistische Retorsion hat etwas Gewalttätiges, denn sie besteht ja darin, daß sich zwei gegensätzliche Positionen gegenüberstehen – wir haben es mit sehr starken Triebströmen zu tun – und die Möglichkeit der Verständigung ausgeschlossen ist. Ein Positionswechsel erfolgt durch Retorsion: Die ursprünglich starke Position, sagen wir einfach: die des Christentums – nämlich: Sei wahrhaftig! –, wird dadurch schwach, daß sie gegen sich selbst gewendet wird.244

Die Gewalt der sophistischen Retorsion ist bei Lyotard allerdings durchweg

positiv konnotiert. Sie ist keine Gewalt, die sich gegen Menschen oder das Leben

im Allgemeinen richtet, sondern eine subversive Gewalt, die den ‚Terrorismus des

Wahren und des Falschen‘ und damit die Dominanz des philosophischen

Diskurses gegenüber Sophistik und Rhetorik angreift.245 Die in Nietzsches Augen

lebensverneinende Philosophie wird durch die lebensbejahende Kraft der

‚sophistischen Retorsion‘ von innen zersetzt. Nietzsches immanente Subversion

der Metaphysik ist für Lyotard daher letztlich das willkommene Modell eines

liberalen Antifaschismus.246

Zu der Möglichkeit dieser Subversion gehört es allerdings auch, dass Nietzsches

Text sich in vielen Punkten nicht auf die eine oder andere Deutungsalternative

festlegen lässt. So ist etwa die Frage, inwiefern Nietzsche den Leiblichkeitsbegriff

Schopenhauers in einer sprachimmanenten Konzeption des Daseins aufgehen

lässt, oder selbst noch eine Art Leiblichkeitsphilosophie entwickelt, letztlich nicht

entscheidbar. Ebenso bleibt es offen, ob Nietzsche die Metaphysik mit seiner

243 Lyotard, Jean-Francois: Die Logik, die wir brauchen. Nietzsche und die Sophisten. Aus dem Französischen v. Patrick Baum. Bonn 2004, S. 15 ff.

244 Vgl. ebd., S. 47. 245 Vgl. ebd., S. 55. 246 Vgl. ebd., S. 36. Eine ähnliche Nietzsche-Deutung liefert Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie

und Solidarität. Übers. v. Christa Krüger. Frankfurt a.M. 1989, S. 162 ff.

74

Subversion überwindet, oder sich letztlich noch in ihre Geschichte einschreibt. Für

diese Ambivalenz sprechen auch die verschiedenen und häufig konträren Lesarten,

die der Text Nietzsches im Laufe seiner Rezeptionsgeschichte evoziert hat.

Die Rezeption Nietzsches reicht von der metaphysischen Interpretation

Heideggers über strukturalistische Analysen, dekonstruktivistische Lektüren bis

hin zu literarisch-essayistischen Aneignungsversuchen.247 Angesichts der

Vielschichtigkeit von Nietzsches Denken und der paradoxen Ausgangsfigur seiner

Reflexionsbewegung wird das Kriterium der Widerspruchsfreiheit verschiedener

Lesarten für die Frage nach der Angemessenheit einer Lektüre Nietzsches

fragwürdig. Vielversprechend erscheint hingegen die Frage danach, wo

Deutungsversuche, die diesen Anspruch verfolgen, scheitern, und welche

textuellen Eigenschaften dieses Scheitern bewirken. Damit soll nicht einer

dekonstruktivistischen Lektüre der Vorrang eingeräumt, sondern einfach dem

Umstand Rechnung getragen werden, dass sich Nietzsches Text nicht im Rahmen

einer binären Denklogik einfangen lässt.

Gegensätze wie ‚ontologisch – nicht-ontologisch‘, ‚paradox – widerspruchsfrei‘

sind selbst konstitutiver Teil jenes Denkens, das Nietzsche überwinden wollte. Die

größte Paradoxie ist daher die, dass Nietzsche, wenn ihm diese Überwindung

nachweislich gelungen wäre, sich um ein weiteres widersprochen hätte, da sich

sein gesamtes Schreiben dann wieder als Teil jener binären Logik entpuppen

würde, der er entkommen wollte. Als bloße Antithese zur metaphysischen

Tradition würde er nur unreflektiert wiederholen, was er kritisiert. Daher bleibt

Nietzsches Schreiben in der Schwebe. Es kann nicht entschieden werden, ob

Nietzsche der metaphysischen Tradition gänzlich entkommt, oder sich in sie

einschreibt, weil das Bedürfnis, hier eine Entscheidung zu fällen, bereits Teil einer

binären Grundstruktur des Denkens ist, welche Metaphysik ermöglicht. In den

Fragmenten der achtziger Jahre holt Nietzsche deshalb zum geschicktesten

Gegenschlag aus, der auch als literaturtheoretische Prämisse für Nietzsche-

Interpreten gelten kann:

Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine ‚Notwendigkeit‘ aus,

247 Zur Rezeption Nietzsches vgl. Reckermann, Alfons: Lesarten der Philosophie Nietzsches. Ihre

Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt. Berlin und New York 2003.

75

sondern nur ein Nicht-vermögen. […] Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulirbar, berechenbar zu machen…248

Was angesichts der Möglichkeiten, welche die Sprache zur Verfügung stellt, dann

noch bleibt, ist entweder Schweigen, oder die Entfaltung dieser existentiellen

Metaparadoxie in einem unendlichen Sprachspiel, immer in der Schwebe

zwischen reiner Sprachimmanenz und ‚Rest-Ontologie‘: Die Selbstinszenierung

der Selbst-Widersprüchlichkeit des Daseins in der Sprache.

Für eine Wissenschaft, die sich als eine Suche nach letzten Wahrheiten versteht,

bedeutet diese Einsicht das Ende. Der Literaturwissenschaft, die sich historisch

aus der Rhetorik herleitet, öffnen sich hier jedoch neue Wege: Frei vom

autoritären Duktus philosophischer Bestimmungsversuche der Literatur wird eine

Wissenschaft möglich, welche die literarische Sprache nicht vor der Kontrastfolie

einer ‚natürlichen‘ Sprache konzipiert, sondern die Literatur als ein freies Spiel

mit der Rhetorizität der Sprache, mit der fundamentalen Differenz des Daseins

begreift. Besonderen Zuspruch bekam das Denken Nietzsches daher von Seiten

poststrukturalistischer Literaturtheorien.

248 Nietzsche KSA, Bd. 12, S. 389 ff.

76

V. Nietzsches Rhetorikauffassung und die Literaturtheorie

Verstanden zu werden? Ihr wißt doch, was das heißt? – Comprendre c’est égaler.249

Dass der Einfluss Nietzsches auf die poststrukturalistische Literaturtheorie groß

gewesen ist, gehört heute zu den Wissensbeständen von Einführungsseminaren.

Für eine ganze Generation französischer Intellektueller – darunter Autoren wie

Jacques Derrida, Michel Foucault und Gilles Deleuze – war die Lektüre

Nietzsches ein intellektuelles Schlüsselerlebnis.250 Angesichts der Bedeutung,

welche der französische Poststrukturalismus für die Entwicklung neuerer

Literaturtheorien und Forschungsmethoden beanspruchen kann,251 erscheint

Nietzsches Wirkung auf die germanistische Literaturwissenschaft der Gegenwart

daher nicht so sehr als das Ergebnis einer direkten Rezeption und

literaturtheoretischen Entfaltung seines Denkens, sondern vielmehr als ein zu

großem Teil über die französische Nietzsche-Rezeption vermittelter

ideengeschichtlicher ‚Re-Import‘, der als solcher selten offen zu Tage liegt.

Im folgenden soll daher nicht nach dem Einfluss Nietzsches auf das Denken des

ein oder anderen poststrukturalistischen Theoretikers gefragt werden. Statt dessen

soll versucht werden, die im vorigen Teil der Arbeit erörterte Problematik –

ausgehend von den Grundgedanken der Linguistik Ferdinand de Saussures und

ihrer Kritik bei Roland Barthes und Jacques Derrida – systematisch zu entfalten.

Anschließend wird nach den Konsequenzen gefragt, die sich aus diesen

Überlegungen für die literaturwissenschaftliche Forschung ergeben. Eine

abschließende Betrachtung führt dann zur Ausgangsfragestellung zurück und

bezieht das Ergebnis der Erörterung auf die gegenwärtige Situation der

theoretischen Literaturwissenschaft.

249 Ebd., S. 51. 250 Vgl. Le Rider, Jacques: Nietzsche in Frankreich. Aus dem Französischen von Heinz Jatho.

München 1997, S. 85 ff; Reckermann 2003, S. 1 ff; Kuttner, H.G.: Nietzsche-Rezeption in Frankreich. Essen 1984.

251 Vgl. Geisenhanslüke 2003b, S. 90 ff.

77

1. Nietzsche – de Saussure – Barthes – Derrida

Die Rhetorikvorlesungen Nietzsches wurden 1971 erstmalig ins Französische

übersetzt herausgegeben. Die Passage, in der Nietzsche die Metonymie bestimmt,

lautet in der Übersetzung Nancys und Lacoue-Labarthes:

Une troisième figure est la métonymie, commutation de la cause et de l’effet; lorsque, par exemple, le rhéteur dit ‚sueur‘ pour ‚travail‘, la ‚langue‘ pour la ‚parole‘. Nous disons: ‚le breuvage est amer‘ à la place de: ‚il excite en nous une sensation de la sorte‘; ou bien: ‚la pierre est dure‘, comme si ‚dur‘ était autre chose qu’un jugement de notre part.252

Dass in Nietzsches Charakterisierung der rhetorischen Figur der Metonymie hier

mit ‚langue‘ und ‚parole‘ zwei Grundbegriffe der Saussure’schen Linguistik

auftauchen, mag einer übersetzerischen Notwendigkeit geschuldet sein. Dennoch

rückt gerade diese zufällig erscheinende intertextuelle Referenz Nietzsches

Rhetorikauffassung in eine direkte Nähe zur Kritik am Sprachverständnis

Ferdinand de Saussures, wie sie unter anderem der Semiologe Roland Barthes und

der poststrukturalistische Theoretiker Jacques Derrida formuliert haben.253 Die

‚langue‘ im nietzscheanischen Sinne als eine Metonymie der ‚parole‘ zu begreifen,

ist ein Gedanke, der sich nahtlos in eine strukturale Analyse und

dekonstruktivistische Lektüre Saussures einfügt. Die Grundzüge der Linguistik

Saussures, deren Kritik bei Barthes und Derrida sowie die Rhetorikauffassung

Nietzsches fließen im folgenden ineinander und münden in einer theoretischen

Haltung, die zwar viele der gängigen Ansprüche moderner Kultur- und

Literaturwissenschaft in Frage stellt, aber dennoch – und vielleicht gerade deshalb

– eine dem Gegenstand Literatur gegenüber in vielerlei Hinsicht affine Form der

Wissenschaftlichkeit in Aussicht stellt.

Mittelpunkt des Saussure’schen Modells von Sprache ist der Begriff der Differenz.

Wie in jedem Zeichensystem, werde auch in der Sprache „ein Zeichen nur durch

das gebildet, was es unterscheidendes an sich hat.“254 Das Entstehen von

Bedeutung wird nicht durch eine Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem

in der Repräsentationsfunktion des Zeichens hergestellt, sondern nur durch die

Differenz des jeweiligen Signifikanten zu allen anderen Signifikanten des

252 Nietzsche, Friedrich: Rhétorique et langage. Text traduits, présentés et annotés par Philippe Lacoue-Labarthe et Jean-Luc Nancy. In: Poetique 5 (1971), S. 99-142, hier S. 113.

253 Vgl. Barthes 1988, S. 159 ff; Derrida, Jacques: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt 1983, S. 49 ff.

254 de Saussure, Ferdinand: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin 1967, S. 145.

78

Systems. Das impliziert einen fundamentalen Wandel der Perspektive von

Sprach-, Kultur- und Literaturanalysen: die Einheit des Zeichens ist nicht länger

Ausgangspunkt der Betrachtung. Roland Barthes spricht in Anbetracht der im

Anschluss an diesen Gedanken entwickelten Verfahren strukturaler Analysen von

einer ‚epistemologischen Wende‘, die durch Saussures Betonung der allgemeinen

semiologischen Differentialität eingeläutet worden sei.255

Saussure trennt analytisch die Ebene der syntagmatischen Kombination der

Zeichenelemente von der Ebene der assoziativen bzw. paradigmatischen

Ähnlichkeiten zwischen Zeichen.256 Mit dieser Unterscheidung lassen sich durch

empirische Beobachtung des Sprachmaterials Ketten von Zeichenverbindungen in

ein Verteilungssystem bringen, für das die syntagmatische und paradigmatische

Ebene als modellhafte Achsen fungieren.257 Die paradigmatische Achse der

Selektion und die syntagmatische Achse der Kombination sind an jedem durch

Zeichen ermöglichten Kommunikationsprozess beteiligt.258 Durch die

Untersuchung der gesprochenen Rede als einer syntagmatischen Performanz

können paradigmatische Relationen ermittelt werden, die als abstrakte Regeln des

Sprachsystems interpretierbar sind. Die ‚langue‘ ist in der Saussure’schen

Linguistik die Einheit des Zeichenmaterials und des Regelsystems, das die

Verteilung der Differenzen in der gesprochenen Rede, der ‚parole‘, steuert.

Dieses System ist methodisch nur über die Abstraktion von Phänomenen der

‚parole‘ zugänglich. Die Formulierung einer Sprachregel hat immer

hypothetischen Charakter und muss ihre Geltung letztlich aus immer neuen

empirischen Beobachtungen herleiten. Dieses hypothetisch-deduktive Verfahren

wäre weitgehend unproblematisch, wenn die Sprache kein historisches Phänomen

darstellen würde. Die ‚langue‘ ist kein statisches Regelwerk, sondern eine

255 Vgl. Barthes 1988, S. 159. 256 Vgl. de Saussure 1967, S. 152 ff. 257 Vgl. ebd. 258 Die neurophysiologische Forschung war um 1900 der Auffassung, dass für die syntaktische und

semantische Verarbeitung von Sprache jeweils spezielle Hirnareale zuständig sind. Indizien dafür waren zwei cerebral lokalisierbare Typen von Aphasien, bei denen entweder die Fähigkeit syntagmatische Sprachprozesse zu beherrschen, oder die Kompetenz paradigmatische bzw. semantische Relationen zu aktualisieren verloren geht. Es schien sich bei der Analyse von Sprache nach dem Schema ‚Paradigma – Syntagma‘ daher um eine vom biologischen Erkenntnisapparat vorgegebene Struktur zu handeln. Neueren Forschungsergebnissen zufolge gibt es jedoch – neben der Problematisierung erkenntnistheoretischer Fragen, welche die Neurowissenschaften aufwerfen –, auch differenziertere Modelle zur Beschreibung von Sprachprozessen. Vgl. dazu Obler, Loraine K. / Gjerlow, Kris: Language and the Brain. Cambridge 1999, S. 40 ff.

79

lediglich zu Forschungszwecken formulierbare Abstraktion von Sprachprozessen.

Bedeutungen und syntaktische Regeln einer Sprache unterliegen einer stetigen

Veränderung.

Die Problematik des Saussure’schen Ansatzes besteht also darin, dass die ‚langue‘

als eine geschlossene Einheit syntaktischer und semantischer Relationen

konzipiert wird, der historische Prozess der Sprachentwicklung und die

gesprochene Rede diese Einheit aber fortwährend in Frage stellen.259 Saussure löst

dieses Problem durch die systematische Unterscheidung zweier Analyseebenen

von Sprache. Die ‚langue‘ ist in seinem Modell eine historisch variable Einheit,

die durch die performative ‚parole‘ Veränderungen in der Zeit erfahren kann. Die

Veränderungen innerhalb einer Sprache betreffen allerdings nie das

Gesamtsystem, sondern immer nur kleine partikulare Bereiche. Daher kann die

Veränderung der Sprache in der Zeit nicht mit Blick auf das Gesamtsystem

untersucht werden. Man kann nicht den universellen ‚Ort‘ einer partikularen

Zeichenperformanz und zugleich deren Wirkung auf andere Zeichenperformanzen

untersuchen. Saussure trennt deswegen strikt zwischen ‚synchronischer‘ und

‚diachronischer‘ Sprachanalyse.260

Mit dieser analytischen Trennung wird das Problem aber nur verschoben. Wenn

die Einheit der ‚langue‘ durch partikulare Wirkungen von Äußerungsformen der

‚parole‘ verändert werden kann, wird der Widerspruch zwischen statischer Einheit

und dynamischer Prozessualität des differentiellen Zeichensystems an den

historischen Ort des Sprachursprungs versetzt. Letztlich muss nach diesem

Modell, wie Derrida gezeigt hat, am ‚Ur-Sprung‘ der Sprache ein Akt der Setzung

stehen – die Differenz selbst, als der Moment des Einritzens einer Spur in die

Materialität des Zeichenkörpers.261 Die Kritik Derridas an Saussure richtet sich

daher vor allem gegen den Umstand, dass dieser kritische Punkt der Idee des

Sprachursprungs in den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft nicht

problematisiert und weitergedacht wird.262 Saussure fragt nicht nach der Paradoxie

259 Vgl. de Saussure 1967, S. 93 ff. 260 Vgl. ebd., S. 106 ff. 261 Vgl. Derrida 1983, S. 98 ff. Derrida macht dabei einen neuen Begriff der Schrift stark:

Während das gesprochene Wort in der Geschichte des abendländischen Denkens die Einheit von Denken und Sprechen impliziere, verweise die Schrift auf die dieser Einheit zu Grunde liegende Differentialität.

262 Vgl. ebd.

80

des Sprachursprungs, sondern nach den Bedingungen der Stabilität von

Sprachsystemen.

Was ihn in den Augen von Roland Barthes aber innovativ erscheinen lässt, ist

seine Abkehr vom Historismus zu Gunsten einer Aufwertung der Analogie:

Sagen Sie nicht, daß die Aufgabe der etymologischen Wissenschaft darin besteht, eine heutige Form bis auf eine ursprüngliche Form ‚zurückzuverfolgen‘; begnügen Sie sich damit, das Wort in eine Konfiguration zu benachbarter Begriffe, in ein Netz von Beziehungen zu bringen, das die Zeit – und darin besteht ihre kümmerliche Macht – nur topologisch verzerrt.263

Die von Saussure vollzogene Aufwertung der Analogie besitzt für Barthes dabei

auch eine ideologische Dimension. Die Ablehnung des Abstammungsdenkens zu

Gunsten einer differentiellen und relationalen Betrachtung von Sprache entspreche

dem Verhältnis von feudaler und bürgerlicher Gesellschaft: „Die Sprache, das

sprachliche Werden, ist keine Lehensherrschaft mehr, sondern Demokratie.“264

Nicht die Abstammung, die Geburt oder der Ursprung entscheiden über den Status

eines Teils des Systems, sondern nur noch dessen Relation zu den anderen Teilen.

Auf einer konnotativen Ebene ergeben sich strukturelle Äquivalenzen zwischen

Saussures Verhältnis zur Etymologie und dem Liberalismus der bürgerlichen

Gesellschaft. Allerdings rückt für Saussure mit dem Gedanken der Arbitrarität des

Zeichens die Frage in den Vordergrund, warum die ‚langue‘ trotz der ständigen

Gefahr der Veränderung durch die ‚parole‘ eine Stabilität aufweist, auf die man

sich mehr oder weniger verlassen kann. Was ist es, das die Funktion der Sprache

garantiert, wenn die Zuordnungen von Signifikant, Signifikat und Referenzobjekt

letztlich kontingent sind und sich jederzeit verändern können?

Saussure löst die durch die Kontingenz von Bedeutung ausgelöste Unsicherheit

mit dem Begriff des Werts, den er in Analogie zum Wertbegriff der Ökonomie

einführt.265 Die Bedeutung eines Zeichens kommt ihm nicht von ‚Natur‘ aus zu,

sondern entsteht als ein relativer Wert innerhalb eines differentiellen Systems.

Dieses Wertesystem garantiere die relative Stabilität der ‚langue‘ und mache sie

resistent gegenüber partikularen Abweichungen in der ‚parole‘. Folgerichtig

erkennen sowohl Barthes als auch Derrida in Saussures Konzept der aufeinander

bezogenen Werte eine Reflexion über den Tausch, wie sie im Rahmen der

263 Barthes 1988, S. 159 f. 264 Ebd., S. 160. 265 Vgl. de Saussure 1967, S. 94 f.

81

Nationalökonomie in ähnlicher Form bereits Marx geführt hatte: „Für Saussure

sind der Sinn, die Arbeit und das Gold die Signifikate des Lautes, des Lohns und

des Geldscheins“.266 Mit der Einsicht in die Kontingenz der Zuordnungen von

Worten, Löhnen und Geldmengen zu ihren Äquivalenten erkenne Saussure in den

Augen Barthes zwar die Labilität und Kontingenz seiner Lebenswelt, schrecke

jedoch vor den damit einhergehenden Unsicherheiten zurück:

Das kleine Drama Saussures besteht darin, daß er im Gegensatz zu den unbeugsamen Konservativen weder dem Zeichen noch dem Gold vertraut: Er sieht sehr wohl, daß die Bindung des Papiers an das Gold, des Signifikanten an das Signifikat wandelbar, labil ist; durch nichts garantiert; die ist dem Auf und Ab der Zeit, der Geschichte, unterworfen. Mit seiner Vorstellung von der Bedeutung steht Saussure im Grunde vor der derzeitigen Währungskrise: Das Gold und sein künstlicher Ersatz, der Dollar, brechen zusammen; man träumt von einem System, in dem sich die Währungen ohne den Rückhalt eines natürlichen Standards gegenseitig stützten: Saussure ist im Grunde ‚europäisch gesinnt‘.267

In dieser strukturalen und zugleich ideologiekritischen Lektüre zeigt Barthes, dass

Ferdinand de Saussure ein Theoretiker ist, der nach den Möglichkeiten von

Stabilität in einer kontingent gewordenen Lebenswelt fragt. Es geht Saussure

letztlich darum, die mit der Kontingenz der Lebenswelt einhergehenden Risiken –

zumindest zeichentheoretisch – zu minimieren. Mit Nietzsche gesprochen erkennt

Saussure, dass alle Wertvorstellungen nichts als Metaphern, Synekdochen und

Metonymien sind, dass die ‚langue‘ eine Metonymie der ‚parole‘ ist und durch die

Willkürlichkeit des ‚Triebs zur Metaphernbildung‘ unter ständiger Bedrohung

steht. Das Decouvrieren der Haltlosigkeit bisheriger Gewissheiten führt bei ihm

aber, anders als bei Nietzsche, nicht zur Idee eines freien ästhetischen Spiels,

sondern zum Rückzug in die stabile Welt des europäischen Gedankens.

Vergleicht man die Position Saussures mit Nietzsche, ergibt sich daher dieselbe

Absetzbewegung, die schon der Vergleich mit der Frühromantik gezeigt hat. Die

Paradoxie der Rhetorizität der Sprache wird in der Frühromantik im Begriff der

Urpoesie aufgelöst; bei Saussure leistet dieselbe Funktion die Idee eines stabilen

und einheitlichen ‚Wertesystems‘, das die Bedeutung eines Zeichens garantiert.

Mit der Saussure-Lektüre Barthes’ wird aber noch eine weitere Gemeinsamkeit

zwischen der Frühromantik und Saussure sichtbar: sowohl der Ursprungsgedanke

266 Barthes 1988, S. 161., vgl. auch Derrida 1999, S. 236 ff. 267 Barthes 1988, S. 161 f.

82

der Frühromantik als auch der Einheitsgedanke de Saussures sind in gewisser

Weise auf den politischen Begriff Europas bezogen.268 Es handelt sich um ein

Europa, in dem die sowohl von Nietzsche als auch von der Frühromantik und

Saussure in ähnlicher Weise erkannte Basisparadoxie sprachlicher Reflexion im

Begriff einer Einheit – hier Ursprung, dort Wertesystem – aufgehoben ist.

In den Reflexionen der Frühromantiker liegt der historische Ursprung dieser

Einheit im christlichen Mittelalter. Dem heutigen europäischen Selbstverständnis

nach liegt er in der Aufklärung – einem weiteren Einheitskonstrukt – und vor

allem im humanistischen und demokratischen Griechenland: jenem Griechenland,

dessen Philosophie Nietzsche als die „décadence des griechischen Instinkts“269

begreift. Ihm setzt er das Bild eines anderen Griechenland entgegen, in dem vor

der Paradoxie des Daseins nicht zurückgeschreckt wird; ein Griechenland, das die

Erhabenheit des ästhetischen Spiels höher zu schätzen weiß, als institutionell

verbürgte Sicherheiten. Nietzsche teilt weder den Ursprungsgedanken der

Frühromantik, noch ist mit seinem Denken die Vorstellung eines einheitlichen und

widerspruchsfreien Systems von Wertbezügen vereinbar. Führt man die

Grundgedanken der Romantik und Saussures Ansatz mit Nietzsche über sich

hinaus, muss sowohl die Vorstellung einer ‚Ursprache‘ als auch das Konzept der

‚langue‘ als einer stabilen und geschlossenen Einheit aufgegeben werden.

Das Bedürfnis nach Einheit und Stabilität der ‚langue‘ ist mit Nietzsche gedacht

die Verneinung einer der ‚parole‘ immanenten Dynamik: des ‚Triebs zur

Metaphernbildung‘, wie es im Frühwerk heißt. Derrida erweist sich als virtuoser

Begriffskünstler, indem er in seiner Kritik an Saussure in diesem Zusammenhang

die différance einführt – keinen Begriff, sondern ein Kunstwort, das auf die

Negation der Begrifflichkeit verweist und zugleich jene sprachimmanente

Dynamik zum Ausdruck bringt, die Nietzsche bereits im Blick hatte.270 Die

Stabilisierungstendenz der ‚langue‘ ist aus dieser Sicht nichts anderes als eine

268 Vgl. dazu Meixner, Horst: Politische Aspekte der Frühromantik. In: Vietta, Silvio (Hrsg.): Die

literarische Frühromantik. Göttingen 1983, S. 180-191, hier S. 187 f. 269 Nietzsche KSA, Bd. 6, S. 156. 270 Vgl. Derrida 1983, S. 98 ff. Die différance verweist sowohl auf das Ziehen einer Differenz als

auch auf die Bewegung des Aufschubs, die einen unendlichen Substitutionsprozess in Gang setzt, da dieser Aufschub durch das Ziehen der Differenz die Auflösung der différance verhindert. Damit ist die différance auch der Begrifflichkeit enthoben und stellt ein sowohl immanentes und ursprungsloses ‚a-priori‘ jeder Begriffsbildung dar, als auch die Tendenz, diese Begriffsbildung zu unterlaufen und auszuhöhlen.

83

negierende Kraft, die versucht, der dynamischen und paradoxen Rhetorizität der

Sprache Herr zu werden, oder mit anderen Worten: die ‚différance’ auf einen

Begriff zu bringen.

Es handelt sich dabei um den linguistischen Aspekt derselben Tendenz, welche die

Einheit der durch die Sophistik bedrohten philosophischen Sprache durch die

Ausgrenzung der Rhetorik stabilisiert. Mit Derrida wird die im Streit zwischen

Rhetorik und Philosophie sichtbare diskursive Konstellation von

Herrschaftsdiskurs und Gegendiskurs sprachtheoretisch pointiert. Die Paradoxie

der Sprache sei darin zu sehen, dass die Rhetorizität ihre eigene Verdrängung

bereits dadurch impliziert, nur auf Kosten eines nicht erfassten ‚anderen‘ eine

Unterscheidung treffen zu können, dieses ‚andere‘ aber zugleich anzustreben. Sie

ist Unterscheidung und Aufschub, reflexiv nie einzuholen – und damit der

Begrifflichkeit enthoben.

Die Rhetorizität kann aus dieser Sicht kein Begriff im herkömmlichen Sinne sein,

sondern vielmehr eine Art Form, die das Auftreten von Differenzen erst

ermöglicht. Nietzsche wird diesem Zusammenhang bereits insofern gerecht, als er

die Rhetorik in Analogie zu Kant als die ‚Form an sich‘ begreift.271 Derrida

variiert diesen Gedanken indem er die Authentizität der Stimme nicht länger als

einen Ausdruck der Einheit von Sprache und Denken begreift, sondern als eine

Illusion, die auf der materialen Differentialität jedes Zeichenprozesses beruhe. Die

materiale Form des Zeichenkörpers – die Schrift – ist dabei die Bedingung der

Differentialität des Zeichens.272 Die ‚différance‘ kann man sich in diesem

Sprachspiel wie die Aktivität auf einer Oberfläche vorstellen, die durch das Ziehen

von Differenzen ein Netz von Zeichen erzeugt. Dieses Netz ist aber kein

geschlossenes, statisches und stabiles System, sondern ein in stetiger Veränderung

befindlicher Prozess – ein ‚Werden‘. Von diesem Netz kann daher nur zu

heuristischen Zwecken abstrahiert werden. Letztlich muss jede Analyse immanent

bleiben.

271 Vgl. Nietzsche KSA, Bd. 8, S. 104. 272 Damit wird eine Differenz Derridas zu Nietzsche sichtbar, die in gewisser Weise ein

Rückschritt ist: Während Nietzsche den Begriff des ‚Triebs zur Metaphernbildung‘ (bzw. des ‚Willens zur Macht‘) in einer Art ontologischer Ambivalenz zwischen Sprachlichkeit und Leiblichkeit denkt, löst Derrida diese Ambivalenz zu Gunsten der Schriftlichkeit als einer reinen Textualität auf.

84

Nietzsche bewegt sich bereits ganz bewusst innerhalb dieser Immanenz, indem er

ein Denken bevorzugt, dass nicht nach Stabilität, letztbegründeter Wahrheit und

Authentizität strebt, sondern die Widersprüchlichkeit des Lebens bejaht. In den

alten Griechen, den sophistisch und dichterisch Redenden, sieht er dieses Denken

vorgeprägt:

…Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!273

Diese ‚Tiefe‘ besteht darin, eingesehen zu haben, dass die Vorstellungen von

Tiefe, Substanz, Geist, Geschichtssinn – kurz: alle metaphysischen Begriffe – nur

Phänomene der Oberfläche sind: textuelle Formungen und Faltungen des

Denkens, hervorgerufen durch die Rhetorizität. Nietzsche untersucht folgerichtig

nicht die Tiefe des Denkens, sondern die Oberflächenphänomene, welche die

Vorstellung von Tiefe erst ermöglichen. Zugleich spürt er die Stellen auf, an

denen das Zentrum durch Paradoxien verschoben wird; den Stellen, welche die

Instabilität der Metaphysik offenbaren. Dies kann jedoch nicht mehr allein im von

der Philosophie entwickelten begrifflichen Denken geschehen, sondern im Modus

jenes ästhetischen Spiels, das seit jeher das Spiel der Kunst und Literatur gewesen

ist. „Sind wir nicht eben darin — Griechen? Anbeter der Formen, der Töne, der

Worte? Eben darum — Künstler?“274

2. Das Abenteuer der Spur

Ein Literaturtheoretiker kann der Auffassung sein, dass Nietzsche entscheidende

Gedanken der Dekonstruktion vorwegnimmt. Er kann auch der Auffassung sein,

dass sich die Konstellation zwischen Platon und den Sophisten in der

Auseinandersetzung zwischen der Hermeneutik und dem Poststrukturalismus

historisch wiederholt. Es besteht immer die Möglichkeit, die Historizität eines

Textes zu betonen, oder die Historizität selbst als ein textuelles Phänomen zu

untersuchen; die Zeit als einen linearen Prozess mit Anfangs- und Endpunkt zu

273 Nietzsche KSA, Bd. 3, S. 352. 274 Ebd.

85

begreifen, oder als Oberflächenphänomen, als ‚topologische Verzerrung‘ eines

intertextuellen Raums.275

Aus der Sicht poststrukturalistischer Theorien sind weniger die inhaltlichen

Ähnlichkeiten Nietzsches zur Dekonstruktion wichtig, als vielmehr die

Differenzen der Struktur, durch welche diese Ähnlichkeiten bestimmt sind.

Nietzsche verhält sich zur Frühromantik, wie Derrida zum Strukturalismus;

Gorgias verhält sich zu Parmenides, wie Vico zu Descartes: Nicht nur das

Sprachverständnis, das hinter diesen einzelnen Auffassungen steht, muss das

Interesse des Literaturtheoretikers wecken, sondern vor allem die Differenz, die in

diesen Verhältnissen zum Ausdruck kommt. Bereits die Auseinandersetzung

zwischen Platon und den Sophisten war von ihr bestimmt. Sie lässt sich bis in den

Mythos hinein verfolgen, bis zu Dionysos und Apoll. In der Sprache selbst findet

Nietzsche diese Differenz in dem Verhältnis des ‚Triebs zur Metaphernbildung’

zur Täuschung der Metonymie. Einen Ursprung, ein Zentrum oder ein Prinzip gibt

es jedoch nicht. Am Ende steht immer das Verhältnis selbst, als ein differentieller

Moment des Aufschubs.

Derrida argumentiert ähnlich. Im Hinblick auf die strukturale Mythenforschung

des Ethnologen Claude Levi-Strauss schreibt er in seinem Aufsatz Die Struktur,

das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen:

Es gibt keine Einheit oder absolute Quelle des Mythos. Brennpunkt oder Ursprung sind immer nur Schatten oder ungreifbare, nicht aktualisierbare oder vorerst nicht existierende Virtualitäten. Alles nimmt seinen Ausgang von der Struktur, der Konfiguration oder der Relation. Der Diskurs über diese a-zentrische Struktur, als die der Mythos zu verstehen ist, kann selbst kein Subjekt oder absolutes Zentrum haben. Will er die Form und die Bewegung des Mythos nicht verfehlen, muß er die Gewaltsamkeit vermeiden, die darin bestünde, eine Sprache zu zentrieren, die eine a-zentrische Struktur beschreibt. Man muß hier also auf den wissenschaftlichen oder philosophischen Diskurs, auf die episteme verzichten, die die absolute Forderung stellt, zur Quelle, zum Zentrum, zum Grund, zum Prinzip usf. zurückzugehen.276

Dieser Verzicht auf die ‚episteme‘ führt Derrida zum nietzscheanischen Spiel. Als

Konsequenz aus der Nicht-Präsenz des Ursprungs als einer Abwesenheit bietet

sich zum einen der Rückzug in Modelle der Stabilität an, die zugleich den

275 Vgl. Barthes 1988, S. 159 f. 276 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolpe Gasché. Frankfurt a.M.

1976, S. 433.

86

Herrschaftsdiskurs des Wahren stabilisieren, zum anderen das Wagnis des

affirmativen Spiels mit der Nicht-Präsenz des Zentrums:

Der verlorenen oder unmöglichen Präsenz des abwesenden Ursprungs zugewandt, ist diese strukturalistische Thematik der zerbrochenen Unmittelbarkeit also die traurige, negative, nostalgische, schuldige und rousseauistische Kehrseite jenes Denkens des Spiels, dessen andere Seite Nietzsches Bejahung darstellt, die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt und der Unschuld der Zukunft, die Bejahung einer Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist. 277

Diese ‚fröhliche Bejahung‘ lässt sich bereits bei Gorgias beobachten. Sie hatte

Platons Missbehagen hervorgerufen und war jenes Leben, das Nietzsche an den

alten Griechen bewundert hat; die Metaphysik hat sich seit ihrem Entstehen von

ihr abgrenzt. Auch Derrida wertet auf diesem Weg implizit die Sprachkunst der

Sophisten gegenüber Platon auf, situiert seine Reflexion dabei aber innerhalb der

philosophisch-literaturwissenschaftlichen Debatte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Als literaturtheoretische Reflexion gelesen, ergeben sich aus diesen Überlegungen

tiefgreifende Konsequenzen für das Selbstverständnis der Literaturwissenschaft.

3. Forschungspraktische Konsequenzen

Eine Suche nach Zentren, Ursprüngen und Prinzipien führt in den historischen

Kulturwissenschaften aus der Perspektive Derridas und Nietzsches nur zur

Verknappung und Verblendung der ‚Realität‘. Das Denken der Sophisten hatte

bereits Nietzsche als das der Realität eigentlich nähere begriffen.278 Da die

Sophisten die Form, den Schein und damit auch die Differenzen betonten, die für

das Leben charakteristisch seien, erscheint ihr doxatischer Perspektivismus als das

der sozialen Wirklichkeit des Menschen adäquatere Modell.279 Als Alternative zur

Suche nach Prinzipien und Zentren kann deshalb Derridas Lesepraxis des

‚seminalen Abenteuers der Spur‘ gelten,280 welche die Differenzen eines Textes

als Konstellationen innerhalb eines intertextuellen Raums nachzeichnet, anstatt sie

in einem abstrakten Modell, in einem scheinhaften Ursprung aufgehen zu lassen.

Die dekonstruktivistische Lektüre ist damit immer gegen den philosophischen

277 Ebd., S. 441. 278 Vgl. Nietzsche KSA, Bd. 6, S. 156. 279 Bereits Vico hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Philosophie, indem sie auf der

Möglichkeit letztgültiger Wahrheit beharrt, den Bezug zur gesellschaftlichen und politischen Realität des Menschen verliert. Vgl. Ijsseling 1988, S. 87.

280 Vgl. Derrida 1976, S. 441.

87

Herrschaftsdiskurs gerichtet. Während hermeneutische Interpretationen und

strukturale Analysen immer nach einem Ursprung, einer Einheit oder einem

Prinzip des Textes suchen, zeigt die dekonstruktive Lektüre, warum diese Suche

scheitern muss. Die Dekonstruktion sucht nach den Stellen des Textes, die sich

dem Diskurs widersetzen.281

Diese Abkehr vom hermeneutischen Begriff der Interpretation bedeutet allerdings

nicht, dass auf Gliederungsbegriffe, die sich aus der metaphysischen Tradition

herleiten, gänzlich verzichtet werden muss. Selbst die Tiefenschichten der Sprache

sind, wie Derrida betont, von der Metaphysik durchwachsen. Das Denken, das auf

die Sprache angewiesen ist, ist daher immer in einer Art selbstreferentiellem

Zirkel aus Begriffsbildung und Kritik gefangen:

Dieser Zirkel ist einzigartig; er beschreibt die Form des Verhältnisses zwischen der Geschichte der Metaphysik und ihrer Destruktion: es ist sinnlos, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, wenn man die Metaphysik erschüttern will. Wir verfügen über keine Sprache – keine Syntax, keine Lexik –, die nicht an dieser Geschichte beteiligt wäre. Wir können keinen einzigen destruktiven Satz bilden, der nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte.282

Ein Eingeständnis in die prinzipielle Unmöglichkeit, der Metaphysik zu

entkommen, zeugt von mehr reflexivem und kritischem Bewusstsein, als der

Versuch, diese Aporie zu überwinden. Es unterscheidet sich nicht von der Einsicht

in die Unhintergehbarkeit der Rhetorizität, die Notwendigkeit metaphysischer

Begriffe zu bejahen, so lange man sich der damit einhergehenden Paradoxien

bewusst bleibt und die den wissenschaftlichen Interessen zu Grunde liegenden

soziokulturellen Reproduktionsmechanismen mitreflektiert. Auch für die

dekonstruktivistische Lektüre gilt letztlich, dass Kritik nur aus einer Position der

Immanenz heraus möglich ist.

Die Konsequenz aus dieser Kritik kann deshalb nicht der völlige Verzicht auf

Gliederungsbegriffe wie ‚Geschichte‘, ‚Autor‘, ‚Werk‘ und ‚Tradition‘ sein.

Jedoch müssen diese neu gedacht werden, wenn einmal ihre Kontingenz erkannt

ist. Sie sind längst nicht für alle wissenschaftlichen Fragestellungen geeignet,

sondern lediglich Metaphern mit mehr oder weniger großem heuristischen Wert.

281 Vgl. Culler, Jonathan: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie.

Reinbek bei Hamburg 1988, S. 21. 282 Derrida 1976, S. 425.

88

Im Einzelfall können sie durch besser geeignete Begriffe – wie beispielsweise

‚Diskurs‘, ‚Intertext‘ und ‚Differentialität‘ – ersetzt werden. Dazu muss eine

entsprechende kritische Reflexion über das Verhältnis von Begrifflichkeit und

Erkenntnisinteresse sinnvoll in den Forschungsprozess integriert werden. Was die

Literaturwissenschaft mit dem Poststrukturalismus gewinnt, ist daher nicht nur ein

Anstieg ihres theoretischen Reflexionsniveaus. Erst mit der Abkehr vom

traditionellen Wissenschaftsverständnis kann die Literaturwissenschaft eine ihrem

Gegenstand adäquate Exaktheit erreichen.

89

VI. Schlussplädoyer für die theoretische Literaturwissenschaft

Die ausschließliche Suche nach autorfunktionalen Ursachen oder strukturalen

Prinzipien textueller Eigenschaften kann in der Literaturwissenschaft nur um den

Preis eines Aspekts von Literatur erreicht werden, der in den Augen des

Poststrukturalismus gerade das Spezifische der Literatur ausmacht: die

Paradoxien, durch die das Entstehen stabiler Erklärungsmodelle fortgehend

unterlaufen wird. Diese stehen in einem gespannten Verhältnis zur

Wissensorganisation des philosophischen Herrschaftsdiskurses und widersetzen

sich tendenziell der wissenschaftlichen Systematisierung. In der

literaturtheoretischen Diskussion des zwanzigsten Jahrhunderts ist um die Frage

nach dem Gegensatz von Hermeneutik und Dekonstruktion daher eine hitzige

Auseinandersetzung entbrannt, die jedoch bald von der Einsicht in die

methodologische Komplementarität von Theorieparadigmen gefolgt wurde.283

Dadurch hat sich letztlich das Modell der Pluralität gegenüber der Tendenz zur

Vereinheitlichung des Faches durchgesetzt.

Die heutige Situation ist jedoch von einer Wiederholung der Differenz von

pluralistischer und vereinheitlichender Wissensorganisation gekennzeichnet. War

die Diskussion bis in die achtziger Jahre hinein noch von der heute naiv

erscheinenden Frage bestimmt, welche Theorie die ‚richtige‘ Auffassung von

Literatur vertrete, zeigt sich seit einiger Zeit die Tendenz, auf die theoretische

Reflexion zu Gunsten der Idee einer neuen Einheit des Fachs zu verzichten. Dieser

„Ruf nach dem Ende der Literaturtheorie“284 erweist sich bei näherer Betrachtung

als ein „reduktiver Versuch der Entdifferenzierung des modernen Wissens“.285

Was sich angesichts dieser Situation möglicherweise mit Gewinn herauszuarbeiten

lohnt, ist die systematische Differenz, die diesem Gegensatz zu Grunde liegt.

Diese Differenz hatte bereits die Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten

bestimmt. Auch die in der literaturtheoretischen Debatte des zwanzigsten

Jahrhunderts geführte Auseinandersetzung zwischen hermeneutischer und

poststrukturalistischer Literaturwissenschaft ist von ihr geprägt. Dass zwischen

dem Verhältnis von Rhetorik und Philosophie in der Antike, der

283 Geisenhanslüke 2003b, S. 142 f. 284 Ebd., S. 143. 285 Ebd.

90

Auseinandersetzung zwischen Hermeneutik und Poststrukturalismus sowie der

heutigen Opposition von Theoriebefürwortern und Theoriegegnern Ähnlichkeiten

bestehen, ist vor dem Hintergrund der bisherigen Erörterungen leicht ersichtlich.

Sowohl Gorgias als auch Nietzsche und Derrida pflegen ein gespanntes Verhältnis

zu jener historischen Wirkmacht, die man ‚philosophischen Herrschaftsdiskurs‘

nennen kann. Alle drei vertreten ein Modell gestreuter und dezentrierter Macht,

während ihre Opponenten für epistemologischen Objektivismus, Metaphysik,

Hermeneutik oder disziplinäre Einheit einstehen. Nur diese Ähnlichkeiten zu

betonen wäre allerdings eine bedenkenswerte Reduktion der Komplexität, die in

den Differenzen zwischen diesen Verhältnissen sichtbar wird.

Platon verhält sich zu den Sophisten zwar, wie die Hermeneutik zum

Poststrukturalismus, aber zwischen beiden Konstellationen besteht ein

fundamentaler Unterschied: Platon und die Sophisten konnten nicht aus einer

historischen und systematischen Metaperspektive über die diskursiven und

epistemologischen Kontexte ihres Konfliktes reflektieren. Das ist erst durch

Nietzsches subversive Gedankenbewegung möglich geworden. Erst mit Nietzsche

setzt jene Form von Selbstreflexivität ein, welche die Modernisierung der

europäischen Gesellschaft ablöst und die ‚zweite Moderne‘ ankündigt: das Denken

in Einheit wird abgelöst vom Denken in Pluralität und Differenz. Der sprunghafte

Anstieg des Niveaus der wissenschaftlichen Selbstreflexion führt dabei in vielen

Fachdisziplinen zu einem transparenteren und kritischeren Forschungsprozess. Die

Partikularität und prinzipielle Unabgeschlossenheit der Interpretation – als

fundamentaler Akt der Sinnkonstitution verstanden – stellt zugleich die Bedingung

und Grenze menschlicher Erfahrung dar, deren andere Seite jene Paradoxien,

Differenzen und Aufschübe sind, die das Entstehen stabiler Sinnstrukturen

unterlaufen. Sich über diese Grenze bewusst zu sein, bedeutet, sich dem

literarischen Text gegenüber zu öffnen; erst dann wird seine Spezifität sichtbar.

Das Entscheidende an den Debatten zwischen Hermeneutik, Strukturalismus,

Dekonstruktion und anderen Theorieströmungen ist deshalb darin zu sehen, dass

über diese Grenze kritisch reflektiert werden muss, wenn die Literaturwissenschaft

sich über ihre eigene Arbeit bewusst bleiben will. Ein literaturwissenschaftlicher

Gegenstand ist in einem Zeitalter zunehmender wissenschaftlicher

Selbstreflexivität nicht mehr einfach nur gegeben, sondern wird im Zuge des

Forschungsprozesses als Begriff problematisiert, der selbst Teil der diskursiven

91

Zusammenhänge ist, die den Rahmen der Untersuchung abgeben. Diese paradoxe

Ausgangslage ist ein Spezifikum jeder Kultur- und Sozialwissenschaft, die über

ihre eigenen Grundlagen reflektiert.286

Eine dialektische Synthese konträrer literaturtheoretischer Positionen ist deshalb

nicht nur aus prinzipiellen Gründen fragwürdig, sondern erscheint auch nicht

unbedingt wünschenswert. Eine modellhafte Vereinheitlichung des Gegensatzes

von stabilisierenden und destabilisierenden Tendenzen des Textes würde nur zu

einer Verknappung führen, weil die paradoxe rhetorische Differenz, welche diesen

Gegensatz erzeugt, durch eine dialektische Bewegung erneut verdeckt werden

würde. Deswegen kann in einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung – wenn

sie kritisch sein will – weder auf hermeneutische noch auf dekonstruktivistische

Denkbewegungen verzichtet werden. Forschungsprozesse, die den Gedanken der

Pluralität in ihre Selbstreflexion miteinbeziehen, können prinzipiell kein Interesse

daran haben, sich in einer ideologischen Verengung auf ein Theorieparadigma

festzulegen.

Die Ironie der Literaturwissenschaft ist daher wohl darin zu sehen, dass die

Differenzen und Gegensätze verschiedener literaturtheoretischer Positionen

prinzipiell nicht lösbar sind, aber nur auf Kosten des Reflexionsniveaus

literaturwissenschaftlicher Arbeiten ignoriert werden können.287 Die Einsicht in

die methodologische Komplementarität konträrer Theoriemodelle und der damit

einhergehende Anstieg der Komplexität, Transparenz und letztlich auch Qualität

literaturwissenschaftlicher Forschung erscheint aus dieser Sicht als ein

begrüßenswerter Entwicklungsschritt.

Die Geschichte, die in dieser Arbeit erzählt wurde, hat jedoch gezeigt, dass jedem

Anstieg des Reflexionsniveaus – sei es dem der Sophisten gegenüber der

Mythologie oder dem Nietzsches gegenüber der Metaphysik – die Tendenz folgt,

die mit diesem Anstieg einhergehenden Unsicherheiten durch eine Reduktion der

gewonnenen Vielfalt zu kompensieren. Die Form von Wissensorganisation, die in

286 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft.

Frankfurt a.M. 1990, S. 469 ff. 287 Dieser Komplexitätsverlust im Zeichen einer scheinbaren Einheit des Fachs Germanistik äußert

sich in der gegenwärtigen Debatte um die Alternativen ‚Rephilologisierung‘ und allgemeine ‚Kulturwissenschaft‘. Vgl. dazu Geisenhanslüke 2003b, S. 144 sowie Bogdal, Klaus Michael: (EIN)Fach? Komplexität, Wissen, Fortschritt und die Grenzen der Germanistik. In: Erhart, Walter (Hrsg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposium 2003. Stuttgart und Weimar 2004, S.104-127.

92

der Geschichte dieser einander widerstrebenden Bewegungen immer wieder

auftaucht, ist die Rhetorik. Auch in der jetzigen Situation kann sie als eine

wissenschaftstheoretische Alternative zur Aufkündigung der gewonnenen

Komplexität gelten. Im pluralistischen Spiel theoretisch reflektierter Legitimation

von Wissen kann sie als das erscheinen, was sie in der griechischen Antike noch

gewesen ist: eine Form der offenen und transparenten Auseinandersetzung, die zu

praktikablen und vorzeigbaren Ergebnissen führt, ohne dass die Teilnehmer der

Auseinandersetzungen auf die ihre jeweilige Individualität begründenden

Differenzen verzichten müssen.

93

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Eidesstattliche Erklärung

Hiermit erkläre ich, Michael Peter Hehl , dass die vorgelegte

Magisterarbeit mit dem Titel Die Rhetorizität der Sprache.

Friedrich Nietzsches Rhetorikverständnis im Spannungsfeld von

Philosophie und poststrukturalistischer Literaturtheorie von mir

selbstständig verfasst wurde. Ich habe keine anderen als die angegebenen Quellen

sowie Hilfsmittel benutzt und die Magisterarbeit nicht bereits in derselben oder

einer ähnlichen Fassung an einer anderen Fakultät oder einem anderen

Fachbereich zur Erlangung eines akademischen Grades eingereicht.

Ort, Datum Unterschrift

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