Demokratie, Machbarkeit und die politische Kultur der Niederlande in den Siebziger Jahren (2008)

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WlM DE JONG DEMOKRATIE, MACHBARKEIT UND DIE POLITISCHE KULTUR DER NlEDERLANDE IN DEN SIEBZIGER JAHREN Ls_ 42 ?Jeinembekanntenwerk postwar k°^tatiert Tony Judt folgendes uber das :iger Jahre: The Sixties ended badly everywhere. The closing of the long post-war cycle of growth and prosperity dispelled the rhetoric~and"AerDroie of the New Left; the optimistic emphasis on post-mdustrial'ali7na7oln ^soulless quality of modern life would soon be displace'dbva renewed attention to jobs and wages.' ;u^we^hler. aufS_Ruckkehrvon materi'tohen Erwagungen in die poli- ti!C^KUltoderJiebzigerJahrehin:-Indens^stondea"8u^ ^!taatele uenwertem vordergrund; D^""ter wird dieBeschaftTgun7m it ^emenjens"ts desAuf-und Ausbaus der materiellenGmndhge'de7E Zelnzl ^erTden'. die dieNachkrieg^it noch dominiert hatten;"Neu&e%emTn^ KI!tlk. der industriellen Gesellschaft, Umweltbewufitsem uncT Qual^ d^ i£e, ns. wurden £in§efuhrtLsie hatten ein Pendant"m7mer^n^uul tor<;;aruecn technokratischen Gestaltung der Politik.2 . Indlesem Aufsatz gehelchderFrage nach, ob mit dem Ende der sechzig Jahrewirklich auch das Ende des forts^rittlichenOptlm ismu7d^pTanl uZ^ euphorie einherging und in welcher Beziehung diese"zu7'Ent"wicidungl Zr ' ^onL]^postwar:AMSlory ofEurofe since 194S (New Y°A 2005) 447, Der voriiegende ^S^^^^^^ATOOT^te^G-:hl:de--^^se ^^Sg ;^J^Or^20^d"k^e^pap^eht'a;;s "e^Si:^ rio3t. 'De. lo CT. atian^.. demTacJ'196. 5-1983°(Radboud"^ t t^Sn g. "d^l!turder Demokratie-i"den^chz^'un^siZSr^G^ £^^^^^^"S^ES ^^S^^^^JS^ ^hr^^A^i^lda^. diettes£\. dassindiesemzeuraumi"^^^^^^^^^ S^^^^atie. akG"ellsc^u;entete^w;i:ei^^^^l^s ^n Staaten Amerikas, der Bundesrepublik und Frankreic h'eTne^rc htlgeZlk"^ 2 ZDJr eucT^fn nT, Mle:ia^mus.. unlpostma. terialismus 8eht auf Ronald I"glehart zu^ck^^wir d. noch immer ?ftverwendet-um-dien-e^°Me^"zuubez^^^^^^^^^^ ^^SC T J:h^mto ofotli^^fertiert::'vgl:cu. ^liSI S^ silent revolution, changing . alues and political styles among^esSrn ^^^^t 43

Transcript of Demokratie, Machbarkeit und die politische Kultur der Niederlande in den Siebziger Jahren (2008)

WlM DE JONG

DEMOKRATIE, MACHBARKEIT UND DIEPOLITISCHE KULTUR DER NlEDERLANDEIN DEN SIEBZIGER JAHREN

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42

?Jeinembekanntenwerk postwar k°^tatiert Tony Judt folgendes uber das:iger Jahre:

The Sixties ended badly everywhere. The closing of the long post-warcycle of growth and prosperity dispelled the rhetoric~and"AerDroieof the New Left; the optimistic emphasis on post-mdustrial'ali7na7oln

^soulless quality of modern life would soon be displace'dbvarenewed attention to jobs and wages.'

;u^we^hler. aufS_Ruckkehrvon materi'tohen Erwagungen in die poli-ti!C^KUltoderJiebzigerJahrehin:-Indens^stondea"8u^^!taateleuenwertem vordergrund; D^""ter wird dieBeschaftTgun7m it^emenjens"ts desAuf-und Ausbaus der materiellenGmndhge'de7E Zelnzl^erTden'. die dieNachkrieg^it noch dominiert hatten;"Neu&e%emTn^KI!tlk. der industriellen Gesellschaft, Umweltbewufitsem uncT Qual^ d^i£e,ns. wurden £in§efuhrtLsie hatten ein Pendant"m7mer^n^uul tor<;;aruecn

technokratischen Gestaltung der Politik.2.

Indlesem Aufsatz gehelchderFrage nach, ob mit dem Ende der sechzigJahrewirklich auch das Ende des forts^rittlichenOptlm ismu7d^pTanluZ^euphorie einherging und in welcher Beziehung diese"zu7'Ent"wicidungl Zr

' ^onL]^postwar:AMSlory ofEurofe since 194S (New Y°A 2005) 447, Der voriiegende^S^^^^^^ATOOT^te^G-:hl:de--^^se^^Sg ;^J^Or^20^d"k^e^pap^eht'a;;s "e^Si:^rio3t. 'De.lo CT.atian^..demTacJ'196. 5-1983°(Radboud"^t t^Sn g."d^l!turder Demokratie-i"den^chz^'un^siZSr^G^£^^^^^^"S^ES ^^S^^^^JS^^hr^^A^i^lda^. diettes£\. dassindiesemzeuraumi"^^^^^^^^^S^^^^atie. akG"ellsc^u;entete^w;i:ei^^^^l^s^n Staaten Amerikas, der Bundesrepublik und Frankreic h'eTne^rc htlgeZlk"^

2 ZDJreucT^fn nT, Mle:ia^mus.. unlpostma. terialismus 8eht auf Ronald I"glehartzu^ck^^wir d.noch immer ?ftverwendet-um-dien-e^°Me^"zuubez^^^^^^^^^^^^SCT J:h^mto ofotli^^fertiert::'vgl:cu. ^liSIS^silent revolution, changing .alues and political styles among^esSrn ̂ ^^^t

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I. DIE GRENZEN DES WACHSTUMS

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Geschiedenis:Pol^o^eC^^^^^^^»trun. ^P^entaire

j anders zu strukturieren. Es ging dabei urn Demokratisierung der Unter-ihmen und der Bildung und urn eine progressive Einkommenspolitik. Dasjhis chlagen ihrer Reformversuche wurde in erster Linie nicht auf sie selbst

,

der aufdie Realisierbarkeit ihrer Plane bezogen, wohl aber aufden politischen.Jnwillen der konfessionellen Partner und der Arbeitgeber und Unterneh-men. 5 Dies deutet aufihr ungebrochen grofies Vertrauen m die Planbarkeit derReformenhin. Der Bildungsminister Van Kemenade sagte ruckblickend, dass esdabei keineswegs urn Illusionen ging: "... es ging urn Themen, mit denen mansichin dieser Zeit identifizieren konnte, mit Bezug aufdie gewiinschte Gesell-schaftsordnung, und die schrittweise Realisierung konkreter Mafinahmen. (i

Die Rezession fuhrte in den Niederlanden sowie in Belgien wiihrendder siebziger Jahre noch zu keinen schmerzhaften Auswirkungen. Allmah-lich erst wurde deutlich, dass die Moglichkeiten nicht unbegrenzt waren.Die van Sozialdemokraten dominierte Regierung unter Joop den Uyl konnteihre weit reichenden Plane - mit ihrem zweiten Slogan, die Verteilung vonWissen, Einkommen und Macht - schon nicht mehr vollstandig realisieren, weilunter anderem die finanziellen Mittel geringer wurden. Die Arbeitslosigkeitnahm langsam zu; fiir die Bekampfung der Inflation war kein Wundermittelvorhanden. Ende der siebziger Jahre nahmen die euphemistisch Umbeugungengenannten Einsparmafinahmen ihren Anfang.

Der Traum der Planbarkeit der Gesellschaft war also wahrend der sieb-ziger Jahre noch nicht gestorben. Diesem Ideal wohnte allerdings ein gewissesParadox inne: Zwar ging man davon aus, dass das Wirtschaftswachstum einSelbstlaufer und als gesellschaftliches Ziel daher eher zu kritisieren sei, da derClub of Rome es als umweltbedrohlich einstufte, doch eine ,, demokratisierteUmverteilung (,, Nivellierung") der vorhandenen Mittel wurde darum nochnicht als unmoglich angesehen. Wachstum wurde nicht als Voraussetzungfur den progressiven Traum der Nivellierung der Einkommensunterschiedebegriffen.

Das hatte damit zu tun, dass dieses sozialprogressive Ideal eigentlich auchnicht als ein materielles Ideal verstanden wurde, sondern als Teil einer post-materiellen Anderung der Gesellschaft. Diese Verbindung zeigt sich im Titeldes Bildungsberichts van Minister Van Kemenade van 1975: ,, Mehr Menschenmiindig macheri'. 7 Der soziademokratisch-progressiven Auffassung yonDemokratie zufolge, sollten Menschen nicht nur Raum fur ihre Miindigkeitbekommen, sie sollten auch miindig gemacht werden.

5 "Inleiding", in: Jan Ramakers, Gerrit Voerman & Rutger Zwart (red), Illusies van Den VyV.(Amsterdam 1998).

6 J.A. van Kemenade, "Meer mensen mondig maken", in: Jan Ramakers, Gerrit Voerman &Rutger Zwart (red), Illusies van Den Uyl? (Amsterdam 1998) 43.

7 Jos Ahlers, Meer mensen mondig maken; samenvatting discussienota Contouren van eentoekomstig onderwijsbestel (s-Gravenhage 1975).

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II. WANDEL DES DEMOKRATIEVERSTANDNISSES

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DEMOKRATIE^MACHBARKEIT UND DIE POLITISCHE KULTUR DER NIEDERLANDE IN DEN SIEBZIGER JAHi N

1x

TRANSPARENZ

Aufder progressivenSeite hingegen richtete sich das Misstrauen vor allem auf"dieBeh6rden. Politikern war in dieser Hinsicht nicht genereUzu miTsTrau^sondern vor allem den christlichen und konservativen;"in"den MedierTwuTdeeine zymsche Einstellung der Politik gegenuber Mode. Den'sozIaTdemokr^tischen Politikern wurde noch am wenigsten misstraut. Hie7z7igt7skhdieWeiterwirkung des antiautoritaren Denkens der sechziger"Jahr^"W^ dier

^zialhistoriker. Hartmut Kaelble in seiner SozialgeschichteEu7opas b'emerkT:;'Demokratie hlec nicht. nur gewahlten Politikern einen~gr^ndfe gen7enye rtrauenLvorschuss zugeben'sondern ihre EntscheidungenauDchkont^r"

i durch die Medien und Experten zu kontrollieren. "10"Das ant!autontare Denken hatte seine grofite Auswirkungm'dieser Forde-

mng nach Offenheit und Transparenz der Demokratie. "Nicht~nu7in"d7nM!dien^uch zum Beispiel im. wissenschaftlichen Ra^uTBeratungderReJe -1rung(WRR) wurde dies_deutli^. In einem 1975 veroffentlkhtenPenchthe^tes^Aufjeden Fall ist fur Demokratie erforderlich, dass es Offenheitund'Offent-L

^gibt. " Demgemafi sollten laut dem WWR die offenthchen'Behordenauchoffen funktiomer^. u In der Legislative wurde das BedurfniTnadi'Ofen1 -1

wahrend der siebziger Jahre durchgesetzt. 12Rechenschaft abzulegen fur das Innehaben van Autoritat und die Forde-

ruT_achoffenhe!tundTransparenzwarvielmehralsemprogr^^^^s.lewarauch §leichbedeutend mit einem informellen Stil, der sFchTn 'derKuit 'urdurchsetzte. Hierarchien sollten sich da, wo sie-notig^en;^eutUA JS1mleren konnen- Die Kommu"ikationsweise von Politikern'wurd7auchZtt er

Emfluss informeller and offener. 13 International bedeutete"d^oralische Ende der Politik der GeheimhaltungT deT^ffinterZ^eTLlBERALISIERUNG

D.emob, atlsierung der Demokratie meinte vor allem Liberalisierung der Demo-kratle- Diese Liberalisierung hatte mehrere Seiten. Eine dwonw^diePermis-smtatldie m den Niederiande ^ 'gedogen (tolerieren)"bekannri sre m°eandere war die Entwicklung eines Verstandnisses de7Demok7atie"als eln Ubecr.ales. system^das die Rechte der MindeAeiten bzw;benachteiligteu rG7uplpecnwie Frauen, Schwule und Auslandern sowie Menschen mitande^r'HauSe

,10 .HaprtnTtKle lb!5 sozialSesc^hte Europas. 1945 bis zur Gegenwart (Miinchen 2007)n lRRteBlSt 9? organisatie van het °Penbaar bestuurdE^ele;spu e:teln;'knueulpunten en

12 s, lhe z'B. dLwlo^&aarte'd w" 5ef(""r (Offenbarmachungsgesetz Behordeninforma-

S^££r Form 1978 einsefuhrt-eine Ko-^e^"'=g^^13 ̂ ny^s^. als deugd"in Jo Bardoel ̂ ' ̂ aus^ ̂ '."

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SSS;S^;,^^£2S nswnriedan*-.^iiissssi^pationvon ein^ana7oge^EnTm"klZ^dReLlo wurde diezdee der EmanzT^'B:'cS^.T;.E"p:;Semes,, demokratisch"enRechtsstaa^ntlSellobe, n. werden' um die Idee£^^:'S^l"f^ S^d^IE °i:ntlsderDemokratieverknupft^Der'Be"sr^Z^alj et,2t^nehmend mit der Mee

^"S:?S»DlBSStT^system vorangetriAeTwurZn"1 UIe Kecfite des Individuums> die vom Rechts-

r=: a^SSpRS:S;r, t,d:;. Demotr-c-^^cht:^1^^^^^^^^^Demokratieverstandnishm"17"0 u"u ule laee der Mensche"rechte gestaltetes

SSS^S^S^ S!^-E"twicklung:So b^Zl2^^^^m«"^"tTi^^kom^^^^;2^^ ^^^^chenKritilT^^^M^:I=f^^^^d^^R£;?Skherheitund2usammenarbeTmZro31 0c^tel;LaILdle. organisationfur

'^^^SSS^i^^anstalt TROS war ̂ erf^n7ei^TJml!eJte:DKm4 S^undete Sende-'-e^^Zn^Z^S ^S tpol!?ierte?OPUlarc^D.e TROS"wurd:^rduerZ°rl^sefv̂ ^^^^"^ttern'^^^^ ^^^^^^"sch warum Not leidend"evZeituun^nuw^ LVD..Chrfw;egelfragte Z-B- rheto:Staat -bventioni^^d^Sj^^S!6^ ~Linie^ve;5o.»"^':rS^°^^^^^^^

14 ̂ S^'^^s^s^^^'rs ^tanf<:f^t,+ /, ?" .....

", vgl. S.W Couwenb~em"^l leraen.ID der niederiandischer

^^^c0^^^^^^^^^^^.aan de" Rijn 1977) ------ -"^pmejunctie in de democratische rechtsstaatWphenHans Wiegel, im

recmsstaat (Alphen15

^s^^^rf ilm De heer metde?-- ^ n^flm ^ ,evvn^

OEMOKRATIE, MACHBARKEIT UNO DIE POLITISCHE KULTUR DER NIEDERLANDE IN DEN SIEBZIGER JAM

DEMOKRATIE ALS MORALISCHE GEMEINSCHAFTDemokratie als moralische Gemeinschaft wurde zur Wesensart der niederian-dischen Demokratie in den siebziger Jahren. Dies konnte man als eine breitegesellschaftliche Entwicklung beschreiben, die keineswegs nur mit linkerprogressiver Politik assoziiert werden sollte. Demokratie war ein bindendesKonzept fur eine breite Palette van Gruppen in der Gesellschaft, die zuvor dieDemokratie mehr als ein zur Verwirklichung eigener Ziele notwendiges Mittelansahen.

Dazu hat sicherlich der Prozess des Einsturzes der ,,Saulen" beigetragen. Dastypische niederlandische Phanomen der ,,verzuiling" war wahrend der sech-ziger Jahre in eine Krise geraten.16 Eine mogliche Erklarung fur diesen Prozessist, dass die emanzipatorischen Ziele fiir Gruppen wie reformierte Protestantenund Katholiken grosso modo erreicht waren. Die Identifikation mit konfessio-nellen Anliegen wurde geringer, and neue Themen wie soziale Ungleichheit,Weltoffenheit und Partizipation erschienen aufder Tagesordnung. 17

Eine neue Offenheit der Welt gegeniiber war also schon wahrend der sech-ziger Jahre innerhalb der reformierten und katholischen Saulen und Kirchensehr deutlich bemerkbar. 18 Dort wurde auch der Auftrag zur Weltverbesserungbereits formuliert, zum Beispiel in der Solidarisierung mit der Dritten WellEin grofier Teil dieses religios inspirierten Engagements wurde in eine mora-lische Demokratieauffassung investiert und diese bildete einen wichtigen Teildes demokratischen Glaubens, wie er sich wahrend der siebziger Jahre in denNiederlanden entwickelte. Demokratischer Glaube bestand aus einem commit-ment zur Verbesserung der Welt durch das Austragen der liberalen Demo-kratie als Regierungs- und Gesellschaftstypus. Wie der niederlandische Sozio-loge Rob van Ginkel bemerkt: 'Die Integration in die Nation fand nicht langernotwendigerweise durch konfessionelle Lebensgemeinschaften statt. Danebengab es inzwischen neue, die Nation ubersteigende Ideale, die ins Blickfeld derNiederlander kamen. '19 Van Ginkel meint damit unter anderem Europa. Vorallem aber trat die liberale Demokratie selbst als identifizierbares, die Nationubersteigendes Ideal hervor: ein demokratischer Kosmopolitismus.

NEUES HISTORISCHES BEWUSSTSEIN

Heutzutage wird die Entstehung der an dieses liberale Demokratiekonzeptgeknupften Idee der politischen Korrektheit, vor allem Immigranten gegeniiber,oft mit angeblichen eigenen Schuldgefuhlen verbunden: etwaiwegen derDepor-

1B_^

16

17

1819

Klassische Text iiber "Verzuiling" war Arend Lijphart, The politics of accomodation ..pluralismand democracy in the Netherlands (Berkeley 1968)J.E. Ellemers, "De jaren zestig in Nederland: Een geval van late modernisering?", in: Sociologi-sche Gids, jrg 44 (1997), 409-20.z.B. James Kennedy, Nieuw Babylon in aanbouw (Amsterdam 1995)Rob van Ginkel, Op zoek naar eigenheid. Denkbeelden en discussies over cultuur en identiteit inNederland (Den Haag 1999) 258.

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DEMOKRATIE, MACHBARKEIT UND DIE POLITISCHE KULTUR DER NIEDERLANDE IN DEN SIEBZIGER JAHREN

die geringere Begeisterung nicht unbedingt zur Ablehnung aller Ideale fuhren.Vielleicht wurde der liberaldemokratische Glaube gar noch vertieft.

^

III. AUSBLICK: PERSPEKTIVEN AUF DIE LANGEN SIEBZIGER JAHRE

Im Rahmen meines Forschungsprojektes drangt sich das Bild der siebziger Jahreals politisch korrektes Jahrzehnt auf. Denn eine Verzerrung tritt auf, wenn derNachdruck nur aufdie progressive und sozialdemokratische Seite der GeselF-scha?rdi,eses Ja^rzel^nt! gekgt wird- vieleder demokratischen Entwicklungenwie Wachstumskritik, Forderung nach Offenheit, Liberalismus und MoraUtatsowie die anUelitare Mentalitat waren nicht nur aus Polarisierung und linkerprogressiver Politik entstanden, sondern sie hatten eine groCere gesellschaft-liche Basis, die nicht nur am radikalen Progressivismus gemes^enwerdensollte.

Dahersollten auch konservative, konfessionelle und provinzielle Gruppenin die Revision des Bildes dieses langen Jahrzehnts miteinbezogen werdenrumdie demokratische Kultur auf offene und differenzierte Weise"zu betrachten^Es geht dabei nicht unbedingt urn Gegenrepertoires der Demokratie, wohlaber urn alternative Repertoires. So bedeutete Liberalismus fiir PolitikerwTeHans Wiegel Permissivitat im privaten Bereich, aber auch law and order imoffentlichen, und konnte Premierminister Van Agt als Leitbild far diese abweT-'chenden Visionen dienen, die viele Anhanger kannten. Van Agt war'einerseitsem progressiver Strafrechtler, der aktiv an der Liberalisierung des Strafrechtsmitarbeitete, andererseits aber ein konservativer Katholik, der wegen~semerPosition in der Abtreibungsdebatte heftig kritisiert wurde. 23

Fiir diesen Zeitraum wird insbesondere der Vergleich mit Belgien vieleswrdeutlichen konnen^ wo die Einflusse des linken Progressivismu^7a'merk^l?klTer waren ̂ nd es eine erheblich schwachere Aktionskultogab. 'Einerder^wichtigsten Probleme, die mein Projekt in diesem Zusammenhangunter'-sucht, 1st die Frage, welche Gruppen den'Wandel demokratischer No'menhiergetragen und vorangetrieben haben. Zwar ging der Wandel der Demokratienicht an den Belgiern vorbei, doch die Dominanz der christlich-demokra-tischen Partei wurde nicht durchbrochen.

Die Dm-rgenz zwischen dem von Tony Judt am Anfang dieses Aufsatzesgemalten Bildes und der politischen Kultur der Niederiande"konnte vielleichtdurch die grofien Unterschiede zwischen europaischen Landern untereinandererklart werden. In den USA and Grofibritannien waren die Auswirkungen'derRezession schneller spiirbar, und viele der Fortschrittstraume konnten'dortdeshalb nicht so lange uberieben wie in zunachst unberiihrten Landern wiedenNiederlanden. Und in Deutschland wurde die demokratische Debatte starker

23 Johan van Merrienboer et al., Dries van Agt, Tour de Force. Biografie (Boom 2008).

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^M°^_^BARKEH UNO DIE POLITISCHE KULTUR

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TILL VAN RAHDEN

PATERNITY, RECHRISTIANIZATION,AND THE QUEST FOR DEMOCRACYIN POSTWAR WEST GERMANY

"Nazis - not wanted," "Jews - undesirable, " and "half-weak fathers": these were

the topics that DerMdnner-Seelsorger, a monthly Catholic journal, listed as "hotpotatoes" in 1964 West Germany. ' The third of these catch phrases was obvi-ously meant as a retort to the widespread image of the "half-strong youth." Butmore than that, it pointed to one of the obsessions of West Germany in its earlyyears: discovering what kind of paternal authority was possible and desirableafter the catastrophe of National Socialism and the war of extermination. Ofcourse, the debate on the "society without the father" also gave voice to deep-seated anxieties about the changing nature of gender relations.2 But above all,this longing for new kinds of fatherhood gives us insight into the West Germanquest for democracy from the early 1950s to the late 1960s.

The history of Germany in the twentieth century moves between the twoextremes of its fall in war and genocide, on the one hand, and its return topeace and democracy, on the other. Precisely if we view the postwar years as anera after a "rupture with civilization", then we must ask ourselves how a demo-cratic society could emerge from this shadow of violence. Common histor-ical interpretations of the Federal Republic explain its liberalization of polit-ical life as a by-product of the economic miracle and its connection to the West.In the following, by contrast, we will focus primarily on West Germans' questfor a democratic existence and culture. Such a change in perspective draws on

Alois Stiefvater, "Der interessante Vortrag," in Der Mdnner-Seelsorger, 14 (1964): 204-205.The following essay draws on a paper I gave at the Duitsland Intituut Amsterdam in March2008. 1 would like to thank the audience for their stimulating questions, Hanco Jurgens for hispatience and generosity, and Stefan Vogt, Ton Nijhuis and, most importantly, Natalie Scholzfor their warm hospitality. Hartelijk dank. A longer and fully annotated version of this essaywill be published in Raising Citizens in the "Century of the Child:" Child-Rearing in the UnitedStates and German Central Europe in the Twentieth Century, ed. Dirk Schumann (New York:Berghahn Books, 2009 or 2010).Wilhelm Bitter (ed. ), Vortrage uber das Vaterproblem in Psychotherapie, Religion und Gesell-schaft (Stuttgart, 1954); Paul Wilhelm Wenger, "Vaterlose Gesellschaft," in Rheinischer Merkur,7 August 1959, pp. 1-2; Alexander Mitscherlich, "Der unsichtbare Vater: Bin Problem fiirPsychoanalyse und Soziologie, " in Kolner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie, 7(1955): 188-201.

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