Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas. Verfassungsgebung als Katalysator...

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Zusammenfassung: Der Verfassungsgebungsprozess der Europäischen Union bedeutet nicht nur eine Neugestaltung der politischen Ordnung, sondern auch ein Sich-Verfassen der gesellschaftlichen Ordnung. Die soziale Konstituentenschaft der EU wird dabei über mediales Claimsmaking und Medienresonanz beobachtbar, die in Beziehung zur europäi- schen Verfassungsgebung stehen. In einer vergleichenden Claimsanalyse der Berichter- stattung zur Ratifizierungsphase in deutschen und französischen Qualitätszeitungen wird untersucht, wer die Debatte prägte, welche Themen aufgriffen wurden, wie die jeweiligen Akteure sich gegenüber der EU positioniert haben und wie Visionen zur Zukunft Euro- pas gerechtfertigt wurden. Eine stark politisierte, aber nach innen gewandte französische Debatte stand dabei einer aufmerksamen, aber eher passiv beobachtenden Haltung deut- scher Medien gegenüber. Schlagwörter: Konstitutionalisierung · Claimsanalyse · Europäische Öffentlichkeit · Deutschland · Frankreich Abstract: The constitutionalization of the European Union represents a simulta- neous and interacting process of polity building and constituency building. The EU’s social constituency is referred to as a particular constellation of public voice and reso- nance in the media in relation to European constitution making. This article compares ABHANDLUNG PVS 48 (2007) 4:705-729 DOI 10.1007/s11615-007-0128-0 Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas. Verfassungsgebung als Katalysator europäischer Vergesellschaftung? Erik Jentges · Hans-Jörg Trenz · Regina Vetters Dipl.-Soz. Erik Jentges (*) Humboldt Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät III, Institut für Sozialwissenschaften, ESF-Project: European Constitution-Making Contextualised: The relationship between the emerging EU-polity and its social constituency, Universitätsstr. 3b, 10099 Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Hans-Jörg Trenz University of Oslo, Faculty of Social Sciences, ARENA, Center for European Studies, P.O. Box 1143, Blindern, 0317 Oslo, Norwegen E-Mail: [email protected] Dipl.-Pol. Regina Vetters Humboldt Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät III, Institut für Sozialwissenschaften, ESF-Project: European Constitution-Making Contextualised: The relationship between the emerging EU-polity and its social constituency, Universitätsstr. 3b, 10099 Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]

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Zusammenfassung:  Der Verfassungsgebungsprozess der Europäischen Union bedeutet nicht nur eine Neugestaltung der politischen Ordnung, sondern auch ein Sich-Verfassen der gesellschaftlichen Ordnung. Die soziale Konstituentenschaft der EU wird dabei über mediales Claimsmaking und Medienresonanz beobachtbar, die in Beziehung zur europäi-schen Verfassungsgebung stehen. In einer vergleichenden Claimsanalyse der Berichter-stattung zur Ratifizierungsphase in deutschen und französischen Qualitätszeitungen wird untersucht, wer die Debatte prägte, welche Themen aufgriffen wurden, wie die jeweiligen Akteure sich gegenüber der EU positioniert haben und wie Visionen zur Zukunft Euro-pas gerechtfertigt wurden. Eine stark politisierte, aber nach innen gewandte französische Debatte stand dabei einer aufmerksamen, aber eher passiv beobachtenden Haltung deut-scher Medien gegenüber.

Schlagwörter:  Konstitutionalisierung · Claimsanalyse · Europäische Öffentlichkeit · Deutschland · Frankreich

Abstract:  The constitutionalization of the European Union represents a simulta-neous and interacting process of polity building and constituency building. The EU’s social constituency is referred to as a particular constellation of public voice and reso-nance in the media in relation to European constitution making. This article compares

ABHANDLUNG

PVS 48 (2007) 4:705-729DOI 10.1007/s11615-007-0128-0

Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas. Verfassungsgebung als Katalysator europäischer Vergesellschaftung?

Erik Jentges · Hans-Jörg Trenz · Regina Vetters

Dipl.-Soz. Erik Jentges (*)Humboldt Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät III, Institut für Sozialwissenschaften, ESF-Project: European Constitution-Making Contextualised: The relationship between the emerging EU-polity and its social constituency, Universitätsstr. 3b, 10099 Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Hans-Jörg TrenzUniversity of Oslo, Faculty of Social Sciences, ARENA, Center for European Studies, P.O. Box 1143, Blindern, 0317 Oslo, NorwegenE-Mail: [email protected]

Dipl.-Pol. Regina VettersHumboldt Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät III, Institut für Sozialwissenschaften, ESF-Project: European Constitution-Making Contextualised: The relationship between the emerging EU-polity and its social constituency, Universitätsstr. 3b, 10099 Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

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constitutional claims-making in quality newspapers in France and Germany during the ratification period. It analyzes who raised their voices, what kinds of concerns and demands were put forward, which attitudes towards the EU were expressed and how particular visions of the EU were justified. A politicized and domestically focused French media sphere is contrasted with the German media that took the position of an attentive but passive observer of debates in other member states.

Keywords:  Constitutionalization · Claims Analysis · European Public Sphere · Germany · France

1. Verfassung als Katalysator europäischer Gesellschaft? 

Im Prozess der europäischen Verfassungsgebung steht die Legitimität des europäischen Integrationsprojektes zur Debatte. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wurde hierzu insbesondere die Frage nach der rechtlichen Ausgestaltung von Verfassungen und der Dynamik von Verfassungspolitik jenseits von Staatlichkeit in den Vordergrund gestellt (Eriksen et al. 2004; Maurer/Schild 2003). Gerade aus verfassungstheoretischer Perspektive ist allerdings schon frühzeitig darauf hingewiesen worden, dass die rechtli-che Verfasstheit der EU als ein politisch konstituiertes Gemeinwesen nicht von der Frage nach der gesellschaftlichen Verfasstheit Europas losgelöst werden könne (Böhner 1998). Im föderalen Rahmen der EU bedürfe Verfassungsgebung zwar nicht der engen Rückbindung an die Homogenität eines Volkes, sie müsse aber zumindest Gelegenheiten für gesellschaftliche Interessenartikulation und Repräsentation bereitstellen und es damit den Bürgern ermöglichen, sich nicht bloß als Angehörige ihrer regionalen oder natio-nalen Gemeinschaften, sondern auch als Gemeinschaft von Unionsbürgern zu verstehen (Preuss 1999; Weiler 1999).

Die europäische Integrationsforschung hat sich mit dem Prozess der sozialen Konsti-tutionalisierung im Sinne einer solchen sozio-kulturellen Einbettung von Verfassungsdy-namiken (Wiener 2007: 176) bislang nur marginal auseinandergesetzt. Zwar hatte Jürgen Habermas bereits 1996 in einem richtungweisenden Beitrag auf die zu erwartenden kataly-tischen Effekte eines gemeinsamen europäischen Verfassungsprojekts hingewiesen. Aller-dings ist diese seinerzeit kontrovers diskutierte These einer gesellschaftsinduzierenden Wirkung europäischer Verfassungsgebung bislang kaum in empirischen Forschungsar-beiten aufgegriffen worden. Mit dem vorläufigen Abschluss des Verfassungsprozesses kann nun retrospektiv abgewogen werden, ob und in welchem Ausmaß es gelang, den langfristigen Prozess der Konstitutionalisierung eines europäischen Gemeinwesens an simultane und intervenierende Prozesse der Herausbildung einer europäischen Konsti-tuentenschaft anzuschließen (Fossum/Trenz 2006a). Dazu bietet sich eine Perspektive an, welche die öffentlichen Arenen als Schauplatz von Legitimitäts- und Anerkennungs-kämpfen zwischen institutionellen und gesellschaftlichen Akteuren daraufhin untersucht, inwiefern sie eine kollektive Selbstverständigung über die Ziele und Grenzen der europäi-schen Integration ermöglichen.

Die soziale Konstitutionalisierung der EU manifestiert sich demnach in verdichteten Kommunikationszusammenhängen, die einen Selbstverständigungsprozess der Europäer

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im Hinblick auf das durch sie zu konstituierende Gemeinwesen anleiten. Dabei liegt das Augenmerk auf dem Zusammenspiel der miteinander konkurrierenden Akteure und Insti-tutionen im Wettbewerb um Publikumsaufmerksamkeiten und externe Legitimitätszuwei-sungen. Von der Art der Austragung solcher kollektiver Aushandlungsprozesse zwischen institutionellen und gesellschaftlichen Akteuren hängt es letztendlich ab, ob die euro-päische Einigung auch in einen Prozess der sozialen Konstitutionalisierung eintritt. Wirkt also die Verfassungsgebung als Katalysator europäischer Vergesellschaftung?

Im Folgenden gilt es zunächst, die in der Forschung weitgehend unterschätzte Rolle der Massenmedien als Vermittler und als Generator von Legitimitätsdiskursen zur EU herauszuarbeiten. Hierzu wird vorgeschlagen, die gesellschaftsbildende Wirkung europäi-scher Verfassungsgebung über die Herstellung und Dynamisierung medialer Öffentlich-keiten zu messen. Als Grundlage dient eine repräsentative Erhebung der Berichterstattung zum Verfassungsgebungsprozess in der deutschen und französischen Qualitätspresse. Der Erhebungszeitraum der qualitativen Inhaltsanalyse konzentriert sich auf die Ratifizie-rungsphase des im Oktober 2004 von den Regierungschefs unterzeichneten Verfassungs-vertrags bis zu den negativen Referenden in Frankreich und in den Niederlanden. Damit wird eine der zentralen politischen Gelegenheitsstrukturen im Prozess der politischen und sozialen Konstitutionalisierung der EU ins Auge gefasst, deren Besonderheit in der beschleunigten Dynamik der Auseinandersetzung und in der Zuspitzung von massen-medialer Aufmerksamkeit und Dramatik begründet liegt. Im Ländervergleich können des Weiteren unterschiedliche Grade der Dynamisierung von Öffentlichkeit und ihrer transnationalen Verschränkung herausgearbeitet und auf die Besonderheiten des jeweils gewählten Ratifizierungsverfahrens (parlamentarische Zustimmung in Deutschland bzw. Volksentscheid in Frankreich) zurückgeführt werden.

2. Vermittlung und Katalyse: Die Rolle der Medien

Politische Ordnungen generieren Öffentlichkeiten als Arenen, in denen Legitimitäts-ansprüche zwischen Herrschaftsträgern und Herrschaftsunterworfenen kommunika-tiv vermittelt werden. In modernen Gesellschaften handelt es sich dabei in erster Linie um massenmediale Öffentlichkeiten, welche die Transparenz des politischen Prozesses gewährleisten sollen. Darüber hinaus eröffnen sie die Chance, das Wissen und die Mei-nungen der Bürgerinnen und Bürger zu verdeutlichen und aufeinander zuzuführen. Das Problem der Europäischen Union ist jedoch, dass solche Öffentlichkeiten als Orte der Sichtbarkeit und Erreichbarkeit der politischen Gesellschaft nur beschränkt zur Ver-fügung stehen.1 Für den europäischen Verfassungsgebungsprozess stellt dies insofern ein Hindernis dar, als nur auf beschränkte Aufmerksamkeitspotenziale des (europäischen) Publikums zurückgegriffen werden kann. Zudem werden die in der Verfassungsdebatte aufgegriffenen Themen noch durch die nationalen Prismen gebrochen, was die Entfaltung einer staatsbürgerlichen Praxis der Europäer erschwert.

1 Grundlegend zu diesen Funktionen von Massenmedien sind Sarcinelli (1998), McNair (2000). Zu den Schwierigkeiten der Herausbildung einer europäischen oder europäisierten medialen Öffentlichkeit siehe Schlesinger (1994), Gerhards (2000).

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Von der europäischen Öffentlichkeitsforschung sind die Massenmedien wiederholt als Vermittler von Legitimitätsdiskursen thematisiert worden, die das politische Gesche-hen der EU transparent machen und damit auf die Bildung politischer Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger einwirken. Eine europäische oder zumindest eine europäisierte massenmediale Öffentlichkeit interessiert daher als Infrastruktur europäischer Demo-kratie. Ihr demokratieförderndes Potenzial wird darin gesehen, Deliberation und Par-tizipation am europäischen Entscheidungsprozess zu ermöglichen (Risse 2002; Peters et al. 2005; van de Steeg 2006). Diese Vermittlungsfunktion steht auch im Konstitutio-nalisierungsprozess der EU im Vordergrund. Gemäß diesen normativen Vorgaben an die Interdiskursivität von Öffentlichkeit hat sich auch die Informationspolitik europäischer Institutionen an den Kriterien von Transparenz und Dialog mit den Bürgern orientiert (Brüggemann 2005; Tobler 2006). Die europäische Öffentlichkeitsforschung hat in die-sem Zusammenhang vorgeschlagen, das diskursive Potenzial der Massenmedien an der Wiedergabe von Themen zur europäischen Politik und der Bezugnahme von Sprechaus-sagen von Akteuren unterschiedlicher nationaler Herkunft zu messen (Peters et al. 2005; Kantner 2004).

Eine zweite Funktion der Massenmedien liegt in ihren unabhängigen Interpretations-leistungen für die Konstruktion der politischen Realität Europas. Medien sind nicht nur eine abhängige Variable im Regierungsprozess, also neutraler Vermittler und Spiegel der politischen Arena. Medien treten zunehmend auch als aktive Spieler in Erscheinung und nehmen als solche auf die Institutionenbildung und auf die Konstitutionalisierung der EU unmittelbaren Einfluss (Statham 2007). Auch diese katalytische Funktion der Medien als Initiator kollektiver Meinungsbildungsprozesse hat in der europäischen Öffentlichkeits-forschung Beachtung gefunden. Stellvertretend hierfür steht das Konzept des „framing“, über das die medialen Repräsentationen des politischen Geschehens gemessen und in ihrem Einfluss auf die Legitimierung politischen Entscheidungshandelns abgeschätzt werden können (de Vreese 2003; Diez Medrano 2003).

In dieser Doppelfunktion als Spiegel und als Initiator kollektiver Meinungsbildungs-prozesse soll im Folgenden die Rolle der Massenmedien im Verfassungsgebungsprozess der EU untersucht werden. Das Potenzial europäischer Verfassungsgebung als Kataly-sator europäischer Vergesellschaftung steht, so die zentrale Hypothese, im Zusammen-hang mit der Herstellung medialer Öffentlichkeit. Angesichts der Möglichkeit rechtlicher Anerkennung und politischer Entscheidungsfindung bietet der europäische Verfassungs-prozess die Chance für institutionelle und gesellschaftliche Akteure, ihre Anliegen zu thematisieren und zu politisieren. So können beispielsweise über die Medien die in der Verfassungsdebatte aufgegriffenen Themen mit den Anerkennungskämpfen partikularer Gruppen, wie Nationalitäten und Minderheiten, alten und neuen soziale Bewegungen, Traditionalisten und Modernisierern oder auch Liberalisierungsgegnern und -befürwor-tern, verknüpft werden. Von Interesse ist dementsprechend, in welchem Maß europäische Verfassungsgebung politische Öffentlichkeit dynamisiert. Die Frage nach der kataly-tischen Wirkung entscheidet sich daran, wie Verfassungsgebung der EU die Aufmerk-samkeit des europäischen Publikums für Themen von gemeinsamem Belang erhöht und dabei einen gemeinsamen Thematisierungs- und Politisierungsrahmen bereitstellt, der über die Sichtweise nationaler Öffentlichkeiten als relativ geschlossene Kommunikati-onsräume hinausgeht.

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Einschränkend muss jedoch angeführt werden, dass Verfassungsgebung als elitärer Aushandlungsprozess einem Laienpublikum nur bedingt zugänglich ist. Kennzeichnend für den Laeken-Prozess waren eher diskontinuierliche Medienaufmerksamkeiten, wobei die Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Eliten nur beschränkt an eine breitere Öffentlichkeit weitergetragen wurden (Vetters 2007). Gleichwohl wurde mit der Einleitung eines Verfassungsgebungsprozesses der Thematisierungsrahmen, der durch einen gemeinsamen Markt vorgegeben war, vielfach erweitert. Die Frage nach der Legitimität des entstehenden europäischen Gemeinwesens muss damit nicht nur in rechtlich-formaler Hinsicht, sondern auch mit Rücksicht auf den einschränkenden oder ermöglichenden sozialen Kontext der An- oder Aberkennung von Legitimität beantwortet werden. Im Zuge der Referenden war vor allem in der Ratifizierungsphase im Winter und Frühjahr 2005 mit einer Politisierung des europäischen Verfassungsprozesses im Sinne eines in massenmediale Öffentlichkeiten verlagerten, kollektiven Aushandlungsprozesses zu rechnen (Fossum/Trenz 2006b; Trenz 2006; Mair 2005).

Das Potenzial europäischer Verfassungsgebung zur Mobilisierung breiter Aufmerk-samkeit des Publikums und zur Initiierung kollektiver Meinungs- und Willensbildung gilt es im Folgenden abzustecken. Die Aufarbeitung der empirischen Befunde orientiert sich an den zentralen, von der europäischen Öffentlichkeitsforschung herausgearbeiteten Kriterien für die Analyse transnationaler Kommunikationsverflechtungen (Eder/Kantner 2000; Trenz 2005): Themenverschränkung, Akteursvernetzung und gemeinsame Bedeu-tungsstrukturen. Die allgemeine Forschungsfrage nach der beschleunigenden Wirkung europäischer Verfassungsgebung auf die Ausbildung transnationaler kollektiver Aus-handlungsprozesse des Politischen wird demnach wie folgt aufgefächert:

In einer ersten empirischen Annäherung werden die Intensität und die thematische Fokussierung der Berichterstattung zum Verfassungsgebungsprozess gemessen. Diese Frage nach den medialen Resonanzen europäischer Verfassungspolitik setzt das Ausmaß der Medialisierung des europäischen Verfassungsgebungsprozesses mit unterschiedlichen Graden der Politisierung nationaler Öffentlichkeiten in Beziehung.

In einem zweiten Schritt wird die Partizipationsstruktur der Verfassungsdebatte und damit das Ausmaß ihrer Transnationalität untersucht. Dabei ist von Interesse, inwiefern sich die politischen Auseinandersetzungen in den europäisierten Öffentlichkeiten über ähnliche Konfliktkonstellationen bündeln ließen. Des Weiteren kann geprüft werden, ob diese Auseinandersetzungen Sprecher unterschiedlicher nationaler Herkunft einschließen und diese im Idealfall auch im diskursiven Austausch miteinander verknüpfen. Erst dadurch werden die Konturen eines gesellschaftlichen Konstituenten erkennbar, der in die Legitimation von Herrschaft in der EU eingebunden ist.

Drittens wird die Meinungs- und Argumentationsstruktur der Verfassungsdebatte nachgezeichnet. Die Frage nach den geteilten Einstellungsmustern und Rechtfertigungen weist auf eine zentrale Komponente in der Aushandlung der Legitimität einer europäi-schen Herrschaftsordnung hin. Hierzu werden die Positionierungen der an der Debatte beteiligten Akteure zum europäischen Integrationsprozess herausgearbeitet. Außerdem kann rekonstruiert werden, auf welche Rechtfertigungen und Begründungen in der argu-mentativen Auseinandersetzung zurückgegriffen wird. Auf diese Weise kann die soziale Konstituentenschaft nicht nur über interaktive Verflechtungen, sondern auch über den Grad der Diffusion von ähnlichen Bedeutungsgehalten bestimmt werden.

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3. Methode und Sampling

Im europäischen Verfassungsgebungsprozess kann die noch unterbestimmte Beziehung zwi-schen den politischen Repräsentanten in ihrer Rolle als Verfassungsgeber und ihrer sozialen Konstituentenschaft mittels der Claimsanalyse empirisch erfasst werden. Diese Methode wurde ursprünglich im Kontext der Forschung zu sozialen Bewegungen entwickelt (Tar-row 1989; Koopmans/Statham 1999) und ist in den letzten Jahren zu einem bewährten Instrument weiterentwickelt worden, um die Transnationalisierung von Öffentlichkeiten zu messen. Laut Pfetsch und Koopmans ist ein Claim „definiert als ein Ausdruck einer poli-tischen Meinung durch physische oder verbale Aktionen, unabhängig von der Form bzw. vom Anlass ihres Ausdrucks (Statement, Demonstration, Entscheidung, Gerichtsurteil, Repression etc.) und unabhängig vom Akteur (Medien, Regierungen, zivilgesellschaftliche Akteure)“ (Pfetsch/Koopmans 2006: 182). Unter der Annahme, dass legitimationsrelevante Geltungsansprüche von politischen Akteuren vornehmlich öffentlich erhoben und vermit-telt werden, konzentrieren wir uns in der Claimsanalyse auf massenmedial verbreitete For-derungen, Proteste oder Einklagen und rekurrieren damit auf ein Verständnis von medialer Öffentlichkeit als Raum, in dem die Legitimität politischer Ordnungen ausgehandelt wird.

Für die Zwecke dieser Studie bietet die Methode der Claimsanalyse eine Reihe von Vor-zügen, die sie insbesondere für die Messung der Europäisierung medialer Kommunikati-onsräume prädestiniert. Im medialen Diskurs können über dieses Instrument die in einem nationalen Öffentlichkeitsraum jeweils virulenten Streitthemen identifiziert und medialen Sprechern zugeordnet werden. Im Ländervergleich interessiert dabei, wie unterschiedliche Sprecherpositionen und ihre argumentativen Strategien zueinander in Beziehung gesetzt werden. Damit kann es gelingen, die Dynamiken massenmedialer Auseinandersetzungen zu rekonstruieren, die sich nicht notwendigerweise auf bestehende Kommunikationsräume und statische Teilnehmerschaften eingrenzen lassen.

Die Analyseeinheiten sind also massenmediale Claims, die im Kontext des europäischen Verfassungsgebungsprozesses erhoben wurden. Die Codierung umfasst die zeitliche und räumliche Zuordnung des Claims sowie die Klassifizierung von Akteuren (auch Claims-maker oder Claimants genannt), Aktionsformen und möglichen Adressaten, an die For-derungen, Lob oder Kritik gerichtet wurden. Des Weiteren wurden die angesprochenen Themen und die angeführten Begründungen und Rechtfertigungen der Claims codiert. Die drei im vorangegangenen Abschnitt als zentral herausgearbeiteten Indikatoren für die Unter-suchung europäischer Verfassungsgebung auf Prozesse der sozialen Konstitutionalisierung (intensivierte Berichterstattung, Akteursverflechtung und Legitimationsmuster) sind somit in der Konstruktion eines Claims enthalten (vgl. Tabelle 1).

Das Zeitungssample wurde im Rahmen des Projekts „Building the EU’s Social Consti-tuency“ an der Humboldt Universität zu Berlin erhoben. Die Artikel wurden mithilfe standardisierter Schlüsselwörter aus verschiedenen elektronischen Datenbanken (Lexis-Nexis, Factiva, Zeitungsarchive auf CD-Rom) zusammengetragen. Mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung für Deutschland und mit Le Monde und Le Figaro für Frankreich wurden die jeweils führenden Qualitätszeitungen ausgewertet.2

2 Ausgehend von der Annahme, dass die europapolitische Orientierung der Medien im Zusam-menhang mit ihrer ideologischen Positionierung stehen könnte (Kriesi 2001), erfolgte die

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Die Analyse beschränkt sich auf drei Schlüsselphasen des Ratifizierungsprozesses, für die eine intensivierte Berichterstattung festgestellt werden konnte: die Unterzeichnung des Verfassungsvertrags durch die Regierungschefs (15. Oktober bis 15. November 2004), das erste Referendum in Spanien (1. Februar bis 31. März 2005) sowie die Volksentscheide in Frankreich und den Niederlanden (1. Mai bis 15. Juni 2005). Die Analyse basiert auf 1 674 Claims aus 616 Artikeln, wovon das deutsche Medien-Sample 651 Claims aus 230 Artikeln und das französische 1 023 Claims aus 386 Artikeln umfasst.3

4. Die thematische Fokussierung der Verfassungsdebatte 

Der Verfassungsgebungsprozess ist über einen Zeitraum von fünf Jahren kontinuierlich journalistisch begleitet und kommentiert worden. Seine hohe Relevanz spiegelt sich in weitgehend parallelen Themenzyklen zwischen den Zeitungen verschiedener Länder wider. Über die Schlüsselereignisse wie die Eröffnung des Konvents (Februar 2002), die

Auwahl der Zeitungen für beide Länder nach einem Links-Rechts-Schema. Die FAZ (Auflage: rund 371 000 Exemplare) gilt als liberal-konservatives Blatt. Die links-liberal eingeschätzte SZ ist mit einer Auflage von über 446 000 Exemplaren die größte überregionale Abonnement-Tageszeitung Deutschlands (IVW 2006). Die französische Le Monde gilt als links-intellektuell und hat eine Auflage von knapp 321 000 Exemplaren, während der konservative Le Figaro mit einer Auflage von rund 325 000 Exemplaren die zweitgrößte politische Tageszeitung Frank-reichs ist (OJD 2006). Wie die Ergebnisse im Folgenden zeigen werden, konnten allerdings weder in Frankreich noch in Deutschland signifikante Unterschiede in der Berichterstattung zwischen „linken“ und „rechten“ Zeitungen festgestellt werden.

3 Es wurden Artikel ausgewählt, welche die Wörter „Konvent*“ oder „Verfassung*“ und „europ*“ oder „EU*“ enthielten. Für die Analyse wurden aber nur jene Artikel berücksichtigt, die sich mit mindestens einem Absatz auf die europäische Verfassung, den Konvent oder den Ratifizie-rungsprozess bezogen. Die Erhebung der in den Artikeln auffindbaren Claims wurde während einer 60-tägigen Codierphase von einem Team aus zwölf geschulten Codierern geleistet. Zur weiteren Reduktion des Datensatzes wurde eine repräsentative Auswahl getroffen (jeder zweite Artikel der deutschen und – aufgrund der weitaus umfangreicheren Berichterstattung während des Referendums – jeder dritte Artikel der französischen Zeitungen). Die gesamte Datener-hebungsphase wurde von den Projektleitern begleitet, die den Codierern beratend zur Seite standen und die Reliabilität der Codierergebnisse über die Festlegung gemeinsamer Standards und Auswertung von Arbeitsprotokollen absicherten. Weitere Informationen zum Codebuch sind auf der Homepage des Projekts zu finden: http://www2.hu-berlin.de/struktur/constituency/index.htm.

Tabelle 1:  Struktur und Beispiel eines Claims Datum und Ort Claimsmaker Aktionsform Adressat Inhalt des

ClaimsRechtfertigung

Am 12.05.2005 in Lyon:

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer

appellierte an die Franzosen

im Referendum für den Verfas-sungsvertrag zu stimmen

weil die französische Entscheidung ganz Europa betreffen werde.

Quelle: eigene Darstellung.

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Vorstellung des Verfassungsgerüsts von Valéry Giscard d’Estaing (Oktober 2002) und die Schlussphase des Konvents im späten Frühjahr 2003 wurde intensiv berichtet. Darüber hinaus ist in beiden Ländern bis zur Ratifizierungsphase ein stetiger Anstieg des Medi-eninteresses zu verzeichnen. Erst nach der Ankündigung des Referendums in Frankreich im Sommer 2004 zeigen sich signifikante Abweichungen in den Berichterstattungszyklen beider Länder.

Aus dem Berichterstattungsverlauf (vgl. Abbildung 1) lassen sich grundlegende Gemeinsamkeiten, aber auch erste Unterschiede der Inhalte und Positionierungen der medialen Claims zur Verfassungsfrage ableiten und zum politischen Entscheidungspro-zess in Beziehung setzen. In beiden Ländern waren die Bandbreite der aufgegriffenen Themen und die Häufigkeit der Themenwechsel relativ hoch. Gut zwei Drittel aller The-men waren eindeutig auf die Europäische Union bezogen, wie z. B. den Inhalt der Ver-fassung, die Zustimmung zum oder die Ablehnung des Verfassungsvertrags oder Details des Ratifizierungsverfahrens. Knapp ein weiteres Drittel aller Claims thematisierte den Verfassungsvertrag in einem innenpolitischen Entscheidungskontext. Solche Diskussio-nen betrafen etwa interne Parteientscheidungen hinsichtlich der Positionierung zur EU-Verfassung in Frankreich oder die Frage, ob der Verfassungsvertrag auch in Deutschland per Referendum ratifiziert werden sollte.

Insgesamt befasste sich die Debatte eher mit der Gestaltung des Ratifizierungspro-zesses (59 Prozent aller Themen in Deutschland und 49 Prozent in Frankreich) als mit den Inhalten der Verfassung. Die in den deutschen Medien erhobenen Forderungen waren stark auf die Volksentscheide in den Nachbarländern ausgerichtet (116 Nennungen). Ver-gleichsweise wenige Claims (38 Nennungen) beschäftigten sich mit der Ratifizierung durch das eigene Parlament, während 146 Claims die Konsequenzen des doppelten Neins thematisierten. Dieser späte Einstieg in die politisierte Verfassungsdebatte spiegelt

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Artik

elanz

ahl

Jul Aug Sep Okt Nov Dez Jan Feb Mar Apr Mai Jun JulZeitverlauf (Mitte 2004 - Mitte 2005)

Fabius gegendie Verfassung

PS beschließt internesReferendum

Referendumin Spanien

TV-Appell von Chiracfür ein JA / Gegnerführen in Umfragen

Gipfeltreffen

Unterzeichnungin Rom Referendum

der PS

Revision derfrz. Verfassung

Parlaments-ratifizierung in D

Ankündigungfrz. Referendum

Chirac lehnt Dienst-leistungsrichtlinie ab

SZ Le Figaro Le MondeFAZ

Referendumin FR and NL

Quelle: eigene Darstellung.

Abbildung 1:  Berichterstattung zur Verfassungsdebatte (2004/2005)

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eine Anteilnahme aus der Perspektive eines Beobachters wider, der nur retrospektiv auf die für ihn relevanten Ereignisse in den Nachbarländern reagiert.

Die Positionierung des Claimsmaking im Hinblick auf die Zustimmung oder Ableh-nung des Verfassungsvertrags war in beiden Ländern relativ ausgeglichen, wobei Ver-fassungsgegner und Befürworter gleichermaßen repräsentiert wurden. In den deutschen Zeitungen wurde eine Ablehnung der Verfassung in 7,1 Prozent, die Zustimmung zur Verfassung in 7,7 Prozent aller Claims ausgedrückt. In französischen Zeitungen wurde zwar häufiger, aber ebenso ausgewogen Stellung bezogen, wobei 13,7 Prozent den Verfassungsvertrag ablehnten und ihm 14,2 Prozent zustimmten.

Neben den gemeinsamen Bezugspunkten des Verfassungsgebungsprozesses las-sen sich die Abweichungen im Themenzyklus vor allem durch die unterschiedlich gewählten Verfahren zur nationalen Ratifizierung erklären. Die französische Debatte war stark auf Wahlkampf ausgerichtet. Innenpolitische Ereignisse wie das strategische Verhalten und das machtpolitische Kalkül der Gegner und Befürworter der Verfassung bestimmten die Auseinandersetzung. Nur selten gingen die Themen über Belange der französischen Innenpolitik hinaus. Die deutsche Presse hingegen nahm angesichts der ausbleibenden innenpolitischen Diskussion eine teilnehmende Beobachterposition4 ein; rund 70 Prozent der Claims in den deutschen Medien stammten von Akteuren aus europäischen Nachbarländern bzw. von EU-Akteuren. Vor allem die Möglichkeiten und Konsequenzen negativer Voten der Franzosen und Niederländer wurden mit Auf-merksamkeit bedacht. Es überrascht von daher nicht, dass die deutsche Berichter-stattung ihren Zenit erst nach der Referendumskrise erreichte, als die Debatte in den französischen Zeitungen bereits erlahmte. Der Elan des europapolitischen Diskurses in Frankreich fiel unmittelbar in sich zusammen, während in Deutschland das franzö-sische und niederländische „Nein“ als eine Art Ventil fungierte, über das Sorgen und Ängste geäußert werden konnten, die vorher unter den Teppich gekehrt worden waren (von Oppeln/Sprungk 2005: 461).

5. Die Partizipationsstruktur der Verfassungsdebatte

5.1 Bürgerbeteiligung oder Projekt der politischen Elite?

Die Akteurskonstellation gibt Aufschluss über die Struktur der Debatte: Wurde der pouvoir constituant europäischer Verfassungsgebung als potenzielle soziale Konsti-tuentenschaft durch die Stimme der europäischen Bürger oder eher durch die ihrer politischen Repräsentanten wiedergegeben? Trotz unterschiedlicher Ausgangssituatio-nen wurden in beiden Ländern vornehmlich Repräsentanten des Staats aktiv. Der Volksentscheid als Mittel der direkten Demokratie wirkte sich zwar quantitativ auf den Grad der Politisierung (gemessen in der Dichte des Claimsmaking in den franzö-sischen Medien) aus, in der Verteilung der dominanten Akteure zeigten sich jedoch

4 In Übereinstimmung mit der europäischen Öffentlichkeitsforschung verstehen wir unter „teil-nehmender Beobachtung“ die Wahrnehmung und Kenntnisnahme von Ereignissen und Debat-ten aus europäischen Nachbarländern, die Betroffenheit indiziert (Tobler 2006: 118).

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kaum Unterschiede zu den deutschen Medien. Der Anteil der staatlichen Akteure in Frankreich (75,8 Prozent) war sogar noch höher als in Deutschland (70,6 Prozent). Nicht-staatliche Akteure wie Wirtschaftslobbyisten, Interessenverbände und zivil-gesellschaftliche Gruppen, wissenschaftliche Experten, Journalisten oder Einzelper-sonen beteiligten sich in der Debatte mit 22,5 Prozent bzw. mit 28,3 Prozent. Unter ihnen stellten die zivilgesellschaftlichen Akteure mit beinahe gleichen Anteilen von 13,5 Prozent in Frankreich und 12 Prozent in Deutschland die größte Gruppe.5 Medi-enakteure waren verantwortlich für 11,5 Prozent aller Claims in Deutschland, spielten aber in Frankreich eine eher bescheidene Rolle, während die Vertreter der Wirtschaft massenmedial nicht in Erscheinung traten.

Ein weiterer Hinweis für die Dominanz institutioneller Repräsentationsstrukturen zeigt sich in der Analyse der verschiedenen Aktionsformen. Direkte Protestformen jenseits der Routinen institutioneller Interessensartikulation wurden in Frankreich doppelt so häufig genutzt wie in Deutschland (16,4 Prozent gegenüber 8,2 Prozent). Allerdings spielte die Mobilisierung von Protest in beiden Ländern insgesamt eine untergeordnete Rolle. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass Proteste häufiger von politischen Repräsentanten als von zivilgesellschaftlichen Akteuren initiiert wurden (Deutschland: 5,4 Prozent versus 2,8 Prozent; Frankreich: 10,5 Prozent versus 5,9 Prozent). Politische Forderungen wurden also weniger aus der Mitte des Volkes in die Debatte eingebracht, sondern es waren generell die gewählten Volksvertreter und ins-besondere die Regierungen, welche die öffentliche Meinung zum europäischen Ver-fassungsgebungsprozess bestimmten.

Aus der über die Claimsanalyse rekonstruierten Akteursstruktur lässt sich schlie-ßen, dass, im Gegensatz zur konsensual geprägten deutschen Debatte, der französische Volksentscheid eine Politisierung entlang ideologischer Spaltungslinien im Parteien-wettbewerb um das europäische Integrationsprojekt förderte. Die französischen Medien berichteten intensiv über die internen Parteienkonflikte in der Auseinandersetzung über die europäische Verfassung, wie sie vor allem innerhalb der Parti Socialiste (PS), zeitweise aber auch innerhalb der Regierungsparteien UMP und UDF geführt wurden. Folglich stammen über 42 Prozent aller Claims der beiden französischen Zeitungen von Parteien oder Parlamentariern, wobei sich vor allem politische Repräsentanten promi-nent in den Medien positionierten, die sich über die offizielle pro-europäische Linie ihrer Parteien hinwegsetzten.

In den deutschen Medien spielten Parteiakteure dagegen nur eine untergeordnete Rolle und waren mit 27,5 Prozent auch wesentlich schwächer repräsentiert. Die Berichterstat-tung in der FAZ und SZ reflektierte in erster Linie den parteiübergreifenden Konsens, der die deutsche EU-Politik bereits seit Jahrzehnten trägt und Grundsatzentschei-dungen der Erweiterung und Vertiefung des Integrationsprojekts außer Diskussion stellt (Schild 2003). Kritische Töne von Seiten der Linken, der CSU oder auch von Einzel-personen ohne Parteizugehörigkeit drangen nur vereinzelt durch.

5 Zivilgesellschaft umfasst sowohl Gewerkschaften, Kirchen, Verbraucher-, Migranten-, Solida-ritäts-, Wohlfahrts- und Umweltorganisationen als auch pro- und anti-europäische Initiativen.

Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas 715

5.2 Nationale oder europäische Akteure?

Die Akteurskonstellation in den Medien kann ferner als Indikator für die Transnatio-nalität der medial repräsentierten sozialen Konstituentenschaft herangezogen werden. Erwartungsgemäß sollte sich das EU-Mehrebenensystem auch in einer Mehrebenen-konstellation von public voice widerspiegeln (Marks/McAdam 1999). In beiden Län-dern sind die Claims allerdings überwiegend innenpolitischen Akteuren zuzuordnen, darunter vornehmlich nationalen Regierungen. Die relativ niedrige Beteiligung von EU-Akteuren (18 Prozent aller Claimsmaker in Deutschland und 13,5 Prozent in Frank-reich)6 deutet darauf hin, dass der Verfassungsprozess nicht nach dem gewohnten Interpretationsschema der EU-Mehrebenenpolitik diskutiert wurde, sondern durch die direkte Intervention der Regierungen als „Herren der Verträge“ und „Diener ihres Volkes“ zusätzlich legitimiert werden musste. Die ohnehin geringe Sichtbarkeit der europäischen Ebene wurde weiterhin dadurch geschmälert, dass ein Drittel der sich in den deutschen Medien und über 40 Prozent der sich in den französischen Medien zu Wort meldenden EU-Akteure deutscher bzw. französischer Abstammung waren (z. B. deutsche Europaabgeordnete in einer deutschen Zeitung) (Abbildungen 2, 3).

In der Akteurskonstellation manifestiert sich zudem ein signifikanter Unterschied in der deutschen, auf teilnehmende Beobachtung ausgerichteten Debatte gegenüber der französischen, die weitestgehend eine selbstreferenzielle Auseinandersetzung war. In der französischen Debatte wird das Akteursfeld zu mehr als zwei Dritteln von Fran-zosen besetzt, die sich vor allem mit innenpolitischen Themen und Forderungen (wie den Leistungen von Staatspräsident Jacques Chirac oder dem schwachen Wirtschafts-wachstum des Landes) auseinandersetzten. Dies kann als ein durch die Wahl des Ratifizierungsverfahrens vorgezeichneter und von vielen innenpolitischen Akteuren

6 Untersuchungen zum Claimsmaking in der EU-Berichterstattung im Allgemeinen weisen einen weitaus höheren Anteil von EU-Institutionen in der nationalen Qualitätspresse aus (Koopmans 2007).

Quelle: eigene Darstellung.

70%

21%

7%

frz. Akteure

Akteureaus anderenEU-Ländern

Andere2% dt. Akteure

14%

86%

Akteure aufEU-Ebene

nationaleAkteure

17%

20%

20%

43%

KommissionMEPs

Konvent

Europäischer Rat

Abbildung 2:  Herkunft der Claims in der französischen Presse

716 E. Jentges et al.

durchaus angestrebter Domestizierungseffekt des Referendums gedeutet werden.7 Die soziale Konstituentenschaft wird also in erster Linie als nationale Wählerschaft in den Blick gerückt. In Deutschland dagegen zeigt sich ein umgekehrter, ebenso durch die Wahl des Ratifizierungsverfahrens bedingter Transnationalisierungseffekt: Franzö-sische Akteure sind in den deutschen Medien stark präsent, ebenso Akteure aus ande-ren EU-Ländern. Über horizontale Europäisierung und teilnehmende Beobachtung der Ereignisse im Nachbarland Frankreich (und teilweise auch in den Niederlanden) wird die soziale Konstituentenschaft potenziell transnational erweitert.

5.3 Verflechtung europäischer Kommunikationsräume

In der normativ und theoretisch angeleiteten Forschung zur europäischen Öffent-lichkeit wird immer wieder auf die Relevanz transnationaler Kommunikationsräume hingewiesen, über die sich unterschiedliche nationale Öffentlichkeiten thematisch verflechten (Peters et al. 2005; Kantner 2004; Risse 2002; Trenz 2005). Mit der Claims- analyse können Sprecher in den Medien zu ihren jeweiligen Adressaten in Beziehung gesetzt und somit räumlich vernetzt werden. Im hier untersuchten Fall der EU-Ver-fassungspolitik können die kommunikativen Beziehungen als Indikator für die Euro-päisierung der massenmedial repräsentierten sozialen Konstituentenschaft dienen. Europäisierte Formen des Claimsmaking lassen sich dabei entweder als eine vertikale Mehrebenen-Beziehung zwischen (sub-)nationalen und supranationalen europäischen Akteuren oder als eine horizontal-transnationale Beziehung zwischen Akteuren unterschiedlicher Herkunft rekonstruieren. Andere Formen des Claimsmaking bleiben innerhalb der Grenzen eines Nationalstaates und enthalten Erwartungen über Europa zwischen einheimischen Sprechern und ihren jeweiligen einheimischen Adressaten (Statham/Gray 2005: 14-15). So können verschiedene Formen von Beziehungen zwi-schen Claimsmakern und ihren Adressaten typologisiert werden.

7 Eine Präferenz für die Beobachtung von Europapolitik „durch die nationale Brille“ ist auch von Eilders und Voltmer festgestellt worden (Eilders/Voltmer 2003: 263).

30% 36%

29%

5%

frz. Akteure

dt. Akteure

Akteureaus anderenEU-Ländern

Andere Akteure aufEU-Ebene

18%

82%

nationaleAkteure

29%

39%

23%

9%

Kommission

MEPs

Konvent

Europäischer Rat

Quelle: eigene Darstellung.

Abbildung 3:  Herkunft der Claims in der deutschen Presse

Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas 717

In Frankreich resultierte der größte Anteil der Claims aus nationalen Konfliktla-gen (53 Prozent).8 Dazu gehörten die schon erwähnte Fundamentalkritik an der Regierung Chirac ebenso wie die öffentlichen Parteienkonflikte. Im Gegensatz dazu waren an ausländische Akteure gerichtete Forderungen von französischen Akteuren mit knapp 4 Prozent die Ausnahme. Interventionen aus anderen Mitgliedstaaten blieben meist isoliert und vermochten kaum Einfluss auf den Verlauf der französischen Referendums-debatte zu nehmen. Auch Fälle der Beobachtung der Debatte in anderen Mitgliedsländern (z. B. Berichterstattung über das spanische und das niederländische Referendum) blieben mit 9 Prozent hinter 45 Prozent in Deutschland deutlich zurück.

Die deutsche Debatte war wenig politisiert, und die Verfolgung der Ereignisse in den Nachbarländern hatte eindeutig Vorrang vor innenpolitischen Belangen. Eine Reihe von deutschen Politikern engagierte sich aktiv in anderen EU-Mitgliedstaaten, insbesondere in Frankreich (10 Prozent der horizontalen Claims). Darunter sind beispielsweise deut-sche Intellektuelle, die einen Brief an ihre französischen Kollegen schrieben, um sie vor den fatalen Konsequenzen eines „Nein“ im Referendum zu warnen (FAZ 06/05/05), aber auch SPD-Generalsekretär Franz Müntefering, der seinen französischen Kollegen François Hollande bei dessen Kampagne für den Verfassungsvertrag unterstützte (SZ 24/05/05), oder Bundeskanzler Gerhard Schröder, der in einer Rede in Nancy direkt zu den französischen Wählern sprach (SZ 20/05/05).

8 Dieses Resultat steht im Kontrast zu früheren Ergebnissen politischer Kommunikation über die europäische Integration in Frankreich, in denen der französische Anteil des Claimsmaking ähnlich wie in Deutschland gelagert war (Statham/Gray 2005).

Tabelle 2:  Kommunikative Bezugnahmen von Claimsmakern auf AddressatenFrankreich Französische

AdressatenAusländische Adressaten

EU-Adressaten Alle Adressaten

Französische Claimsmaker 53,3 % 3,8 % 2,7 % 59,8 %

Ausländische Claimsmaker 9,6 % 9,2 % 2,7 % 21,5 %

EU Claimsmaker 11,9 % 0,4 % 6,5 % 18,8 %Alle Claimsmaker 74,7 % 13,4 % 11,9 % 100 %N 195 35 31 261Deutschland Deutsche

AdressatenAusländische Adressaten

EU-Adressaten Alle Adressaten

Deutsche Claimsmaker 9,5 % 11,6 % 7,4 % 28,4 %

Ausländische Claimsmaker 2,1 % 45,3 % 5,3 % 52,6 %

EU Claimsmaker 2,1 % 8,4 % 8,4 % 18,9 %Alle Claimsmaker 13,7 % 65,3 % 21,1 % 100 %N 13 62 20 95

Quelle: eigene Darstellung.

718 E. Jentges et al.

Herausragendes Merkmal der deutschen Berichterstattung war jedoch der hohe Anteil ausländischer Akteure, die mehr als die Hälfte aller in den deutschen Zeitungen aufge-stellten Forderungen und Erwartungen artikulierten (fast 53 Prozent). Aufgrund der feh-lenden internen Politisierung wurde die Verfassungsdebatte in Deutschland sozusagen „ortsversetzt“ über die Auseinandersetzungen in den Nachbarländern wiedergegeben.

Es liegt nahe, dass das deutsche Publikum über teilnehmende Beobachtung die Debat-ten in anderen Mitgliedstaaten – insbesondere Frankreich – verfolgte. Die französische Diskussion erfüllte damit zumindest teilweise eine Stellvertreterfunktion für die fehlende Auseinandersetzung in Deutschland. So gesehen waren die beiden nationalen Publika also weniger durch direkten diskursiven Austausch als durch konstante Beobachtung mit-einander verschränkt.

Vertikale Europäisierung im Sinne einer Interaktion zwischen nationalen und europä-ischen Akteuren spielte hingegen nur eine untergeordnete Rolle. In beiden Ländern fan-den sich nur wenige Anlässe, bei denen EU-Akteure als Claimsmaker oder als Adressaten agierten. Bottom-up-Claims von der nationalen zur EU-Ebene waren in Deutschland wie in Frankreich auf Einzelfälle reduziert. Top-down-Claims (EU-Akteure, die sich an natio-nale Akteure richten) addierten sich zu 10,5 Prozent in Deutschland und etwa 12 Prozent in Frankreich. Am ehesten gelang es noch EU-Parlamentariern des eigenen Landes, sich in der Verfassungsdebatte zu Wort zu melden. Als einer der eifrigsten Verfechter „seines“ Projekts trat in den Medien beider Länder der ehemalige Konventspräsident Giscard d’Estaing auf. Den auf europäischer Ebene geführten Auseinandersetzungen wurde indes nur wenig Beachtung geschenkt, darunter beispielsweise dem Appell des EU-Ratspräsi-denten Jean-Claude Juncker an seine Kollegen zur „Rettung der EU“ (SZ 03/06/05; FAZ 14/06/05).

Die Befunde zu dem über Claimsmaking erschlossenen sozialen Beziehungsgeflecht zeigen also, dass das Mehrebenensystem der EU-Politie nicht deckungsgleich mit der über die Verfassungspolitik aktivierten sozialen Konstituentenschaft ist. Einer national fokussierten französischen Öffentlichkeit steht eine horizontal europäisierte deutsche Öffentlichkeit gegenüber.

6. Die Meinungs- und Argumentationsstruktur der Verfassungsdebatte

6.1 Europäische Integration als Konfliktlinie

Die soziale Konstituentenschaft des EU-Verfassungsprozesses formiert sich des Wei-teren entlang konfligierender Einstellungsmuster zur europäischen Integration im All-gemeinen und zur Verfassungsgebung im Besonderen. Der Ausdruck von Meinungen zu den als relevant aufgegriffenen Themen der Debatte ermöglicht die Identifikation von Gruppenzugehörigkeiten nationaler oder ideologischer Art. Massenmedial repräsentierte Einstellungsmuster werden damit zum Richtungsweiser für Präferenzen und Meinungs-bildung des Publikums.

Öffentliches Claimsmaking reflektiert die Überzeugungen um die Gunst des Publi-kums konfligierender Akteure im politischen Wettbewerb. Auch in der europäischen Ver-fassungsdebatte werden auf diese Weise die relevanten Präferenzmuster sichtbar gemacht

Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas 719

und bestimmten Gruppen zugeordnet. Die Befunde zeigen einen signifikanten Unterschied zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren in ihren Einstellungen zur europä-ischen Integration. Die Positionierung der jeweiligen Akteure zum Integrationsprozess wurde auf einer Skala von −1 (Ablehnung der Integration) bis +1 (Zustimmung zur Inte- gration) gemessen (Tabelle 3).9

Nationale staatliche Akteure (Regierung, Legislative und politische Parteien) traten in beiden Ländern als stärkste Befürworter des europäischen Integrationsprozesses in Erscheinung. Mit einem Anteil am Claimsmaking von 60,7 Prozent in Deutschland und 74,1 Prozent in Frankreich gehörten sie zugleich zu den sichtbarsten Meinungsmachern in der Verfassungsdebatte, wobei sich in der polarisierten französischen Kampagne neben

� Die Auswertung konzentriert sich auf nationale Akteure, um die Einflüsse der meist klar pro-europäisch positionierten EU-Akteure auszublenden. Die Einstellungen wurden berechnet, indem für jedes Thema eines Claims codiert wurde, inwiefern eine positive, negative oder neut-rale/ambivalente Position zum europäischen Integrationsprozess zum Ausdruck kommt. Für die aggregierten Positionswerte konnten dann die Durchschnittswerte verschiedener Akteurstypen berechnet werden.

Tabelle 3:  Positionierung der Akteure zur europäischen Integration Deutschland Frankreich  Anteil am Claims-

making, in %Position zur europäischen Integration  (−1 bis +1)

Anteil am Claims-making, in %

Position zur europäischen Integration  (−1 bis +1)

Staats- und Parteiakteure 60,7 +0,24 74,1 +0,12Zivilgesellschaftliche Akteure 39,3 –0,25 25,9 –0,03

Regierungen und Staatsapparat 23,4 +0,52 20,7 +0,38

Legislative und poli-tische Parteien 31,4 +0,0� 46,4 0,01

Politiker 4,4 –0,24 3,9 +0,16Medien und Journalisten 17,9 –0,20 4,7 +0,22Wissenschaftler und Experten 8,3 –0,21 5,5 0,00

Andere zivilgesell. Org. & Gruppen 11,6 –0,35 8,8 –0,03

Wirtschafts- und Finanzexperten 1,5 –0,43 < 1,0 –

Gewerkschaften und Arbeitgeber < 1,0 – 4,9 –0,11

Pro- und anti-europä-ische Gruppen < 1,0 – 2,0 –0,57

Alle Akteure 100,0 +0,05 100,0 +0,0�Fallzahl (N) 471 1152

Quelle: eigene Darstellung.

720 E. Jentges et al.

der Mehrheit der europhilen staatlichen Akteure auch eine beachtliche Anzahl euroskep-tischer Politiker profilieren konnte. Allerdings geht diese hohe Sichtbarkeit beider Lager in den Medien keineswegs mit einem äquivalenten Einfluss der jeweiligen Akteure auf die Meinungsbildung des Publikums einher. Meinungsumfragen und das Ergebnis des französischen Referendums zeugten vielmehr von der Ohnmacht der Meinungsmacher in den Medien.

Der eindeutig pro-europäischen Haltung der politischen Eliten stand eine deutlich skeptischere Zivilgesellschaft gegenüber. Insbesondere in Deutschland ist die Trennli-nie zwischen überwiegend europafreundlichen Staatsakteuren und eher euroskeptischen Journalisten, Experten oder zivilgesellschaftlichen Organisationen ausgeprägt. Da die politischen Eliten die europafreundlichen Positionen komplett ausfüllten, bestand nur wenig Anlass für eine zivilgesellschaftliche Unterstützungskampagne des Verfassungs-prozesses. Lediglich die Medien und Journalisten meldeten sich in Deutschland mit 17,9 Prozent häufig und überwiegend kritisch zu Wort.

In der stark politisierten französischen Debatte hingegen hielten sich Journalisten mit expliziten politischen Stellungnahmen eher zurück und tendierten zu neutralen Posi-tionen. Die Zivilgesellschaft konnte sich angesichts der Unsicherheit über den Ausgang des Referendums nicht mehr auf die bestehenden Repräsentationsstrukturen verlassen und trat selbst in Aktion. Dadurch entstanden Spielräume für zivilgesellschaftliche Mobi-lisierungen „von unten“, die ebenso zur Kampagnenführung gegen das politische Esta-blishment wie zu Bekenntnissen zur europäischen Integration genutzt wurden. Obwohl die Daten also grundsätzlich eine ähnliche Verteilung von europafreundlichen Eliten und eher skeptischen nicht-staatlichen Akteuren aufweisen, führte die stark politisierte Referendumskampagne nicht zu einer einheitlichen Positionierung der Zivilgesellschaft. Nur Gewerkschaften und Arbeitnehmer sowie anti-europäische Gruppen traten mit einer dezidiert negativen Einstellung zur europäischen Integration hervor. Die meisten anderen Gruppen waren intern so gespalten, dass sich ihre Werte in der Positionierung zur euro-päischen Integration ausgleichen.

6.2 Rechtfertigungsmuster und Legitimität

Gemäß der eingangs formulierten theoretischen Prämisse generiert die europäische Ver-fassungsgebung Öffentlichkeit als Raum, in dem die Legitimität politischer Ordnung begründet und gerechtfertigt wird. In diesem Sinne gilt es zu rekonstruieren, welche Begründungen politische Akteure für ihre öffentlich erhobenen Forderungen im Kontext der europäischen Verfassungsgebung hervorbringen und wie sich diese Begründungen zu bestimmten Rechtfertigungsmustern im öffentlichen Diskurs bündeln lassen. Im Gegen-satz zu einer Frame-Analyse, die sich für latente Deutungsgehalte und Interpretationsmus-ter des Mediendiskurses interessiert, konzentriert sich die Claimsanalyse auf die explizit durch politische Akteure oder Journalisten vorgebrachten Gründe und Rechtfertigungen. Damit wird die intentionale Komponente des politischen Diskurses als Austausch von Argumenten hervorgehoben. Rechtfertigungen verweisen dabei auf die jeweils dominan-ten Ideen über den Typus von Integration und die Charakteristika des politischen Gemein-wesens und dienen zugleich der Aushandlung von Legitimität.

Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas 721

Fossum und Trenz (2006a) reduzieren den Legitimitätsdiskurs der EU auf drei idealtypische Rechtfertigungsmuster. Diese beziehen sich erstens auf die EU als einen Funktionsverband zur Steigerung der Effizienz einer im Wesentlichen auf Output orien-tierten Politik, zweitens auf die EU als eine Wertegemeinschaft, in der es primär um die Verteidigung einer distinktiven, kulturellen und historischen Gemeinsamkeit geht („Wir Europäer“), und drittens auf einen kosmopolitisch ausgerichteten Verbund, wel-cher universelle Rechte und Pflichten einklagt, aber auch kulturelle Vielseitigkeit und das Recht auf demokratische Selbstbestimmung hervorhebt. Das Codierschema basiert auf einer Kategorisierung dieser drei in der Verfassungsdebatte angeführten Begründungen. Im Codierprozess wurden die von Sprechern argumentativ eingelösten Geltungsansprü-che dabei auf eine instrumentell-problemlösungsorientierte, kontextual-wertgebundene und universal-rechtsbasierte Begründungslogik zurückgeführt, für die unterschiedliche Schlüsselworte bereitgestellt wurden.10

Allerdings treiben Medien das Begründen als Kernelement eines normativ gehalt-vollen Öffentlichkeitsmodells (Habermas 1992) nur unzureichend voran. Insgesamt wei-sen nur ein gutes Drittel aller im Verfassungsgebungsprozess erhobenen Forderungen explizite Begründungen aus, wobei es unklar bleibt, ob der Begründungskontext eines Claims bereits in der rein akklamativen Stellungnahme des jeweiligen Akteurs fehlte oder durch die verkürzte journalistische Wiedergabe unkenntlich geworden ist. Aus kommu-nikationswissenschaftlicher Perspektive sind diese Defizite des medialen Diskurses nicht weiter überraschend und auch in der nationalen Berichterstattung beobachtbar (Gerhards et al. 1998).

Etwa die Hälfte aller Begründungen wies auf einen funktionalen Beitrag zur Problem-lösung und Effizienzsteigerung europäischen Regierens hin (47 Prozent in Deutschland

10 Instrumentelle Rechtfertigungen schließen Begründungen ein, die sich auf Effizienz-, Kosten-Nutzen-, Funktionalitäts- oder Machtargumente beziehen. Unter kontextual-wertgebundenen Rechtfertigungen werden Begründungen subsumiert, die auf Identität, Tradition/Lebensstil und öffentliche Güter rekurrieren. Unter den universal-rechtsbasierten Begründungen werden allge-meine Prinzipien und individuelle Rechte, rechtsstaatliche Garantien und Grundsätze des guten Regierens erfasst (Näheres siehe Codebuch).

49%

24% 36%

47%

17%27%

Werte

Frankreich

UniverselleRechte

Problem-lösung

Deutschland

UniverselleRechte

Problem-lösung

Werte

Quelle: eigene Darstellung.

Abbildung 4:  Rechtfertigungsmuster in Frankreich und Deutschland

722 E. Jentges et al.

und 49 Prozent in Frankreich). Die Ausweitung von Bürgerrechten oder Referenzen auf geteilte Werte als innovative Elemente des europäischen Verfassungsvertrags sind dage-gen deutlich weniger präsent. Während die Problemlösungsdiskurse in beiden Ländern ähnliche Relevanz hatten, wurden die normativen und identitären Begründungsdiskurse in Deutschland und Frankreich unterschiedlich gewichtet. In der deutschen Debatte gaben Akteure in ihren Stellungnahmen dem Ausdruck universeller Rechte (36 Prozent) Vor-rang vor europäisch-kontextualisierten Werten (17 Prozent). Referenzen auf Grundrechte und Demokratie eigneten sich dabei im besonderen Maße zum Ausdruck konsensueller Einstellungen gegenüber dem Verfassungsgebungsprozess. Dagegen bevorzugten die Teilnehmer in der französischen Debatte konfliktgeladenere identitäre Begründungen (27 Prozent gegenüber 24 Prozent). Letztere erleichterten die Positionierung im politischen Wettbewerb gegenüber der weitgehend unstrittigen Notwendigkeit, Demokratie und Bür-gerrechte in der EU zu stärken. Insgesamt fällt eine relativ hohe Übereinstimmung in der Verteilung von Rechtfertigungsmustern ins Auge, die in beiden Ländern über den gesamten Erhebungszeitraum konstant bleibt. Der zuvor konstatierte Domestizierungsef-fekt der französischen Referendumsdebatte relativiert sich somit dahingehend, dass die innenpolitischen, französischen Akteure zumindest in eine symmetrische, argumentative Auseinandersetzung über das europäische Verfassungsprojekt eintreten. Die Geltungsan-sprüche zu den relevanten Themen und Streitfragen der Verfassungsdebatte sind folglich generell zwischen den Ebenen und Öffentlichkeitsarenen austauschbar.

Instrumentelle Begründungen zur Verteidigung des Verfassungsvertrages basierten zumeist auf funktionalen Erwägungen, wonach der Verfassungsvertrag zwar nicht als die beste oder normativ wertvollste, aber als die einzige Möglichkeit dargestellt wurde, um den Integrationsprozess auch in einer erweiterten EU in Gang zu halten. Dies begrün-dete eine Art Ratifizierungsautomatismus, dem zufolge die Verfassung angenommen werden musste, weil es keine tragfähigen Alternativen gab und die Aufrechterhaltung der Entscheidungs- und Problemlösungsfähigkeit der EU höchste Priorität besaß. Ent-sprechend wurden Katastrophenszenarien einer unausweichlichen Krise oder gar eines Endes der Integration im Falle eines Scheiterns der Ratifizierung entworfen. Viele der in dieser Kategorie codierten Begründungen beruhten auch auf taktischen Überlegungen der jeweiligen Kampagnenführer.

Innerhalb der Werte-Kategorie kreisten die Stellungnahmen um Fragen des „Wer sind wir?“ und des „Wie/Was wollen wir sein?“. Darunter fallen Hinweise auf Identi-tät, Geschichte und Traditionen, die eine europäische Gemeinsamkeit unterstreichen. Die Betonung geteilter Werte ist typischerweise Gegenstand feierlicher Deklarationen, die außerhalb des politischen Wettbewerbs stehen, zum Beispiel, als 21 Bürgermeister europäischer Hauptstädte sich in einer gemeinsamen Erklärung von den Bürgern die Zustimmung zur Verfassung wünschten, um das gemeinsame Erbe zu wahren und an die Visionen der Gründungsväter anzuknüpfen (LF 26/05/05). Werte können aber auch kon-fliktiv, in Abgrenzung zu Anderen, eingefordert werden. Es geht dann beispielsweise um die Verteidigung des nationalen oder europäischen Kulturerbes gegen potenzielle äußere oder innere Bedrohungen.

In der Kategorie zu universellen Rechten steht eine Kontextualisierung des Verfas-sungsgebungsprozesses vor dem Hintergrund der Fragen „Was ist fair?“ und „Was ist gerecht?“ im Vordergrund. Dabei wurden allgemeine Prinzipien wie Solidarität oder

Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas 723

Liberalismus oder auch Prinzipien des „guten Regierens“ wie Demokratie, Transparenz und Subsidiarität in den Vordergrund gestellt. Dies resultierte zumeist in allgemeingül-tigen Stellungnahmen wie etwa: Die europäischen Staats- und Regierungschefs unter-zeichneten den Verfassungsvertrag in Rom, weil sie erwarteten, dass die EU damit demokratischer und transparenter werden würde (SZ 30/10/04). Für eine Rechtfertigung konnte selbstverständlich auch auf mehrere, teilweise sogar auf alle drei Begründungs-muster zurückgegriffen werden, so beispielsweise der französische Premierminister Raffarin, der die französische Auslandsgemeinschaft aufforderte, für die Verfassung zu stimmen, weil a) die EU der 25 Staaten eine effizientere politische Organisation benötige, b) die EU menschlicher sein muss und c) um die historische Chance nicht zu verpassen (LM 01/02/05).

Um den Partikularitäten der französischen Referendumskampagne gerecht zu werden, werden im Folgenden die polarisierten Argumente der Verfassungsbefürworter und -geg-ner in Frankreich gesondert betrachtet (vgl. Tabelle 4). Im Lager der Verfassungsgegner fällt die Vielschichtigkeit der Argumente ins Auge, die zumeist kontingent mit aktuellen Themen und Ereignissen verbunden wurden (Cluster „Anderes“). Themencluster, die eine relativ fokussierte Debatte erkennen lassen, treten am ehesten in der Thematisierung eines sozialen Europas und der Zurückweisung des (Neo-)Liberalismus im Zusammenhang mit der Dienstleistungsrichtlinie in Erscheinung. Im Cluster „Französische Eigenarten und Interessen“ wurde die Debatte um einen nationalen Souveränitätsverlust subsumiert, z. B. Befürchtungen, dass die europäische Verfassung eine Abkehr vom französischen Laizismus impliziere. Mit etwa gleicher Intensität trat der Cluster „EU-Politik und -Inhalte“ in Erscheinung, in dem die Intransparenz der EU-Politik, das Demokratiedefizit oder die Ablehnung des föderalen Modells thematisiert wurden. Das Thema „Türkei, Aus-grenzung und Fremde“ verbindet Claims zum Verfassungsvertrag mit der Ablehnung des

Tabelle 4:  Thematische Cluster der Rechtfertigungen von Verfassungsgegnern und -befürwortern in der französischen Presse

Verfassungsgegner (82 Claims, 139 Codierungen)

N % Verfassungsbefürworter (81 Claims, 167 Codierungen)

N %

1 Soziales Europa/ Antineoliberal 37 27 1 Arbeitsweise der EU 40 24

2 Anderes 24 17 2 Geteiltes Schicksal/ „Nein zum Nein“ 29 17

3 Französische Eigenarten und Interessen 21 15 3 Werte, Demokratie und

Frieden 20 12

4 EU-Politik und -Inhalte 21 15 4 Soziale Standards 20 125 Demokratie und Werte 15 11 5 Internationale Rolle der EU 16 106 Türkei, Ausgrenzung und

Fremde 14 10 6 Anderes 16 10

7 Globalisierung 7 5 7 Zukunft der EU 15 98 Französische Interessen 11 7

139 100 167 101Quelle: eigene Darstellung.

724 E. Jentges et al.

Türkeibeitritts, während der Cluster „Globalisierung“ lediglich wenige Stellungnahmen bündelt und keine nachhaltige Möglichkeit zu bieten scheint, die Verfassung zu kritisie-ren oder zu delegitimieren.

Im Lager der Verfassungsbefürworter behandelten die meisten Stellungnahmen die „Arbeitsweise der EU“ vor dem Hintergrund der durch den Verfassungsvertrag ein-geführten Neuerungen. Dabei ging es zumeist darum, die Arbeits- und Funktionsfä-higkeit der Union angesichts der Herausforderungen von Erweiterung und Vertiefung aufrechtzuerhalten. Erst an zweiter Stelle wurde die historische Chance hervorgeho-ben, dem geteilten Schicksal und der Verbundenheit Europas Ausdruck zu verleihen. In diesem Zusammenhang wurde auf eine defensive Rhetorik zurückgegriffen, die mit vagen Andeutungen oder gar Drohungen operierte, um die fatalen Konsequenzen einer gescheiterten Ratifizierung für die europäische Integration sowie die gemeinsame Ver-antwortung für die EU vor Augen zu führen. Ähnliches findet sich auch in Analysen der Wahlkampagne, denen zufolge die Verfassungsbefürworter nicht agierten, sondern hauptsächlich reagierten, und ihre Stellungnahmen auf ein kategoriales „Nein zum Nein“ beschränkten, welches kaum weiter argumentativ unterfüttert wurde (Ricard-Nihoul 2005: 7). Der Cluster „Werte, Demokratie und Frieden“ beinhaltet Hinweise auf politische Stabilität, Freiheit und Grundrechte als den Kern und letztendlichen Mehrwert der Verfassung. Im Cluster „Soziale Standards“ sind jene Begründungen gruppiert, welche die sozialpolitischen Errungenschaften des Vertrages gegen den Vor-wurf einer neo-liberalen Ausrichtung verteidigten. Der Cluster „Internationale Rolle der EU“ beinhaltet Wünsche nach einer gemeinsamen europäischen Positionierung in der Außen- und Sicherheitspolitik. Danach differenzieren sich die Themen im Cluster „Anderes“ weiter aus; die wenigsten Nennungen entfallen schließlich auf „Zukunft der EU“ und „Französische Interessen“.

Im Überblick erscheint die Kohärenz der argumentativen Auseinandersetzung in der französischen Referendumsdebatte somit gering. Die große Bandbreite der Argu-mente, die auf beiden Seiten die jeweilige Position zum Verfassungsvertrag rechtfer-tigen sollten, und die Häufigkeit, mit der zwischen den Begründungen gewechselt wurde, lässt auf eine strategische Kampagnenführung schließen, in der es weniger um Deliberation, sondern um Akklamation und Symbolik ging. Beide Lager rekurrierten zudem auf eine Mischung von linken und rechten Argumenten, die genutzt wurden, um unterschiedliche Wählerschichten zu erreichen. Es deutet sich jedoch an, dass sich eine soziale Konstituentenschaft jenseits ideologischer Differenzen entlang einer pro- oder anti-europäischen Spaltungslinie ausrichtet. Darüber hinaus formierten sich in der Verfassungsdebatte auch variable Themengemeinschaften, die sich allerdings nicht auf eine pro- oder anti-europäische Einstellung festlegten, sondern vielmehr thematisch strukturierte, normative und identitätssuchende Debatten führten. Die Debatte um die soziale Dimension der Verfassung im Zusammenhang mit einer expansiven Verteidi-gung des Wohlfahrtsstaatsmodells stellte dabei sicherlich das konfliktreichste Thema dar, über das breite Wählerschichten angesprochen werden konnten. Es war weniger die allgemeine Besorgnis über das europäische Demokratiedefizit oder der Wunsch nach einer Ausweitung von Bürgerrechten, sondern ein sehr konkretes und greifbares Verlangen nach sozialer Sicherheit, Gerechtigkeit und Wohlfahrt, welches die Gemüter der zur Wahl aufgerufenen Bürger in ihrer Rolle als Konstituenten der EU berührte.

Von der politischen zur sozialen Konstitutionalisierung Europas 725

7. Schlussfolgerungen

Unsere vergleichende Fallstudie hat gezeigt, dass strukturelle Transformationsprozesse wie die europäische Verfassungsgebung durchaus Publikumsaufmerksamkeit und kollek-tives Handeln transnational bündeln können. Somit erscheint eine über unterschiedliche Kanäle laufende Legitimitätszuweisung an das europäische Gemeinwesen als einheit-licher Adressat einer diffusen sozialen Konstituentenschaft prinzipiell möglich. Allerdings bleiben mediale Kommunikationsräume nach wie vor nationalstaatlich organisiert und reflektieren vielfach fragmentierte und dekontextualisierte Debatten bzw. Publikumsauf-merksameiten, die sich nur mühsam zu einheitlichen Legitimitätsdiskursen zusammenfüh-ren lassen. Der Grad der Domestizierung der europäischen Verfassungsdebatte korreliert in unserem Fall mit dem Grad der internen Politisierung nationaler Öffentlichkeit. Die durch die parlamentarische Ratifizierung begünstigte Aufrechterhaltung des europapoli-tischen Konsenses in Deutschland veranlasste die Massenmedien, sich primär auf Außen-beobachtung zu stützen und sich an den stärker politisierten Debatten in europäischen Nachbarländern (vor allem Frankreich) zu orientieren. In Frankreich bewirkte die stark politisierte Referendumskampagne hingegen eine nationale Fokussierung der Debatte, die von den Akteuren vor allem zur Profilierung im innenpolitischen Wettbewerb genutzt wurde. Dabei wurde die Debatte allerdings durch Interventionen ausländischer Akteure angereichert. Gerade von den Verfassungsgegnern wurden zudem vielfach allgemeingül-tige Themen (z. B. soziale Gerechtigkeit) aufgegriffen und in einen gesamteuropäischen oder globalen Geltungskontext gestellt.

Die Tatsache, dass die deutsche Qualitätspresse die Ratifizierungsdebatte im Nach-barland Frankreich über teilnehmende Beobachtung erschloss und darüber auch eigene Betroffenheiten und Relevanzen zum Ausdruck brachte, lässt auf eine gewisse Stellver-treterfunktion des französischen Volksentscheids schließen. Der mediale Diskurs in den deutschen Zeitungen war in erheblichem Maße von horizontaler Europäisierung geprägt. So konnten die nationalen Wählerschaften, die über keine direkten Mitsprachemöglich-keiten verfügten, öffentliche Meinungsäußerungen im Nachbarland beobachten und ihre Relevanz bewerten. Langzeitstudien zur Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten haben darauf hingewiesen, dass solche transnationalen Resonanzeffekte keineswegs auf Einzelfälle beschränkt sind, sondern sich in gefestigten Beobachtungsschemata (z. B. deutsch-französische Partnerschaft, britische Außenseiterrolle) zu strukturieren beginnen (Peters et al. 2005; Trenz 2005).

Trotz des französischen Domestizierungseffektes in der Ratifizierungsperiode waren öffentliche Aufmerksamkeitsstrukturen in Deutschland und Frankreich einander ähnlich. Die Mehrheit der über Claimsmaking involvierten Akteure entstammte nationalen poli-tischen Eliten, wobei die Regierungen als wichtigste Fürsprecher des Verfassungsvertrags in Erscheinung traten. Politische Parteien übernahmen dagegen eine zwiespältige Rolle. Während in Deutschland ein übergreifender Parteienkonsens dominierte, reflektierte der mediale Diskurs in Frankreich die internen Auseinandersetzungen der dortigen Parteien. Die Konflikte waren einer hohen Politisierung förderlich und wurden entsprechend in den Medien kenntlich gemacht. Allerdings führten die Auseinandersetzungen über den Verfassungsvertrag nicht automatisch zu einer sachlichen Diskussion über die Inhalte des Verfassungsentwurfs, mit der die Wünschbarkeit einer Ratifizierung rational begründet

726 E. Jentges et al.

werden konnte. In beiden Ländern konzentrierte sich die Debatte vielmehr auf wahl-taktische und strategische Auseinandersetzungen, welche den Ratifizierungsprozess und seine Hürden in den Vordergrund stellten.

Der Verweis auf funktional-pragmatisches Problemlösen war der am häufigsten genutzte Modus, um der EU Legitimität zuzuschreiben. Auch im Verfassungsgebungs-prozess wurde die EU weiterhin als Zweckverband wahrgenommen, der primär auf Out-put-Legitimation ausgerichtet ist. Gleichzeitig rückte in der französischen Debatte aber auch der Diskurs über ein soziales Europa in den Vordergrund, womit neue Erwartungen an ein soziales Engagement der EU geweckt wurden. In Opposition zur Regierungspoli-tik manifestierte sich hier eine grundsätzliche Bereitschaft, soziale Rechte zu stärken und eine redistributive Politik auf europäischer Ebene einzuleiten. Diese kosmopolitische, soziale Gerechtigkeit einfordernde Perspektive wird vor allem in Stellungnahmen von zivilgesellschaftlichen Akteuren artikuliert, die sich damit gegen das „offizielle Europa der Eliten“ zu positionieren beginnen. Die gescheiterten Ratifizierungen im Juni 2005 waren zwar nicht die erste Gelegenheit, um die EU mit ihrem demokratischen Defizit zu konfrontieren. Aber sie waren eine einzigartige Demonstration dafür, dass die Artikulation von öffentlichem Widerspruch tatsächlich einen Unterschied machen kann. Verfassungs-gebung wird in diesem Sinne zu einem Katalysator europäischer Gesellschaftsbildung.

Die Formierung der sozialen Konstituentenschaft der EU lässt sich demnach über transnationale Aufmerksamkeitsstrukturen beschreiben, die Meinungen und Erwartungen gegenüber institutionellen Leistungen bündeln und in denen sich Motive zur kollektiven Mobilisierung herausbilden. Die Legitimierung des europäischen Verfassungsprojekts durch eine soziale Konstituentenschaft ist also nicht nur abhängig von langfristigen insti-tutionellen Arrangements, sondern auch von kurzfristigen Anreizen. Referenden sind dabei wichtig, weil sie die Quantität und Qualität der Debatten mit der öffentlichen Mei-nungs- und Willensbildung verbinden und somit das Sich-Verfassen, die Konstitutionali-sierung eines politischen Herrschaftsverhältnisses in der EU, öffentlich sichtbar machen. In diesem Sinne bereichert unser medialer Vergleich der Verfassungsdebatte die bishe-rigen Überlegungen zur rechtlichen und institutionellen Konstitutionalisierung der EU, welche nicht ausschließlich von politischen Eliten verordnet, sondern auch als „soziale Konstitutionalisierung“ nicht-intentional und „von unten“ eingeleitet wird (vgl. Rittber-ger/Schimmelfennig 2006; Wiener 2007).

Die soziale Konstitutionalisierung Europas vollzieht sich über unregelmäßige Auf-merksamkeitsspannen europabezogener Legitimationsdiskurse, über welche die Ver-rechtlichung der EU an Öffentlichkeit rückgekoppelt wird. Soziale Konstitutionalisierung mündet auch nicht notwendigerweise in Legitimitätszuweisungen, die ein geteiltes europäisches Verfassungsprojekt zu tragen bereit wären, sondern macht zunächst die vielfachen Brüche und Spaltungslinien innerhalb und zwischen den multiplen Dis-kurskonstellationen sichtbar, die das europäische Integrationsprojekt bremsen oder vorantreiben. Es konstituiert sich somit eine diffuse politische Öffentlichkeit, die sich vorerst weniger in einer transnationalen diskursiven Kommunikationsgemeinschaft, als in der wechselseitigen Beobachtung und Diffusion von Themen äußert. Die weiter gehenden Effekte dieses Diskurses (etwa die Ausbildung transnationaler Loyalitäten oder Wählerpräferenzen) sind durch die Methode des Claimsmaking nicht zu erfas-sen. Ebenso wenig ist es möglich, die soziale Konstituentenschaft in ihren emergenten

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organisatorischen Formen zu verorten. Diese Untersuchung beschränkt sich in einer ersten Annäherung auf die Beschreibung der sozialen Konstituentenschaft als Projektion multipler Diskurse, welche zur Legitimation europäischer Verfassungsgebung eingesetzt werden.

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