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Europäischer einstweiliger Rechtsschutz – eine dogmatische Systembildung im Lichte der EuGH-Entscheidungen – Prof. Dr. Alvaro Pérez-Ragone/Wei-Yu Chen, Valparaíso/Heidelberg* I. Einleitung II. Zuständigkeitsgrundlagenbezogene Be- griffsbildung der einstweiligen Maßnahme im Rahmen der EuGVVO 1. Begriff der einstweiligen Maßnahme 2. Dreispuriges Zuständigkeitssystem des vorläufigen Rechtsschutzes 3. Die Beschränkungen der Reichweite des Art. 31 EuGVVO a) Einschränkungen bei der einstweili- gen Erbringung der vertraglichen Hauptleistung b) Reale Verknüpfung bei anderen Eilanordnungen III. Anerkennung und Vollstreckung der einstweiligen Maßnahme 1. Die Anerkennungsfähigkeit der einst- weiligen Entscheidung im Sinne des Art. 32 EuGVVO 2. Anerkennungshindernisse für einstweilige Maßnahmen im Sinne des Art. 31 EuGVVO und die Bewer- tung des Art. 2 lit. a) Unterabs. 2 EuGVVO n. F. 3. Die Behandlung sich widersprechender einstweiliger Entscheidungen IV. Schluss I. Einleitung Einstweilige Maßnahmen in Zivilrechtsstreitigkeiten sind von großer Bedeutung, wenn die Gefahr besteht, dass der Schuldner das Vermögen bzw. einen bestimmten Gegenstand der Zwangsvollstreckung entzieht oder die Rechtslage des Gläubigers sonst einen irreparablen Schaden erleidet, bevor mithilfe eines gegebenenfalls lang- wierigen Erkenntnisverfahrens endlich ein vollstreckbares Urteil erstritten ist 1 . Im internationalen Kontext ist diese Gefahr wegen der Zustellungs-, Sprach- und Rechtsanwendungsschwierigkeiten, die zu einer noch längeren Prozessdauer führen können, besonders groß 2 . Daher stellt die Prozessordnung dem Gläubiger einstwei- lige Maßnahmen zur Verfügung, mit welchen er die Vollstreckungsmöglichkeit be- wahren, das Rechtsverhältnis vorläufig regeln oder sogar seine Forderung vorzeitig * Der Autor Pérez-Ragone ist Professor an der Pontificia Universidad Catolica de Valparaíso, der Autor Chen ist Doktorand an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Diese Arbeit wurde ermöglicht durch die Unterstützung von Seiten des DAAD-Heidelberg Programms 2011/2012 und der chilenischen Forschungsgemeinschaft (FONDECYT), Projekt Nr. 1111021. Die Autoren danken Prof. Dr. Christoph A. Kern, LL.M. (Harvard) für seine Unterstützung. 1 Zöller/Vollkommer , ZPO, 29. Aufl., vor § 916 Rdnr. 1; Brox/Walker , Zwangsvollstre- ckungsrecht, 9. Aufl., 2011, S. 691; Jauernig/Berger , Zwangsvollstreckungs- und Insolvenz- recht, 23. Aufl., 2010, S. 131. 2 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 5. Aufl., 2010, Rdnr. 472; Nagel/Gottwald, In- ternationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl., 2007, S. 726 f. ZZPInt 17 (2012) 231 WK/ZZPInt, Ausgabe 17/2012 #6500 06.09.2013, 11:15 Uhr – st/b.b. – S:/3D/heymann/zeitschriften/ZZP_Int/2012_17/2012_17.3d [S. 231/470] 3 6500_02_2012_17.ps

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Europäischer einstweiliger Rechtsschutz –eine dogmatische Systembildung im Lichte derEuGH-Entscheidungen –

Prof. Dr. Alvaro Pérez-Ragone/Wei-Yu Chen, Valparaíso/Heidelberg*

I. EinleitungII. Zuständigkeitsgrundlagenbezogene Be-

griffsbildung der einstweiligen Maßnahmeim Rahmen der EuGVVO1. Begriff der einstweiligen Maßnahme2. Dreispuriges Zuständigkeitssystem des

vorläufigen Rechtsschutzes3. Die Beschränkungen der Reichweite

des Art. 31 EuGVVOa) Einschränkungen bei der einstweili-

gen Erbringung der vertraglichenHauptleistung

b) Reale Verknüpfung bei anderenEilanordnungen

III. Anerkennung und Vollstreckung dereinstweiligen Maßnahme1. Die Anerkennungsfähigkeit der einst-

weiligen Entscheidung im Sinne desArt. 32 EuGVVO

2. Anerkennungshindernisse füreinstweilige Maßnahmen im Sinnedes Art. 31 EuGVVO und die Bewer-tung des Art. 2 lit. a) Unterabs. 2EuGVVO n. F.

3. Die Behandlung sich widersprechendereinstweiliger Entscheidungen

IV. Schluss

I. Einleitung

Einstweilige Maßnahmen in Zivilrechtsstreitigkeiten sind von großer Bedeutung,wenn die Gefahr besteht, dass der Schuldner das Vermögen bzw. einen bestimmtenGegenstand der Zwangsvollstreckung entzieht oder die Rechtslage des Gläubigerssonst einen irreparablen Schaden erleidet, bevor mithilfe eines gegebenenfalls lang-wierigen Erkenntnisverfahrens endlich ein vollstreckbares Urteil erstritten ist1. Iminternationalen Kontext ist diese Gefahr wegen der Zustellungs-, Sprach- undRechtsanwendungsschwierigkeiten, die zu einer noch längeren Prozessdauer führenkönnen, besonders groß2. Daher stellt die Prozessordnung dem Gläubiger einstwei-lige Maßnahmen zur Verfügung, mit welchen er die Vollstreckungsmöglichkeit be-wahren, das Rechtsverhältnis vorläufig regeln oder sogar seine Forderung vorzeitig

* Der Autor Pérez-Ragone ist Professor an der Pontificia Universidad Catolica de Valparaíso,der Autor Chen ist Doktorand an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Diese Arbeitwurde ermöglicht durch die Unterstützung von Seiten des DAAD-Heidelberg Programms2011/2012 und der chilenischen Forschungsgemeinschaft (FONDECYT), ProjektNr. 1111021. Die Autoren danken Prof. Dr. Christoph A. Kern, LL.M. (Harvard) für seineUnterstützung.

1 Zöller/Vollkommer, ZPO, 29. Aufl., vor § 916 Rdnr. 1; Brox/Walker, Zwangsvollstre-ckungsrecht, 9. Aufl., 2011, S. 691; Jauernig/Berger, Zwangsvollstreckungs- und Insolvenz-recht, 23. Aufl., 2010, S. 131.

2 Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 5. Aufl., 2010, Rdnr. 472; Nagel/Gottwald, In-ternationales Zivilprozessrecht, 6. Aufl., 2007, S. 726 f.

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WK/ZZPInt, Ausgabe 17/2012 #6500 06.09.2013, 11:15 Uhr – st/b.b. –S:/3D/heymann/zeitschriften/ZZP_Int/2012_17/2012_17.3d [S. 231/470] 3 6500_02_2012_17.ps

befriedigen kann. Derartige Maßnahmen kennen praktisch alle europäischen Pro-zessrechte3. Die EuGVVO verweist für einstweiligen Rechtsschutz in ihremArt. 31 auf nationales Recht. Zugleich erlaubt es Art. 31, dass die Zuständigkeit füreinstweilige Maßnahmen abweichend von den Zuständigkeitsregeln für die Haupt-sache (Art. 2 ff. EuGVVO) bestimmt wird. Zugleich schafft sie eine gewisse Freizü-gigkeit solcher einstweiligen Entscheidungen (Art. 32 ff. EuGVVO). In diesen Re-gelungen spiegelt sich ein verfahrensrechtlicher Grundsatz wider, nämlich das Rechtauf effektiven Rechtsschutz, das nach deutschem Verfassungsrecht zum Justizge-währungsanspruch gehört und in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip diePflicht des Staates zur Ausgestaltung des einstweiligen Rechtsschutzes begründenkann4. Auf der europäischen Ebene ist das Gebot einer effektiven Rechtspflege inArt. 6 EMRK verankert, wenngleich es umstritten ist, ob danach ein Staat verpflich-tet ist, einstweiligen Rechtsschutz vorzusehen5. Jedenfalls ist die Geltung dieses Ar-tikels im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes vom EGMR bestätigt worden6, undder EuGH hat den einstweiligen Rechtsschutz als grundlegendes Instrument zurGewährung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes aner-kannt7, so dass zumindest die Auslegung bzw. gerichtliche Fortbildung der entspre-chenden Vorschriften nicht zweckkonform durchgeführt werden kann, ohne denoben genannten Grundsatz zu berücksichtigen.

Dass Art. 31 EuGVVO über die Zuständigkeit für den europäischen einstweiligenRechtsschutz auf die autonomen internationalen Gerichtsstände zurückverweist,kann einerseits durch die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gerechtfertigt wer-den8. So hat der EuGH in der St. Paul Dairy-Entscheidung ausgesprochen, dass dieabweichende Zuständigkeit zur Abwendung eines Schadens diene, der aufgrund lan-ger internationaler Verfahrensdauer entstehen könne9. Andererseits droht das gegen-seitige Vertrauen im Hinblick auf die Anerkennung einer ausländischen einstweili-gen Maßnahme kraft Art. 32 ff. EuGVVO, die von einem nach nationalem Recht

3 R. Stürner, Der einstweilige Rechtsschutz in Europa, in: FS Geiß, 2000, 199.4 Berger, Kapitel 1, in: Berger (Hrsg.), Einstweiliger Rechtsschutz im Zivilrecht, 2006, Rdnr. 12

m. w. N.; zum Anspruch auf effektiven Rechtsschutz im Zivilprozess s. bereits BVerfG,NJW 1995, 3173.

5 Für eine derartige Pflicht Tsikrikas, Der Einfluss der EMRK auf die Gestaltung des einstwei-ligen Rechtsschutzes im europäischen Zivilprozess, Dike Int. 2001, 82, 84 f.; in ähnlicherRichtung Bruns, Provisional Measures in European Civil Procedural Laws, in: ComparativeStudies on Enforcement and Provisional Measures, 2011, 183; dagegen Berger, a.a.O. (Fn. 4),Rdnr. 6.

6 Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl., 2011, Art. 6 Rdnr. 13mit Verweis auf EGMR-Entscheidungen.

7 Berger, a.a.O. (Fn. 4), Rdnr. 8 mit Verweis auf EuGH-Entscheidungen.8 Tsikrikas, a.a.O. (Fn. 5), S. 89; Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 4.9 EuGH, Urteil vom 28. 4. 2005 – Rs. C-104/03 – St. Paul Dairy Industries/Unibel Exser,

EuZW 2005, 401, Rdnr. 12.

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zuständigen Gericht erlassen ist, seine Grundlage zu verlieren, weil der Verzicht aufdie Prüfung der Anerkennungszuständigkeit (Art. 35 III EuGVVO) auf der inArt. 2 ff. EuGVVO vorgesehenen einheitlichen Entscheidungszuständigkeit ba-siert10. Darüber hinaus kann es zu einer Aushöhlung der europäischen Hauptsache-zuständigkeit kommen, wenn die Hauptsache bereits im Verfahren über eine befrie-digende vorläufige Maßnahme vorweggenommen wird, dessen Zuständigkeit sichaber auf abweichende nationale Reglungen stützt11. Somit treten die Effektivitätdes Rechtsschutzes und die Rechtssicherheit des Verfahrenssystems in ein Span-nungsverhältnis12. Ferner ist nicht zu übersehen, dass es in der Regel besondererLegitimation bedarf, um die Gerichtspflicht des Beklagten an einem anderen Ortals seinem Wohnsitz zu begründen, wenn man dem EuGH folgend davon ausgeht,dass Art. 2 EuGVVO (actor sequitur forum rei) als leitender Grundsatz gilt13. Erlaubtman dem Antragsteller, eine einstweilige Maßnahme am »exorbitanten« Gerichts-stand nach Art. 31 EuGVVO in Verbindung mit nationalem Zuständigkeitsrechtzu beantragen, wird das Interesse des Antragsgegners ohne triftige Argumente14 fürdie Regelungen dieser Art beeinträchtigt15. Außerdem wird die Möglichkeit einesforum shopping des Antragstellers zwischen europäischer und nationaler Eilzustän-digkeit16 mangels einer Koordinierung von Parallelverfahren, wie sie Art. 27 EuGV-VO für Hauptsacheverfahren vorsieht, zur Folge haben, dass der Antragsgegner sichmit mehreren Verfahren konfrontiert sieht, während der Antragsteller die zur Ver-fügung stehenden Gerichtsstände austestet. Es liegt daher auf der Hand, dass hier einBedürfnis besteht, den Antragsgegner und Beklagten in der Hauptsache zu schützen.

Die beschriebene Interessenlage, die ihren Grund in der rudimentären Regelungdes Art. 31 EuGVVO hat, ist dem EuGH nicht verborgen geblieben. Der Gerichts-hof hat bislang durch eine Serie von Entscheidungen versucht, die Konturen deseuropäischen Eilverfahrenssystems zu zeichnen. Zu nennen sind insbesondere die

10 Schack, a.a.O. (Fn. 2), Rdnr. 930; Schlosser, EuGVVO, Art. 34–36 Rdnr. 1.11 Hess, Europäisches Zivilprozessrecht, 2010, S. 366; EuGH, Urteil vom 17. 11. 1998 – Rs. C-

391/95 – Van Uden/Deco-Line, EuZW 1999, 413, Rdnr. 46.12 Dickinson, Provisional Measures in the »Brussels I« Review, IPRax 2010, 203, 208.13 Hess, a.a.O. (Fn. 11), S. 266; ständige Rechtsprechung des EuGH, s. nur EuGH, Urteil vom

13. 7. 2000 – Rs. C-412/98, NJW 2000, 3121, Rdnr. 35 ff.; für ein Überdenken des Prinzips»actor sequitur forum rei« s. Pfeiffer, Internationale Zuständigkeit und prozessuale Gerech-tigkeit, 1995, S. 599 ff; ders., Falscher vorauseilender Gehorsam in die richtige Richtung,IPRax 1996, 205, 208.

14 Denkbar ist nach dem EuGH zunächst die Sachnähe des angerufenen Gericht, s. EuGH,Urteil vom 21. 5. 1980 – Rs. 125/79, GRUR Int 1980, 512, Rdnr. 16. Dazu näher unten (II.3).

15 Nimmt die einstweilige Maßnahme die Hauptsache vorweg, kann die Beeinträchtigung kri-tischer werden, vgl. Otte, Kapitel 18, in: Berger (Hrsg.), Einstweiliger Rechtsschutz im Zi-vilrecht, 2006, Rdnr. 2.

16 Besonders attraktiv sind die nationalen exorbitanten Gerichtsstände, s. Hess, a.a.O.(Fn. 11), S. 366.

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Van Uden-Entscheidung17 sowie die Mietz-Entscheidung18, die sich mit dem Begriffder vorläufigen (befriedigenden) Maßnahme und den ungeschriebenen Vorausset-zungen der Zuständigkeit kraft Art. 31 EuGVVO (Art. 24 EuGVÜ) befassen, dieDenilauler-Entscheidung19 über die Versagung der Anerkennung einer (sichernden)Maßnahme aus ex parte-Verfahren, die Italian Leather-Entscheidung20 über die Un-vereinbarkeit zweier einstweiliger (regelnder) Maßnahmen, die Reichert-Entschei-dung21 sowie die St. Paul Dairy-Entscheidung über die Reichweite des Begriffs dereinstweiligen Maßnahme im Sinne des Art. 31 EuGVVO und die erst jüngst ergan-gene Solvay-Entscheidung22, die einmal mehr den Stellenwert dieses Artikels in derEuGVVO bestätigt. Allerdings verbleiben noch so viele offene Fragen, dass von ei-nem dogmatisch relativ stabilen europäischen einstweiligen Rechtsschutzsystemnoch nicht die Rede sein kann. So fragt man sich beispielsweise, ob die (äußere) be-griffliche Einschränkung der vorläufigen Maßnahme stets gelten soll, gleichgültig aufwelcher Vorschrift die Zuständigkeit des Gerichts beruht; wie die Anforderung einer»realen Verknüpfung zwischen dem Gegenstand der beantragten Maßnahme und dergebietsbezogenen Zuständigkeit des Vertragsstaats23 des angerufenen Gerichts«24 zuqualifizieren und zu interpretieren ist; ob die Entscheidungswirkung einer einstwei-ligen Maßnahme, die von dem nach Art. 31 in Verbindung mit nationalem Rechtkompetenten Gericht erlassen ist, territorial beschränkt werden soll; wie sich wider-sprüchliche Eilentscheidungen am besten vermeiden lassen. Solche Fragestellungensind selbst dann zu behandeln, wenn sie z. T. durch die Reform der EuGVVO 201225

nunmehr klar, aber rechtspolitisch nicht bedenkenlos geregelt werden.Es ist das Ziel dieses Aufsatzes, angesichts der fragmentarischen Regelung der

EuGVVO in ihrer geltenden Fassung, die durch deren ab 10. 1. 2015 geltende neueFassung (Art. 81 EuGVVO n. F.) nur in gewissem Umfang ergänzt wird, und dernicht lückenlosen EuGH-Rechtsprechung, ein dogmatisches System des europä-ischen einstweiligen Rechtsschutzes zu entwickeln, mit dem die bisher auftauchen-den Probleme unter Berücksichtigung der Erfordernisse der Verfahrenseffektivität,Rechtssicherheit sowie des Beklagtenschutzes angemessen zu lösen sind. Im Folgen-den soll zuerst die Zuständigkeit für die gemeinschaftsrechtlich autonom zu definie-

17 EuGH, a.a.O. (Fn. 11).18 EuGH, Urteil vom 27. 4. 1999 – Rs. C-99/96 – Mietz/Intership Yachting, EuZW 1999, 727.19 EuGH, a.a.O. (Fn. 14).20 EuGH, Urteil vom 6. 6. 2002 – Rs. C-80/00 – Italian Leather/WECO, NJW 2002, 2087.21 EuGH, Urteil vom 26. 3. 1992 – C-261/90, EuZW 1992, 447.22 EuGH, Urteil vom 12. 7. 2012 – Rs. C-616/10 – Solvay/Honeywell, GRUR 2012, 1169.23 Bzw. nun Mitgliedstaats.24 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 40.25 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. De-

zember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckungvon Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. L 351/1.

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renden einstweiligen Maßnahmen26 dargestellt werden (II). Diesbezüglich ist danndie Anerkennungs- bzw. Vollstreckungsfähigkeit zu besprechen (III). Ein letzter Teil(IV) schließt die Ausführungen.

II. Zuständigkeitsgrundlagenbezogene Begriffsbildung der einstweiligenMaßnahme im Rahmen der EuGVVO

1. Begriff der einstweiligen Maßnahme

Weder Art. 31 EuGVVO an sich noch die Erwägungsgründe bzw. erläuternden Be-richte geben eine Definition für »einstweilige Maßnahmen einschließlich solcher, dieauf eine Sicherung gerichtet sind.« In der Reichert-Entscheidung wurden diese Maß-nahmen vom EuGH autonom näher dahin präzisiert, dass die in den Anwendungs-bereich der Verordnung fallenden einstweiligen Maßnahmen »eine Sach- oderRechtslage erhalten sollen, um Rechte zu sichern, deren Anerkennung im Übrigenbei dem in der Hauptsache zuständigen Gericht beantragt wird27.« Infolgedessenkann die Gläubigeranfechtungsklage französischen Rechts, mit der der Gläubigerbestimmte Vermögensverfügungen des Schuldners rückgängig machen kann, man-gels Sicherungscharakters nicht dazu zählen28. Anhand derselben Definition schlossder Gerichtshof die auf Einschätzung der Klageerhebung gerichtete niederländischeAnordnung der Vernehmung eines Zeugen von dem Anwendungsbereich des Art. 31EuGVVO (vormals: Art. 24 EuGVÜ) aus, da ansonsten die Hauptsachezuständig-keit im Stadium der Beweisaufnahme umgangen werden könne29. Ob man aus dieserArgumentation ableiten kann, dass die Anordnung im selbstständigen Beweisverfah-ren, etwa die französische ordonnance d’une expertise en référé, schlicht ausgeklam-mert ist, lässt sich zwar hier nicht vertiefen30, aber angesichts des Erwägungsgrunds

26 Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 14; Zöller/Geimer, ZPO, 29. Aufl., Art. 31EuGVVO Rdnr. 1 a.

27 EuGH, a.a.O. (Fn. 20), Rdnr. 34.28 EuGH, a.a.O. (Fn. 20), Rdnr. 35.29 EuGH, a.a.O. (Fn. 9), Rdnr. 18; s. auch Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 18 (in

den Augen des EuGH ist die Beweisaufnahme Bestandteil des Hauptverfahrens).30 Die Anwendung des Art. 31 EuGVVO auf echte Beweissicherungsverfahren bejahend

Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 19 f. m. w. N.; vgl. auch Tallon, Compétenceet exécution des jugements en Europe, 4 e éd., 2010, p. 323; dagegen Schack, a.a.O. (Fn. 2),Rdnr. 491; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 31 EuGVO Rdnr. 5 (für innerpro-zessuale ausgestaltete, selbstständige Beweisverfahren ist allein auf die BeweisVO zurück-zugreifen); die Frage, ob eine solche Anordnung ihrer Natur nach nicht zu Art. 31EuGVVO gehört, nicht ansprechend, doch aus anderen Gründen die Anwendung vernei-nend, Cass. civ. 1re, Rev. crit. DIP 2002, 371, note M. Watt (vor der St. Paul Dairy-Entschei-dung); jüngst eine solche Anordnung den einstweiligen Maßnahmen i. S. d. Art. 31EuGVVO doch zuordnend Cass. civ. 1re, 4. 5. 2011, N8 10–13712; dazu Schlosser, AusFrankreich Neues zum transnationalen einstweiligen Rechtsschutz in der EU, IPRax 2012,88.

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(25) der EuGVVO n. F. können zumindest einstweilige Beweissicherungsmaßnah-men im Sinne von Art. 6 f. der Durchsetzungsrichtlinie (Richtlinie 2004/48/EG) miteinbezogen werden.

Darüber hinaus dürfte es klärungsbedürftig gewesen sein, ob die englischen anti-suit injunctions, mit denen der Antragsteller dem Antragsgegner untersagen lassenkann, die Klage im Ausland zu erheben bzw. weiterzuführen31, einstweilige Maßnah-men im Sinne der EuGVVO darstellen. Doch bedarf es einer Klärung im Geltungs-bereich dieser Verordnung deshalb nicht mehr, weil der EuGH in der Turner-Ent-scheidung32 und anschließend in der West Tankers-Entscheidung33 die Möglichkeitdes Erlasses solcher injunctions von englischen Gerichten34 mit der Begründung aus-schloss, der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, worauf das Zuständigkeits-system der EuGVVO sowie die darauffolgende Urteilsfreizügigkeit basierten, unddie praktische Wirksamkeit der Verordnung bzw. das Effektivitätsprinzip würdenbeeinträchtigt, wenn es erlaubt wäre, dass sich ein Gericht durch solche Maßnahmenin die Zuständigkeitsprüfung des Gerichts eines anderen Mitgliedstaates einmische35.Daran ändert es auch nichts, dass die Zuwiderhandlung gegen eine anti-suit injunc-tion lediglich zur Festsetzung einer Strafe des contempt of court gegen den Antrags-gegner in personam führt36, da z. B. das anhängige Verfahren im Ausland angesichtsder Androhung in der Regel zurückgenommen und dann tatsächlich behindert

31 Illmer, Kapitel VIII, in: Englisches Handels- und Wirtschaftsrecht, 3. Aufl., 2012, Rdnr. 80;Dutta/Heinze, Zukunft der anti-suit injunction, ZEuP 2005, 428, 433.

32 EuGH, Urteil vom 27. 4. 2004 – Rs. C-159/02 – Turner/Grovit u. a., EuZW 2004, 468.33 EuGH, Urteil vom 10. 2. 2009 – Rs. C-185/07 – Allianz u. a./West Tankers, NJW 2009,

1655.34 Hierbei geht es nicht um die Anerkennung der anti-suit injunctions, sondern darum, ob sie

i.R.d. EuGVVO überhaupt erlassen werden können, s. Schroeder, Anmerkung zur Recht-sprechung des EuGH, EuZW 2004, 470, wenngleich solche Anordnungen auch gegen deneuropäischen ordre public verstoßen sollen, dazu Schlosser, EuGVVO, Art. 34–36 Rdnr. 5.

35 EuGH, a.a.O. (Fn. 32), Rdnr. 25 ff., dabei ist der Mechanismus der Art. 27 f. EuGVVO zurVerhinderung der parallelen Klage und somit der Gefahr widersprechender Urteile betont,Schroeder, a.a.O. (Fn. 34), S. 471; EuGH, a.a.O. (Fn. 33), Rdnr. 24, 30; Kropholler/vonHein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 27 EuGVO Rdnr. 20. In der Tat gesteht das englische Gerichtauch zu, dass derartige injunctions in gewissem Maße in das ausländische Verfahren eingrei-fen, s. Illmer, a.a.O. (Fn. 31), Rdnr. 81; Dutta/Heinze, a.a.O. (Fn. 31), S. 452 jeweilsm. w. N.

36 Illmer, a.a.O. (Fn. 31), Rdnr. 80; Dutta/Heinze, a.a.O. (Fn. 31), S. 434; vgl. auch Dickinson,A Charter for Tactical Litigation in Europe?, LMCLQ 2004, 273, 275. Hiernach wird dieAuswirkung der Turner-Entscheidung auf die anderen injunctions mit gleicher Wirkung,wie etwa worldwide freezing injunctions (dazu unten II.3.b), hervorgehoben, da derEuGH trotz deren in personam-Charakters vielmehr ihre praktische Wirkung beachte. Ent-gegen dieser Ansicht sei indes zwischen den beiden Varianten der injunctions zu differen-zieren, Cass. civ. 1re, Rev. crit. DIP 2004, 815, 823 note M. Watt.

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wird37. Damit werden aus der EuGVVO die anti-suit injunctions insgesamt verbannt,die funktionsgemäß zum Schutz vor rechtsmissbräuchlicher Klageerhebung bzw.zur Durchsetzung einer (ausschließlichen) Gerichtsstands- oder Schiedsvereinba-rung dienen könnten38. Freilich sind die beiden EuGH-Entscheidungen Kritik ausverschiedener Sicht ausgesetzt, worauf hier nicht einzugehen ist39. An dieser Stellesoll lediglich darauf hingewiesen werden, dass das Verfahren zum Erlass einer anti-suit injunction nach der Art der Anordnung, nämlich final bzw. interlocutory anti-suit injunction (vgl. r. 25.1(1)(a) CPR), jeweils als eine Unterlassungsklage, mit derder Anspruch not to be sued abroad zu verfolgen ist, bzw. als ein Verfahren der einst-weiligen Anordnung, dessen Ziel auf vorläufige Sicherung des soeben genanntenAnspruchs gerichtet ist, konzipiert werden kann40. Eine anti-suit injunction, die inder zuletzt genannten Form der einstweiligen Anordnung ergeht, könnte damit zwartheoretisch in die Reichweite der vorliegenden Untersuchung fallen. Nicht zu über-

37 Lehmann, Anti-suit injunctions zum Schutz internationaler Schiedsvereinbarungen undEuGVVO, NJW 2009, 1645, 1645 f. (daher werde eine Partei sich der Anordnung regelmä-ßig beugen und die Klage im Ausland zurücknehmen); Pfeiffer, Anmerkung zur Rechtspre-chung des EuGH, LMK 2009, 276971 (der EuGH lasse diese faktische Beeinträchtigungausreichen).

38 Nagel/Gottwald, a.a.O. (Fn. 2), S. 320; ausführlich Dutta/Heinze, a.a.O. (Fn. 31), S. 439 ff.Die nicht vom EuGH direkt behandelte Fallgruppe, nämlich die anti-suit injunction zurWahrung einer Gerichtsstandsvereinbarung, wurde bereits ausgeschlossen, s. insbesonderedie Gasser-Entscheidung, (EuGH, Urteil vom 9. 12. 2003 – Rs. C-116/02 – Gasser/MISAT,EuZW 2004, 188), dazu Rauscher, Unzulässigkeit einer anti-suit injunction unter Brüssel I,IPRax 2004, 405, 409; vor den EuGH-Entscheidungen den Erlass der anti-suit injunction inder englischen Rechtspraxis zur Absicherung der Gerichtsstands- oder Schiedsvereinba-rung gegen das in einem anderen Vertragsstaat des EuGVÜ eingeleitete Verfahren kritisie-rend Hau, Durchsetzung von Zuständigkeits- und Schiedsvereinbarungen mittels Prozess-führungsverboten im EuGVÜ, IPRax 1996, 44, 46 ff.; dagegen Hartley, Antisuit Injunctionsand the Brussels Jurisdiction and Judgments Convention, ICLQ 49, 2000, 166, 171 (wenndie Überlegungen, die den Erlass einer anti-suit injunction verlangen, durchaus außerhalbdes Bereichs des Übereinkommens bleiben, soll allein die Tatsache, dass ein anderer Ver-tragsstaat involviert ist, nicht für deren Ablehnung sprechen). Der praktische Nachteil desAusschlusses der anti-suit injunction zur Sicherung einer ausschließlichen Gerichtsstands-vereinbarung wird zukünftig durch Art. 31 Abs. 2 EuGVVO n. F. kompensiert, der dieDurchbrechung des Prioritätsprinzips zugunsten des ausschließlich prorogierten Gerichts-stands erlaubt.

39 Im Hinblick auf die Turner-Entscheidung aus englischer Perspektive von einem Angebotsprechend, den anhängigen Prozess zu stören, sich Einfluss auf die Diskussion der Streitbei-legung zu verschaffen oder eine Entscheidung zu erstreiten, die derjenigen des zuerst ange-rufenen Gerichts entgegenwirkt, Dickinson, a.a.O. (Fn. 36), S. 278; aus deutscher Warte dieEuGH-Entscheidung schwerlich als Triumph des Vertrauensgrundsatzes ansehend, aberihr nach der logischen Anwendung der EuGVVO doch zustimmend Rauscher, a.a.O.(Fn. 38), S. 409; im Hinblick auf die West Tankers-Entscheidung aus französischer Sichtvor allem gegen die Einbeziehung der Wirksamkeit einer Schiedsvereinbarung als eine pro-zessuale Vorfrage in den Anwendungsbereich der Verordnung Niggemann, West Tankers,die »exception française« und die Reform der EuGVVO, SchiedsVZ 2010, 67, 71 f.

40 Dutta/Heinze, a.a.O. (Fn. 31), S. 435 ff.

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Pérez-Ragone/Chen, Europäischer einstweiliger Rechtsschutz

sehen ist jedoch, dass der zu sichernde Anspruch seiner Natur nach prozessrechtlichist41, wohingegen sich der einstweilige Rechtsschutz zumindest aus deutscher Sichtnutzen lässt, um materiellrechtliche Ansprüche vorläufig zu bewahren.

Vielmehr ist nach der Begriffsvorstellung des EuGH wichtiger, ob Art. 31 EuGV-VO die vorläufige befriedigende Maßnahme wie z. B. die deutsche Leistungsverfü-gung (§ 940 ZPO42) bzw. namentlich den französischen référé provision (art. 809 al. 2CPC) erfasst, zumal die als Rechtfertigung der vorzeitigen Erfüllung einer nochnicht endgültig erkannten Verbindlichkeit angesehene Dringlichkeit43 nicht in derDefinition des EuGH enthalten ist44. Im Bezug auf die vorläufige Erbringung einervertraglichen Hauptleistung sprach der EuGH explizit aus, dass eine derartige An-ordnung »zur Sicherstellung der Wirksamkeit des Urteils in der Hauptsache erfor-derlich« sein und »gegebenenfalls angesichts der Parteiinteressen gerechtfertigt« er-scheinen könne45. Trotz der Bestätigung, dass die einstweilige befriedigende Maß-nahme das sichernde Merkmal verwirklicht und deswegen von Art. 31 EuGVVOerfasst ist, begrenzte jedoch der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Artikels fürMaßnahmen dieser Art mit weiteren Anforderungen, nämlich der Gewährleistungder Rückzahlung an den Antragsgegner im Fall der Klageabweisung im Hauptsa-cheverfahren und der (etwaigen) Belegenheit der Vermögensgegenstände des An-tragsgegners im Zuständigkeitsbereich des angerufenen Gerichts46. Grund dieser zu-sätzlichen Anforderungen ist, wie der EuGH später auch in der St. Paul Dairy-Ent-scheidung angedeutet hat, die Bewahrung der Hauptsachezuständigkeit vor einerUmgehung durch das die Hauptsache vorwegnehmende Eilverfahren, dessen Zu-ständigkeit auf nationalem Recht beruht47.

Obwohl die oben erwähnten Entscheidungen insbesondere der Auslegung desArt. 31 EuGVVO gelten, stellt sich die Frage, ob die vom EuGH aufgestellten Kri-

41 Dutta/Heinze, a.a.O. (Fn. 31), S. 450 (das durch die anti-suit injunction durchgesetzte rightnot to be sued abroad [ergibt sich] entweder aus der prozessual geprägten Gerichtsstands-vereinbarung oder dem Recht der prozessualen Billigkeit); Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 201(Gegenstand ist [. . .] die Sicherung des vermeintlichen Vorrangs der prozessualen Geltend-machung im Erlassstaat).

42 Die Rechtsgrundlage der Leistungsverfügung ist umstritten, s. Brox/Walker, a.a.O. (Fn. 1),S. 747.

43 In diesem Sinne von einem Gebot der Ausgewogenheit des einstweiligen Rechtsschutzessprechend Gaul, Tendenzen zur vorzeitigen Erlangung von Zahlungstiteln und einstweili-ger Rechtsschutz, in: FS Vollkommer, 2006, 61, 81 f.

44 EuGH ließ dies offen, s. Spellenberg/Leible, Anmerkung zur Rechtsprechung des EuGH,ZZPInt 1999, 221, 225 f. Im französischen Schrifttum und in der Rechtsprechung herrschtsomit Streit, ob bei der Anordnung eines référé provision i.R.d. Art. 31 EuGVVO die Dring-lichkeit erforderlich ist, s. Mayer/Heuzé, Droit international privé, 9e éd., 2007, p. 259(Fn. 191).

45 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 45.46 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 47; EuGH, a.a.O. (Fn. 17), Rdnr. 42.47 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 46; EuGH, a.a.O. (Fn. 17), Rdnr. 47.

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Pérez-Ragone/Chen, Europäischer einstweiliger Rechtsschutz

terien über die Reichweite der einstweiligen Maßnahme nicht auch Anwendung fin-den sollen, wenn eine solche Maßnahme von dem kraft Art. 2 ff. EuGVVO in derHauptsache zuständigen Gericht getroffen wird, mit anderen Worten, ob sich dieZuständigkeit eines (fiktiven) Hauptsachegerichts für den Erlass einstweiliger Maß-nahmen auch nach Art. 31 EuGVVO richtet. Dies steht im engen Zusammenhangmit der Differenzierung der Gerichtsstandsgrundlagen durch den EuGH, die imFolgenden näher betrachtet wird.

2. Dreispuriges Zuständigkeitssystem des vorläufigen Rechtsschutzes

Das Zuständigkeitssystem des europäischen Eilverfahrens ist zunächst anhand derVan Uden-Entscheidung sowie der Mietz-Entscheidung zweigeteilt. Auf der einenSeite steht die Annexkompetenz aus Art. 2 ff. EuGVVO, für die die Heranziehungdes Art. 31 EuGVVO entbehrlich ist48, auf der anderen Seite die Zuständigkeit ausArt. 31 EuGVVO in Verbindung mit nationalem Recht, deren Anwendbarkeit wei-teren begrifflichen Einschränkungen unterstellt ist. Diese Unterscheidung ist dannsinnvoll, wenn der Gerechtigkeitsgehalt der Zuständigkeitsregelungen der EuGV-VO unmittelbar auch für das Eilverfahren gilt49, während die unbegrenzte Anwen-dung des nationalen Rechts einschließlich der exorbitanten Gerichtsstände50 nichtohne weiteres dem Zweck des einstweiligen Rechtsschutzes in der EuGVVO ent-spricht51 und u. U. eine Umgehung der relativ klaren Hauptsachegerichtsstände her-beiführen kann52. Trotzdem ist zu beachten, dass die auf nationales Recht gestützte

48 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 19; EuGH, a.a.O. (Fn. 17), Rdnr. 40.49 Hess/G. Vollkommer, Die begrenzte Freizügigkeit einstweiliger Maßnahmen nach Art. 24

EuGVÜ, IPRax 1999, 220, 221 f. mit Verweis auf hierauf eingehende Literatur. Mittelbar istdies auch angesichts der Prüfung des Anordnungsanspruchs im Eilverfahren (z. B. § 920Abs. 2 ZPO) zu legitimieren.

50 Explizit EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 42; der Rechtsprechung folgend Nagel/Gottwald,a.a.O. (Fn. 2), S. 730; Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 22; Hess, a.a.O. (Fn. 11), S. 369; gegen dieAnwendbarkeit des § 23 ZPO i.R.d. Art. 31 EuGVVO i. V. mit §§ 919, 937 ZPO Schlosser,EuGVVO, Art. 31 Rdnr. 17; in ähnlicher Richtung Marmisse/Wilderspin, Le régime juris-prudentiel des mesures provisoires à la lumière des arrêts Van Uden et Mietz, Rev. crit. DIP1999, 669, 674 (Art. 3 EuGVÜ kann als ein generelles Prinzip erscheinen, das in jedem Ab-schnitt des Übereinkommens Anwendung finden soll).

51 Art. 31 EuGVVO soll einen für die Entscheidung einer einstweiligen Maßnahme geeigne-teren Gerichtsstand schaffen, s. Loussouarn/Bourel/Vereilles-Sommières, Droit internatio-nal privé, 9e éd., 2007, p. 694 et s.; Guinchard/Chainais/Ferrand, Procédure civile, 30e éd.,2010, p. 1432. Folglich kann die Anwendung der Art. 14, 15 Code Civil fraglich sein, Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 47 (ihrer Anwendung steht das primärrechtlicheDiskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV entgegen), wenngleich diese Vorschrif-ten eine gewisse Rechtfertigung enthalten, vgl. Loussouarn/Bourel/Vereilles-Sommières,ibid., p. 638 et s.

52 S. bereits Fn. 45; diese Gefahr im Fall eines référé provision betonend Guinchard/Chainais/Ferrand, a.a.O. (Fn. 51), p. 1432.

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Pérez-Ragone/Chen, Europäischer einstweiliger Rechtsschutz

Eilzuständigkeit keinesfalls subsidiär ist53, da der EuGH die Berufung auf Art. 31EuGVVO selbst dann zuließ, wenn aufgrund einer Schiedsvereinbarung54 bzw. derausschließlichen Zuständigkeit eines anderen Gerichtes nach Art. 22 Nr. 4 EuGV-VO55 eine eigene Hauptsachezuständigkeit ausgeschlossen war und die (anderweiti-ge) Anhängigkeit der Hauptsache die Anwendbarkeit dieses Artikels nicht ausschal-ten kann56, obwohl sie als eine Ausnahmevorschrift eng ausgelegt werden soll57.

Ist die Hauptsache noch nicht anhängig, kann der Antragsteller neben Art. 31EuGVVO zwischen allen nach Art. 2 ff. EuGVVO zuständigen Gerichten wählen58.Solche fiktiven Hauptsachezuständigkeiten dürften zur Vermeidung von Rechts-schutzlücken auch dann unberührt bleiben, wenn die entsprechende Klage bereitsbzw. später anderweitig erhoben ist59. Daraus, dass das angerufene Hauptsachege-richt ein anderes Gericht als das Eilgericht sein kann, das ebenfalls (fiktiv) in derHauptsache zuständig ist, ergeben sich die Bedenken, ob in den Augen des EuGHeine zum Verfahren des ersteren Gerichts gehörende Maßnahme wie eine Zeugen-vernehmung nicht dann in die Hände des letzteren Gerichtes gelangt, wenn die oben(II.1) genannte begriffliche Beschränkung des einstweiligen Rechtsschutzes nicht

53 Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 2. Aus der Sicht der internationalen Zivilver-fahrensrechtsvergleichung ist die Annexkompetenz des in der Hauptsache zuständigen Ge-richts doch nicht selbstverständlich. Z. B. waren die japanischen Gerichte nach altem Rechtnur dann für den Erlass der einstweiligen Anordnung zuständig, wenn sich die vorläufig zuvollstreckenden Gegenstände auch in Japan befanden, da die Vollzugsmöglichkeit lediglichin dieser Konstellation gewährleistet ist. Doch verleiht § 11 des geltenden (japanischen) Ge-setzes über einstweiligen Rechtsschutz den Hauptsachegerichtsständen auch die Eilkompe-tenz, weil u. a. die zu erkennenden Gegenstände im Eil- und Hauptsacheverfahren im ge-wissen Umfang gleich sind, dazu [Honma/Nakano/Sakai],

[Internationales Zivilverfahrensrecht], 2. Aufl., 2012, Tokio: Yuhikaku,S. 204 f.

54 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 34; zust. Nagel/Gottwald, a.a.O. (Fn. 2), S. 731; gegen die An-sicht des EuGH, dass die Existenz eines Schiedsvertrages alle Gerichtstände in Hauptsacheausschließt, s. Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49), S. 222; Spellenberg/Leible, a.a.O.(Fn. 44), S. 226 f.

55 EuGH, a.a.O. (Fn. 22), Rdnr. 40.56 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 29; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel

I-VO Rdnr. 22; Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 54; a. A. Schack, a.a.O. (Fn. 2), Rdnr. 484.57 EuGH, a.a.O. (Fn. 9), Rdnr. 11; Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 5.58 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 18; Stein/Jonas/Wag-

ner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 39.59 Das umstrittene Problem ist nicht ausdrücklich vom EuGH angesprochen, doch bejahend

Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 17; Stein/Jonas/Wag-ner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 40; Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49), S. 224; Marmisse/Wilderspin, a.a.O. (Fn. 50), p. 681 et s.; verneinend Wolf/Lange, Europäisches System deseinstweiligen Rechtsschutzes – noch kein System?, RIW 2003, 55, 60 f.; Kropholler/vonHein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 31 EuGVO Rdnr. 11; differenzierend Stadler, Erlass und Frei-zügigkeit einstweiliger Maßnahmen im Anwendungsbereich des EuGVÜ, JZ 1999, 1089,1094 f.

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eingreifen soll, was der Logik des EuGH widersprechen kann60. In der Regel ist imFall der Verschiedenheit des Hauptsachegerichts vom Eilgericht das erstere besser inder Lage, die Voraussetzungen einer einstweiligen Maßnahme wie das Vorliegen we-sentlicher Nachteile (§ 940 ZPO) bzw. der urgence (art. 808 CPC) mit Hilfe der voll-ständigeren Schriftsätze zu beurteilen61, so dass eine weitere Differenzierung inner-halb der in der Hauptsache zuständigen Eilgerichte doch sinnvoll ist. Der EuGHschloss zwar den dogmatischen Weg, dass die Zuständigkeit des fiktiven Hauptsa-chegerichtes für die vorläufige Maßnahme aus der verbundenen Anwendung desArt. 31 und des jeweiligen Hauptsachegerichtsstands abzuleiten sein soll62, aber dievom EuGH geforderten begrifflichen Einschränkungen der Eilmaßnahme, etwa derSicherungscharakter bzw. wohl die anschließend zu besprechende Anforderung ei-ner Garantie der Rückzahlung63, sollen immerhin entsprechend für das einstweiligeVerfahren gelten, dessen Zuständigkeit nur in fiktiver Weise auf Art. 2 ff. EuGVVOberuht. Dies ist die Gestalt des dreispurigen Zuständigkeitssystems des vorläufigenRechtsschutzes in Europa64.

3. Die Beschränkungen der Reichweite des Art. 31 EuGVVO

a) Einschränkungen bei der einstweiligen Erbringung der vertraglichen Haupt-leistung

Wie oben (II.1) bereits erwähnt, fällt die befriedigende vorläufige Maßnahme zwarim Prinzip in den Anwendungsbereich des Art. 31 EuGVVO, sie unterliegt aber derVan Uden-Entscheidung zufolge zwei zusätzlichen Einschränkungen im Sinne desBegriffs der einstweiligen Maßnahme. Danach ist eine solche Anordnung nur dannals einstweilige Maßnahme im Sinne dieses Artikels anzusehen, wenn »die Rückzah-

60 Ähnlich wie hier die uneingeschränkte Kompetenz des (fiktiv) in der Hauptsache zuständi-gen Gerichtes über jede vorläufige Maßnahme für fraglich haltend Marmisse/Wilderspin,a.a.O. (Fn. 50), p. 680 et s.

61 Stadler, a.a.O. (Fn. 59), S. 1094 (das tatsächlich mit dem Streit befasste Gericht ist sicher amehesten geeignet, Eilmaßnahmen zu erlassen).

62 Die Annexzuständigkeit ist unabhängig von Art. 31 EuGVVO begründet, wie in Fn. 34 be-reits gezeigt wurde, während die begrifflichen Einschränkungen auf diesen Artikel gerichtetsind. Eine direkte dogmatische Kombination ist deswegen unmöglich.

63 Dickinson, a.a.O. (Fn. 12), S. 208; vgl. auch Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVORdnr. 32. Zu beachten ist jedoch, dass der EuGH ausdrücklich von einer Kompetenz freivon dieser Bedingung sprach, wenn sie aus Art. 2 ff. EuGVVO hergeleitet ist, EuGH, a.a.O.(Fn. 11), Rdnr. 22; EuGH, a.a.O. (Fn. 17), Rdnr. 41, so dass es einer weiteren Reduktiondieser Rechtsprechung bedürfte.

64 Auch von einer derartigen Gestaltung sprechend Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49),S. 221 f.; Hess, Die begrenzte Freizügigkeit einstweiliger Maßnahmen im Binnenmarkt II –weitere Klarstellung des Europäischen Gerichtshofs, IPRax 2000, 370, 373 f.; von einemzweigeteilten System spricht Wolf, Konturen eines europäischen Systems des einstweiligenRechtsschutzes, EWS 2000, 11, 13.

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Pérez-Ragone/Chen, Europäischer einstweiliger Rechtsschutz

lung des zugesprochenen Betrages an den Antragsgegner in dem Fall, dass der An-tragsteller nicht in der Hauptsache obsiegt, gewährleistet ist und wenn die beantragteMaßnahme nur bestimmte Vermögensgegenstände des Antragsgegners betrifft, diesich im örtlichen Zuständigkeitsbereich des angerufenen Gerichts befinden oder be-finden müssten65.« Neben dem Erfordernis der näheren Interpretation dieser Vo-raussetzungen66 kommt zunächst der Frage größere Bedeutung zu, ob sich ihre Gel-tung lediglich auf die »vorläufige Erbringung der vertraglichen Hauptleistung« be-schränken oder auf alle Sorten der Eilmaßnahmen übertragen werden soll.

Die Generalisierung der genannten Einschränkungen ist abzulehnen, da auf dereinen Seite die Sicherstellung der Rückzahlung für die vorzeitige Zahlung einer au-ßervertraglichen Forderung, etwa eines Schadensersatzanspruchs aus deliktischerKörperverletzung (vgl. § 823 BGB), dessen Gläubiger möglicherweise nicht überausreichende Mittel für eine solche Sicherheitsleistung verfügt, nicht geeignet ist67,und die Belegenheit der Vermögensgegenstände im Gerichtsbezirk auf der anderenSeite, abgesehen von dem fehlenden Zusammenhang zwischen Geldforderung undbestimmten schuldnerischen Vermögensgegenständen68, bei einem Unterlassungsan-trag kaum tauglich ist, da sich ein Unterlassungsantrag nicht auf das Vermögen desAntragsgegners richtet, sondern auf die Untersagung einer bestimmten Handlung69.Schließlich wird die vom EuGH als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Eilzu-ständigkeitsbegründung nach Art. 31 EuGVVO in Verbindung mit nationalemRecht geforderte »reale Verknüpfung zwischen dem Gegenstand der beantragtenMaßnahmen und der gebietsbezogenen Zuständigkeit des Vertragsstaats des angeru-fenen Gerichts« dann leerlaufen, wenn die (verallgemeinerte) Voraussetzung der Be-legenheit des Vermögens ein strengeres Kriterium darstellt70. Folgerichtig können diezwei begrifflichen Einschränkungen nur für die einstweilige Leistungsverfügungbzw. den référé provision einer vertraglichen Hauptleistung gelten. Hierdurch wird

65 EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 47. Gleiche Kriterien werden in der Mietz-Entscheidung alsAnerkennungsvoraussetzungen gebraucht, s. EuGH, a.a.O. (Fn. 17), Rdnr. 42.

66 Z. B. die Fragen, was mit »im örtlichen Zuständigkeitsbereich« gemeint ist, dazu Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49), S. 224 (gemeint ist: internationale Zuständigkeit); wie dieAnforderung, dass sich Vermögensgegenstände im Zuständigkeitsbereich des erlassendenGerichtes befinden oder befinden müssten, zu verstehen ist, dazu Spellenberg/Leible,a.a.O. (Fn. 44), S. 230 (eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Möglichkeit einer inländischenVollziehung der einstweiligen Maßnahme genügt, um eine Zuständigkeit nach nationalemRecht in Verbindung mit Art. 24 EuGVÜ zu begründen).

67 Spellenberg/Leible, a.a.O. (Fn. 44), S. 224; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31Brüssel I-VO Rdnr. 12; Hess, a.a.O. (Fn. 11), S. 368.

68 Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49), S. 224; das Argument für nicht haltbar ansehend Stad-ler, a.a.O. (Fn. 59), S. 1097.

69 Vgl. Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49), S. 225.70 Marmisse/Wilderspin, a.a.O. (Fn. 50), p. 677. Dazu sogleich.

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Pérez-Ragone/Chen, Europäischer einstweiliger Rechtsschutz

dem Regelungsinteresse der Hauptsachezuständigkeiten der EuGVVO sowie demBeklagtenschutz ausreichend Rechnung getragen71.

Im Hinblick auf die Anwendung des Art. 31 EuGVVO gilt somit neben der ge-nerellen Begriffsbeschränkung aus der Reichert-Entscheidung (oben II.1) ein zwei-gliedriges Prüfungssystem. Nach diesem Prüfungssystem kann eine befriedigendeeinstweilige Anordnung einer vertraglichen Hauptleistung nur dann als einstweiligeMaßnahme im Sinne des Artikels qualifiziert werden, wenn sie den oben erwähntenzwei Einschränkungen entspricht, während die gerichtliche Kompetenz zum Erlassaller anderen Arten vorläufiger Maßnahmen eine reale Verknüpfung voraussetzt, diekeine begriffliche Bedingung wie die beiden Einschränkungen bei Befriedigungsan-ordnungen für vertragliche Ansprüche darstellen sollte72. Diese beiden Einschrän-kungen sind nun näher zu konkretisieren. Für die erste Einschränkung, das Erforder-nis einer Gewährleistung der Rückzahlung, reicht eine bloße Schadensersatzpflicht(z. B. § 945 ZPO) des Antragstellers nicht aus73. Vielmehr muss das erlassende Ge-richt eine solche Sicherheitsleistung etwa in Form einer Bankbürgschaft zusätzlichanordnen74. Die Gewährleistung durch das angerufene Gericht kann nicht durch eineAnordnung des Exequaturgerichts nach Art. 46 Abs. 3 EuGVVO ersetzt werden75.Über die Auslegung der zweiten Einschränkung, dem Erfordernis der Belegenheitder Vermögensgegenstände, besteht keine Einigkeit. Nach einer Ansicht ist aus die-sem Erfordernis eine territoriale Wirkungsbeschränkung der vorläufigen Leistungs-anordnung abzuleiten76. Die Gegenansicht versteht hierunter eine wertungsmäßige

71 Bezweifelnd, ob die Einschränkungen zufriedenstellend die Einbeziehung des référé provi-sion in Art. 31 EuGVVO rechtfertigen können, wobei der in der Hauptsache zuständigeRichter durch die einstweilige Entscheidung ersetzt wird, CJCE – 17 nov. 1998 et Cass. civ.1re – 13 avr. 1999, Rev. crit. DIP 1999, 340, 366, note J. Normand; ähnliche Überlegung beiGuinchard/Chainais/Ferrand, a.a.O. (Fn. 51), p. 1433 (die Anordnung eines référé provi-sion verwirklicht die zwei von europäischer Rechtsprechung kumulativ geforderten Bedin-gungen nicht).

72 Die zwei vom EuGH hervorgehobenen, für den Begriff der einstweiligen Maßnahme imSinne des Art. 31 EuGVVO geltenden Einschränkungen scheinen den Charakter solcherMaßnahmen mit der Bedingung der Zuständigkeit zu verwechseln, s. Loussouarn/Bourel/Vereilles-Sommières, a.a.O. (Fn. 51), p. 696, aber eine abweichende Einordnung scheintauch unmöglich, denn in der Mietz-Entscheidung wurden die Einschränkungen (andersals die reale Verknüpfung) explizit als Versagungsgrund der Anerkennung angesehen, zudem fehlende Zuständigkeit grundsätzlich nicht gehört (Art. 35 Abs. 3 EuGVVO).

73 Stadler, a.a.O. (Fn. 59), S. 1097; Schlosser, EuGVVO, Art. 31 Rdnr. 22.74 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 11.75 Dies kann sich der Mietz-Entscheidung entnehmen lassen, s. Stadler, a.a.O. (Fn. 59),

S. 1097; Schlosser, EuGVVO, Art. 31, Rdnr. 22; a. A. Hess, a.a.O. (Fn. 64), S. 373 (dadurchwird die Freizügigkeit der einstweiligen Maßnahme erleichtert, ohne dass das Erstgerichteine einstweilige Maßnahme zwingend mit einer derartigen Sicherheitsleistung kombinie-ren muss).

76 Stadler, a.a.O. (Fn. 59), S. 1098; Nagel/Gottwald, a.a.O. (Fn. 2), S. 732.

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Pérez-Ragone/Chen, Europäischer einstweiliger Rechtsschutz

Kontrolle der Zuständigkeit des Eilgerichtes77. Da der Meinungsstreit die Anerken-nung der einstweiligen Entscheidung auf Befriedigung eines vertraglichen An-spruchs und die grenzüberschreitende Vollstreckung betrifft, soll sie erst an spätererStelle (III.2) diskutiert werden.

b) Reale Verknüpfung bei anderen Eilanordnungen

Die beiden Einschränkungen bei Befriedigungsanordnungen für vertragliche An-sprüche sind relativ einfach auszulegen. Schwieriger, aber im Interesse der Rechts-sicherheit besonders wichtig, ist die Klarstellung der oben erwähnten »realen Ver-knüpfung« bei anderen Eilanordnungen78. Ausgangspunkt muss die von Art. 31EuGVVO angestrebte Sachnähe des Eilgerichtes sein, die der EuGH in der Denilau-ler-Entscheidung und wiederum in der Van Uden-Entscheidung betont hat. Ihmzufolge ist der Richter des Vertragsstaates, in dem sich die von der beantragten Maß-nahme betroffenen Vermögensgegenstände befinden, am besten in der Lage, überden Antrag zu entscheiden. Dabei seien die besondere Umsicht und genaue Kenntnisder konkreten Umstände zu verlangen, in deren Rahmen die beantragten Maßnah-men wirken sollten79. Betrachtet man diese Gedanken näher und zusammen mit demHinweis auf die Belegenheit der Vermögensgegenstände80, so zeigt sich, dass die An-forderung einer realen Verknüpfung auf die Vollstreckungsmöglichkeit hinauslaufensoll81, d. h. das Eilgericht, dessen Zuständigkeit sich auf Art. 31 EuGVVO in Verbin-dung mit nationalem Recht stützt, kann nur dann die begehrte einstweilige Maßnah-me erlassen, wenn sie im Inland vollzogen werden kann82. Folglich ist das (deutsche)Amtsgericht für den Erlass des Arrestbefehls bzw. einer einstweiligen Verfügungnach Art. 31 EuGVVO in Verbindung mit §§ 919 Alt. 2 oder 942 Abs. 1 ZPO imPrinzip zuständig, weil damit beiden Voraussetzungen der realen Verknüpfung zwi-schen der beantragten Maßnahme und dem angerufenen Gericht entsprochen wird83.

Weniger klar ist, inwiefern das Gericht, das seine Eilzuständigkeit auf Artikel 31EuGVVO in Verbindung mit §§ 937 Abs. 1, 23 ZPO stützt, im Hinblick auf einen

77 Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 49; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 25; Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49), S. 224 f.

78 Stadler, a.a.O. (Fn. 59), S. 1093.79 EuGH, a.a.O. (Fn. 14), Rdnr. 15 f.; EuGH, a.a.O. (Fn. 11), Rdnr. 38 f.80 Spellenberg/Leible, a.a.O. (Fn. 44), S. 229.81 Schack, a.a.O. (Fn. 2), Rdnr. 486; Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 50; Hess,

a.a.O. (Fn. 11), S. 369; Normand, a.a.O. (Fn. 71), p. 362; Tallon, a.a.O. (Fn. 30), p. 329 et s.82 Wenn die Voraussetzung der Belegenheit der schuldnerischen Vermögensgegenstände für

die vorzeitige Zahlungsanordnung der vertraglichen Hauptleistung erfüllt wird, ist die An-forderung der realen Verknüpfung zwangsläufig verwirklicht, vgl. Junker, InternationalesZivilprozessrecht, 2012, S. 25. In diesem Sinne kann die einstweilige Maßnahme dieser Arteinbezogen werden, doch ist dies unnötig.

83 Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 51.

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Antrag der einstweiligen Leistungsverfügung aus außervertraglicher Forderung demErfordernis einer realen Verknüpfung genügen kann. Dazu ist zunächst zu bemer-ken, dass die vom EuGH verlangte reale Verknüpfung nicht mit dem vom BGH(unzutreffend) zur Beschränkung des § 23 ZPO geforderten hinreichenden Inlands-bezug84 gleichgesetzt werden darf85. Das Erfordernis eines hinreichenden Inlandsbe-zugs ist nach dem BGH verfahrensbezogen zu verstehen86. Danach reicht das bloßeVorhandensein des Vermögens des Beklagten nicht, während die reale Verknüpfungausgerechnet auf die Zugriffsmöglichkeit in das belegene Vermögen abstellt. In derTat rechtfertigt die richtige Lesart des § 23 ZPO, nach der nur ein der Zwangsvoll-streckung unterliegendes und (nach Abzug der Vollstreckungskosten) den Gläubigergewissermaßen befriedigendes Vermögen zum Vermögen im Sinne des § 23 ZPOzählen könne87, die Gerichtspflicht des Beklagten im Inland, was die Anwendungdes Art. 31 EuGVVO gleichermaßen begründen kann. Doch soll der Wert des sichim Gerichtsbezirk befindenden Vermögens im Rahmen der Prüfung der realen Ver-knüpfung anders als diejenige des § 23 ZPO verhältnismäßig zum Anordnungsan-spruch sein müssen88, da ansonsten die den Beklagten schützenden Zuständigkeits-regelungen in der Hauptsache leicht umgangen werden können.

Ein weiteres Problem werfen im Geltungsbereich des Art. 31 EuGVVO die eng-lischen freezing injunctions auf, namentlich diejenigen, die zur Unterstützung aus-ländischer Hauptsacheverfahren dienen. Anders als der deutsche Arrest wirken sie inpersonam, indem sie dem Schuldner und u. U. auch Dritten die Verfügung über Ver-mögenswerte verbieten. Die Zuwiderhandlung gegen eine derartige injunction wirdals contempt of court geahndet, zu dessen Sanktionsmaßnahmen Vermögensbe-

84 BGH, NJW 1991, 3092, 3093 ff.; vgl. auch BAG, NJW 1997, 3462; OLG Frankfurt, Urteilvom 28. 11. 2011, WM 2011, 2360.

85 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 24.86 Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 43. Der BGH hat im oben genannten Fall den hinreichenden

Inlandsbezug nicht weiter präzisiert, jedoch kann man im Urteil der Vorinstanz einen ge-wissen Hinweis erkennen, s. OLG Stuttgart, Urteil vom 6. 8. 1990, BeckRS 2010, 11747(Der erforderliche Inlandsbezug ist gegeben, wenn ein im Inland wohnender oder jedenfallshier sich dauernd aufhaltender Kläger [unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit] diedeutsche Gerichtsbarkeit in Anspruch nimmt, weiter dann, wenn der Sachverhalt, welcherder Klage zugrunde liegt, seinen Schwerpunkt im Inland hat, deutsches Recht anzuwendenist oder ein sonstiges berechtigtes Interesse des Klägers an einer inländischen Entscheidungdargetan wird).

87 Stein/Jonas/Roth, ZPO § 23 Rdnr. 15; Nagel/Gottwald, a.a.O. (Fn. 2), S. 175.88 Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 49; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-

VO Rdnr. 25; Hess/G. Vollkommer, a.a.O. (Fn. 49), S. 224 f. Dies erinnert zwar an § 99 JNÖsterreichs, aber ob sich die Verhältnismäßigkeit auch an der entsprechenden Rechtspre-chung – etwa 20 %, s. Oberhammer, Vermögensbelegenheit und Funktion des Vermögens-gerichtsstands, in: FS Schlosser, 2005, 651, 665 f. – orientieren soll, scheint eher zweifelhaft.

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schlagnahme und Freiheitsentziehung zählen89. Die freezing injunction richtet sichsomit auf bestimmte Handlungen, nicht aber spezifisches Vermögen90. Während dieAnerkennungsfähigkeit der freezing injunctions und ihre Einordnung als (zivilrecht-liche) einstweilige Maßnahme im Rahmen der EuGVVO von der französischen Courde cassation bestätigt wurden91, stellt sich die Frage, wie die reale Verknüpfung zuerfüllen ist, wenn dem angerufenen Eilgericht die Hauptsachezuständigkeit fehlt.Abgesehen davon, dass die Vollstreckung einer freezing injunction im Ausland dieGenehmigung des englischen Gerichts voraussetzt92, ist unter vollzugsbezogenemVerständnis die erforderliche reale Verknüpfung dann gegeben, wenn die Möglich-keit für die Durchsetzung einer contempt of court-Strafe in England und Wales exi-stiert93. Dagegen ist es freilich nicht zweifelsfrei, ob allein die Anwesenheit des An-tragsgegners unter englischer Jurisdiktion auch dann jene Möglichkeit schaffen kann,wenn sämtliches Vermögen des Antragsgegners im Ausland liegt94. Stellt jedoch dieDurchsetzbarkeit eine zwingende Voraussetzung für das die freezing injunction er-lassende Gericht dar, das aufgrund des Art. 31 EuGVVO in Verbindung mit natio-

89 Heinze, Internationaler einstweiliger Rechtsschutz, RIW 2003, 922, 923; Schlosser,EuGVVO, Art. 31 Rdnr. 33; Stadler, a.a.O. (Fn. 59), S. 1091; Otte, a.a.O. (Fn. 15),Rdnr. 188.

90 Dickinson, a.a.O. (Fn. 12), S. 209.91 Cass. civ. 1re, Rev. crit. DIP 2004, 815. Hiernach hat die Cour de cassation hervorgehoben,

dass die sich im Ausland befindendes schuldnerisches Vermögen erfassende freezing injunc-tion anders als anti-suit injunctions die ausländische Souveränität und die Kompetenz desangerufenen Gerichts nicht beeinträchtige. Auf der anderen Seite stellt sich im Hinblick aufden zugrunde liegenden Sachverhalt dieser Entscheidung die Frage, ob eine das Sachurteilbegleitende freezing injunction nicht eine Vollstreckungsmaßnahme darstellen soll, dieArt. 22 Nr. 5 EuGVVO unterliegt, nicht aber Art. 31 gleicher Verordnung, dazu zustim-mend Schlosser, Anerkennung und Vollstreckbarerklärung englischer »freezing injunc-tions«, IPRax 2006, 300, 303 f.; Tallon, a.a.O. (Fn. 30), p. 324; verneinend Schack, a.a.O.(Fn. 2), Rdnr. 488. Aus deutscher Sicht verneint ebenso den Verstoß gegen inländischen or-dre public (Art. 34 Nr. 1 EuGVVO) einer derartigen injunction OLG Nürnberg, Beschlussvom 22. 12. 2010 – 14 W 1442/10, WM 2011, 700.

92 Eingehend Heinze, Grenzüberschreitende Vollstreckung englischer freezing injunctions,IPRax 2007, 343.

93 Heinze, a.a.O. (Fn. 89), S. 928; Schlosser, EuGVVO, Art. 31 Rdnr. 33; Stadler, a.a.O.(Fn. 59), S. 1094; Dickinson, a.a.O. (Fn. 12), S. 210; dagegen Nagel/Gottwald, a.a.O.(Fn. 2), S. 732; wohl auch Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 31 EuGVO Rdnr. 8.

94 Tallon, a.a.O. (Fn. 30), p. 325. Hiernach könne man einen positiven Schluss ziehen, wennder Standpunkt auf die in personam-Wirkung abstelle. Wohl falle es dem EuGH dochschwer, den in personam-Charakter der freezing injunction mit der realen Verknüpfung inEinklang zu bringen. Angesichts der Zurückhaltung des englischen Gerichts im Hinblickauf extraterritorial wirkende freezing injunctions s. Illmer, a.a.O. (Fn. 31), Rdnr. 136, solldie hier besprochene Konstellation nicht auftauchen und deswegen besteht die Dringlich-keit einer Antwort nicht.

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nalem Recht zuständig ist, so ist diese einstweilige Maßnahme mit der Verordnungvereinbar95.

Ob man bei der Behandlung einer allgemeinen einstweiligen Unterlassungsverfü-gung den gleichen Schluss ziehen kann, ist nicht unstreitig. In der Solvay-Entschei-dung, deren Sachverhalt u. a. den Eilantrag auf Unterlassung der im Ausland vorzu-nehmenden Patentverletzungshandlung betrifft96, hat der EuGH trotz einer entspre-chenden Vorlagefrage (Frage Nr. 6) bedauerlicherweise diese Anforderung nicht prä-zisiert. Der österreichische OGH hat in einem ähnlichen Fall, in dem eineösterreichische Gesellschaft einen Antrag auf Unterlassung des in Japan erhobenenwettbewerbswidrigen Patentverletzungsvorwurfs einer italienischen Gesellschaftgestellt hat, offen gelassen, ob die reale Verknüpfung gegeben sein kann, wenn derAntragsgegner Vermögen im Inland besitzt und deswegen die Vollstreckung durchZwangsgeld möglich ist97. Obwohl es angebracht scheint, auf den Vornahmeort derHandlung abzustellen98, wird insoweit die Eilzuständigkeit doch bereits durch etwaArt. 5 Nr. 3 EuGVVO, nämlich den (fiktiven) Hauptsachegerichtsstand, begrün-det99, wodurch sich die Notwendigkeit des Vorliegens einer realen Verknüpfung er-übrigt. Allerdings nützt dem Gläubiger der Vermögensgerichtsstand, wo die Durch-setzung etwa des Zwangsmittels Ordnungsgeld (§ 890 ZPO) am einfachsten erfolgenkann, vor allem dann, wenn z. B. der Antragsgegner im obengenannten Fall in Italiennicht über genug Vermögen verfügen würde und ein entsprechender Antrag in Japaneher ungünstig scheint100. Folgerichtig ist daher die reale Verknüpfung angesichts desGebotes der Effektivität und der vollstreckungsbezogenen Auslegung des Art. 31EuGVVO dann zu bejahen, wenn Zwangsgeld im Erlassstaat ins Vermögen desSchuldners vollstreckt werden kann101. Davon ist die Konstellation zu unterscheiden,in der z. B. der Gläubiger eine vorläufige Anordnung zum Verbot einer das Persön-lichkeitsrecht verletzenden Publikation in Massenmedien erstreiten will. Dazu hatder EuGH in der bekannten Shevill-Entscheidung ausgeführt, dass die Orte, an de-

95 Heinze, a.a.O. (Fn. 89), S. 928.96 EuGH, a.a.O. (Fn. 22), Rdnr. 12 ff.97 OGH, GRUR Int 2011, 450, 452.98 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 25; Spellenberg/

Leible, a.a.O. (Fn. 44), S. 231; die Möglichkeit, eine grenzüberschreitende Unterlassungs-verfügung ohne Hauptsachezuständigkeit zu erlassen, verneinend Nagel/Gottwald, a.a.O.(Fn. 2), S. 732.

99 Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 31 EuGVO Rdnr. 15.100 Andere Überlegungen gehen dahin, dass einerseits die Vollstreckung zur Erwirkung von

Unterlassungen in Italien mangels allgemeiner Einführung des Zwangsgeldes nicht unpro-blematisch ist, R. Stürner, a.a.O. (Fn. 3), S. 209, und andererseits eine ausländische (japa-nische) einstweilige Entscheidung nur selten anerkennungsfähig sein kann, Schack, a.a.O.(Fn. 2), Rdnr. 473, 914, wenngleich § 172 Abs. 1 des japanischen Zwangsvollstreckungs-rechts das Zwangsgeld kennt.

101 Zöller/Geimer, ZPO, 29. Aufl., Art. 31 EuGVVO Rdnr. 7.

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nen die ehrverletzende Veröffentlichung verbreitet wird und an denen der Betroffenebekannt ist, zwar von Art. 5 Nr. 3 EuGVVO erfasst seien102, aber das angerufeneGericht nur zur Entscheidung über die in diesem Staat entstandenen Schäden desBetroffenen zuständig sei103, so dass im Fall eines Eilantrags auf Unterlassung allesolchen Gerichte bereits in der Hauptsache zuständig sind. Folglich bedarf es hierkeiner Prüfung der realen Verknüpfung mehr104.

III. Anerkennung und Vollstreckung der einstweiligen Maßnahme

1. Die Anerkennungsfähigkeit der einstweiligen Entscheidung im Sinne des Art. 32EuGVVO

Dass eine vorläufige Maßnahme des Gerichts auch als eine anerkennungsfähige Ent-scheidung im Rahmen des Kapitels III der EuGVVO angesehen werden kann, wurdeausdrücklich vom EuGH hervorgehoben105. Allerdings besteht im Bezug auf eineEilanordnung der Denilauler-Entscheidung zufolge die konzeptionelle Einschrän-kung, dass die einstweiligen Maßnahmen, deren Erlass ohne Ladung des Antrags-gegners erfolge, aus der Definition des Art. 32 EuGVVO herausfallen sollen106. Inden Augen des EuGH rechtfertigt gerade ein tatsächlich durchgeführtes bzw. voran-gehendes kontradiktorisches Verfahren, in dem das rechtliche Gehör gewahrt wurde,die großzügige Handhabung der Anerkennung und Vollstreckung innerhalb desEuGVÜ bzw. nunmehr der EuGVVO107. Danach müsste den ex parte ergangenenEilmaßnahmen wie etwa dem Arrestbeschluss (§ 922 ZPO) der Überraschungseffekt

102 EuGH, Urteil vom 7. 3. 1995 – Rs. C-68/93 – Shevill/Presse Alliance, NJW 1995, 1881,Rdnr. 29.

103 EuGH, a.a.O. (Fn. 102), Rdnr. 30. Zu bemerken ist, dass diese Shevill-Doktrin neulich imHinblick auf Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Internet durch die eDate-Entschei-dung insoweit relativiert wurde, als der Kläger auch am »maßgeblichen Erfolgsort« seinenAnspruch auf den gesamten Schaden geltend machen kann, EuGH, Urteil vom25. 10. 2011 – Rs. C-509/09 und C-161/10 – eDate/Martinez, GRUR 2012, 300, Rdnr. 52;dazu Leible, Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei Persönlichkeitsver-letzungen im Internet, LMK 2012, 329468.

104 Doch wird die Ansicht vertreten, nach der die vom EuGH entwickelte sog. Mosaiktheorieauf die Wirkung der einstweiligen Unterlassungsverfügung übertragen und sie nur auf dasTerritorium des Erlassstaats beschränkt werden solle, Hess/G. Vollkommer, a.a.O.(Fn. 49), S. 225; Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 54.

105 EuGH, Urteil vom 14. 10. 2004 – Rs. C-39/02 – Mærsk Olie & Gas/de Haan en W. de Boer,BeckRS 2004, 78089, Rdnr. 46; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 32 Brüssel I-VO Rdnr. 11; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 32 EuGVO Rdnr. 21.

106 EuGH, a.a.O. (Fn. 14), Rdnr. 17; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 BrüsselI-VO Rdnr. 36; Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 56. Ob dies besser als Versagungsgrund i.R.d.Art. 34 Nr. 2 EuGVVO überprüft werden soll, ist freilich nicht unstreitig.

107 EuGH, a.a.O. (Fn. 14), Rdnr. 13, 18.

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genommen werden108. Dies kann einem der wichtigen Ziele solcher Maßnahmen zu-widerlaufen und deswegen dem Recht des Antragsstellers auf effektiven Rechts-schutz nicht genug Rechnung tragen. Während der BGH an der genannten Recht-sprechung des EuGH mit der Begründung festhalten will, dass bei der Umgestaltungdes EuGVÜ in die EuGVVO die Reglung des Art. 32 EuGVVO inhaltlich gleichgeblieben sei109, lässt eine andere Ansicht eine nachträgliche Gewährung der Anhö-rung bereits ausreichen110, da der der EuGH-Entscheidung zugrunde liegendeNormgehalt doch nicht unverändert vom Verordnungsgeber übernommen wordensei111. Abgesehen von dem Lösungsansatz, parallele Anträge in verschiedenen Staa-ten zu stellen112, ist wohl auch unter der weiteren Geltung des Anhörungsgebots,welche durch Art. 2 lit. a) S. 3 EuGVVO n. F. nur leicht entschärft wird113, demGläubiger z. B. aus der Perspektive des deutschen Arrestrechts zu empfehlen, zu-nächst vor dem Gericht, in dessen Zuständigkeitsbezirk der streitgegenständlicheVermögensgegenstand bzw. das meiste Vermögen des Schuldners liegt, die (sichern-de) Maßnahme zu beantragen und vor Ort vollstrecken zu lassen. Nachdem die Eil-entscheidung etwa im Widerspruchsverfahren (§ 924 ZPO) bestätigt wurde, kann siedann im Ausland anerkannt sowie vollzogen werden114, soweit die unten beschrie-benen Bedingungen erfüllt sind.

2. Anerkennungshindernisse für einstweilige Maßnahmen im Sinne des Art. 31EuGVVO und die Bewertung des Art. 2 lit. a) Unterabs. 2 EuGVVO n. F.

Ist das rechtliche Gehör im Eilverfahren gewährt, muss die Anerkennungsfähigkeitder einstweiligen Maßnahme wiederum im Zusammenhang mit den jeweiligen Zu-ständigkeitsgrundlagen geprüft werden. Unbestritten können die von (fiktiv) in derHauptsache zuständigen Gerichten erlassenen Eilanordnungen in anderen Mitglied-staaten anerkannt und vollstreckt werden115. Hingegen können die vorläufigen Maß-

108 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 36; Hess, a.a.O.(Fn. 11), S. 371.

109 BGH, GRUR 2007, 813, 814; BGH, NJOZ 2010, 1477.110 Hess, a.a.O. (Fn. 11), S. 371; Geimer, Anmerkung zum BGH-Beschluss vom 21. 12. 2006 –

IX ZB 150/05 (OLG Schleswig), LMK 2007, 212640; Schweizerisches BG, BGE 129 III,626, Rdnr. 5.2.2 (zum LugÜ).

111 Geimer, a.a.O. (Fn. 110); Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 31 EuGVVO Rdnr. 97.112 Nagel/Gottwald, a.a.O. (Fn. 2), S. 733; Kropholler/von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 32

EuGVO Rdnr. 23.113 Diese Anforderung wird im Art. 2 lit. a) S. 3 EuGVVO n. F. insoweit relativiert, als die

Zustellung der Eilanordnung vor Vollstreckung der Anforderung auch genügen kann.114 Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 63 (die gemäß § 925 ZPO ergehende Wider-

spruchsentscheidung [. . .] ist nach Maßgabe der Art. 32 ff. im europäischen Ausland an-zuerkennen und zu vollstrecken).

115 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 37; Kropholler/vonHein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 31 EuGVO Rdnr. 21; Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 71.

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nahmen der Gerichte, die ihre Eilzuständigkeit nach Art. 31 EuGVVO in Verbin-dung mit nationalem Recht begründen, nicht ohne weiteres das besondere Exequa-turverfahren der EuGVVO durchlaufen, da z. B. eine vorläufige Zahlung der ver-traglichen Hauptleistung erst dann zur einstweiligen Maßnahme im Sinne desArt. 31 EuGVVO zählt, wenn sie die zwei Anforderungen, nämlich die Sicherheits-leistung der Rückzahlung sowie die Belegenheit der Vermögensgegenstände im Ge-richtsbezirk, verwirklicht (oben II.3). Dies wirft freilich zuerst die Frage auf, wie dasAnerkennungsgericht die Kompetenzgrundlage des die Eilanordnung erlassendenGerichts überprüfen soll. Dazu brachte der EuGH zum Ausdruck, dass mangelseiner klaren Aussage des Ursprungsgerichts darüber, auf welchem Artikel derEuGVVO die Eilkompetenz beruht, von der Zuständigkeit für den Erlass der einst-weiligen Maßnahme nach Art. 31 EuGVVO ausgegangen werden solle, damit dieVorschriften der Verordnung nicht leicht umgangen werden könnten.116 Im An-schluss daran tritt die zweite Frage zutage, ob bzw. inwiefern die Anerkennung einervom nicht in der Hauptsache zuständigen Gericht ergangenen Anordnung außerhalbder Art. 34, 35 Abs. 1 EuGVVO selbst dann mit der Verneinung des Vorliegens derVermögensbelegenheit, Rückzahlungsgarantie oder der realen Verknüpfung versagtwerden kann, wenn Art. 35 Abs. 3 der Verordnung die Nachprüfung der Zuständig-keit explizit untersagt. Indessen setzt die Fragestellung die Möglichkeit der exterri-torialen Wirkung der Eilmaßnahme dieser Art voraus, welche nicht selbstverständ-lich ist.

Gegen eine derartige Wirkung will man aus den vom EuGH verlangten Anforde-rungen, namentlich der Belegenheit des Vermögens im Gerichtsbezirk, ableiten, dass»eine allgemeine, grundsätzlich in das gesamte Vermögen des Schuldners zu voll-streckende Zahlungspflicht dann nicht mehr angeordnet werden darf«117. VomGrundgedanken der Verordnung her könnten nach anderer Sichtweise die Gründe,mit denen der Verzicht auf die Prüfung der Anerkennungszuständigkeit zu rechtfer-tigen sei, deshalb nicht für die Anerkennung der einstweiligen Maßnahme eines Ge-richts, dessen Eilkompetenz sich auf Art. 31 EuGVVO in Verbindung mit nationa-lem Recht stützt, gelten, weil die Verordnung nur im Hinblick auf genau festgelegteHauptsachezuständigkeitsregeln das gegenseitige Vertrauen schaffe118. Schließlichwird gegen die Anerkennungsfähigkeit derartiger einstweiliger Maßnahmen vorge-bracht, die Anerkennung bei fehlender Anwendbarkeit des Art. 27 EuGVVO könnezu mehreren unvereinbaren Anordnungen führen119. Doch scheinen solche Versu-che, die Extraterritorialität solcher Eilmaßnahmen abzulehnen, zum Scheitern ver-urteilt, denn der EuGH intendierte nicht, die Anerkennung auszuschließen120, son-

116 EuGH, a.a.O. (Fn. 18), Rdnr. 55.117 Stadler, a.a.O. (Fn. 59), S. 1098.118 Wolf, a.a.O. (Fn. 64), S. 17.119 Wolf/Lange, a.a.O. (Fn. 59), S. 60.120 Hess, a.a.O. (Fn. 64), S. 373; Marmisse/Wilderspin, a.a.O. (Fn. 50), p. 678.

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dern er wollte gerade mit der Hervorhebung der Voraussetzungen zugleich rechtlichdie Möglichkeit der Anerkennung eröffnen. Ferner ist es zwar nicht zu leugnen, dassdie Anwendung der autonomen nationalen Eilzuständigkeitsregelungen eine gewisseUnsicherheit ins System der EuGVVO bringt. Dies sollte aber zugunsten der Ur-teilsfreizügigkeit, d. h. des effektiven Rechtsschutzes des Antragstellers, insbesonde-re insoweit hingenommen werden, als das mit dem Eilantrag befasste Gericht seineeigene Eilzuständigkeit anhand der zusätzlichen Voraussetzungen des EuGH vor-sichtig überprüft hat und eine gewisse Nachprüfbarkeit dem Anerkennungsgerichtvorbehalten ist (dazu sogleich). Bezüglich der Gefahr unvereinbarer Entscheidungenist neben dem Eingreifen des Art. 34 Nr. 3, 4 EuGVVO, welches vom EuGH in derItalian Leather-Entscheidung bestätigt wurde, dann noch auf die Anwendbarkeitdes Art. 27 der Verordnung einzugehen, statt der herrschenden ablehnenden Mei-nung schlicht zu folgen.

Steht die grundsätzliche Anerkennungsfähigkeit der einstweiligen Maßnahme, dieam Gerichtsstand nach Art. 31 EuGVVO in Verbindung mit nationalem Recht er-gangen ist, fest121, ist nun die im vorletzten Absatz gestellte Frage nach der Über-prüfung der zusätzlichen Voraussetzungen für Eilmaßnahmen trotz an sich gem.Art. 35 Abs. 3 ausgeschlossener Zuständigkeitsnachprüfung zu beantworten.Art. 35 Abs. 3 EuGVVO steht einer Überprüfung des Anerkennungsgerichts, obdie vorläufige Zahlungsanordnung einer vertraglichen Hauptleistung der Sicher-heitsleistung für die eventuelle Rückzahlung durch den Antragsteller unterliegtund die Anordnung nur bestimmte im Gerichtsbezirk belegene Vermögensgegen-stände betrifft, nicht entgegen, da es bei den zwei Anforderungen nicht um Zustän-digkeitsvoraussetzungen geht, sondern um Anforderungen an den Begriff der einst-weiligen Maßnahme122. Soll aus der Anforderung der realen Verknüpfung keine ter-ritorial beschränkende Wirkung der Eilmaßnahme hervorgehen, ist sie dahin zu ver-stehen, dass der EuGH damit einerseits eine grenzüberschreitende Vollstreckungtatsächlich vermeiden wollte123, während andererseits deren Bedürfnis auch aus Sichtdes Gerichtshofs immerhin dann nicht von der Hand zu weisen ist, wenn – wie imSchrifttum zutreffend ausgeführt wird – »der Schuldner entweder sein Vermögenzwischenzeitlich ins Ausland verbracht hat oder sich entgegen der bei Verfahrens-beginn erfolgten Glaubhaftmachung herausstellt, dass das inländische Vermögen zur

121 Allerdings wird die hier vertretene Ansicht nicht von Art. 2 lit. a) Unterabs. 2 EuGVVOn. F. übernommen, der nur solche einstweiligen Maßnahmen, die von einem nachEuGVVO in der Hauptsache zuständigen Gericht erlassen werden, in den Anwendungs-bereich von Kapitel III der Verordnung bringen will.

122 Die Einordnung der Anordnungen in Tatbestand der einstweiligen Maßnahme ist »sach-logisch verblüffend«, jedoch kann der EuGH deswegen im Anerkennungsstadium diedogmatische Schwierigkeit umgehen, s. Spellenberg/Leible, a.a.O. (Fn. 44), S. 232.

123 Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO, Rdnr. 66; Hess, a.a.O. (Fn. 64), S. 373; Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 38; Kropholler/von Hein,EuZPR, 9. Aufl., Art. 31 EuGVO Rdnr. 24.

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vorläufigen Befriedigung nicht ausreicht«124. Folglich soll der Antragsteller, der dievorläufige Befriedigung eines vertraglichen Anspruchs begehrt, glaubhaft machen,dass das im Inland belegene schuldnerische Vermögen seine Forderung in großemUmfang befriedigen kann. Nur insoweit handelt es sich dabei um eine Beschränkungder Jurisdiktionsgewalt125 bzw. eine gegenständliche Beschränkung der Kognitions-befugnis126, wobei das Eilgericht nicht daran gehindert ist, vollständige Zahlung derganzen Forderung anzuordnen, soweit dies beantragt wird.

Anders als die auf vorläufige Erbringung der vertraglichen Hauptleistung gerich-teten Anforderungen ist die Voraussetzung einer realen Verknüpfung für andere Ar-ten der einstweiligen Maßnahmen entgegen der wohl herrschenden Meinung127 kraftArt. 35 Abs. 3 EuGVVO im Anerkennungsstadium nicht nachzuprüfen128. Dennweder in der Van Uden-Entscheidung noch in der Mietz-Entscheidung wird die realeVerknüpfung als eine begriffliche Einschränkung qualifiziert, sondern vielmehr alsein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal zur Vermeidung der Geltung unangemes-sener Eilgerichtsstände. Unter diesem Verständnis lässt sich die Kritik, dass die Kon-trolle, ob die vom EuGH für Art. 31 EuGVVO aufgestellten zusätzlichen Bedingun-gen eingehalten seien, eine unzulässige Durchbrechung des Überprüfungsverbotsder internationalen Zuständigkeit sei129, zumindest in diesem Rahmen entschärfen.Demzufolge muss das Anerkennungsgericht an die positive Beurteilung des Erlass-gerichts darüber, dass die reale Verknüpfung zwischen der begehrten Maßnahme unddem Erlassgericht vorliegt, selbst dann gebunden sein, wenn sie nach Ansicht desAnerkennungsgerichts unzutreffend scheint, wie dies auch bei Verletzung desArt. 26 Abs. 1 EuGVVO im Hinblick auf die Hauptsachezuständigkeit130 der Fallist. Die einstweiligen Maßnahmen solcher Art sind damit stets in anderen Mitglied-staaten anzuerkennen und zu vollstrecken, sofern es erforderlich ist.

124 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 31 Brüssel I-VO Rdnr. 38; Spellenberg/Leible, a.a.O. (Fn. 44), S. 232.

125 Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 28.126 Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 46.127 Stein/Jonas/Wagner, Art. 31 EuGVVO Rdnr. 66; Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 70; Rau-

scher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 32 Brüssel I-VO Rdnr. 13; Schack, a.a.O.(Fn. 2), Rdnr. 916; Junker, a.a.O. (Fn. 82), S. 216. Zu beachten ist jedoch, dass die reale Ver-knüpfung bei den Erläuterungen nicht von anderen Anforderungen unterschieden wird.

128 Im Falle der Vollstreckbarerklärung eines griechischen dinglichen Arrestes hat das OLGMünchen zunächst ausdrücklich die Übertragung der vom EuGH für die Bezahlung dervertraglichen Hauptleistung bestimmten zwei Voraussetzungen auf den dinglichen Arrestverneint und sodann dem Verbot der Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit ent-sprechend (Art. 28 Abs. 3 EuGVÜ) den stattgebenden Beschluss der Vorinstanz bestätigt,ohne das Vorliegen einer realen Verknüpfung zwischen der beantragten Maßnahme unddem griechischen Eilgericht angesprochen zu haben, OLG München, RIW 2000, 464.

129 Geimer/Schütze, EuZVR, 3. Aufl., Art. 31 EuGVVO Rdnr. 99; Otte, a.a.O. (Fn. 15),Rdnr. 70.

130 S. nur Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 35 Brüssel I-VO Rdnr. 3.

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Obwohl die Extraterritorialität einschließlich der (begrenzten) Überprüfungs-möglichkeit einer Eilentscheidung, die am Gerichtsstand nach Art. 31 EuGVVO inVerbindung mit nationalem Recht ergangen ist, zugunsten der Effektivität desRechtsschutzes den Vorzug verdient, sieht der Gesetzgeber der EuGVVO n. F. in-dessen eine große Gefahr, dass derartige Gerichtsstände zum missbräuchlichen fo-rum shopping einladen können131. Artikel 2 lit. a) S. 2 EuGVVO n. F. bezieht deshalblediglich solche einstweiligen Maßnahmen in den Anwendungsbereich des KapitelsIII der neugefassten Verordnung ein, die vom in der Hauptsache zuständigen Gerichtstammen. Diese Erwägung ist nach dem oben Gesagten wenig überzeugend, da dieVollstreckungsmöglichkeit, die durch die vom EuGH aufgestellten zusätzlichen An-forderungen gesichert ist, den besonderen Eilgerichtsstand rechtfertigen kann undaußerdem die faktische Streitbeilegung am Gerichtsstand nach nationalem Rechtdurch eine Eilentscheidung, etwa ein référé provision, zulasten der Hauptsachezu-ständigkeitsregelung auch als von den Parteien gewollt anzusehen ist, wenn manhierin eine ähnliche Konstellation wie die rügelose Einlassung (Art. 24 EuGVVO)erblickt. Die neue Bestimmung könnte darüber hinaus zur Folge haben, dass sich derAntragsgegner an mehreren Gerichtsständen gegen die jeweils einzureichenden Eil-anträge wehren muss. Dies würde seinem Interesse an der Vermeidung einer Belas-tung durch zahlreiche Verfahren nicht genügend Rechnung tragen. Schließlich istnoch zu bemerken, dass die oben erläuterten Einschränkungen des Art. 31 EuGVVOeinerseits durch die Novelle insofern weniger sinnvoll werden, als sie die dogmati-sche Voraussetzung sowie die Rechtfertigung der späteren Anerkennung darstellen.Allerdings soll andererseits eine derartige europäische Modifikation der nationalenEilgerichtsstände immerhin bei der Beurteilung der Eilkompetenz Anwendung fin-den, da im Anwendungsbereich der Verordnung (Art. 35 EuGVVO n. F.) die natio-nalen Regelungen verdrängt werden132, wodurch die Rechtssicherheit der Zuständig-keit stets aufrechterhalten wird. Nach alledem sollte man deshalb überlegen, ob unterGeltung der EuGVVO n. F. ab 2015 Eilmaßnahmen aus anderen Mitgliedstaatennicht nach autonomem internationalem Anerkennungsrecht, etwa gem. § 328ZPO, unter Berücksichtigung der vom EuGH errichteten Kriterien anzuerkennenund zu vollstrecken sind133.

131 Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on jurisdictionand the recognition and enforcement of judgments in civil and commercial matters of14. 12. 2010, COM (2010) 748 final, S. 9 f; Schack, a.a.O. (Fn. 2), Rdnr. 917.

132 Nagel/Gottwald, a.a.O. (Fn. 2), S. 79 f.; Junker, a.a.O. (Fn. 82), S. 233 f.133 Ob eine ausländische einstweilige Maßnahme nach ZPO anerkennungsfähig ist, ist zwar

im Hinblick auf ihre »Endgültigkeit« nicht unstreitig, doch bejahend MüKo-ZPO/Gott-wald, § 328 ZPO Rdnr. 66; ablehnend Musielak/Stadler, § 328 ZPO Rdnr. 5; differenzie-rend Schack, a.a.O. (Fn. 2), Rdnr. 914.

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3. Die Behandlung sich widersprechender einstweiliger Entscheidungen

Soweit eine einstweilige Maßnahme eines Gerichts, dessen Eilzuständigkeit aufArt. 31 EuGVVO in Verbindung mit nationalem Recht gestützt ist, den zusätzlichenVoraussetzungen, unter denen die reale Verknüpfung nicht nachprüfbar ist, genügt,wird sie wie eine einstweilige Maßnahme des in der Hauptsache zuständigenGerichts behandelt, d. h. anerkannt und vollstreckt. Dies wurde in der ItalianLeather-Entscheidung vom EuGH in Bezug auf die Anwendung des Art. 34 Nr. 3EuGVVO bestätigt, in der sich die eine Unterlassungsverfügung zurückweisendedeutsche Entscheidung, die nicht am Gerichtsstand nach Art. 2 ff. EuGVVO ergan-gen ist, im Inland gegen die den gleichen Anspruch betreffende, dem Antrag jedochstattgebende italienische Eilanordnung, die von dem in der Hauptsache zuständigemGericht erlassen wurde, aufgrund der Unvereinbarkeit durchsetzen konnte134. Damitwird der Literaturansicht, nach welcher die Eilentscheidung eines nach Art. 31EuGVVO zuständigen Gerichts stets derjenigen des Hauptsachegerichts unterge-ordnet werden müsse135, eine Absage erteilt136. Eine derartige Konstellation kannunter der Geltung der EuGVVO n. F. nicht mehr auftreten, da die deutsche abwei-sende Entscheidung gemäß Art. 2 lit. a) Unterabs. 2 EuGVVO n. F. keine »Entschei-dung« im Sinne des Kapitels III einschließlich der Art. 34 Nr. 3 EuGVVO (Art. 45Abs. 1 lit. c) EuGVVO n. F.) mehr darstellt, so dass eine »Unvereinbarkeit der Ent-scheidungen« dem Wortlaut nach ausscheidet. Im umgekehrten Fall kann hingegendie Unvereinbarkeit z. B. im Rahmen des § 328 Abs. 1 Nr. 3 ZPO überprüft werden,wenn derartige einstweilige Maßnahmen nach autonomem Recht anerkennungsfähigsind, was freilich nicht ins europäische Verfahrensrechtssystem fällt. Jedenfalls istdiese Thematik im Hinblick auf zwei unvereinbare Eilanordnungen, die jeweils amGerichtsstand nach Art. 2 ff. EuGVVO ergangen sind, immerhin durchaus sinnvoll.

Die Anwendbarkeit des Art. 34 Nr. 3 EuGVVO, die aus der Einbeziehung dereinstweiligen Maßnahme in den Begriff der Entscheidung im Sinne des Art. 32EuGVVO logischerweise zu folgern ist, bedeutet, dass die Rechtssicherheit sowohlim Interesse des Staates als auch der Parteien137 bezüglich des einstweiligen Rechts-schutzes gewährleistet werden muss, so dass trotz des vorübergehenden Charaktersder Maßnahme kein Ermessen besteht, die der inländischen Entscheidung wider-sprechende Eilmaßnahme anzuerkennen138. Betrachtet man das hier diskutierte Ur-teil zusammen mit der oben besprochenen EuGH-Rechtsprechung zur Einschrän-kung des Art. 31 EuGVVO, liegt es nahe, dass ohne diese Anerkennungsversagungs-

134 EuGH, a.a.O. (Fn. 20), Rdnr. 39, 52.135 Wolf, a.a.O. (Fn. 64), S. 17; Wolf/Lange, a.a.O. (Fn. 59), S. 62.136 Hess, Konkurrierende Unterlassungsverfügung im Europäischen Justizraum, IPRax 2005,

23, 25.137 Stein/Jonas/Oberhammer, Art. 34 EuGVVO Rdnr. 81.138 Fritzsche, Anmerkung zur Rechtsprechung des EuGH, ZZPInt 2002, 250, 254; Kropholler/

von Hein, EuZPR, 9. Aufl., Art. 34 EuGVO Rdnr. 55.

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pflicht der unvereinbaren EU-ausländischen Eilanordnung die Bestrebung, denAntragsgegner vor dem Austesten aller zuständigen Gerichtsstände durch den An-tragsteller zu schützen, nicht gelingen kann139. Hier treffen alle drei Anliegen deseuropäischen Rechtsschutzsystems, nämlich die Effektivität des Rechtsschutzes,die Rechtssicherheit und der Beklagtenschutz (oben I), aufeinander.

Weniger klar ist allerdings die Beurteilung der Unvereinbarkeit in anderen Kon-stellationen, in denen zwei einstweilige Entscheidungen jeweils verschiedene Maß-nahmen bzw. Anordnungsansprüche betreffen. Denkbar ist z. B., dass ein Antrag aufErlass eines deutschen Arrests zur Sicherung einer Forderung mangels Arrestgrun-des (§ 917 ZPO) vom zuständigen Gericht zurückgewiesen wird, während das zu-ständige französische Eilgericht den référé provision zur vorläufigen Befriedigungder gleichen Forderung deshalb erlässt, weil die Schuld nicht mit guten Gründenbestreitbar erscheint (art. 809 al. 2 CPC)140. Beantragt nun der Gläubiger in Deutsch-land die Vollstreckbarerklärung (Art. 38 EuGVVO) der französischen Anordnung,stellt sich die Frage, ob die beiden Entscheidungen unvereinbar sind und somit dieAnerkennung zu versagen ist. Dieselbe Problematik taucht auch dort auf, wo einer-seits der Unternehmer in Frankreich eine mesure conservatoire in Form einer saisieconservatoire141 zur Sicherung seines Zahlungsanspruchs auf restlichen Werklohnund andererseits der Besteller in Deutschland einen Arrestbefehl (§ 922 ZPO) zurSicherung seines Anspruchs auf Rückforderung der Anzahlung sowie Schadenser-satz wegen Schlechterfüllung erstreitet142. In der Italian Leather-Entscheidungsprach der EuGH in Anlehnung an die Hoffmann-Entscheidung143 ausdrücklichaus, dass das Kriterium für die Unvereinbarkeit darin liege, ob die betreffenden Ent-scheidungen sich gegenseitig ausschließende Rechtsfolgen hätten, wobei es gleich-gültig sei, ob die Zulässigkeits- und Verfahrensvoraussetzungen für den Erlass dereinstweiligen Maßnahme in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet seien144.Demzufolge scheint eine Unvereinbarkeit im zuerst genannten Beispielsfall gegebenzu sein, da ungeachtet der Unterschiede der Anordnungsgründe die deutsche abwei-sende Entscheidung bereits die Pfändungsmöglichkeit ins Vermögen des Schuldners(§ 930 Abs. 1 ZPO) verneint, was mit der Durchführung des französischen référéprovision zumindest in der Pfändungsphase (vgl. §§ 928, 803 ff. ZPO) von derRechtsfolge her kollidiert. Hingegen könnte der zweite Beispielsfall nur dann indie Argumentationsreichweite der EuGH- Rechtsprechung fallen, wenn man auchim Hinblick auf den einstweiligen Rechtsschutz die Unvereinbarkeit im Einklang

139 Fritzsche, a.a.O. (Fn. 138), S. 253.140 Der französische Wortlaut lautet: »l’existence de l’obligation n’est pas sérieusement con-

testable,« übersetzt von R. Stürner, a.a.O. (Fn. 3), S. 209.141 Art. 67, 74 ss. Loi n8 91–650 du 9 juillet 1991 portant réforme des procédures civiles d’exé-

cution; vgl. Otte, a.a.O. (Fn. 15), Rdnr. 215 f.142 Der Sachverhalt ist der Entscheidung des OGH, IPRax 2007, 134, nachgebildet.143 EuGH, Urteil vom 4. 2. 1988 – Rs. 145/86 – Hoffmann/Krieg, NJW 1989, 663, Rdnr. 22.144 EuGH, a.a.O. (Fn. 20), Rdnr. 40, 44.

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mit der (fortgebildeten) Kernpunktlehre145 verstehen will146, nach der der Kernpunktder beiden Eilanträge die Frage der Unwirksamkeit bzw. Auflösung des Werkver-trags darstellt und es deshalb um denselben Anspruch im Sinne des Art. 27 EuGVVOgeht147. Indessen ist eine solche Betrachtungsweise abzulehnen, und zwar nicht nuraus dem Grund, dass Art. 34 Nr. 3 EuGVVO eng ausgelegt werden soll148, sondernvor allem auch deshalb, weil die einstweilige Entscheidung keine Rechtskraftwir-kung für die Hauptsache entfaltet149, so dass sich die Rechtsfolgen der beiden Eil-anordnungen, die auf einer widersprüchlich beurteilten gemeinsamen Prämisse auf-bauen, insoweit nicht widerstreiten. Im Ergebnis ist die französische saisie conserva-toire zugunsten des Unternehmers in Deutschland anzuerkennen und zu vollstre-cken. Somit liegt auf der Hand, dass das Zweitgericht den Eilantrag als unzulässigabzuweisen hat, wenn eine anzuerkennende, potentiell unvereinbare einstweiligeEntscheidung eines anderen Eilgerichts bereits vorliegt150.

IV. Schluss

Auch wenn die Systembildung des europäischen einstweiligen Rechtsschutzes pri-mär auf die Effektivität zugunsten des Antragstellers abstellt, ist das Schutzbedürfnisdes öffentlichen Interesses sowie des Antragsgegners doch nicht zu übersehen. Ausdem Verständnis, unterschiedliche und ggf. widersprüchliche Interessen auszubalan-cieren, kann ein dogmatisches System hervorgehen, wenngleich die EuGVVO ein-

145 EuGH, Urteil vom 8. 12. 1987 – Rs 144/86 – Gubisch/Palumbo, NJW 1989, 665, Rdnr. 16;EuGH, Urteil vom 06. 12. 1994 – C-406/92 – The Tatry/Maciej Rataj, JZ 1995, 616,Rdnr. 38 ff.

146 Hess, a.a.O. (Fn. 11), S. 350 (die Unvereinbarkeit bestimmt sich wie im Fall der Art. 27 undArt. 28 EuGVO danach, ob die Entscheidungen sich inhaltlich ausschließen – es gilt dieKernpunktlehre des EuGH).

147 OGH, a.a.O. (Fn. 142), S. 135. Zu beachten ist, dass es sich in dieser OGH-Entscheidungum zwei »Klagen« handelt.

148 Rauscher/Leible, EuZPR/EuIPR (2011), Art. 34 Brüssel I-VO Rdnr. 45; Schack, a.a.O.(Fn. 2), Rdnr. 949 (nur muss das Merkmal »wegen desselben Anspruchs« in Art. 34 Nr. 3und Nr. 4 wesentlich enger als in Art. 27 EuGVO ausgelegt werden); Schlosser, EuGVVO,Art. 34–36 Rdnr. 23(die »Kernpunkt«-Konzeption gilt also hier nicht); Stein/Jonas/Ober-hammer, Art. 34 EuGVVO Rdnr. 87 (solange jedoch keine einheitsrechtliche Rechtskraft-konzeption besteht, darf nicht der Fehler gemacht werden, unmittelbar aus der Kern-punkttheorie auf die Anwendungsfälle der Unvereinbarkeit i. S. v. Nr. 3 und 4 zu schlie-ßen).

149 Art. 488 al. 1 CPC; Jauernig/Berger, a.a.O. (Fn. 1), S. 135, 143; Brox/Walker, a.a.O. (Fn. 1),S. 705. In der Solvay-Entscheidung hat der EuGH aus gleichem Grund die Anwendungdes Art. 22 Nr. 4 EuGVVO auf Art. 31 der Verordnung zutreffend verneint, EuGH,a.a.O. (Fn. 22), Rdnr. 50.

150 M. Stürner, Zur Rechtskraftfähigkeit von Entscheidungen im einstweiligen Rechtsschutz-verfahren, ZZP 125 (2012), 3, 23. Dies setzt freilich eine Rechtskraftwirkung der einstwei-ligen Entscheidung an sich voraus, dazu s. auch Brox/Walker, a.a.O. (Fn. 1), S. 705 ff., 764;Jauernig/Berger, a.a.O. (Fn. 1), S. 135; MüKo-ZPO/Drescher, vor §§ 916 ff. Rdnr. 29 ff.

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schließlich der EuGH-Entscheidungen kein vollständiges Regelwerk anbietet. Un-geachtet der Reform der EuGVVO 2012, die im Hinblick auf die hier behandeltenProbleme freilich nicht einhellig zu begrüßen ist, sind danach zuerst die verschie-denen Zuständigkeitsgrundlagen für den Erlass einer einstweiligen Maßnahme zudifferenzieren, nämlich das tatsächlich mit der Hauptsache befasste Gericht, die fik-tiv in der Hauptsache zuständigen Gerichte und die Gerichtsstände nach Art. 31EuGVVO in Verbindung mit nationalem Recht. Was die beiden letztgenannten Ge-richtsstände angeht, soll die allgemeine Begriffsschranke, d. h. der die Sach- oderRechtslage sichernde Charakter der beantragten Eilmaßnahme, eingreifen, obgleichArt. 31 EuGVVO bei einer auf fiktive Hauptsachezuständigkeit gestützten Eilkom-petenz nicht heranzuziehen ist. Wird ein Eilantrag auf vorläufige Zahlung einer ver-traglichen Hauptleistung bei einem Gericht eingereicht, das seine Zuständigkeit mitArt. 31 EuGVVO in Verbindung mit nationalem Recht begründet, fällt die entspre-chende Maßnahme erst dann in den Anwendungsbereich der Verordnung, wenn eineGarantie der Rückzahlung an den Antragsgegner angeordnet und die Belegenheit derschuldnerischen Vermögensgegenstände im Gerichtsbezirk glaubhaft gemacht ist.Auf die in Gerichtsständen beantragten Eilmaßnahmen, die nicht die vorläufige Er-bringung einer vertraglichen Forderung betreffen, finden diese zusätzlichen begriff-lichen Einschränkungen zwar keine Anwendung. Die Eilzuständigkeit setzt jedocheine nicht ausdrücklich vorgeschriebene reale Verknüpfung zwischen der ersuchtenEilanordnung und dem angerufenen Gericht voraus, worunter die Vollstreckungs-möglichkeit zu verstehen ist. Von der Novelle der EuGVVO bleibt all dies unbe-rührt.

Soweit eine Eilanordnung den oben genannten Anforderungen genügt, kann sie als»Entscheidung« im Sinne des Art. 32 EuGVVO anerkannt werden, es sei denn, einesolche Maßnahme erging im ex parte-Verfahren. Dabei beschränkt sich die Wirkungder qualifizierten Eilanordnung ohne einen entsprechenden Antrag des Antragstel-lers nicht auf den Erlassstaat, wobei es gleichgültig ist, ob sie vom in der Hauptsachezuständigen Gericht erlassen wird. Im Anerkennungsstadium sind die Anforderun-gen an Eilmaßnahmen, die die vorläufige Zahlung einer vertraglichen Hauptleistunganordnen, aufgrund der Einordnung als begriffliche Einschränkung überprüfbar,während das Vorliegen einer realen Verknüpfung hingegen verordnungskonform(Art. 35 Abs. 3 EuGVVO) nicht nachgeprüft werden darf. Ein derart ausgestaltetereinstweiliger Rechtsschutz kann dem Recht des Antragstellers auf effektive Rechts-pflege gerecht werden, jedoch muss der Prozessökonomie, der Einheitlichkeit derEntscheidungen im Binnenmarkt und dem Schutz des Beklagten vor einem Auste-sten der potenziellen Gerichtsstände ausreichend Rechnung getragen werden. Infol-gedessen sollte Art. 27 EuGVVO auch für Eilverfahren gelten. De lege lata sollensomit die Zuständigkeits-, Verfahrenskoordinierungs-, Anerkennungs- und Voll-streckungsregelungen der EuGVVO im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzessystematisiert werden. Bedauerlicherweise weicht die neue Fassung der EuGVVOinsbesondere zum Punkt der Extraterritorialität der Eilmaßnahme nicht unerheblichhiervon ab.

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