Ekklesia als Verb. Eine Archäologie der politischen Dimension des Christentums, in: Jahrbuch...

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Ekklesia als Verb Eine Archäologie der politischen Dimension des Christentums Peter Zeillinger, Wien "Wenn du in die I<..irche flüchten willst, dann eile nicht zu einem Ort, sondern suche Schutz in einer (neuen) Gesinnung. Denn die I<..irche ist nicht Mauer und Dach, sondern Glaube und Lebensführung!"l "Das Wesen des Christentums ist synesthiein."2 Die Ekklesia Christi ist keine Institution, sondern eine Praxis. Unter diesem Motto stehen die nachfolgenden Überlegungen zu einem Phänomen, das die abendländische Kultur wie kein anderes geprägt hat und bis heute selbst den sogenannten »säkularen« Institutionen in vielfacher Weise zu- grunde liegt. Problemstellung und Suche nach einem Ausgangspunkt Das Thema Kirche soll im Folgenden nicht als rein theologische Frage- stellung in den Blick genommen werden. Daher bedarf es einer V erge- wisserung der Problemstellung. Wer sich dem Langzeitphänomen der christlichen ekklesia und ihrem Anspruch angemessen nähern will, sollte seinen Ausgangspunkt vielleicht nicht in erster Linie in der Ekklesiologie der Systematischen Theologie und auch nicht in den soziologischen An- sätzen der Pastoraltheologie suchen. Das Problem besteht dabei nicht - 1 Johannes Chrysostomus, Homilie in Eutropium 2,1, in: Migne, Patrologia Graeca LII, 395ff (übers.v. Oliver Achilles). 2 Franz Mußner, Der Galaterbrief (HThK IX). FreiburgiBr. 1974, 423. - Vgl. zur Thematik: Andreas Leinhäupl-Wilke, Zu Gast bei Lukas. Einblicke in die lukanische Mahlkonzeption am Beispiel von Lk 7,36-50, in: Martin Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität (QD 221). Freiburg-Basel-Wien 2007, 91-120. Ekklesia als Verb 199 wie man zunächst vermuten könnte - in der Selbstreferentialität, das heißt darin, dass die christliche Selbstreflexion ihren selbstverständlichen Standpunkt stets innerhalb der historisch gewachsenen Ausdrucksgestalt des christlichen Glaubens hat - eine Ausdrucksgestalt, die schon von ih- ren neutestamentlich bezeugten Anfängen her mit dem griechischen Ter- minus J>ekklesia<< bezeichnet wird. 3 Diese im religiösen Bereich häufig an- zutreffende Selbstbezüglichkeit ist nicht das entscheidende Problem, das das Verständnis des Phänomens der christlichen Ekklesia erschwert. Ganz im Gegenteil. Die christliche Theologie zeichnet sich vielmehr so- gar dadurch aus, dass sie den Inhalt und Vollzug ihres Glaubens selbst- kritisch zu reflektieren vermag und auch gegenüber anderen zu vermit- teln sucht. Der biblische Auftrag "seid stets bereit jedem Rede und Ant- wort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die in euch ist" (1 Petr 3,1 5) ist in diesem Sinne tatsächlich das zentrale Motto der christlichen Theo- logie.4 Ein Problem entsteht allerdings dort, wo die systematische Refle- xion ihre eigene Begrifflichkeit in den Blick nehmen muss, weil diese im Laufe der Geschichte ihre Selbstverständlichkeit verloren hat. Vor eben dieser Herausforderung steht die christliche Theologie heute, wenn sie über den Begriff ekklesia/ Kirche und das damit verbundene Phänomen sich selbst und anderen gegenüber Auskunft und Rechenschaft geben soll. Kirche existiert -wie jede kulturelle Institution - heute nicht mehr einfach unhinterfragt. Die innerchristliche Reflexion in den Ansätzen der Systematischen Theologie oder den verbreiteten empirischen V ergewis- serungen der Pastoraltheologie 5 sind dabei nur bedingt aussagekräftig. 3 Die im Deutschen übliche Übersetzung mit »l<irche« geht dabei auf einen anderen, historisch später auftauchenden Namen zurück, der hier nicht weiter verfolgt wird ( < griech. kyriakos- im NT: »zum Herrn gehörig«). 4 Daher wiegt es umso schwerer, wenn - zurückgehend auf ein Seminar mit Hansjür- gen Verweyen - im deutschsprachigen Raum immer noch die Falschübersetzung "der nach dem Logos der Hoffnung fragt" herumgeistert, so als ob die christliche Form der Hoffnung geradezu einen (griechischen) Logos umfassen würde, dem es ur- sprünglicher nachzugehen gälte als der spezifischen Temporalität der (biblischen) Hoffnung. Zur Geschichte und dem Anspruch dieser Fehlübersetzung siehe: Peter Zeillinger, Fundamentaltheologie und Gottfähigkeit. An der Schwelle von Philoso- phie und Theologie, in: Kurt Appel I Wolfgang Treitler I Peter Zeillinger (Hg.), Vernunftfähiger - vernunftbedürftiger Glaube. FS J ohann Reikerstorfer (Religion- Kultur-Recht Bd. 3). FrankfurtiM. 2005, 33-63, bes. 33-49. 5 Wenn die eigene Beobachtung nicht täuscht, so findet in den pastoralen Disziplinen der christlichen Theologie zur Zeit ein Umbruch statt. Die hier in der Hinführung erschienen in: Jahrbuch Politische Theologie 6/7 »Extra ecclesiam … Zur Institution und Kritik von Kirche« (hg.v. H. Klingen, P. Zeillinger / M. Hölzl; Münster 2013), 198-234.

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Ekklesia als Verb Eine Archäologie der politischen Dimension des Christentums

Peter Zeillinger, Wien

"Wenn du in die I<..irche flüchten willst, dann eile nicht zu einem Ort, sondern suche Schutz in einer (neuen) Gesinnung. Denn die I<..irche ist nicht Mauer und Dach, sondern Glaube und Lebensführung!"l

"Das Wesen des Christentums ist synesthiein."2

Die Ekklesia Christi ist keine Institution, sondern eine Praxis. Unter diesem Motto stehen die nachfolgenden Überlegungen zu einem Phänomen, das die abendländische Kultur wie kein anderes geprägt hat und bis heute selbst den sogenannten »säkularen« Institutionen in vielfacher Weise zu­grunde liegt.

Problemstellung und Suche nach einem Ausgangspunkt

Das Thema Kirche soll im Folgenden nicht als rein theologische Frage­stellung in den Blick genommen werden. Daher bedarf es einer V erge­wisserung der Problemstellung. Wer sich dem Langzeitphänomen der christlichen ekklesia und ihrem Anspruch angemessen nähern will, sollte seinen Ausgangspunkt vielleicht nicht in erster Linie in der Ekklesiologie der Systematischen Theologie und auch nicht in den soziologischen An­sätzen der Pastoraltheologie suchen. Das Problem besteht dabei nicht -

1 Johannes Chrysostomus, Homilie in Eutropium 2,1, in: Migne, Patrologia Graeca LII, 395ff (übers.v. Oliver Achilles).

2 Franz Mußner, Der Galaterbrief (HThK IX). FreiburgiBr. 1974, 423. - Vgl. zur Thematik: Andreas Leinhäupl-Wilke, Zu Gast bei Lukas. Einblicke in die lukanische Mahlkonzeption am Beispiel von Lk 7,36-50, in: Martin Ebner (Hg.), Herrenmahl und Gruppenidentität (QD 221). Freiburg-Basel-Wien 2007, 91-120.

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wie man zunächst vermuten könnte - in der Selbstreferentialität, das heißt darin, dass die christliche Selbstreflexion ihren selbstverständlichen Standpunkt stets innerhalb der historisch gewachsenen Ausdrucksgestalt des christlichen Glaubens hat - eine Ausdrucksgestalt, die schon von ih­ren neutestamentlich bezeugten Anfängen her mit dem griechischen Ter­minus J>ekklesia<< bezeichnet wird.3 Diese im religiösen Bereich häufig an­zutreffende Selbstbezüglichkeit ist nicht das entscheidende Problem, das das Verständnis des Phänomens der christlichen Ekklesia erschwert. Ganz im Gegenteil. Die christliche Theologie zeichnet sich vielmehr so­gar dadurch aus, dass sie den Inhalt und Vollzug ihres Glaubens selbst­kritisch zu reflektieren vermag und auch gegenüber anderen zu vermit­teln sucht. Der biblische Auftrag "seid stets bereit jedem Rede und Ant­wort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die in euch ist" (1 Petr 3,1 5) ist in diesem Sinne tatsächlich das zentrale Motto der christlichen Theo­logie.4 Ein Problem entsteht allerdings dort, wo die systematische Refle­xion ihre eigene Begrifflichkeit in den Blick nehmen muss, weil diese im Laufe der Geschichte ihre Selbstverständlichkeit verloren hat. Vor eben dieser Herausforderung steht die christliche Theologie heute, wenn sie über den Begriff ekklesia/ Kirche und das damit verbundene Phänomen sich selbst und anderen gegenüber Auskunft und Rechenschaft geben soll. Kirche existiert -wie jede kulturelle Institution - heute nicht mehr einfach unhinterfragt. Die innerchristliche Reflexion in den Ansätzen der Systematischen Theologie oder den verbreiteten empirischen V ergewis­serungen der Pastoraltheologie5 sind dabei nur bedingt aussagekräftig.

3 Die im Deutschen übliche Übersetzung mit »l<irche« geht dabei auf einen anderen, historisch später auftauchenden Namen zurück, der hier nicht weiter verfolgt wird ( < griech. kyriakos- im NT: »zum Herrn gehörig«).

4 Daher wiegt es umso schwerer, wenn - zurückgehend auf ein Seminar mit Hansjür­gen Verweyen - im deutschsprachigen Raum immer noch die Falschübersetzung "der nach dem Logos der Hoffnung fragt" herumgeistert, so als ob die christliche Form der Hoffnung geradezu einen (griechischen) Logos umfassen würde, dem es ur­sprünglicher nachzugehen gälte als der spezifischen Temporalität der (biblischen) Hoffnung. Zur Geschichte und dem Anspruch dieser Fehlübersetzung siehe: Peter Zeillinger, Fundamentaltheologie und Gottfähigkeit. An der Schwelle von Philoso­phie und Theologie, in: Kurt Appel I Wolfgang Treitler I Peter Zeillinger (Hg.), Vernunftfähiger - vernunftbedürftiger Glaube. FS J ohann Reikerstorfer (Religion­Kultur-Recht Bd. 3). FrankfurtiM. 2005, 33-63, bes. 33-49.

5 Wenn die eigene Beobachtung nicht täuscht, so findet in den pastoralen Disziplinen der christlichen Theologie zur Zeit ein Umbruch statt. Die hier in der Hinführung

erschienen in:Jahrbuch Politische Theologie 6/7 »Extra ecclesiam … Zur Institution und Kritik von Kirche« (hg.v. H. Klingen, P. Zeillinger / M. Hölzl; Münster 2013), 198-234.

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Soziologische Milieustudien über »Kirchennahe« und »Kirchenferne«, sowie systematisch-ekklesiologische Begrifflichkeiten wie »communio« oder »mystischer Leib Christi«, ebenso wie staatsrechtliche Vereinbarun­gen, die die institutionelle V erknüpfung in der abendländischen Kultur sichtbar machen, oder existenziell-spirituelle Erfahrungen von Einzelnen oder Gruppen, die sich zur Kirche zählen, - all diese strukturell höchst unterschiedlichen »faktischen« Kirchenverständnisse lassen sich schon innerhalb der Theologie nicht unmittelbar zueinander in Beziehung brin­gen. Sie setzen vielmehr ein bereits zugrundeliegendes Vorverständnis des Terminus ))ekklesia/Kirche<( und einen daraus resultierenden Zugang zu diesem Phänomen voraus.

Dieser Vielfalt an Bedeutungskontexten entspricht auch die Vielfalt der methodisch heterogenen Zugänge in den einzelnen theologischen Disziplinen. Zu dieser innertheologischen Pluralität kommt in der Außen­wahrnehmung schließlich auch noch ein Plural institutionell verfasster I<irchen hinzu, sowie die Vielfalt der in ihnen versammelten und von ihnen repräsentierten, aber nicht mit ihnen einfach identischen Größe der »Gläubigen«, das heißt die Vielfalt derjenigen, die im biblischen Sinn ihr Leben an der in den Kirchen vermittelten geschichtlichen Erfahrung mit J esus, dem Christus, ausrichten. Will man das Phänomen der christli­chen ekklesia nicht einfach mit den gewachsenen institutionellen Ausfor­mungen identifizieren (womit sich jeder historische Rückblick weitge­hend erübrigen würde), so gilt es, das unter diesem Begriff geschichtlich gewachsene Phänomen von jenen konkreten Lebensformen her zu ver­stehen, die es ursprünglich geprägt haben.

Das hier benannte strukturelle Problem ist dasjenige der Kontinuität einer institutionellen Ausdrucksform zu den Erfahrungen und Motiva­tionen, die sie in ihren Anfangen haben entstehen lassen. Nach dem Zer­brechen der alten metaphysischen Gewissheiten und der offensichtlich gewordenen Geschichtlichkeit aller menschlichen Lebensformen und Welt­verständnisse ist diese Rückfrage heute in vielen gesellschaftlichen Berei-

zum Thema gemachten Aussagen beziehen sich daher lediglich auf jene Versuche, die ein Verständnis von »Kirche(-sein)« mittels empirischer Ansätze zu erheben und daraus theologische Konsequenzen für eine »zeitgemäße Gestalt« von Kirche zu ge­winnen suchen. Selbst wenn diese Vorgangsweise in der gegenwärtigen institutionel­len Kirchenkrise in vielfacher Hinsicht notwendig ist, sagen die dabei erhobenen »Fakten« letztlich nichts über das ursprüngliche Verständnis und den »roten Faden« des kulturellen Langzeitphiinomens der christlichen ekklesia aus.

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chen virulent und keineswegs auf das Phänomen Kirche beschränkt. Es betrifft vermutlich alle öffentlichen Ausdrucksgestalten menschlicher Kultur und Institution, da selbst »funktionierende« Sozialbereiche nicht mehr einfach unhinterfragt bleiben: das Verständnis von Gemeinschaft und die Zukunft des Staates müssen sich heute ebenso ihrer Ausgangs­punkte und Kontexte versichern wie die Grundlegung des Rechts und die damit verbundene Ermöglichung von Gerechtigkeit. Alle diese The­men bündeln sich letztlich in der grundlegenden Frage nach dem Ver­ständnis des Politischen selbst, das heißt nach der Grundlage einer kri­tisch-effektiven Repräsentation von Herrschaft und ihrer Entfaltung in der Doppelgestalt menschlicher »Regierung«, die seit der griechischen Antike die abendländische Tradition prägt - polisund oikos, Politik und Ökonomie, dem Bereich der Legitimation politischer Souveränität auf der einen Seite und dem der Ordnung der konkreten Lebensbedingun­gen, die auch das gesellschaftliche Zusammenleben umfassen, auf der anderen Seite. In diesem Sinne ist sich heute der Mensch selbst zur Frage geworden. Er muss sein Verhältnis zur Welt, zur Geschichte und zu der ihm eigenen Angewiesenheit auf andere »Mit-Menschen« neu bedenken und aktiv in die Hand nehmen. Ein ahistorischer Rückgriff auf unhinter­fragbare Prinzipien ist ihm endgültig verwehrt.

In diesem Horizont einer notwendigen und umfassenden Neuver­messung des Bereichs des Politischen stellt der Blick auf die christliche ekklesia zwar nur eine bestimmte Hinsicht dar, es wird aber zu zeigen sein, dass aufgrund der Eigenart dieses Phänomens, das die abendländische Geschichte prägt, hier zugleich ein Grundzug des Politischen sichtbar wird, der auch heute nichts an seiner Aktualität verloren hat - jenseits aller Polemik für oder wider eine notwendige »Säkularisierung« der Welt. Ein bloß einzelwissenschaftlicher Zugang zur angesprochenen Thematik würde hier jedenfalls zu kurz greifen, da er selbst erst eine Frucht der zu befragenden Geschichte darstellt.

Die nachfolgenden Überlegungen zum Verständnis der christlichen ekklesia suchen daher einen anderen Ausgangspunkt als den vom Ergeb­nis des geschichtlich gewachsenen Kirchenverständnisses in der Syste­matischen Theologie oder den empirischen Kulturwissenschaften. Sie gehen vielmehr den umgekehrten Weg und fragen nach dem, was in den gewachsenen Begriffen und Strukturen »zum Ausdruck gebracht« wird. Die Disziplinen, die darüber Auskunft geben können, sind demnach we­niger systematisch-reflexiver oder empirischer Art, sondern eher in den

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historischen Wissenschaften und den Textwissenschaften zu suchen -und zwar dort, wo nicht die geschichtlichen Dokumente als solche als »Fundament« gelten, sondern die Einsicht gegeben ist, dass das »Zu Su­chende« erst in einem längeren Prozess in Dokumenten, Begriffen, Prak­tiken und Institutionen »Gestalt angenommen« hat und somit die ur­sprünglichen Erfahrungen in ihnen eher re-präsentiert als tatsächlich prei­senfiert werden.

Für diese kontextsensible Herangehensweise an geschichtliche Fak­ten, Begriffe, kulturelle Ausdrucksformen und vor allem juridische und religiöse Strukturen wurde in den Aufbrüchen der jüngeren Philosophie­geschichte, die nicht mehr metaphysisch oder transzendental zu argu­mentieren versuchen, der durchaus glücklich gewählte Begriff »Archäo­logie« geprägt. Die Besonderheit eines archäologischen Zugangs zu ge­schichtlichen Gegebenheiten liegt ja (- schon im einzelwissenschaftli­chen Sinn-) darin, dass er zum einen mit materialen Fakten arbeitet, die­se aber zum anderen nicht einfach als Anfangspunkte eines sich daraus methodisch-deduktiv ergebenden Verständnisses nimmt, sondern eher als »Endpunkte« bzw. Spuren eines vorgängigen Prozesses. Der Aus­gangspunkt der Archäologie liegt darin, dass in einem bestimmten ge­schichtlichen Moment eine nun vorliegende und in ihrem Kontext analy­sierbare Gestalt hervorgebracht worden ist. 6 Die daraus resultierende archäologische Aufgabe besteht demnach darin, jene »Kräfte« zu verstehen, die sich zum »archäologischen Dokument« verdichtet haben, das nun seinerseits eine Spur dieser Vorgänge darstellt. Diese Spuren müssen gele­sen werden - und »lesen« heißt stets: V erstehen lernen dessen, was nicht

6 In diesem Sinn stellt eine »Archäologie« im Kontext des Christentums eine doppelte Herausforderung an die Bedeutung und den Vollzug von Erinnerung dar. Ausgehend von der bereits innerbiblischen memoria einer Gotteserfahrung im Kontext der eige­nen Geschichte über die memoria passionis als unmittelbarer (gleichermaßen theologi­scher wie politischer) Konsequenz aus dieser (Befreiungs-)Erfahrung, wie sie von Johann Baptist Metz unter dem Stichwort »Autorität der Leidenden« als Kern der biblischen Botschaft formuliert wird, ginge es gerade für eine Systematische Theolo­gie, die sich als Ekklesiologie versteht, um eine Erinnerung der Erinnerung, das heißt um eine Erinnerung dessen, was in den geschichtlich gewachsenen Grundvollzügen des eigenen Glaubens eigentlich erinnert wird und erst vor dem Hintergrund dieser. Erinnerung (nachträglich) sichtbar zum Ausdruck kommt. Ein solches Bemühen müsste daher weiter fragen als dies im zuletzt vorherrschenden hermeneutischen oder phänomenologischen Ansatz in der Ekklesiologie möglich war (vgl. zu letzte­rem: Medard Kehl, Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie. Würzburg 31994).

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einfach im Gelesenen »anwesend« ist, sondern als Vorgängiges m ihm »Zum Ausdruck kommt«.

Die Ekklesia Christi ist keine Institution, sondern eine Praxis

Bekanntlich geht die christliche ekklesia nicht auf eine formale oder per­sonale »Stiftung« im Sinne einer juridischen Gemeinschaftsgründung zu­rück. Auch Theologie und Lehramt sind in ihrer späteren historischen Gestalt nicht der Ausgangspunkt oder das Fundament des Phänomens Kirche. Selbst die fraglos entscheidende theologische Aussage, dass Gott bzw. Christus selbst als Fundament der I<irche zu verstehen sei, ist eine nachträgliche Reflexion auf eine vorgängige Erfahrung, die ihre Bedeu­tung bereits innerhalb der christlichen ekklesfa erhalten hat. Die Theologie, die das Phänomen der ekklesfa in seiner geschichtlichen Bedeutung und gegenwärtigen Relevanz zu reflektieren versucht, steht demnach vor der selben Herausforderung wie eine »säkulare« Analyse. Sie muss vermei­den, nachträgliche Schlussfolgerungen bereits vorweg vorauszusetzen und sich vielmehr darum bemühen, jene soziale und geschichtliche »Kraft« verstehbar zu machen, die in der Entstehung und Entfaltung die­ser kulturprägenden Größe zur Erscheinung gekommen ist. Die archäo­logische Fragestellung sucht dabei weniger das Woher dieser Kraft, son­dern interessiert sich dafür, aufwelche Weise sie wirksam, das heißt Wirk­lichkeit geworden ist.

Die historischen und exegetischen Befunde bezeugen, dass die spezi­fische Verwendung des griechischen Terminus ekklesia letztlich gleichur­sprünglich ist mit dem Entstehen der christlichen Gemeinschaft.7 Dies ist nicht selbstverständlich und bestätigt, dass die ekklesfa keine nachträg­liche, formale Vereinsgründung darstellte. Die christliche ekklesfa steht damit weder in einer formalen Kontinuität zu einer vergleichbaren »Vor­gängerinstitution« noch bezeichnet sie ein institutionelles Konstrukt, das

7 Vgl. zum frühchristlichen Gemeinschaftsverständnis: Wolfgang Schrage, »Ekklesia« und »Synagoge«. Zum Ursprung des urchristlichen K.irchenbegriffs, in: ZThK 60 (1963), 178-202; Klaus Berger, Volksversammlung und Gemeinde Gottes. Zu den Anfängen der christlichen Verwendung von »ekklesia«, in: ZThK 73 (1976), 167-207; Helmut Merklein, Die Ekklesia Gottes. Der Kirchenbegriff bei Paulus und in Jeru­salem (1979), in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43). Tübingen 1987, 296-318. - Zum exegetischen Befund im NT vgl. darüber hinaus: Karl Ludwig Schmidt, Art. ekklesfa, in: ThWNT III (1938), 502-539;Jürgen Roloff, Art. ekklesfa,

in: EWNT I (1980), 998-1011.

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von einer bereits existierenden gesellschaftlichen Größe formal in Kraft gesetzt wurde. »Ekklesia« ist vielmehr ein Name, der (im Selbstverständ­nis ihrer Akteure) den performativen Akt einer Gemeinschaftswerdung markiert. Erst nachtraglieh wird die so entstandene Gemeinschaft auch ausdrücklich mit diesem Namen identifiziert. Dies gilt sowohl für das in­nerchristliche Selbstverständnis als auch für dessen Außenwahrnehmung. Um den Prozess zu verstehen, der sich letztlich in diesem Namen bün­delt, ist zu berücksichtigen, dass der Begriff ekklesia nicht nur im hellenis­tischen, sondern auch im jüdischen Umfeld der Entstehung des Chris­tentums bereits in mehrfacher Hinsicht als Zentrum des politisch-gesell­schaftlichen Lebens bekannt war. Dies darf nicht unberücksichtigt blei­ben. Denn selbst wenn Namen an sich arbiträr sind und nur einen will­kürlichen Bezug zu dem damit Bezeichneten haben, gilt dies keineswegs auch für den Akt der Namens-Gebung. 8 In jeder Benennung kommt, be­wusst oder unbewusst, die sprachlich verdichtete Form einer Deutung zum Ausdruck - die Herstellung eines Bandes zwischen der Bezeichnung und dem Bezeichneten. 9 Dies gilt umso mehr für gesellschaftliche Pro­zesse, die nicht von einer bereits institutionalisierten Autorität gesteuert sind, sondern diese vielmehr erst langsam performativ hervorbringen. Der auftauchende Name setzt sich auf Grund seiner Kraft durch, das

8 "Foucaults Archäologie und Nietzsches Genealogie (und, in einem anderen Sinn, auch Jacques Derridas Dekonstruktion und die Theorie der dialektischen Bilder bei Benjamin) sind Wissenschaften von den Signaturen, die sich parallel zur Ideen- und Begriffsgeschichte entwickelt haben, mit der sie jedoch keineswegs verwechselt wer­den dürfen. Fehlt das Vermögen, die Signaturen wahrzunehmen und den Verlage­rungen und Verschiebungen, die sie in der Überlieferung der Ideen bewirken, zu fol­gen, erweist sich bloße Begriffsgeschichte in der Regel als völlig unzureichend." (Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer 11.2). Frankfurt/M.-Berlin 2010, 17)

9 Giorgio Agamben hat dies in Sakrament der Sprache (G. Agamben, Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides (Homo Sacer 11.3). Berlin 2010 [ital.2008]) an zahlreichen Beispielen gerade aus der Frühzeit der Entfaltung von Religion und Recht in der Antike untersucht - nicht zuletzt an der Entstehung und Bedeutung von »Götternamen« im römischen Recht und in der griechischen Kultur, aber auch in der alttestamentlichen Tradition. Vgl. dazu auch Hermann Usener, Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung. Frankfurt/M. 42000 [11896]. An den sowohl juridischen wie religiösen Beispielen wird deutlich, dass die sprachli­che Struktur des Eides -die unter anderem in Benennungen zum Ausdruck kommt - der Entstehung von Recht und Religion notwendigerweise vorausgeht, ja deren Aus­drucksgestalten überhaupt erst ermöglicht.

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Benannte in einem bestimmten geschichtlichen und kulturellen Kontext kommunikabei zu bezeichnen- und wird erst so zu einem »Faktum«, auf das sich spätere Reflexionen beziehen können. Nicht das Faktum des Namens und seiner nachträglichen Deutung ist demnach als archäologi­sche »Spur« von zentraler Bedeutung, sondern vielmehr die zugrundelie­gende »Motivation«, die ehendiesen Namen zur Benennung einer bestimm­ten Praxis hervorgebracht hat.- Wofür also stand der Name JJekklesia<< in der spätantiken Kultur am Schnittpunkt zwischen der Tradition Israels und dem Hellenismus?

a) Die griechische J;ekklesia« im Kontext der Entstehung des Christentums

Der griechische Terminus ekklesia besaß zur Zeit der Entstehung des Christentums bereits seit mehreren Jahrhunderten einen klar umrissenen politischen Kontext, dessen Bedeutung mit dem faktischen Zusammen­halt und der politischen Wirksamkeit der griechischen Gesellschaft zu­sammenfiel. Als J;ekklesia« - wörtlich die "Herausgerufenen" - wurde in den griechischen Stadtstaaten (poleis) die zentrale Volksversammlung be­zeichnet, die zugleich Exekutivgewalt besaß. 10 Sie war ursprünglich die Versammlung aller freien Bürger11 und damit das oberste Organ der Volkssouveränität. Im 7./6. Jh. v. Chr. wurde die ekklesia im Zuge der Lykurgischen Reformen in Sparta und jenen des Solon in Athen zur wichtigsten staatlichen Institution. Ihr größtes politisches Gewicht besaß sie im 5. Jh. v. Chr. In diesen Versammlungen, die auf der agora oder im Theater stattfanden, konnte jeder (Voll-)Bürger mitdiskutieren und hatte bei den abschließenden Abstimmungen eine Stimme wie jeder andere. Um die Teilnahme an diesen häufigen Versammlungen auch schlechter­gestellten Bürgern zu ermöglichen, wurde ein Tagegeld eingeführt. Dies kann als weiteres Indiz dafür gelesen werden, dass es bei dieser V er­sammlung nicht um eine »Repräsentation«, sondern um einen Vollzug der

10 Zum folgenden vgl. Gerhard Schrot, Art. ekklesia, in: Der Kleine Pauly II. München

1979, 222-224. II Frauen, Sklaven, Kinder und Fremde blieben in Griechenland allerdings von der

politischen Mitsprache ausgeschlossen. Das moderne Verständnis von Demokratie hat aus der Antike lediglich einige formale Vollzugsweisen übernommen. Es wird zumeist übersehen, dass daher die »ethische Qualifikation«, die das heutige Ver­ständnis von Demokratie gegenüber anderen politischen Herrschaftsformen genießt, von einem anderen Bezugspunkt abgeleitet werden muss. Die antike »Demokratie« galt ja bekanntlich gerade nicht als die beste aller Regierungs formen.

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Gemeinschaft ging. Die in der ekklesia getroffenen Entscheidungen wa­ren bindend, sodass durchaus gesagt werden kann, dass in der ekklesia das Wesen und die Wirksamkeit der griechischen Gesellschaft und Kul­tur performativ zum Ausdruck kam. Das Besondere dieser griechischen Institution bestand demnach darin, dass sie für den von ihr umfassten Bereich - die Lebenswelt der erwachsenen männlichen Vollbürger - das Phänomen der Herrschaft stark enthierarchisiert hat. Es scheint zunächst so als ob mit der Institution der ekklesia die griechische polis ohne hierar­chische Legitimationsstrukturen auskommen würde. Dass dieses Ziel al­lerdings letztlich nicht wirklich erreicht wurde, wird nicht nur an der deutlichen Trennung von Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit zur ekklesia der »männlichen Vollbürger« sichtbar, sondern auch an den un­hinterfragten politisch-religiösen Grundannahmen, die den ursprüngli­chen Zusammenhalt der Gemeinschaft garantieren.

Für den Fortgang der Argumentation sei daher ein kleiner Exkurs gestattet, der in aller gebotenen Kürze den Kern des Verhältnisses von Religion und Politik in der antiken Welt anspricht, von dem sich das christliche Denken vor dem Hintergrund des biblischen Weltbildes schließlich entscheidend abheben sollte: Gemäß dem Selbstverständnis der griechischen Gesellschaft, das sich in den Grundzügen nicht von den anderen antiken Hochkulturen unterschied, bildeten kultische Handlungen wie Opfer und Gebete den Anfang der ekklesia-Versammlung. Dies bezeugt zu­gleich die enge Beziehung zwischen dem antiken Verständnis des Zusammenhalts der polis und der Aufgabe, die darin den öffentlichen »religiösen Praktiken« zukam. Die öffentliche Religion besaß in allen antiken Kulturen »staatstragenden« Charak­ter.12 An dieser religiösen Grundstruktur des gesellschaftlichen Bandes änderte letztlich auch die aufkommende Philosophie nichts. Sie kritisierte zwar die anthro­pomorphen Göttervorstellungen in den Mythen, blieb aber in ihren eigenen Ent­würfen dem zentralen mythischen Gedanken des Harmonischen, Ganzen und Ei­nen treu. Aus diesem Grund waren die antiken Philosophien auch mit der Rede vom Göttlichen oder von Göttern durchaus vereinbar. So wird auch die Struk­turidentität zwischen der gesellschaftlich-politischen Ordnung, dem dafür notwen­digen öffentlichen Kult und der metaphysischen Ordnung, die die antike Philoso­phie zu erhellen sucht, verständlich. Das Gemeinsame bestand zunächst einmal da-

12 Die Bestimmung, die Cicero vom lateinischen Begriffs religio gibt (in: De natura deorum II,72) ist dafür ein sprechendes Beispiel: Er versteht den Begriff von re-legere her, vom "immer wieder lesen". Das in diesem Sinne sorgfaltig zu Beachtende sind in der römischen Religion die kultischen Vorschriften. Religion ist dasjenige, was die staatliche Ordnung legitimiert und zusammenhält. Insofern ist das Achten auf die Einhaltung der kultischen Vorschriften eine zentrale Forderung, die die politische Ordnung garantiert.

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rin, alles das, was sich nicht in diese Ordnung fügte, auszuschließen, minder zu er­achten oder schließlich überhaupt zu leugnen. Die antike Philosophie war - wie die damit bald grundgelegte Politik und die antike Religion - auf das Innere dieser Ord­nung gerichtet. Politische Praxis, politische Philosophie und öffentlicher Kult konnten einander auf diese Weise durchaus harmonisch ergänzen. Dabei kam der Religion die Aufgabe zu, sicherzustellen, dass das politische Leben nicht im Wider­spruch zu den überlieferten Vorstellungen von der Einheit des Kosmos stand, zu der die Menschen ebenso wie die Götter zählten. Nicht das Neue und Zukünftige galt als Ideal, sondern das Unveränderliche versprach Sicherheit. 13 In diesem Sinn ist es nur zu verständlich, dass auch die Versammlung der griechischen ekklesia mit einer kultischen Versicherung der harmonischen Beziehung zu den Göttern, die für die Einheit des Kosmos standen, ihren Anfang nahm. Die kultische Handlung ga­rantierte auf diese performative und für alle öffentlich sichtbare Weise damit den Zusammenhalt der polis, der ja das eigentliche Ziel der Teilnehmenden und ihrer Versammlung war.

Solche politischen Volksversammlungen fanden unter dem Namen ekkle­sia auch zur Zeit der Entstehung des Christentums statt und waren schon zuvor auch in der jüdisch-hellenistischen Kultur bekannt und verbreitet gewesen.14 Obwohl ihre politische Bedeutung allmählich zurückging, blieb der politische Kontext dieses Begriffs bekannt. Auch in den neu­testamentlichen Schriften wird das Wort ekklesia in diesem Sinne ver­wendet. So berichtet etwa Apg 19 von einer tumultartigen Versammlung

13 Den unhinterfragten Hintergrund dieses Welt- und Gemeinschaftsverständnisses bil­det ein bestimmtes Zeitkonzept, das aus den mythischen Welterklärungen übernom­men wurde. Es ist das einer geschlossenen und insofern »zyklischen« Zeit. Mit dem Bild des Zyklischen ist dabei nicht eine nietzscheanische »ewige Wiederkehr des Gleichen« gemeint, keine Kreisbewegung der Zeit, sondern die Vorstellung, dass sich alles, was geschieht, einer vorgegebenen - und damit »geschlossenen« - Ordnung verdankt. An diesem Zeitmodell sollte erst der biblische Monotheismus etwas än­dern. - Zur geschichtlichen Entstehung dieses harmonisch-geschlossenen Zeitver­ständnisses und seiner gemeinschaftsstiftenden Bedeutung in den frühen Kulturen siehe: Jan Assmann / Klaus E. Müller (Hg.), Der Ursprung der Geschichte. Archai­sche Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart 2005. Darin besonders den Beitrag von K. E. Müller, Der Ursprung der Geschichte, 17-86.- Zur Differenz von »zyklischem« und linearem Zeitverständnis siehe: Giorgio Agamben, Zeit und Geschichte. Kritik des Zeitpunkts und des Kontinuierlichen, in: Ders., Kindheit und Geschichte. Zerstörung der Erfahrung und Ursprung der Geschichte. Frankfurt/M. 2004 [ital. 1978], 129-152.

14 Vgl. dazu Karl Ludwig Schmidt, Art. ekklesia, in: ThWNT III (1938), 502-539; Klaus Berger, Volksversammlung und Gemeinde Gottes. Zu den Anfangen der christli­chen Verwendung von »ekklesia«, in: ZThK 73 (1976), 167-207.

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in Ephesus und kennzeichnet diese nicht nur eindeutig als ekklesfa im griechisch-politischen Sinne, sondern benennt sie auch dreimal mit die­sem Begriff (VV. 32. 39. 40). 15 Es scheint also sinnvoll und notwendig, die christliche Rede von der ekklesfa auch vor diesem Hintergrund ernst zu nehmen.

Die einschlägigen sprachlichen Untersuchungen lassen dennoch kei­nen Zweifel, dass die spezifisch christliche Verwendung des Wortes ekklesfa nicht einfach mit der profan-politischen Bedeutung in den griechischenpoleisidentifiziert werden kann. Da jedoch der ursprüngliche politische Kontext des griechischen Begriffs offensichtlich durchgängig bekannt war, darf dennoch die Frage gestellt werden, was dazu geführt hat, bereits in der Frühzeit des Christentums genau diese und nicht eine andere Bezeichnung für die eigene Gemeinschaft in Anspruch zu neh­men 16 - und vor allem: was genau damit benannt bzw. ausgesagt werden sollte. Neben der Apostelgeschichte finden sich zahlreiche Belege für eine spezifisch christliche Verwendung von ekklesfa gerade in den Paulus­briefen und damit in den frühesten Texten des Christentums überhaupt. Wenn das Christentum sein Gemeinschaftsverständnis mit einem Begriff bezeichnet, der im vorherrschenden kulturellen Kontext eine deutliche Vorprägung besaß, so drängt sich die Frage auf, welchen Klang diese Be­grifflichkeit für jene hatte, die ihn - ohne eine sich davon abhebende »Definition« vorzunehmen - für die eigene Sache in Gebrauch nahmen.

An dieser Stelle wäre eigentlich eine ausführliche Auseinandersetzung mit Erik Pe­tersons Kirchentraktat aus dem Jahr 1928 zu erwarten, der nun gemeinsam mit ei­nem ausführlicheren Manuskript aus den Jahren 1926-28 und hilfreichen Kom­mentaren zur Entstehung und Rezeption von Petersons Thesen neu aufgelegt wur­deY Peterson war der erste, der das christliche ekklesia-Verständnis im Kontext der politischen Bedeutung dieses Begriffs für die griechische polis untersucht und her­vorgehoben hat. Der bereits zitierte Artikel ))ekklesia(( von Karl Ludwig Schmidt im Theologischen Wö"rterbuch zum Neuen Testament ist nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Petersons Thesen verfasst worden.18 Doch obwohl Petersons Fragestellung

15 V gl. Schmidt, ekklesia, 507. 16 Vgl. Schmidt, ekklesia, 507ff. 17 Erik Peterson, Ekklesia. Studien zum altchristlichen Kirchenbegriff (Ausgewählte

Schriften. Sonderband. hg. v. Barbara Nichtweiß u. Hans-Ulrich Weidemann). Würz­burg 2010.

18 Siehe dazu Barbara Nichtweiß, Der altchristliche Kirchenbegriff Erik Petersons. An­merkungen zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie zur Edition der Ekkle­sia-Texte, in: Ebd., 111-151, bes. 131ff.

Ekklesia als Verb 209

derjenigen des vorliegenden Beitrags zu ähneln scheint, möchte ich im Folgenden dennoch einer anderen, etwas »allgemeineren« Überlegung folgen. Petersons provo­zierende These lief bekanntlich darauf hinaus, die christliche ekklesia in bewusster Absetzung vom alttestamentlichen Volk-Gottes-Verständnis als »Heidenkirche« zu verstehen, wobei der Übernahme des griechischen ekklesia-Begriffes durch Paulus eine programmatische Rolle zuzusprechen sei. Einer möglichen antisemitischen Auslegung dieser These hat Peterson, der auch mit Carl Schmitt in Kontakt stand, später durch eine modifizierte Wortwahl Rechnung getragen und zudem seit 1933 von einer "Kirche aus Juden und Heiden" gesprochen. Dennoch bleiben viele sei­ner Aussagen und Thesen provokant und bedürfen einer ausführlichen Analyse ge­rade im Kontext der im vorliegenden Sammelband thematisierten Politischen Theologie, die sich dem Ansatz der Neuen Politischen Theologie von Johann Baptist Metz verpflichtet weiß. Diese Auseinandersetzung kann im vorliegenden Rahmen aber nicht nur nicht geleistet sondern auch deshalb (noch) aufgeschoben werden, weil an dieser Stelle gar nicht so sehr die innerchristliche Deutung der christlichen ekklesia thematisiert werden soll, sondern vor allem jene politische Dimension, die mit der Etablierung dieses neutestamentlichen Terminus und seiner Rezeption als Be­zeichnung für die christliche Gemeinschaft verbunden war und ist. Aus diesem Grund können sich die nachfolgenden Überlegungen - mit aller gebotenen Vorsicht gegenüber der theologischen Dimension des Themas - zunächst auf eine Erörterung des grundlegenden politischen Kontextes dieser Benennung beschränken und die spätere in­nertheologische Deutung einer weiterführenden Untersuchung vorbehalten.

b) Die gesellschaftlich-politische Dimension des biblischen Gottesglaubens

Wie bereits erwähnt bildet das griechisch-politische Verständnis von ekklesfa nicht den einzigen Hintergrund für die Übernahme dieses Termi­nus im Christentum. Ein zweiter, zunächst sprachgeschichtlich bedeut­samer Kontext liegt in der Verwendung von ekklesfa als Übersetzung des hebräischen Begriffs qahal, der im Alten Testament eine spezifische und vor allem stark theologisch aufgeladene »Volksversammlung« bezeich­net.19 Der Umstand, dass qahalin der Septuaginta (LXX) nicht durchgän­gig mit ekklesfa, sondern zum Teil auch mit .rynagoge wiedergegeben wird, hat in der exegetischen Diskussion zu Überlegungen geführt, inwiefern in der LXX zwischen den beiden Termini eine deutliche Differenzierung erkennbar und damit sogar die spätere Gegenüberstellung von Judentum und Christentum begrifflich begründbar wäre. Diese Überlegungen sind jedoch heute zum Großteil fallen gelassen worden und es herrscht die Meinung vor, dass das christliche ekklesfa-Verständnis nicht einfach

19 Siehe dazu: Heinz-Josef Fabry I Frank-Lothar Hossfeld I E.M. Kind!, Art. qahal, in: ThWAT VI (1989), 1204-1222.

210 Peter Zeillinger

durch die Übernahme dieses Terminus aus der LXX erklärt werden kann, sondern vielmehr einen eigenständigen Kontext besitzt, der im frü­hen Christentum geprägt wird.20 Eben dieser Umstand macht es jedoch erneut erforderlich, verständlich werden zu lassen, worin neben dem griechisch-politischen nun auch der biblische Kontext besteht, an den die »neue« Verwendung des ekklesia-Begriffs im Christentum anschließt.

Einen ersten Hinweis darauf verspricht ein genauerer Blick auf die sowohl politischen wie theologischen Zusammenhänge des hebräischen Terminus qahal ("Versammlung"), der im AT zur Kennzeichnung Israels als »Gemeinschaft vor Gott« und damit als »Volk Gottes« verwendet wird. Dabei ist nicht zuletzt die heilsgeschichtliche Bedeutung von Inter­esse, die mit der qahal JHWH verbunden wird und in nachexilischer Zeit in den Mittelpunkt des Selbstverständnisses Israels rückt.

Das wichtigste sowohl theologische wie auch politische Fundament der Identität Israels zur Zeit J esu und des beginnenden Christentums liegt ohne Zweifel im monotheistischen Bekenntnis zu JHWH als dem einen und einzigen Gott. Die nachexilische Entfaltung dieses Bekenntnisses stellt dabei der Pluralität der Gottheiten in den Religionen der umliegen­den Kulturen nicht in erster Linie bloß einen einzelnen Gott gegenüber, sondern veränderte die soziale und politische Bedeutung von Religion grundlegend. Am nachexilischen Selbstverständnis Israels wird deutlich, worin sich die politische Dimension des Monotheismus von den Religi­onsverständnissen im Alten Orient und auch in der griechisch-römischen Antike zunehmend sichtbar unterscheidet. Die gesellschaftliche und po­litische Funktion der traditionellen Religionen lässt sich -wie bereits er­wähnt - anhand der Bedeutung des lateinischen relegere bündeln, mit dem Cicero die Rolle der Religion in der Antike letztlich auf den Punkt bringt. Das mit diesem Begriff bezeichnete "Immer-wieder-lesen", das heißt das sorgfältige Achten auf »kultische Vorschriften«, wie es nicht nur für die römische Religion typisch war, diente letztlich stets der Legitimation und Aufrechterhaltung der herrschenden politischen Ordnung. Damit ver-

2o Gegen eine einfache Rückführung des christlichen ekklesia-Begriffs auf die alttesta­mentliche qahalhat sich besonders W. Schrage gewandt (s.o. Anm. 7). Vgl. dazu zu­sammenfassend:]. Roloff, Art. ekklesia (s.o. Anm. 7), bes. 1000f, sowie Fabry, Art. qahal, 1222. Zur Herleitung des christlichen ekklesia-Begriffs aus dem hellenistischen Judenchristentum siehe Helmut Merklein, Die Ekklesia Gottes. Der Kirchenbegriff bei Paulus und in Jerusalem (1979), in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 43). Tübingen 1987,296-318.

Ekklesia als Verb 211

bunden war die Vorstellung, dass die Religion auch den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert. Politische Herrschaft und Gemeinwohl wurden auf diese Weise weitgehend miteinander identifiziert. Zumindest seit dem Entstehen der frühesten staatlichen Kulturen sanktionierte die Religion -oft mit Hilfe einer den staatlichen Organen eng verbundenen Priester­schaft - die jeweilige politische Herrschaft, indem sie diese mittels eines geschlossenen Diskurses, für den Fremdes und Neues als schädliche Stö­rung galt, an einen mythisch vermittelten kosmologischen Anfang rück­zubinden suchte.21 Obwohl zahlreiche Elemente antiker Religiosität auch in der biblischen Tradition anzutreffen sind, unterscheidet sich allerdings der Monotheismus, der im nachexilischen Israel Gestalt gewinnt, gerade dadurch von den alten Religionen, dass er nicht in erster Linie die Legiti­mation der herrschenden politischen Ordnung im Auge hat. Im Zentrum des monotheistischen Bekenntnisses steht vielmehr eine Art »Kriterium« - die singuläre Souveränität Gottes -, an dem nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft der politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse gemessen wird. Gerade das Moment der Nicht-Fassbarkeit und Nicht­Darstellbarkeit Gottes im Monotheismus, wie er im biblischen Bilder­verbot zum Ausdruck kommt, verhindert die Identifizierung der Souve­ränität Gottes mit der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Ord­nung. Die Nicht-Darstellbarkeit Gottes nötigt dazu zu fragen, inwiefern die gegebene Gesellschaftsordnung dem Bekenntnis zum Gott Israels tatsächlich entspricht. Diese herrschaftskritische Funktion des biblischen

21 "Die Fähigkeit, durch technisches Können gleichsam das Wasser zu beherrschen und damit die Bevölkerung zu ernähren, sowie die Macht, innere Konflikte zu schlichten und die kultivierten Gebiete zu verteidigen, führten gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. zur Etablierung von echter Herrschaft. Aus Dörfern wurden Städte, die von festgegründeten Mauern umgeben waren und in denen demonstrativ gewaltige Gebäude errichtet wurden - auch sie Zeichen für die enormen technischen Fähigkeiten der Stadtbewohner. Gemäß den religiösen Vorstellungen erklärte man alle diese Kapazitäten mit dem Walten von Göttern: Jede Stadt hatte ihre Gottheiten. Deren Repräsentant auf Erden, gleichsam ihr verlängerter Arm, war der König, und neben diesem stand die Priesterschaft, die das gesellschaftliche Wissen hütete und die Verbindung zu den Göttern aufrechterhielt. Vom Palast und vom Tempel aus wurde alles verwaltet, organisiert und kommandiert; ... " (Hans-Joachim Gehrke, Kleine Geschichte der Antike. München 52011, 15). - Vgl. dazu auch: Klaus E. Müller, Der Ursprung der Geschichte, in: Jan Assmann / I<laus E. Müller (Hg.), Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Agypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart 2005, 17-86.

212 Peter Zeillinger

Monotheismus birgt damit ins sich selbst eine politische Kraft, die aller­dings eine gänzlich andere Stoßrichtung hat als das antike relegere. Es han­delt sich also bei der biblischen Religion keineswegs um einen Rückzug aus dem Bereich des Politischen. Ihre politische Dimension führt in die­sem Sinne auch keineswegs zur Etablierung und Legitimierung eines Ausgrenzungsdiskurses, wie dies J an Assmanns ursprüngliche Thesen zur »mosaischen Unterscheidungi2 haben vermuten lassen. Ganz im Ge­genteil. Im Gefolge der Entfaltung des biblischen Monotheismus kommt es vielmehr zu einer deutlichen Differenzierung eines verallgemeinerten Diskurses der Souveränität, der sich im Kern nicht mehr allein an den faktischen politischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen orientiert/3

und den konkreten gesellschaftspolitischen Konsequenzen, die aus die­sem neuartigen politischen Diskurs resultieren. Diese »Konsequenzen« konnten und können allerdings weder aus der religiösen Souveränität des Gottes Israels einfachhin umittelbar abgeleitet werden noch sind sie durch kulturelle Gewohnheiten bereits allgemein vorgegeben. Sie verlangen viel­mehr ein eigenständig zu verantwortendes gesellschaftliches und politi­sches Handeln, das allerdings letztlich stets am Maßstab der religiösen Souveränität und vor allem an der dahinterstehenden geschichtlichen Gotteserfahrung, aus der diese Souveränität abgeleitet wird, gemessen werden muss.

Obwohl im biblischen Monotheismus alle Souveränität in Gott liegt, entbehrt diese einer unmittelbaren Präsenz. Dennoch ist es die »Anwesen­heit« Gottes, die im Zentrum nicht nur des religiösen Denkens, sondern auch der sozialen Ordnung Israels steht. Die biblischen Texte lassen in allen Redaktionsschichten gerade rund um den Namen, die Lokalisierung und »Greifbarkeit« Gottes zahlreiche Beispiele für diese nicht-fassbare »Präsenz« JHWHs erkennen. Die daraus resultierenden Konsequenzen sind letztlich nicht nur für das Alte Israel sondern auch für die spätere christliche Gemeinschaft identitätsstiftend. Alles, was im Namen der letztlich ebenso unsichtbaren wie unfassbaren monotheistischen Souve­ränität vollzogen wird, erhält seine faktische Legitimität aus der Überprü-

22 Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München-Wien 2003.

23 Zur »Relativierung« der königlichen Herrschaft im Zuge der Etablierung des Mono­theismus vgl. Othmar Keel, Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus (2 Bde.; Orte und Landschaften der Bibel Bd. IV,1 +2). Göttingen 2007, bes. II,902ff.

Ekklesia als Verb 213

fung der Frage, ob - sowohl im Vollzug wie auch im Ergebnis - diese monotheistische Souveränität eine konkrete gesellschaftliche und politi­sche Gestalt angenommen hat und in diesem Sinne re-präsentiert worden ist. Die Legitimität oder Illegitimität einer politischen Handlung ist im Selbstverständnis Israels nicht vorweg zu klären, sondern letztlich in ih­ren Vollzug performativ eingeschrieben und kann so auch nur aus diesem Vollzug heraus bestimmt und beurteilt werden. Entgegen dem mythisch­metaphysischen Grundzug aller Formen des re-legere, das nicht nur den alten Religionen sondern auch ihren gesellschaftlichen Ordnungs- und politischen Herrschaftsstrukturen zugrundeliegt, ist die politische Dimen­sion der monotheistischen Souveränität von vornherein an einen Vollzug gebunden, der sich im konkreten, auf Zukunft gerichteten Handeln auch tatsächlich zu bewähren hat. Die monotheistische Souveränität des nicht­darstellbaren Gottes vollzieht sich demnach als politisches Handeln in und an der Gesellschcifi. Das entscheidende, sowohl religiös wie auch poli­tisch relevante Kriterium liegt darin, ob sich in den gesellschaftlich wirk­samen Vollzügen tatsächlich die Souveränität Gottes oder doch lediglich das weltliche Interesse eines menschlichen Machtanspruchs zeigt.

c) Die Identitä't des Alten Israel als ))Altargemeinschaft((

- die politische Dimension der ))leitourgia((

Am nachexilischen Selbstverständnis Israels als qahal JHWH wird die po­litische Dimension des biblischen Religionsverständnisses am Schnitt­punkt von liturgischem und gesellschaftlichem Handeln erkennbar. Zu­gleich eröffnet sich damit auch die politische Dimension des Terminus leitourgfa in seiner Grundbedeutung als "öffentlicher Dienst" bzw. als Dienst am Volk.24

In den spätalttestamentlichen Büchern Esra und Nehemia wird Is­rael ausdrücklich als »Altargemeinschaft« konstituiert.25 Dies ist für das

24 Zur Begriffserklärung im Kontext gegenwartlger Liturgiewissenschaft vgl. Karl­Heinrich Bieritz, Liturgik. Berlin-New York 2004; Albert Gerhards I Benedikt Krane­mann, Einführung in die Liturgiewissenschaft. Darmstadt, 2006; Reinhard Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft. Paderborn-München-Wien-Zürich 2001.

25 Dieter Böhler SJ, Das Gottesvolk als Altargemeinschaft. Die Bedeutung des Tempels für die Konstituierung kollektiver Identität nach Esra-Nehemia, in: Othmar Keel I Erich Zenger (Hg.), Gottesstadt und Gottesgarten. Zu Geschichte und Theologie des Jerusalemer Tempels (QD 191). FreiburgiBr.-Basel-Wien 2002, 207-230.

214 Peter Zeiffinger

spätere Verständnis der christlichen ekklesia insofern von Bedeutung, als dieses kultisch-liturgische Verständnis Israels als qahal JHWH, das von dem Frankfurter Alttestamentler Dieter Böhler mit guten Gründen in die frühmakkabäische Zeit (um 164 v. Chr.) datiert wird,26 auch den Kontext für das frühe Christentum bildet, das sich ja zunächst immer noch am Je­rusalemer Tempel orientierte.27 Ebenso wichtig ist dabei, dass diese litur­gische Dimension der Identität Israels in der geschichtlichen Erzählung von Esra und Nehemia als Grundlage der gesamten sozialen und politi­schen Ordnung Israels seit dem Wiederaufbau des Tempels im Zuge der Rückkehr aus dem Exil verstanden wird.28 Die Einheit von Gottesdienst und sozialem Verhalten stellt demnach keineswegs einen Nebenaspekt der kollektiven Identität Israels dar. In Verbindung mit der monotheisti­schen Souveränität des nicht-darstellbaren Gottes Israels und dem daraus resultierenden herrschaftskritischen Potential des biblischen Gottesglau­bens wird schließlich auch verstehbar, inwiefern mit der biblischen Reli­gion eine gegenüber den umliegenden Kulturen neuartige Einheit von religiöser Praxis und gesellschaftspolitischem Engagement begründet wird, die zugleich den unmittelbaren Kontext der Entstehung der späte­ren christlichen ekklesia bildete.

Diese gleichermaßen subtile wie weitreichende Veränderung gegen­über den Identitätsdiskursen der antiken Kulturen wird an der Argumen­tation der Zugehörigkeit zum qahal JHWH deutlich, die sowohl für das religiöse wie auch für das sozialpolitische Verständnis Israels als »Altar­gemeinschaft« von zentraler Bedeutung ist. "Nach der Konzeption von Esr-Neh sind es also diese drei Dinge, Tempel, Tora und sichtbares Ge­meinwesen, die wiederherzustellen sind."29 Die Selbstverpflichtung des Volkes auf die von Gott gegebene Tora - und damit die Selbstkonstitu­tion als »Volk« im Angesicht seines (unsichtbaren) Gottes - findet in

26 Ebd. 228. 27 "Auch scheint die Definition Israels als einer Altargemeinschaft besonders gut in

eine Epoche zu passen, da der Jerusalemer Tempel und seine Priesterschaft zum al­leinigen Identifikationspunkt und Zentrum Israels wurden (Neh 12,43ff; Sir SO; 2 Makk 3)." (Ebd. 229)

28 "Nach Esr-Neh war das erste, was die Heimkehrer in Angriff nahmen, der Tempel~ bau, die Wiederaufnahme des Opferkults. [ ... ] Mit einem Wort: Esr-Neh gestaltet seine eigene Geschichte. Das Buch entwifrt eine Art Ekklesiologie, ei Bild vom wie­derherzustellenden Israel nach der Heimkehr." (ebd. 207)

29 Ebd. 208.

Ekklesia als Verb 215

Esr-N eh durch drei »Vollversammlungen« (ekklesiae) des sowohl religiös wie politisch verstandenen qahal JHWH statt. Der Ort dieser konstituie­renden Vollversammlungen ist der Tempelplatz. Dennoch stellen sie keine Opferfeiern dar.30 Andererseits ist es aber gerade der Altar, "der im Mittelpunkt steht [und] das Kollektiv zusammenführt"?1 Die bereits da­rin sichtbare Einheit von religiöser Identität und gesellschaftlicher Praxis wird in diesem Zusammenhang auch anhand der »Mischehenproblema­tik« und der Klärung der Frage der Zugehörigkeit zum qahal verdeutlicht. Die »Tora des Mose«, auf die sich das Volk verpflichtet scheint im Ver­ständnis von Esr-Neh zunächst vor allem den Tempelkult und die Frage der Eingliederung von Fremden zu regeln?2 Die Zugehörigkeit zu dieser (Altar-)Gemeinschaft stellt also offensichtlich nicht bloß eine äußerlich­formale Frage dar, sondern steht im Zentrum des Selbstverständnisses und der Identität Israels. Die ausdrückliche Klärung dieser Frage lässt zudem erkennen, dass diese Zugehörigkeit nicht einfach durch einen Formalakt geklärt werden kann. Die Mischehenfrage wird in Esr-Neh daher auch nicht als ein rassisches Problem behandelt, sondern als Frage der religiösen Praxis. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass man durch Fremdheirat nicht automatisch aus der Altargemeinschaft herausfällt. Und auch umgekehrt gilt: "Die fremde Volkszugehörigkeit steht einer Mitgliedschaft im qahal nicht prinzi-1 piell entgegen."33 Den­noch wird betont, dass man in das Gottesvolk nicht einfach »einheiraten« kann und Fremde nicht einfach dadurch, dass sie im Land wohnen und beteuern, den Gott Israels zu verehren, zur qahal gehören.34 Die Konzep­tion Israels als »Altargemeinschaft« läuft demnach auf einen klares V er-

30 Ebd. 222ff.

31 Ebd. 224. 32 "Esr-Neh sagt nicht, die Tara enthalte nur Kultregelungen. Wenn das Buch von der

Tara des Mose redet, meint es wohl das, was wir heute damit meinen. Aber wenn Esr­Neh sich für konkrete Inhalte der Tara interessiert, dann sind das nur die Sicher­stellung und Regelung des 1 Tempelkults sowie die Sicherung der Kultfahigkeit Israels, des »Samens des Heiligtums« durch eine klare Abgrenzung des qahal." (Ebd. 213t)

33 Ebd. 211f. 34 Esr 4,2f nennt den Fall von Fremden, die von den Assyrern im Land angesiedelt

wurden und sagen: "Wir wollen zusammen mit euch [den Tempel]. Denn wie ihr ver­ehren wir euren Gott (wörtlich: wir wollen ihn aufsuchen/konsultieren) und opfern ihm seit der Zeit des Königs Asarhaddon, von Assur, der uns hierher gebracht hat."

Diese Bitte wird jedoch recht schroff zurückgewiesen.

216 Peter Zeillinger

ständnis von Identität und auch Abgrenzung hinaus und sucht diese ange­messen zum Ausdruck zu bringen - ohne indes ausgrenzend zu sein. Im Verständnis der Zugehörigkeit zum qahal wird sowohl ein ausgrenzender Exklusivitätsanspruch vermieden wie eine undifferenzierte Universalität. 35

Die Zugehörigkeit zum qahalhängt letztlich nicht bloß an einer formalen »Verehrung des Gottes Israels«, sondern an der Konversion zur der da­mit verbundenen gesellschaftlichen Praxis. Die Bedeutung des Altars als »Sühnestätte« lässt dies deutlich werden. Gesühnt werden müssen in letzter Konsequenz lediglich zwei Typen von Verfehlungen: zum einen die Missachtung des biblischen Gottes als der einen und einzigen (undar­stellbaren) Souveränität und zum anderen Verfehlungen gegenüber einer (gerechten) Sozialordnung, die von den Anfängen Israels in Zusammen­hang steht mit konkreten geschichtlichen Befreiungserfahrungen, die ih­rerseits als Handeln Gottes an seinem Volk verstanden und ins Zentrum des Selbstverständnisses der Gemeinschaft gestellt wurden und werden. Beide Aspekte - das kultisch gefeierte Bekenntnis zu JHWH als Herrn der Geschichte und menschlich nicht fassbarer Souveränität einerseits und die ebenfalls mit einer religiösen Erfahrung verbundene gesell­schaftliche Praxis andererseits - vereinen die religiöse und politische Dimension des Selbstverständnisses auf eine Weise, dass jeder Ausdruck ihrer Trennung letztlich als »Nicht-Zugehörigkeit« zum qahal JHWH ver­standen werden muss. Die Identifikation von religiösem Bekenntnis und sozialer Praxis sowie die Vermeidung der Identifizierung der nicht-dar­stellbaren monotheistischen Souveränität mit einer weltlichen Gestalt (Götzendienst) stellen das entscheidende Kriterium für die Abgrenzung des biblischen Gottesvolkes von den »anderen« Völkern dar.

Selbst wenn man in Zweifel stellen darf, dass diese Differenzierung in der Praxis stets so einfach nachzuvollziehen war und ist, ist sie doch

35 Vgl. zu letzterem Böhlers Kritik an Auffassungen, die den zweiten Tempel und Isra­els Verständnis von JHWH als Gott aller Menschen in einer letztlich rein formal­theologischen Hinsicht universa/isieren. So etwa Th. Willi, wenn er formuliert: "Der Tempel ist das Zeichen und der zengtrale Auftrag der neuanbrechenden Zeit, aber eben nicht als Heiligtum einer abgeschotteten theokratischen Kultgemeinde, sondern in bester prophetisch-eschatologischer Tradition als Heiligtum für die ganze Welt." (zit.n. ebd. 221, Anm. 17) Eine solche, systematisch-theologisch durchaus angemes­sene Formulierung - vor allem hinsichtlich ihres eschatologischen Blickwinkels -verkennt dennoch den Gegenwarts- und Praxisbezug, der mit allen Formulierungen des biblischen Gottesglaubens verbunden ist.

Ekklesia als Verb 217

sowohl in der Geschichte Israels - etwa in der prophetischen Tradition­als auch später in der im Neuen Testament bezeugten Praxis Jesu sowie im Verständnis des frühen Christentums das zentrale Kriterium für die Zu­gehörigkeit zum »Volk Gottes«.36 Immer dort, wo dieses doppelte Krite­rium nicht erfüllt ist, gibt es Grund, die herrschende Praxis und das herr­schende Selbstverständnis der Gemeinschaft zu kritisieren. Mit diesem Kriterium bricht das biblisch-monotheistische Verständnis von »Reli­gion« mit dem Verständnis des ciceronischen reiegere und damit mit der antiken Zuordnung von Religion und herrschender politischer und ge­sellschaftlicher Ordnung.

Der Blick in die spätere Geschichte des Christentums, vor allem in die liturgische Praxis des Mittelalters, die zum Teil bis in die Gegenwart reicht, zeigt, dass das römische relegere, das »sorgfältige Achten auf die Kultvorschriften«, nicht gänzlich aus der Kultur des Abendlandes und des Christentums verschwunden ist. Das genannte »Kriterium« (das nicht aus der außerbiblischen Kultur der Antike ableitbar ist) steht jedoch bei allen Reformationsbemühungen Pate -von den ersten Schriftpropheten, über die Praxis J esu bis hin zu den zahlreichen innerchristlichen Reform­bewegungen von den ersten Jahrhunderten bis in die Gegenwart. Viel­leicht ist es gerade dieses Kriterium - und nicht so sehr die Gestalt seiner Umsetzung -, an dem die ursprüngliche, mit keiner weltlichen Gestalt identifizierbare Souveränität, die mit dem monotheistischen Bekenntnis verbunden ist, bleibend erkennbar und wirksam ist. Der Zusammenhang von Religion und Politik hat darin eine gegenüber dem außerbiblischen Verständnis grundlegend veränderte Aufgabe und Orientierung gefunden.

d) Die frühchnstiiche ekklesfa tou theou als so;dale Praxis

Die Anfänge des christlichen Gemeinschaftsverständnisses spiegeln sich sowohl in den frühchristlichen Verhaltensweisen als auch in den neutes­tamentlichen Termini wieder, die zu ihrer Bezeichnung verwendet wer­den. Der exegetische Befund dazu wurde bereits vor längerer Zeit von Helmut Merklein zusammengefasst.37 Im Zentrum steht der Begriff

36 Zur Bedeutung der »Armen« in der »politischen Theologie« Israels vgl. den Beitrag von Michael Weigl in diesem Band (bes. S. 66ff »Die soteriologische Dignität der Ar­

men«). 37 Helmut Merklein, Die Ekklesia Gottes. Der Kirchenbegriff bei Paulus und in J erusa­

lem (1979), in: Ders., Studien zuJesus und Paulus (WUNT 43). Tübingen 1987,296-

218 Peter Zeillinger

ekklesia, der in seiner paulinischen Verwendung genau wie in seinem hel­lenistischen Kontext zunächst stets eine konkrete Versammlung bezeich­net.38 Dabei wird hervorgehoben, dass Paulus "sogar die Hausgemeinde als ekklesfa bezeichnen kann"39• In Jetusalern wird dies noch präzisiert durch die Formulierung ekklesia tou theou (bzw. tou kyriou), wobei die Exegeten die semantische Nähe zu Begriffen wie »die Heiligen«, die »Auserwähl­ten« oder die »Armen« betonen,40 die alle im Kontext des aus dem Alten Testament bekannten Verständnisses von »Volkes Gottes« stehen. Pau­lus selbst verwendet den Ausdruck »Volk Gottes« ausschließlich in alttes­tamentlichen Zitaten, wobei sich die Mehrzahl dieser Verwendungen auf Israel selbst beziehen.41 Helmut Merklein betont in diesem Zusammen­hang den »sakralen« Charakter der »ekklesialen Vorstellung« ins besonders bei Paulus,42 wobei für ihn diese Sakralität mit dem bereits im Alten Is­rael im Zentrum stehenden Sühnegedanken verbunden ist - und damit mit einer zugleich religiösen wie sozialen Kategorie. Das biblische Süh­neverständnis bezeichnet ja letztlich einen rituellen Vollzug »vor Gott«, dessen Ziel nicht die »Besänftigung der Gottheit« ist, sondern die Stiftung und vor allem Erhaltung der Gemeinschaft »im Angesicht Gottes«. Am Ende seiner Untersuchung zum frühchristlichen Verständnis des I<reu­zestodes Christi als Sühnegeschehen und damit als Neudeutung des kul­tischen Sühnerituals in der Praxis Israels43 wird ersichtlich, dass für Pau­lus der menschliche Anteil am Sühnevollzug von der Einhaltung forma­ler »Kultvorschriften« - dem »Gesetz« der Tora - befreit ist und sich

318; vgl. dazu auch die umfassende Zusammenstellung von Jürgen Roloff, Die Kir­che im Neuen Testament (NTD Erg.Bd. 10). Göttingen 1993.

38 Merklein, Ekklesia Gottes, 299ff. - "Paulus wendet den Begriff der »Ekklesia«, so­fern er ihn nicht allgemein im Sinne von »Versammlung« gebraucht, nahezu aus­schließlich auf die konkrete einzelne Gemeinde an." (Ebd. 303) Vgl. auch Roloff, I<:irche im NT, 85: "Es gehört zum Wesen der ekklesia, dass sie sich konkret versam­melt."

39 Merklein, Ekklesia Gottes, 300.- Vgl. Philern 2; 1Kor 16,19b; Röm 16,5. 40 Merklein, Ekklesia Gottes, 303; Roloff, Kirche im NT, 82f.

4! Roloff, I<:irche im NT, 119. 42 Helmut Merklein, Der Sühnegedanke in der J esustradition und bei Paulus (1998), in:

Albert Gerhards / Klemens Richter (Hg.), Das Opfer. Biblischer Anspruch und li­turgische Gestalt (QD 186). Freiburg/Br.-Basel-Wien 2000, 59-91, hier: 60.

43 Helmut Merklein, Die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für die paulinische Ge­rechtigkeits- und Gesetzesthematik, in: Ders., Studien zu Jesus und Paulus I (WUNT 43). Tübingen 1987, 1-106.

Ekklesia als Verb 219

vollständig in der Beziehung zum Nächsten verwirklicht. 44 Im Ersten Korintherbrief wird darüber hinaus ersichtlich, dass die Zulassungsbe­dingungen zur Gottesherrschaft (basileia tou theou), die im Zentrum der Botschaft Jesu stand, und zur ekklesfa identisch sind45 - und diese decken sich wiederum mit der auf Einheit von religiöser und sozialer Praxis zie­lenden Zugehörigkeit zum qahal JHWH.

1 Kor 5,11: "Habt nichts zu schaffen mit einem, der sich Bruder nennt und dennoch Unzucht treibt, habgierig ist, Götzen verehrt, lästert, trinkt oder raubt; mit einem solchen Menschen sollt ihr nicht einmal zusammen essen."

1Kor 6,9f: "Wißt ihr denn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, weder Ehebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe, noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber weren das Reich Gottes erben."

Ohne auf die Fülle von exegetischen Details zur neutestamentlichen Ver­wendung von ekklesia hier eingehen zu können46, kann für das frühe Christentum die heute breit abgesicherte Erkenntnis zusammengefasst werden, dass die christliche ekklesfa das alttestamentliche qahal-V erständ­nis weder einfachhin übernommen noch aber verworfen oder abgelöst hat, sondern vielmehr unter den Bedingungen des Bekenntnisses zu Je­sus als dem Christus in die neue Situation umzusetzen sucht. Mit dem Terminus ekklesia ist demnach die selbe Struktur kollektiver Identität verbunden, die schon in der Zeit des Alten Testaments im Zentrum des Selbstverständnisses Israels stand. Sie brachte nicht nur den Zusammen­halt der Gemeinschaft zum Ausdruck, sondern regelte die religiösen und sozialen Vollzüge der Gemeinschaft durch ein an der monotheistischen Souveränität des nicht-darstellbaren Gottes orientiertes Handlungskrite-

44 "[D]er Glaubende, der mit dem durch seinen Tod die Rechtsforderung der Tora er­füllenden Christus gestorben ist, [erfüllt] die ganze Tora, wenn er das »Gesetz Christi« erfüllt (Gal 6,2), d.h., wenn er die durch die Erfüllung der Tora und als die Erfüllung der Tora zum Zuge kommende Liebe Christi nun seinerseits als Liebe zum Nächsten verwirklicht." (Merklein, Kreuzestod Christi, 104)

45 Roloff, I<:irche im NT, 84.

46 Siehe dazu grundlegend Schmidt, Art. ekklesia (ThWNT III), aaO.; Roloff, Art. ek­klesia (EWNT I), aaO.; Merklein, Ekklesia Gottes, aaO.; sowie bereits inhaltlich strukturierend: Roloff, I<:irche im NT, Kap. I I+ III (mit weiterführender Literatur an den Kapitelanfängen).

220 Peter Zeillinger

rium. Wie bei der »Altargemeinschaft« der nachexilischen qahal JHWH steht daher auch in der ekklesfa ]esu Christi die leitourgia im Zentrum.47

Auch in diesem Kontext sind sowohl die sachlichen wie sprachlichen Kontinuitäten wie auch die Differenzen zwischen alttestamentlichem qahal und christlicher ekklesia sprechend. Sie zeigen sich nicht zuletzt an den subtil unterschiedenen Bezeichnun­gen der religiös-politischen Praxis in diesen »Versammlungen«. Für den alttesta­mentlichen qahal ist es vor allem die LXX, die mit der gezielten Verwendung des griechischen leitourgein bzw. leitourgia eine klare Unterscheidung markiert zwischen dem öffentlichen Kult vor JHWH am Tempel und anderen Formen eines »öffentli­chen Dienstes«.48 Wie bereits erwähnt unterscheidet sich das allgemeine antike Ver­ständnis von Religion von demjenigen in den monotheistischen Traditionen durch ihren unterschiedlichen Bezug zur herrschenden politischen und sozialen Ordnung. Der exklusive Einsatz von leitourgein und leitourgia in der LXX verschiebt deren brei­te Verwendung in der Antike (bei der sich profane und religiöse Bedeutung des »Öf­fentlichen Dienstes« in der Aufrechterhaltung des Gemeinwesens treffen) in den Bereich des monotheistischen Kultes. Der »Dienst am Volk« ist in Israel und in der Terminologie der LXX vom »Dienst vor Gott (am Tempel)« nicht mehr zu tren­nen. Dies bedeutete jedoch keineswegs ein Vergessen der sozialen Dimension der JHWH-Verehrung insofern die Verehrung des monotheistischen Gottes in Israel ursprünglich an eine entsprechende soziale (Selbst-)Verpflichtung gebunden war. Wie oben bereits erwähnt gewährleistete erst die Einheit von Kult und sozialer Pra­xis die Zugehörigkeit zum alttestamentlichen qahal JHWH. Daran konnten nicht nur die alttestamentlichen Propheten erinnern, sondern diese Erinnerung stand auch im Zentrum der selbstkritischen Mahner zur Zeit Jesu (z.B. Johannes der Täu­fer) und bildete - ins Positive gewendet - auch den Kern der Botschaft J esu.

47 Vgl. Martin Ebner, Identitätsstiftende Kraft und gesellschaftlicher Anspruch des Herrenmahls. Thesen aus exegetischer Sicht, in: Ders. (Hg.), Herrenmahl und Grup­penidentität (QD 221). Freiburg/Br.-Basel-Wien 2007, 284-291; sowie etwas allge­meiner: Karl Kertelge, Gottesdienst als Berufung und Aufgabe der Kirche im Neuen Testament, in: Klemens Richter (Hg.), Liturgie- ein vergessenes Thema der Theolo­gie? (QD 107). Freiburg/Br.-Basel-Wien 1986,84-98, bes. 85-88.

48 Vgl. Strathmann, Art. leiturgeo, leitourgia, in: ThWNT IV (1942), 221-238.- "Of­fenbar haben die Männer der LXX das Bedürfnis und das Bestreben gehabt, den priesterlichen Dienst regelmäßig mit einem möglichst nur hierfür zu verwendenden Ausdruck zu bezeichnen und schon durch Ausbildung eines solchen Sprachge­brauchs die kultische Beziehung zu Gott aus allen anderen Dienstverhältnissen, in denen Menschen stehen mögen, als etwas Besonderes herauszuheben. Zu dies.en Zweck wählten sie die Wörter leilourgein, feilourgia. Dabei dürfte sich die Einheitlich­keit des Sprachgebrauchs der LXX aus dem bereits gegebenen Sprachgebrauch der hellenistischen Synagoge erklären, der die Übersetzer entstammten. Aber weshalb wählte man dort gerade diese Wörter?" (228)

Ekklesia als Verb 221

Auffällig ist demgegenüber das weitgehende Fehlen der Termini leitourgein und leilourgia in den neutestamentlichen Schriften,49 während die soziale Praxis, die be­reits die vorchristliche Identität Israels ausmachte, weiterhin im Zentrum stand. Ei­ner der wesentlichen Gründe für diese sprachliche Zurückhaltung dürfte in der Überwindung der Bedeutung der kultischen Dimension des Tempels und letztlich des Tempels überhaupt liegen, die mit dem Bekenntnis zu Jesus, dem Christus, verbunden war, der im Verständnis der entstehenden christlichen Gemeinschat die endgültige Versöhnung mit Gott vollzogen hat. Der Tempel als zentraler Sühneort, an dem Israel seine Schuld am Jom Kippur (Versöhnungstag) vor Gott bekannte und sich erneut auf eine soziale Praxis im Namen Gottes verpflichtete, wurde im Gefolge der Heilserfahrungen in der Jesus-Begegnung und im Osterereignis zuneh­mend abgelöst durch die Versammlung im Namen Jesu. Diese »liturgische Ver­sammlung«, in der die Erinnerung des Heilsgeschehens (anamnesis) und die Feier der Anwesenheit Gottes in der Gemeinschaft der Versammelten im Zentrum stand, führte demnach die Tradition des qahal JHWH unter den veränderten Bedingungen des messianischen Bekenntnisses fort. Auch wenn die griechischen Termini leilourg­ein und leitourgia, die in der Spätzeit des Alten Israel so ausdrücklich mit dem Kult zunächst vermieden wurden, behielt die christliche Versammlung dennoch den sozia­len Charakter eines »öffentlichen Dienstes zum Wohle des Volkes«50 bei und auch der monotheistisch-politische Kontext des alttestamentlichen qahal sollte sehr bald im Zentrum des politischen Ausdrucks des Selbstverständnisses der Christen stehen.

An dieser Stelle ist erneut die Bedeutung einer archäologischen Herangehensweise an geschichtliche Dokumente und Termini hervorzuheben: In der Exegese und in ein­führenden Werken zur Liturgiewissenschaft wird immer wieder die Vermeidung des Begriffs leitourgia im NT hervorgehoben und mit seiner fast ausschließlichen Interpretation als (zu überwindendem) Kultbegriff im Sinne der LXX erklärt. Diese historische Erkenntnis steht allerdings in letzter Konsequenz in Spannung zu der

49 Lediglich im Kontext des Hebräerbriefes, dessen Terminologie stark alttestamentlich geprägt ist, findet sich eine gehäuftere Verwendung der Begriffe (Strathmann, Art. leitourgia, 232t). Die einzige »liturgische« Verwendung findet sich in Apg 13,2.

so Bevor der Begriff »Liturgie« im Christentum erneut aufgegriffen wurde, wurde der wöchentliche christliche »Gottesdienst« im Lateinischen als munus oder officium be­zeichnet, die ebenfalls beide einen »öffentlichen Dienst« bezeichnet. Dabei ist insbe­sondere das munus von Interesse, weil es - aus dem römischen Recht stammend -ursprünglich den Dienst eines Beamten zum Wohl derer, die ihn aufsuchen, be­zeichnet und damit auch die Grundlage des Verständnisses von rommunilas bzw. com­munio näher bestimmt. Wie der italienische Philosoph Roberto Esposito herausgear­beitet hat, bezeichnet rommunilas in diesem Sinne eine Gemeinschaft, deren »Identi­tät« in einer Verpflichtung dem/ den Anderen gegenüber besteht. Die daraus resultierende »Identität« der Gemeinschaft kommt demnach ohne »Ausgrenzung« aus und bein­haltet dennoch eine konkrete Bestimmung: eben die Verpflichtung auf den Anderen. - Vgl. dazu Roberto Esposito, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft. Berlin 2004 [ital. 1998], bes. 7-35.

222 Peter Zeillinger

Bedeutung, die zeitgenössische Liturgiewissenschaftler dem Zentralbegriff ihrer Disziplin geben, die sie ja gerade nicht als »Kultwissenschaft« verstehen. Christliche »Liturgie« wird vielmehr erneut von ihrem ursprünglichen Wortsinn als »Dienst am Volk« verstanden - und zwar in Einheit mit der biblischen Gotteserfahrung. Dabei darf der Bezug zur biblischen Ausdrucksweise nicht willkürlich preisgegeben wer­den51 und auch ein prinzipieller Bruch in der Bedeutung »liturgischer« Praxis zwi­schen AT und NT wäre zu vermeiden, da ansonsten die Legitimation der früh­christlichen Gemeinschaftsvollzüge ohne einen konstruktiv differenzierenden Be­zug zur Praxis des Alten Israel und vor allem zu ihrer Deutung in den alttestament­lichen Schriften letztlich argumentativ »in der Luft schweben« und darüberhinaus in der Gefahr stehen würden, subtil einem christlichen Antijudaismus Vorschub zu leisten. Insofern bedarf es auch hier einer stärker archäologischen Zugangsweise, die die Entfaltung der alttestamentlichen wie der neutestamentlichen Begrifflichkeit und Deutungskategorien in einen positiv-konstruktiven Zusammenhang zur Konti­nuität und Differenz zwischen AT und NT bringt, an deren »roten Faden« heutige theologische Argumentationen anschließen können. Die Überwindung der Dimen­sion des Opfer-Kultes, die in der Zurückhaltung bei der Verwendung des !eitourgia­Begriffs im NT sichtbar wird, stellt in diesem Sinne keineswegs die Kontinuität und Anknüpfung52 an die religiös begründete und zum Ausdruck gebrachte soziale und politische Dimension der alttestamentlichen »Altargemeinschaft« und der darin zum Ausdruck kommenden monotheistischen Souveränität Gottes in Frage. Diese Fortführung und Weiterentwicklung gälte es vielmehr deutlicher herauszuarbeiten, da sie für das frühchristliche Verständnis von ekk!esia als »Gemeinschaft« und »Ver-

51 Das Eingangszitat von Friedrich Kalb, Art. Christliche Liturgie, in: TRE 21 (1991), 358-377 ist daher höchst missverständlich, wenn er dort Strathmann (Art. leitourgfa, in: ThWNT IV, 222) ohne Kontext zitiert: "Der heutige kirchliche Gebrauch des Wortes »Liturgie« läßt von der ursprünglichen Bedeutung der Wörter leitourgeo, leitourgia nichts mehr erkennen." Wie erst im weiteren Kontext von Strathmanns Ausführungen erkennbar wird, bezieht sich seine Aussage lediglich auf die allgemein griechische >>Ursprüngliche Bedeutung«, keineswegs auf die generelle Ausblendung der sozialen Dimension in der christlichen Liturgie.

52 Dass die christliche liturgische Versammlung sowohl im Sinne der religiösen Praxis als auch im Sinne der Herausbildung einer einheitlichen Gruppenidentität an die Tradi­tion des Tempels anschließt, hebt u.a. der Innsbrucker Liturgiewissenschaftler Rein­hard Meßner hervor: "Es ergibt sich die eher überraschende Schlußfolgerung, daß die wichtigste Wurzel christlicher Liturgie niecht der Synagogengottesdienst ist, der sich ja erst gleichzeitig mit ihr ausbildet, sondern der Tempel. Freilich ist die Tempel­theologie und -liturgie eschatologisch transformiert: An die Stelle der täglichen Tier­und Weihrauchopfer tritt das Gebetsopfer (vor allem das eucharistische Gebet) [ ... ]" (Reinhard Meßner, Der Gottesdienst in der vornicänischen Kirche, in: Die Ge­schichte des Christentums, Bd. 1 »Die Zeit des Anfangs (bis 250)«. hg.v. Luce Pietri. Freiburg-Basel-Wien 2005 [fr. 2000], 340-441, hier: 353.)

Ekklesia als Verb 223

sammlung« zentral ist, 53 in deren Mitte ein- weitgehend neu interpretiertes- »Op­fer-Verständnis«54 steht.

Die in der christlichen Mahlgemeinschaft gefeierte »Anwesenheit« Got­tes, die die ekkiesia tou theou konstitutiert, steht offensichtlich in dem sel­ben unmittelbaren Zusammenhang zur Praxis der Gemeinschaft wie dies in den Texten des Alten Testaments für den qahai bezeugt ist. Dieses kontinuierliche Verständnis von Identität als sozialer Praxis stellt sogar einen der wichtigsten Gründe für die rasche Ausbreitung des Christen­tums in den ersten Jahrhunderten dar.55 Der Kirchengeschiehtlet Chris­toph Markschies ist diesem Thema 2001 in seiner Heidelberger Antritts­vorlesung unter dem Titel Warum hat das Christentum in der Antike über­iebtf6 nachgegangen. Von den sieben Gründen, die er aufzählt, betreffen fünf das soziale V erhalten der Christen, das unmittelbare Vorbild von Märtyrern und Missionaren, die Vereinfachung der ethischen Maximen und die Bedeutung der Sündenvergebung. Insbesondere letztere erinnert nicht nur an die Bedeutung der Sühne für die Identität und den Zusam­menhalt der qahai JHWH, sondern ist auch in der Botschaft J esu und in

53 Diese »diabatische« (verwandelnde, die Gemeinschaft verändernde) Dimension der christlichen Liturgie wird heute neben der aufsteigend-verehrenden (»anabatischen«) Dimension und derjenigen der Heilszuwendung Gottes (»katabatische« Dimension) wieder verstärkt in den Blick genommen- und mit dem christologischen Bekenntnis verbunden (vgl. Albert Gerhards I Benedikt Kranemann, Einführung in die Liturgie­wissenschaft. Darmstadt 2006, 123t).

54 Vgl. dazu Albert Gerhards I Klemens Richter (Hg.), Das Opfer. Biblischer An­spruch und liturgische Gestalt (QD 186). FreiburgiBr.-Basel-Wien 2000.

55 Gegenwärtige Liturgiewissenschaft versucht im Anschluss an das Zweite Vatikani­sche Konzil diesen lange verschütteten Aspekt der christlichen Liturgie als ))diakonales Handeln<<, das mit den liturgischen Vollzügen untrennbar verbunden ist, erneut und mit Rückgriff auf die frühchristliche Tradition hervorzuheben (vgl. Gerhards, Ein­führung, 152-155). Leider bleibt dabei- mit wenigen Ausnahmen- zumeist die po­litische Dimension des Kriteriums für die Existenz der ekklesia unausgeführt. Vgl. aber Meßner, Gottesdienst, 354f (Kap. »Öffentlicher Gottesdienst<0, der den politischen und juridischen Kontext der Begrifflichkeit der frühchristlichen ekklesia hervorhebt. Sein Hinweis auf den Zusammenhang der liturgischen und der politischen Bedeu­tung von Akklamationen wird in den jüngsten »archäologischen« Untersuchungen von Giorgio Agamben zu dieser Praxis im Durchgang durch die abendländische Kulturgeschichte breiter ausgeführt: siehe dazu unten Anm. 75.

56 Christoph Markschies, Warum hat das Christentum in der Antike überlebt? Ein Bei­trag zum Gespräch zwischen Kirchengeschichte und Systematischer Theologie (Theologische Literaturzeitung. Forum Bd. 13). Leipzig 2004.

224 Peter Zeillinger

den frühchristlichen BuBverständnissen mit einer sozial wirksamen Pra­xis der Umkehr verbunden. Sie hat daher - über ihre theologische Be­deutung für die Wiederherstellung der menschlichen Gottesbeziehung hinaus- unmittelbaren Einfluss auf das gemeinschaftliche Zusammenle­ben der Menschen. Die beiden weiteren Gründe, die Markschies anführt, betreffen die christliche W eltdeutung. Zum einen führt die Erläuterung der Frage nach dem Ursprung des Übels mittels der biblischen Erzählung von der (guten) Schöpfung und dem Fall des Menschen, verbunden mit der Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes, wiederum zur Möglichkeit von Vergebung im Zusammenhang mit einer Umkehr hin zum entspre­chenden sozialen Verhalten. Und zum anderen war es der Zusammenhalt der Christen, der in der Zeit des zunehmenden Auseinanderbrechens der antiken Gesellschaft und des Zerfalls des römischen Reiches letztlich so­gar die staatlichen Organe beeindruckte und damit den Weg ebnete zur Einbindung der christlichen Religion in die politische Verantwortung. »Einbindung« bedeutete dabei zugleich »Akkulturation« und erforderte eine Identität, die- im Unterschied zur Struktur einer religio als )m-legere<<­nicht zu stark an rein äußerliche Kontinuitäten gebunden war.

"Zum einen erlebten viele Zeitgenossen das Christentum als eine in beson­derer Weise geschlossene Einheit von religiöser Reflexion und Praxis, von theologischem Denken und praktischem Kultus. [ ... ] Zum anderen konnte das Christentum auch schon deswegen ein neues Gefühl der Einheit we­cken, weil es so viele Elemente der antiken Kultur synthetisiert hatte. [ ... ] [D]ie Geschichte der kirchlichen Liturgie und der ethischen Reflexion bö­ten sich als Demonstrationsfelder an. Wenn das Wort nicht ebenso un­deutlich wie verbraucht wäre [ ... ],dann könnte man davon sprechen, dass das antike Christentum seinen Anhängern auf der einen Seite eine stabile neue Identität verschaffte, aber doch auch allerlei Elemente der alten Iden­tität zu integrieren vermochte."57

Diesem letzten Argument von Markschies soll am Ende dieses ersten knappen Versuchs eines archäologischen Zugangs zum Phänomen der christlichen ekklesfa noch ein Stück weit nachgegangen werden. Eine Be­sonderheit des christlichen Selbstverständnisses gegenüber der Praxis des Alten Israels (und des Judentums bis heute) ist der offensive und- zu­mindest im ursprünglichen theologischen Verständnis - positive Zugang auf die außerchristliche Welt.58 Vor allem die Struktur der zunehmenden

57 Markschies, Warum hat das Christentum überlebt?, SSf. 58 Die zahlreichen Beispiele einer jahrhundertelangen, oftmals gewalttätigen Erobe-

Ekklesia als Verb 225

Verschmelzung von Christentum und abendländischer Kultur ist dabei von Interesse. In einer stärker »archäologischen« Lektüre der angespro­chenen »Integrationsleistung« des Christentums wird nämlich erneut jene Transformationskraft erkennbar, die bereits im Zuge der Entfaltung des alttestamentlichen Monotheismus die antiken Strukturen des Verhältnis­ses von Religion und Politik in Israel grundlegend verwandelt hat. Ob­wohl zahlreiche Elemente außerisraelitischer Kulturen Eingang in das Selbstverständnis des Alten Israel und die biblischen Texte gefunden ha­ben, wurden sie doch zugleich in ihrer theologischen und sozialen Be­deutung grundlegend verwandelt. Eine vergleichbare Transformation wird an den Veränderungen der kulturellen und politischen Traditionen in der abendländischen Geschichte mit dem Eintritt des Christentums in die politische Sphäre erkennbar.

Auf dem Weg zu einer »Politik« des Pastorats

Die ersten Jahrhunderte der Entfaltung des Christentums kennen noch keine klar formulierte institutionelle Gestalt jener Gemeinschaft, die sich zunehmend mit und unter dem Begriff ekklesfa identifizierte. Die ersten Ansätze und Beispiele institutioneller Strukturen sind Gegenstand der historischen Wissenschaften und werden von diesen beschrieben. Neben dieser Beschreibung und dem Verständnis der komplexen historischen Zusammenhänge, die von den urchristlichen Gemeinden zu einer Groß­institution führen, die den staatlichen Strukturen weitgehend ebenbürtig gegenübertrat ohne sie einfachhin zu ersetzen, gibt es aber noch eine weitere Entwicklungslinie, die es wert ist verfolgt zu werden, um die Eigenart der christlichen ekklesfa besser zu verstehen. Die entsprechende

rung, Unterdrückung und vor allem prinzipiellen Geringschätzung anderer Kulturen besonders außerhalb Europas können und dürfen nicht vergessen oder verharmlost werden. Doch ebenso deutlich ist heute erkennbar, dass diese Verbrechen, die im Namen des Christentums von der Christenheit inszeniert wurden, schon im Ansatz der biblischen Gotteserfahrung und ihren Konsequenzen, sowie der Botschaft Jesu, die für Christinnen und Christen im Zentrum ihres Glaubens und ihres Umgangs in und mit der Welt steht, widerspricht. Es hat lange gedauert bis die christliche ekklesia ein Dokument wie »Nostra aetate«, das am Zweiten Vatikanischen Konzil von der römisch-katholischen Kirche verabschiedet wurde, zu ihrem Selbstverständnis zäh­len konnte. Die überkonfessionelle Bedeutung dieses Dokuments für die theologische Klärung des Verhältnisses des Christentums zu den nicht-christlichen Religionen und Kulturen ist heute wohl kaum zu bestreiten.

226 Peter Zeillinger

Fragestellung könnte etwa wie folgt formuliert werden: Was kommt in der geschichtlichen Entwicklung eigentlich über das »Wesen« der Ekkle­sia zum Ausdruck? Wozu hat sich die christliche Gemeinschaft eben die­se und nicht eine andere Ausdrucksgestalt gegeben? Ist der Fortgang der Institutionalisierung des christlichen Bekenntnisses hin zur späteren Ge­stalt der Kirche eine geschichtlich kontingente Entwicklung - lediglich abhängig von den gegebenen Machtverhältnissen und Entfaltungsmög­lichkeiten, denen alle geschichtlichen Prozesse unterliegen und die sich im Laufe der Geschichte entsprechend ändern können? Oder lässt sich zwischen allen historischen und regionalen Kontingenzen auch ein »roter Faden« in der Entfaltung des Christentums ausmachen, der vielleicht nur höchst selten ausdrücklich reflektiert wurde, dafür aber auch weit weni­ger den Interessen einer »konstruierenden Vernunft« unterliegt? Zwei Beobachtungen, die in diese Richtung weisen, sollen hier abschließend genannt werden. Sie wurden beide nicht von Theologen oder Historikern gemacht, sondern von zeitgenössischen Philosophen, deren Fragestellun­gen ebenfalls einem spezifischen Zeitkontext entspringen. Vor dem Hin­tergrund der ))(lotum( der Metaphysik, also der Erkenntnis der »Geschlos­senheit« (Endlichkeit, Geschichtlichkeit) des Anspruchs metaphysischer oder transzendentaler Begründungen wird in historischen und kulturge­schichtlichen (philosophischen) Analysen die bleibende Frage nach ei­nem Verständnis der Welt auf eine neue, nicht mehr konstruierend-spe­kulative Weise zu stellen versucht. Der Zugang ist ein responsiver bzw. nachträglicher, der dem der Phänomenologie ähnelt ohne jedoch deren idealistische bzw. transzendentalphilosophische Prämissen zu wiederho­len, an denen die abendländische Subjektphilosophie letztlich gescheitert ist. Der Ausgangspunkt dieser bereits im Ansatz »nach-metaphysischen« Philosophie liegt daher auch nicht mehr in einem >mnhinterfragbaren Subjektverständnis«, sondern in der >mnhintergehbaren Gestalt ge­schichtlicher Ausdrucksformen«.

a) Das ))Pastoral((- ein Grundzug des Abendlandes seit der Spätantike

In den letzten Jahren seines Lebens wurde der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) auf Grund seiner geschichtlichen Untersu­chungen im Kontext der Spätantike und des Verhältnissen zwischen grie­chischen, römischen und christlichen Praktiken des kulturellen und so­zialen Selbstverständnisses zu einer Neubewertung und vor allem Neu­formulierung eines Grundzugs der abendländischen Kultur- und Sozialge-

Ekklesia als Verb 227

schichte geführt, die er selbst zunächst weder gesucht noch erwartet hat­te. Im Zuge seiner Erforschung des Entstehens einer spezifischen neu­zeitlichen »Regierungsform«, der »Gouvernementalität«59, wurde er auf ein spezifisches Dreiecksverhältnis von ))Regierung(( (Leitung, Führung), Einzelnem und Gemeinschcift aufmerksam, das sich bis ins 2./3. Jh. n. Chr. zurückverfolgen ließ und auf Grund seiner Eigenart als »Pastorat«- von lat. pastotj "Hirte" - bezeichnet werden konnte.60 Im Rückgang auf die Herkunft und Entstehungszeit der Pastoratsstruktur wurde Foucault schließlich auf spezifisch christliche Sozialpraktiken in der Spätantike ver­wiesen, die sich nicht aus der griechisch-römischen Kultur ableiten ließen, sondern aus dem Alten Orient, insbesondere dem Verständnis der Einheit von politischem und sozialem Handeln im Alten Israel stammten und durch das Christentum Einzug gehalten hatten in die Welt der Spätantike.

Die Struktur des »Pastorats« ist gekennzeichnet durch ein besonde­res Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschcift,61 sowie durch eine Form

59 Siehe dazu: Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I (Vorlesung am College de France, 1977-1978). Frankfurt/M. 2006, sowie Ders., Die Geburt der Biopolitik Geschichte der Gouvernementalität II (Vorlesung am College de France 1978-1979). Frankfurt/M. 2006.

60 In Foucaults Werken, die durch seinen frühen Tod und die umgekehrte Chronologie seiner Forschungsinteressen - beginnend in der Neuzeit interessierte er sich erst ge­gen Ende seines Lebens für deren Grundlagen in der Spätantike - eine deutliche »Zusammenschau« vermissen lassen, findet sich immer wieder auch der Begriff der »Pastoral-Macht«. Diese Benennung gehört in den Kontext des von Foucault über viele Jahre verfolgten Projekts einer Analyse der Machtverhältnisse vor allem in der Neuzeit. Im Unterschied zu dem allgemeineren Begriff des »Pastorats« werden mit dem Terminus »Pastoralmacht« letztlich Anwendungen der Pastoratsstruktur in der abendländischen Geschichte bezeichnet, die nicht selten auch als Missbrauch kriti­siert werden müssen. Im vorliegenden Beitrag steht jedoch nicht die Geschichte der Entfaltung der Pastoralmacht im Zentrum, sondern vor allem die das Pastorat aus­zeichnende Struktur und deren Bedeutung für das Verständnis eines Grundzugs der

abendländischen Geschichte. 61 In zwei Vorlesungen am 10. u. 16. Oktober 1979 an der Universität Stanford brachte

Foucault seine neue Forschungsabsicht folgendermaßen zum Ausdruck: "Meine Ar­beit wird sich künftig auf das Problem der Individualität beziehen - oder, wie ich auch sagen könnte, auf das Problem der Identität im Zusammenhang mit dem Problem der »individualisierenden Macht«. [ ... ] Wenn der Staat die politische Form einer zentralisierten und zentralisierenden Macht ist, können wir die individualisie­rende Macht das Pastorat nennen." (Michel Foucault, »Ümnes et singulatim«: zu ei­ner Kritik der politischen Vernunft (1979), in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften IV

228 Peter Zei//inger

der Führung von Einzelnem und Gemeinschaft durch die Instanz eines »Hirten«. Im Zentrum steht die Sorge des »Hirten« für omnes et singulatim, für »alles« und zwar jedem einzelnen gegenüber (singulatim). Eben diese Hirtensorge erkennt Foucault in der biblischen Tradition grundgelegt -und zwar geradezu im Unterschied zur griechischen Kultur, in der zwar

das Bild des Hirten bekannt war, aber gerade in der philosophischen und politischen Argumentation als unzureichend angesehen wurde für eine angemessene Beschreibung der Aufgabe der Leitung, Führung oder Herrschaft im Bereich der Öffentlichkeit und der Politik.62 In der bibli­schen Tradition dagegen ist nicht nur JHWH der Inbegriff des »guten Hirten« (Ps 23), sondern auch das Davidische Königtum wird am Modell des Hirten gemessen, der sich um das Wohl seiner Herde kümmert. 63

Auch im Neuen Testament spielt das Bild des Hirten in der Botschaft Jesu eine entscheidende Rolle, sodass deren Zentrum, die basileia tou theou) weniger ein »Kiinig-sein Gottes« im Sinne herrschaftlicher Macht und Hierarchie zum Ausdruck bringt sondern vielmehr die sorgende Haltung eines Hirten, dem es um das Wohl der gesamten Herde wie auch jedes einzelnen Tieres geht. Die politische Besonderheit der Pastorats­struktur liegt in der Bindung und Verpflichtung der Leitung bzw. Führung an das Wohl der Gesamtheit wie des Einzelnen zugleich. Damit ist aber auch ein Kriterium der Kritik gegeben, das es ermöglicht, den schlechten oder falschen Hirten zu entlarven und entsprechend in Frage zu stellen.64

(2005), 165-198, hier: 167.)- Vgl. auch den Vortrag an der Universität von Vermont im Oktobaer 1982: M. Foucault, Die politische Technologie der Individuen (1982), in: Ders., Dits et Ecrits. Schriften IV (2005), 999-1015.

62 In den Vorlesungen vom 8. Februar bis 8. März 1978 beschreibt Foucault wie sich die pastorale Regierung von der griechisch-römischen Führungstradition unterschied und ihr geradezu entgegengestellt wurde. Siehe dazu: Foucault, Geschichte der Gou­vernementalität I, 173-368.

63 Foucault, Omnes et singulatim, 168-171. 64 Ein theologisches Paradebeispiel dieser Pastoratsstruktur findet sich in der Regula

Benedicti, die die Funktion des Abtes zum einen ausdrücklich mit dem Bild und der Aufgabe des Hirten beschreibt, dem gegenüber zum einen Gehorsam gefordert ist, weil er das Wohl der Gemeinschaft und jedes einzelnen Mitglieds im Auge hat, der aber zugleich kritisiert werden kann, wenn er diese Aufgabe nicht im Sinne des einzi­gen wahren Hirten, der JHWH bzw. Christus ist, erfüllt. - Vgl. dazu Michaela Pu­zicha, Kommentar zur Benediktusregel. Mit e. Einf. v. Christian Schütz. Im Auftrag der Salzburger Abtekonferenz. St. Ottilien 2002.

Ekk/esia als Verb 229

Vor diesem Hintergrund gewinnt nicht nur das mittelalterliche Herr­schaftsverständnis, das sich am Davidischen Königtum und nicht am römischen Kaiserverständnis orientierte, eine klarere Gestalt, sondern es werden auch die zahlreichen Reformbewegungen in der Geschichte des Abendlandes besser verstehbar, die die jeweilige (religiöse oder staatliche) Herrschaft nicht nur am Wohl des Gemeinwesens maßen - wie dies der poli­tischen Aufgabe in der griechischen und römischen Tradition der Antike entsprochen hätte- sondern zugleich auch am Wohl der Einzelnen. 65 Die Pastoratsstruktur führte auf diese Weise im Abendland über die Vermitt­lung des Christentums nicht nur ein Kriterium zur Beurteilung und Kritik herrschaftlicher Strukturen ein, sondern motivierte zugleich zu konkreten Reformen.

Dass es sich beim Pastorat keineswegs um eine bloß religiös rezipier­te Struktur handelt sondern tatsächlich um einen Grundzug abendländi­schen Gemeinschaftsverständnisses, macht Foucault am Beispiel der Bil­dung von modernen, nicht mehr religiös begründeten Nationalstaaten deutlich. Dabei entwickelt sich eine neue Form der »Regierungstechnik« und übernimmt - in ihrer Begründung weitgehend unreflektiert - die Funktion des Pastorats, das bisher durch die Religion abgedeckt war. Als neue »Säule« des staatlichen Gemeinwesens tritt so im 17./18. Jh. die »Polizey« bzw. die »Polizeywissenschaft« neben die traditionellen Berei­chen des Militärs, der Justiz und der Finanz. Ihre Aufgabe ist fast unbe­grenzt und umfasst letztlich alles, was das Leben des Einzelnen betrifft. 66

65 "Kurz, das Problem der [griechischen; Anm. PZ] Politik ist das der Beziehung zwi­schen dem Einen und dem Vielen im Rahmen des Gemeinwesens und seiner Bürger. Das Problem des Pastorats betrifft das Leben der Einzelnen." (Foucault, Omnes et singulatim, 176)

66 "Menschen und Dinge werden in ihren Beziehungen zueinander betrachtet: die Koexistenz der Menschen auf einem Territorium; ihre Eigentumsverhältnisse; ihre Produkte; was auf dem Markt getauscht wird. Die Polizei interessiert sich auch für ihre Lebensgewohnheiten, für die Krankheiten und für die möglichen Unglücksfälle, denen sie ausgesetzt sind. [ ... ] Der Mensch ist der wahrhafte Gegenstan der Polizei, behauptet er [Marquet de Mayerne; Anm. PZ] im Wesentlichen." (Foucault, Omnes et singulatim, 190) - "Das einzige und alleinige Ziel der Polizei besteht darin, den Menschen zum größten Glück zu führen, das er in diesem Leben genießen kann." (ebd. 193) -Nicht nur der Begriff der »Bevölkerung« besitzt hier seinen geschichtli­chen Hintergrund, sondern auch die gegenwärtigen Debatten um die sog. »Biopoli­tik« entstammen demselben Phänomen, das Foucault hier beschreibt. Vgl. Foucault, Die Geburt der Biopolitik Geschichte der Gouvernementalität II.

230 Peter Zeillinger

Am intensiven Interesse, das die pastorale bzw. polizeiliche »Füh­rung« am Leben des Einzelnen hat, wird allerdings zugleich ersichtlich, inwiefern Foucault die Pastoratsstruktur in seinen Texten immer wieder auch als negativ besetzte »Pastoral-Macht« und als eine der "fürchter­lichsten menschlichen Regierungsformen"67 bezeichnen konnte. Seine Bewertung des Pastorats bleibt im Ganzen letztlich sehr inhomogen und kontextbezogen und sollte nicht pauschalisiert werden. Sie lenkt die Aufmerksamkeit jedoch auf eine entscheidende Eigenheit des ursprüng­lichen christlichen Pastorats, die Foucault erst nachträglich in den Mit­telpunkt seines Interesses rückt. Anhand spezifisch christlicher Praktiken der »Selbstsorge« analysiert Foucault ein Phänomen der Individualisierung und vor allem Suijektwerdung im Christentum,68 das - losgelöst von den spezifisch religiösen Inhalten - letztlich als Paradigma des abendländi­schen Subjektverständnisses bis in die Gegenwart nachvollziehbar ist.

Im frühen Christentum finden sich Gemeinschaftspraktiken mittels derer ein vor Gott oder vor der Gemeinschaft (beides ist in der bibli­schen Tradition voneinander nicht zu trennen) schuldig gewordener Mensch durch ein öffentliches Schuldbekenntnis, eine Zeit der Buße und ein anschließendes öffentliches Glaubensbekenntnis wieder in die Ge­meinschaft aufgenommen wird. Erstaunlicherweise werden alle drei Ab­schnitte dieser Wiedereingliederung - Schuld- und Glaubensbekenntnis, sowie die Bußzeit dazwischen - mit demselben Begriff exhomologesiP be­zeichnet, der seinerseits gleichbedeutend ist mit homologia, "Bekenntnis". Foucault betont hier vor allem den Charakter der »Selbstenthüllung« im Christentum, der sich von ähnlichen Selbstpraktiken in der Tradition der Stoa grundsätzlich unterscheidet. "Exhomologesis war ein Ritual, das die Anerkennung seiner selbst als Sünder und Büßer gebot."70 In diesem Sinn übersetzt Tertullian diesen Begriff auch als )1Jublicatio sui<<, "sich selbst veröffentlichen". Es ging demnach nicht darum, sich in eine vor­gegebene Ordnung erneut harmonisch einzufügen, sondern in einem

67 Foucault, Omnes et singulatim, 198 u.ö. 68 Vgl. zum folgenden Michel Foucault, Technologien des Selbst (1982), in: Ders., Dits

et Ecrits. Schriften IV (2005), 982-999, bes. 989ff; sowie Ders., About the Beginning of the Hermeneuries of the Self. Two Lectures at Darmouth (1980), in: Political Theory, 21. Jg. (May 1993) H. 2, 198-227, bes. 213ff.

69 Zu diesem Terminus vgl. Reinhard Meßner, Art. Exhomologese, in: LThK3 III (1995), 1111, sowie Martin Ohst, Art. Exhomologese, in: RGG4 II (1999), 1806f.

7° Foucault, Technologien des Selbst, 991.

Ekklesia als Verb 231

dramatischen, auf Gemeinschaft bezogenen Akt vielmehr die Wahrheit über das Selbst zu offenbaren. In der oft langen Bußzeit sollte schließlich am eigenen V erhalten sichtbar werden, dass die Beziehung zu den ande­ren (und damit auch zu Gott) im Zentrum des eigenen Lebens stand. Daher tragen alle drei Abschnitte dieselbe Bezeichnung, da sie drei As­pekte desselben Bekenntnisses darstellen.

Neben dieser dramatischen (und weniger verbalen) Bußpraxis nennt Foucault auch noch eine zweite Form christlicher Selbstprüfung und Selbstenthüllung - die sog. exagoreusis, die vor allem im christlichen Mönchtum ausgeprägt war und damit erneut eine Form der Pastorats­struktur wiederspiegelt.71 Bei dieser Praxis, die von Cassian (um 360-435) aus den syrischen und ägyptischen Mönchstraditionen entlehnt im Wes­ten etabliert wurde, war der Mönch angehalten, ähnlich wie bei der späte­ren Ohrenbeichte, einem Meister in vollständigem Gehorsam alles über sich zu erzählen. "Indem der Mönch nicht lediglich seine Gedanken, sondern sogar die geringsten Impulse seines Bewusstseins und seine Ab­sichten artikuliert, tritt er in eine hermeneutische Beziehung nicht nur zu seinem Meister, sondern zu sich selbst."72 Verfolgt man diese, in man­chen Ausprägungen durchaus extremen religiösen Praktiken durch die weitere Geschichte des Abendlandes, so sind es eben diese Praktiken, die nicht nur in Mittelalter und Neuzeit, sondern bis in die Gegenwart das abendländische Subjektverständnis und den gesellschaftlichen Umgang miteinander prägen. So etwa lässt sich die Geschichte des juridischen »Geständnisses«, das im Mittelalter das Gottesurteil als Wahrheitsfindung ablöste, unmittelbar zur Einführung der Laienbeichte im 13. Jh. in Be­ziehung setzen73 und damit zum Eindringen der christlicher Selbstprakti­ken bzw. des Pastorats in die gesellschaftliche und politische Struktur der

71 Siehe dazu oben Anm. 64 zur Regula Benedicti. 72 Foucault, Technologien des Selbst, 997. 73 Siehe dazu - mit Hinweisen zum Rechtsverständnis der römischen I<:irche, zur früh­

christlichen Bußpraxis, sowie zu den Werken von Michael Foucault und dem Rechtshistoriker und Psychoanalytiker Pierre Legendre: Manfred Schneider, Forum internum - forum externum. Institutionstheorien des Geständnisses, in: Joachim Reichertz / Manfred Schneider (Hg.), Sozialgeschichte des Geständnisses. Zum Wandel der Geständniskultur. Wiesbaden 2007, 23-41; sowie die Kurzzusammenfas­sung der Geschichte des Geständnisses in der Einleitung zu: Anders Engberg-Peder­sen u.a. (Hg.), Das Geständnis und seine Instanzen. Zur Bedeutungsverschiebung des Geständnisses im Prozess der Moderne. Wien-Berlin 2011, 9-17.

232 Peter Zeillinger

Spätantike. Descartes' Selbstprüfung, die Struktur der neuzeitlichen Sub­jektphilosophieund nicht zuletzt sogar die Weise der psychoanalytischen »Wahrheitsfindung« repräsentieren ein Subjektverständnis, das nicht aus der griechisch-römischen Philosophie und Metaphysik abgeleitet werden kann, sondern sich einer über das Christentum vermittelten Überliefe­rung verdankt.74

Wie bereits erwähnt bleibt Foucault bei der »Bewertung« dieser kul­turgeschichtlichen Prozesse letztlich sehr widersprüchlich. Sowohl die Pastoral-Macht als auch die Geständnispraktiken in der Neuzeit werden von ihm- etwa im Kontext seiner Untersuchungen zur Psychiatrie und zu den Gefängnissen - durchaus auch in ihren negativen Ausprägungen gesehen. Zugleich entgeht ihm aber der Umstand, dass das Pastorat zwar Missbräuche nicht zu verhindern vermag, aber zugleich ein effektives Kriterium in die Hand gibt, diese zu entlarven. Die »Individualisierung« und »Subjektivierung« des Einzelnen und seine Verpflichtung auf die Ge­meinschaft verhindert in letzter Konsequenz die Legitimation einer klassisch-hierarchische Herrschaftsstruktur. Die Struktur des biblisch­christlichen Pastorats stellt vielmehr eine erstaunlich »flache« Ordnung der Gemeinschaft dar, deren Missbrauch nicht neuerlich als »Pastorat« legitimiert werden kann.

b) Oikonomia- als ))Politik<d

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat kürzlich eine Studie vorgelegt, die die Beobachtungen Foucaults zu einem veränderten Re­gierungs- bzw. Herrschaftsverständnis durch den Eintritt des Christen­tums in die Sozial- und Politikgeschichte des Abendlandes nochmals stärkt. In Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierungs nimmt Agamben die alte griechische Unterscheidung von polis und oikos auf, die unter anderem die Politische Philosophie des Aristoteles prägt, und zeigt, wie durch die Problemstellung und Formu-

74 Vgl. dazu auch die, ebenfalls in einem christlichen Kontext verankerte Idee und Struktur der »Truth and Reconciliation Commission« in Südafrika: Anne Fleckstein, »Nothing but the truth«. Bezeugen in der südafrikanischen Wahrheitskommission, in: Sibylle Schmidt I Sibylle Krämer I Rarnon Vages (Hg.), Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenspraxis. Bielefeld 2011, 311-330.

75 Giorgio Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von Ökonomie und Regierung (Homo Sacer II.2). FrankfurtiM.-Berlin 2010 [ital. 2007].

Ekklesia als Verb 233

lierung der christlichen Trinitätslehre diese Trennung überwunden wird und eine Ausweitung des Verständnisses der oikonomia auf den »politi­schen« Bereich erfolgt.76 Ohne die Argumentation an dieser Stelle im De­tail nachvollziehen zu können, sollen doch zumindest die Parallelen zum alttestamentlichen qahal, zur neutestamentlichen »Liturgie«-Gemein­schaft, sowie zur Struktur des Pastorats in Erinnerung gerufen werden, die allesamt den Hintergrund für das Verständnis und die politische Be­deutung der christlichen ekklesfa bilden.

"In dem historischen Moment, in dem sowohl die ontologischen als auch die politischen Begriffe des klassischen Altertums in eine tiefe Krise gerie­ten, in dem das transzendente, ewige Prinzip und die immanente Ordnung des Kosmos miteinander nicht mehr in Einklang standen, wurde das Problem der Regierung der Welt und deren Legitimation zur grundlegen­den politischen Frage."77

Agamben umschreibt hier die politische Herausforderung, die sich mit dem Zerfall des antiken Verständnisses von kosmischer Harmonie und daraus resultierender ontologisch-metaphysischer Ordnung, die in die antike, staatstragende Religiosität des re-legere mündete, letztlich ergeben musste. Die Legitimation herrschaftlicher Macht wurde seit der Frühzeit menschlicher Kultur im Kontext des mythisch-geschlossenen Zeitver­ständnisses als Übereinstimmung mit der kosmischen Ordnung aufge­fasst. Dieses Zeitmodell, dem in gesellschaftlicher Hinsicht das Konzept der polis entsprach, an deren (gegenwärtigem) Gemeinwohl die »Politik« ausgerichtet wurde, wurde von der Philosophie als Ontologie oder Metapf?y­sik übernommen. Erst im 20. Jh. ist dieses »geschlossene« Zeitverständ­nis endgültig zerbrochen. In diesem Sinne zeigen zeitgenössische Philo­sophen daher auch ein außerordentliches Interesse an der »anderen« Zeitstruktur, die das Abendland geprägt hat und die mit der spezifischen Temporalität der biblischen Botschaft verbunden ist.78

76 "Die vorliegende Untersuchung möchte der Frage nachgehen, wie und warum die Macht im Abendland die Form einer oikonomia, das heißt einer Regierung der Men­schen, angenommen hat." (Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, 11)

77 Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, 88.

78 Vgl. Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus. München 2002 [fr. 1997]; Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief. FrankfurtiM. 2006 [ital. 2000].- Zusammenfassend: Peter Zeillinger, Messianismus und futur anterieur. Grundlagen einer allgemeinen Struktur des Politischen, in: Sabine

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Agambens Untersuchung läuft letztlich auf die breit angelegte Er­kenntnis hinaus, dass es gerade nicht der Diskurs und der Anspruch von Macht und Herrschaft sind, die die abendländische politische Tradition prägen, sondern vielmehr eine »Politik« der unsagbaren und undarsteilba­ren Leere, die durch eine gemeinschaftliche Praxis der »Anerkennung« legi­timiert wird. Agamben untersucht und verfolgt diese gesellschaftliche Praxis anhand der Bedeutung liturgischer und politischer Akklamationen nicht nur im Christentum, sondern auch im »säkularen« Bereich von der römischen Spätantike bis in die Neuzeit. Die politische Macht der Herr­schaft ist demnach weltlich weder präsentierbar noch in einem identifizie­renden Sinn repräsentierbar. Es ist vielmehr die Struktur des leeren Thro­nes (hetoimasia tou thronou), die- oftmals unreflektiert, aber dennoch prak­tisch vollzogen - eine »Politik« ermöglicht, die sich nicht an faktischen Machtverhältnissen misst, sondern an einer oikonomia der guten Regie­rung, deren Kriterium das »Ümnes et singulatim« ist, das Foucault als Pastorat bezeichnet hat und sich durchaus deckt mit dem Verständnis von Compassion als »Autorität der Leidenden«, wie sie in der Politischen Theologie von J .B. Metz entfaltet wird.

An dieser Stelle müsste eine Erörterung der politischen Möglichkeiten und Konsequenzen anschließen, die sich vor diesem kulturgeschichtli­chen Hintergrund des Abendlandes ergeben. Doch dies übersteigt die Fragestellung dieses Beitrags. Allerdings sollte dieser erste Ansatz zu ei­ner »Archäologie der politischen Dimension des Christentums« erkenn­bar gemacht haben, in welcher Hinsicht die christliche ekk!esfa von ihren Wurzeln in der alttestamentlichen Gottesbeziehung bis zur Wahrneh­mung ihrer politisch-gesellschaftlichen Verantwortung in und für die Welt nur unter der Orientierung an einem - von Anfang an zugleich theolo­gisch wie politisch-praktisch formulierten - Doppelkriterium jene I<irche J esu Christi sein kann, als die sie sich bekennt: Dieses Doppelkriterium, das sich am christlichen Verständnis einer entsprechenden !eitour;gia bün­deln lassen müsste, umfasst neben der politischen Umsetzung der Aner­kennung der nichtdarstellbaren Souveränität des monotheistischen Got­tes zugleich auch das Engagement für die ebenfalls politikbegründende Struktur des Pastorats und der daraus resultierenden sozialen Praxis der Compassion in den faktischen Verhältnissen der Welt.

Biebl / Clemens Pornschlegel (Hg.), Paulus-Lektüren (Religiöse Ordnungsmodelle der Moderne, 1). Paderborn 2013, 45-62.