Anredekonturen im Luzerndeutschen - Eine intonationale Teilgrammatik - 2008

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Marius Zemp Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonationale Teilgrammatik Universität Bern Institut für Sprachwissenschaft · 2008

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Marius Zemp

Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonationale Teilgrammatik

Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft 2008

I

Inhaltsverzeichnis 1 EINLEITUNG 1

2 INTONATION 3

3 ANREDEINTONATIONEN 4

31 Pike (1945) 4

32 Abe (1962) 5

33 Fox (1969) 7

34 Crystal (1969) 8

36 Lewis (1970) 9

37 Gibbon (1976) 9

38 Leben (1976) 11

39 Liberman (1978) 12

310 Ladd (1978) 13

311 Ladd (1995) 18

312 Gussenhoven (2004) 18

4 ANREDEKONTUREN IM LUZERNDEUTSCHEN 20

41 Vorbemerkungen 20

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning 24

43 Die verschiedenen Basiskonturen 26

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall 26 432 Anstieg 28 44 (Para-)linguistische Faktoren 29

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke 29 442 Tonhoumlhe Intervall 31 443 Tonhoumlhenbewegung 32 444 Dauer 36 445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt 36 446 Schlussfolgerungen 37 45 Die verschiedenen Modifikationen 38

451 Stilisiert 38 452 Wheedling 40 453 Warnend 41 454 Vorwurfsvoll 44 455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd 51 46 Speziellere Konturen 55

II

461 bdquoMilitary Riseldquo 55 462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo 55 47 Zusammenfassung 56

5 SCHLUSSFOLGERUNGEN 58

6 BIBLIOGRAPHIE 59

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1 Einleitung

Wesentlich fuumlr eine phonologische Beschreibung von Intonation ist die Suche nach Erklaumlrungen wieso ein bestimmtes Intonationsmuster an einem gegebenen Ort einsetzt oder einen Gipfel erreicht Diese Suche haumlngt eng zusammen mit der Frage welche Bedeutung einem solchen Intonationsmuster zukommt Bei einer derartigen Untersuchung stellt sich jedoch schon bald die Unsicherheit ein ob denn nun eine zugewiesene Bedeutung tatsaumlchlich ausschliesslich dem unter-suchten Intonationsmuster zukommt oder ob nicht ein wesentlicher Teil davon dem verwendeten Lexikon zuzuschreiben ist Ein einfaches Beispiel Bei ober-flaumlchlicher Betrachtung der Intonation einer Frage wie Wohin gehst du koumlnnte man schnell einmal den Schlussanstieg als Frageintonation identifizieren Schaut man jedoch etwas genauer hin merkt man dass die Frage ja durch das Fragead-verb wohin wie auch durch die Satzstellung gekennzeichnet ist und dass die Frageintonation eigentlich redundant ist Dies zeigt sich auch dadurch dass die gleiche Frage mit etwas anderen Konnotationen (zB erstaunt) mit einem Schlussabstieg intoniert werden kann Bei den meisten Untersuchungen von Intonationsmustern muss also fruumlher oder spaumlter entschieden werden welche Bedeutung nun tatsaumlchlich der Intonation und welche eigentlich dem Lexikon oder der Syntax zukommt Dieses Problem kann man umgehen indem man ein Feld untersucht bei dem die lexikalische Bedeu-tung vernachlaumlssigt werden kann Wird etwa ein Name wie Kim zB isoliert bdquonett bittendldquo ausgesprochen kann man davon ausgehen dass diese Konnota-tion va durch die spezifische Intonation ndash eine auf dem F0-Maximum ver-weilende dann um etwa vier Halbtonschritte sinkende und gegen den Schluss wieder auf das Maximum ansteigende Kontur ndash hervorgerufen wird da dem Namen ausser der deiktischen welche das Wesen der Anrede ausmacht keine eigentliche Bedeutung anhaftet Diese Neutralisierung der Semantik ist es welche eine Untersuchung der verschiedensten Anredeintonationen ndash in dieser Arbeit anhand des luzerndeutschen Dialekts des Autoren vorgenommen ndash speziell interessant und fuumlr die allgemeine Intonationsforschung vielverspre-chend macht1 Wie spaumltestens im vierten Kapitel ersichtlich wird verbleiben genuumlgend andere Probleme bei einer solchen Untersuchung Nicht nur das Lexikon kann mit der Intonation interferieren Bei mehreren anderen Faktoren wie zB der Stimmin-tensitaumlt -qualitaumlt und -quantitaumlt aber auch bei Pitchbewegungen selber muss immer wieder eine schwierige Trennung von Linguistik und Paralinguistik 1 Eine andere Methode dasselbe Problem zu umgehen haben Schaeffler and Summers (1999) gewaumlhlt indem sie bdquodelexicalized (filtered) speech itemsldquo (Schaeffler and Summers 19992311) verwendeten um die prosodischen Eigenheiten deutscher Dialekte zu unter-suchen

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vorgenommen werden Umso mehr lohnt es sich das spezielle Feld der Anrede ndash in dem wenigstens die dem Lexikon anhaftende Semantik neutralisiert ist ndash auf intonatorische Gesichtspunkte hin zu untersuchen Auf der anderen Seite ist das Thema auch wegen seiner Vielfalt faszinierend Wie viele pragmatische Inhalte man uumlbermitteln kann bloss indem man mit der Stimme an einer bestimmten Stelle einen Schlenker nach oben macht oder an einer anderen Stelle einen Halbton tiefer hinab steigt ist erstaunlich Es gilt des-halb auch herauszufinden ob die traditionellen Beschreibungssysteme dieser Vielfalt von Intonationsmustern gewachsen sind Nach einem kurzen theoretischen Abriss uumlber Intonation im Allgemeinen im 2 Kapitel gehe ich im 3 Kapitel ausfuumlhrlicher auf die Literatur zu Anredeintonati-onen im Speziellen ein Insbesondere wird dabei ein Kernpunkt der Interessen der IntonationsforscherInnen die gesungene Rufkontur (engl chanted call) be-leuchtet waumlhrend die restlichen mannigfaltigen Intonationsmuster weniger Be-achtung finden Im 4 Kapitel beschreibe ich die Vielfalt der in meinem eigenen Dialekt angetroffenen Anredeintonationen zu welchen ich durch Introspektive (zu diesem Ansatz vgl 41) gelangte Im Verlauf der Beschaumlftigung mit diesem Thema ergab sich dabei eine erstaunliche Systematik fuumlr deren Verstaumlndnis eine kurze theoretische Einfuumlhrung in die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning2 in 42 vonnoumlten ist Das von Ladd (1995) verwendete Notationsinventar musste an einigen Stellen erweitert werden wurde aber als adaumlquates Mittel zur Beschreibung von Intonationsmustern bestaumltigt indem es in seiner erweiterten Version allen beobachteten linguistisch unterscheidbaren Anredeintonationen (vgl Tab 2 in 47 alle Konturen koumlnnen auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern via den Link httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml eingehoumlrt werden) standhielt Im abschliessenden 5 Kapitel wird va die Frage diskutiert in welchem Ausmass Anredeintonationen Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben koumlnnen Dieses Arbeitspapier ist aus einer 2005 verfassten Seminararbeit mit dem gleichen Titel entstanden Mehrere Personen haben mir in den verschiedenen Phasen dieser Arbeit mit ihren kritischen Anmerkungen geholfen Mein Dank gilt insbesondere Marc Matter Adrian Leemann Prof Beat Siebenhaar Prof Iwar Werlen und Fabienne Tissot Natuumlrlich uumlbernehme ich die alleinige Verantwortung fuumlr verbleibende Maumlngel dieses Arbeitspapiers

2 Diesen Begriff uumlbernehme ich von Ladd (199539)

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2 Intonation

Bei der Definition von Intonation stuumltze ich mich auf Ladds Definition wonach sich Intonation auf den Gebrauch von bdquosuprasegmental phonetic features to convey postlexical or sentence-level pragmatic meanings in a linguistically structured wayldquo (Ladd 19956) bezieht Die durch Ladd kursiv gesetzten Termi-ni sind die zentralen Punkte und beduumlrfen einiger Erklaumlrung Dabei gehe ich nur auf die fuumlr diese Arbeit relevanten beschriebenen Probleme ein 1 Suprasegmental meint ndash in Uumlbereinstimmung mit der gaumlngigen Definition ndash Phaumlnomene bezuumlglich der Grundfrequenz3 Intensitaumlt oder Dauer 2 Intonation schreibt ganzen Phrasen eine Bedeutung zu (Ladd 19957) Sie schliesst somit lexikalische Merkmale wie Betonung Akzent und Ton aus Pho-netisch gibt es natuumlrlich vielfaumlltige Uumlberschneidungen dieser zwei Arten von Phaumlnomenen doch koumlnnen sie meistens auseinander gehalten werden 3 Viel schwieriger von Intonation zu unterscheiden sind paralinguistische bdquofea-tures in which continuously variable physical parameters (eg tempo and loud-ness) directly signal continuously variable states of the speaker (eg degree of involvement or arousal)ldquo (Ladd 19958) Im Gegensatz dazu ist Intonation in bdquocategorically distinct entities (eg low tone or boundary rise) and relations (eg stronger than weaker than)ldquo organisiert Diese Unterscheidung ist haumlufig nicht ganz einfach zu treffen Was laut Ladd (199511) eine intonationale Phonologie mindestens braucht ist bdquoa) a level of description in which the sounds of an utterance are characterised in terms of a relatively small number of categorically distinct entities ndash phonemes features or the like ndash and b) a mapping between such a description and a physi-cal description of the utterance in terms of continuously varying parameters such as an acoustic waveform or tracks of the movement of the articulatorsldquo Ich werde im 4 Kapitel versuchen dieser Forderung auf beiden Beschreibungs-ebenen nachzukommen

3 Die Grundfrequenz wird abwechselnd auch mit F0 oder Pitch bezeichnet mit unter-schiedlichen Implikationen In der hier vorliegenden Arbeit genuumlgt es diese drei Begriffe synonym fuumlr den Verlauf der Stimmhoumlhe zu verwenden Einzelne Abschnitte des Verlaufs dieser Grundfrequenz werden als fallende steigende oder ebene Konturen beschrieben oder als verschiedenste Kombinationen dieser drei

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3 Anredeintonationen

Anredeintonationen oder zumindest gewisse Aspekte davon haben einen Sonderstatus innerhalb der Intonationsforschung Die Rufkontur wird daher schon seit uumlber 60 Jahren von LinguistInnen untersucht Alle hier beigezogenen Forschungsbeitraumlge befassen sich mit der Rufintonation aufgrund ihrer speziel-len Tonalitaumlt insbesondere wegen ihres haumlufig gesungenen Charakters Die Her-angehensweisen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich geartet Auch nehmen die restlichen Anredekonturen ndash wenn sie uumlberhaupt beruumlcksichtigt werden ndash einen unterschiedlich wichtigen Platz darin ein Wie wir jedoch sehen werden gibt es eine grosse Vielfalt an moumlglichen Intonationen mit welchen man eine Person beim Namen ansprechen kann Die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Anredeintonation gruumlndet in meinem Interesse die lexiko-semantische Komponente der Sprache kontrolliert zu halten und umfasst daher alle moumlglichen Adressierungen welche lexikalisch gesehen ausschliesslich aus dem Namen der adressierten Person bestehen Im folgenden Literaturuumlberblick werden die meines Erachtens fuumlr die Eroumlrterung dieser Konturengruppe wesentlichen Beitraumlge beruumlcksichtigt Die Erkenntnisse die ich aus dieser Literaturbetrachtung ziehe werde ich bei der anschliessenden Untersuchung saumlmtlicher beobachteter Intonationsmuster meines eigenen Dia-lekts anwenden und erproben

31 Pike (1945) Die erste substantielle Behandlung der Rufkontur findet sich in Pike (1945) welcher sie innerhalb seiner gesamtheitlichen Betrachtung der Intonation des amerikanischen Englisch mit gesungenen Kinderversen in Zusammenhang stellt bdquoAnother chant uses a deg2-3 contour with each syllable of the primary contour very long and each of the syllables of the precontour somewhat precise or stac-cato and evenly spaced Its meaning is of a CALL often with WARNING by or to childrenldquo (Pike 194571)4 Pike gibt folgende Beispiele fuumlr diese Kontur 4 In Pikes Transkription entsprechen die Nummern 1 bis 4 den vier Ebenen extra-high high mid and low (Pike 194525ndash6) Mit [deg] wird der Beginn bzw die betonte Silbe einer pri-mary contour (Pike 194527) gekennzeichnet durch [] werden Silben gelaumlngt durch [-] zu primaumlren Konturen verbunden und durch [] werden ebendiese voneinander getrennt Eine deg2-3-Kontur beschreibt also den Fall von einer betonten hohen und langen Silbe auf eine mittlere Tonhoumlhe ndash ebenfalls lange ausgehalten ndash hinab Die Majuskelschreibung im obigen Zitat wurde von Pike uumlbernommen

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Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

27

Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

59

6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

I

Inhaltsverzeichnis 1 EINLEITUNG 1

2 INTONATION 3

3 ANREDEINTONATIONEN 4

31 Pike (1945) 4

32 Abe (1962) 5

33 Fox (1969) 7

34 Crystal (1969) 8

36 Lewis (1970) 9

37 Gibbon (1976) 9

38 Leben (1976) 11

39 Liberman (1978) 12

310 Ladd (1978) 13

311 Ladd (1995) 18

312 Gussenhoven (2004) 18

4 ANREDEKONTUREN IM LUZERNDEUTSCHEN 20

41 Vorbemerkungen 20

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning 24

43 Die verschiedenen Basiskonturen 26

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall 26 432 Anstieg 28 44 (Para-)linguistische Faktoren 29

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke 29 442 Tonhoumlhe Intervall 31 443 Tonhoumlhenbewegung 32 444 Dauer 36 445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt 36 446 Schlussfolgerungen 37 45 Die verschiedenen Modifikationen 38

451 Stilisiert 38 452 Wheedling 40 453 Warnend 41 454 Vorwurfsvoll 44 455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd 51 46 Speziellere Konturen 55

II

461 bdquoMilitary Riseldquo 55 462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo 55 47 Zusammenfassung 56

5 SCHLUSSFOLGERUNGEN 58

6 BIBLIOGRAPHIE 59

1

1 Einleitung

Wesentlich fuumlr eine phonologische Beschreibung von Intonation ist die Suche nach Erklaumlrungen wieso ein bestimmtes Intonationsmuster an einem gegebenen Ort einsetzt oder einen Gipfel erreicht Diese Suche haumlngt eng zusammen mit der Frage welche Bedeutung einem solchen Intonationsmuster zukommt Bei einer derartigen Untersuchung stellt sich jedoch schon bald die Unsicherheit ein ob denn nun eine zugewiesene Bedeutung tatsaumlchlich ausschliesslich dem unter-suchten Intonationsmuster zukommt oder ob nicht ein wesentlicher Teil davon dem verwendeten Lexikon zuzuschreiben ist Ein einfaches Beispiel Bei ober-flaumlchlicher Betrachtung der Intonation einer Frage wie Wohin gehst du koumlnnte man schnell einmal den Schlussanstieg als Frageintonation identifizieren Schaut man jedoch etwas genauer hin merkt man dass die Frage ja durch das Fragead-verb wohin wie auch durch die Satzstellung gekennzeichnet ist und dass die Frageintonation eigentlich redundant ist Dies zeigt sich auch dadurch dass die gleiche Frage mit etwas anderen Konnotationen (zB erstaunt) mit einem Schlussabstieg intoniert werden kann Bei den meisten Untersuchungen von Intonationsmustern muss also fruumlher oder spaumlter entschieden werden welche Bedeutung nun tatsaumlchlich der Intonation und welche eigentlich dem Lexikon oder der Syntax zukommt Dieses Problem kann man umgehen indem man ein Feld untersucht bei dem die lexikalische Bedeu-tung vernachlaumlssigt werden kann Wird etwa ein Name wie Kim zB isoliert bdquonett bittendldquo ausgesprochen kann man davon ausgehen dass diese Konnota-tion va durch die spezifische Intonation ndash eine auf dem F0-Maximum ver-weilende dann um etwa vier Halbtonschritte sinkende und gegen den Schluss wieder auf das Maximum ansteigende Kontur ndash hervorgerufen wird da dem Namen ausser der deiktischen welche das Wesen der Anrede ausmacht keine eigentliche Bedeutung anhaftet Diese Neutralisierung der Semantik ist es welche eine Untersuchung der verschiedensten Anredeintonationen ndash in dieser Arbeit anhand des luzerndeutschen Dialekts des Autoren vorgenommen ndash speziell interessant und fuumlr die allgemeine Intonationsforschung vielverspre-chend macht1 Wie spaumltestens im vierten Kapitel ersichtlich wird verbleiben genuumlgend andere Probleme bei einer solchen Untersuchung Nicht nur das Lexikon kann mit der Intonation interferieren Bei mehreren anderen Faktoren wie zB der Stimmin-tensitaumlt -qualitaumlt und -quantitaumlt aber auch bei Pitchbewegungen selber muss immer wieder eine schwierige Trennung von Linguistik und Paralinguistik 1 Eine andere Methode dasselbe Problem zu umgehen haben Schaeffler and Summers (1999) gewaumlhlt indem sie bdquodelexicalized (filtered) speech itemsldquo (Schaeffler and Summers 19992311) verwendeten um die prosodischen Eigenheiten deutscher Dialekte zu unter-suchen

2

vorgenommen werden Umso mehr lohnt es sich das spezielle Feld der Anrede ndash in dem wenigstens die dem Lexikon anhaftende Semantik neutralisiert ist ndash auf intonatorische Gesichtspunkte hin zu untersuchen Auf der anderen Seite ist das Thema auch wegen seiner Vielfalt faszinierend Wie viele pragmatische Inhalte man uumlbermitteln kann bloss indem man mit der Stimme an einer bestimmten Stelle einen Schlenker nach oben macht oder an einer anderen Stelle einen Halbton tiefer hinab steigt ist erstaunlich Es gilt des-halb auch herauszufinden ob die traditionellen Beschreibungssysteme dieser Vielfalt von Intonationsmustern gewachsen sind Nach einem kurzen theoretischen Abriss uumlber Intonation im Allgemeinen im 2 Kapitel gehe ich im 3 Kapitel ausfuumlhrlicher auf die Literatur zu Anredeintonati-onen im Speziellen ein Insbesondere wird dabei ein Kernpunkt der Interessen der IntonationsforscherInnen die gesungene Rufkontur (engl chanted call) be-leuchtet waumlhrend die restlichen mannigfaltigen Intonationsmuster weniger Be-achtung finden Im 4 Kapitel beschreibe ich die Vielfalt der in meinem eigenen Dialekt angetroffenen Anredeintonationen zu welchen ich durch Introspektive (zu diesem Ansatz vgl 41) gelangte Im Verlauf der Beschaumlftigung mit diesem Thema ergab sich dabei eine erstaunliche Systematik fuumlr deren Verstaumlndnis eine kurze theoretische Einfuumlhrung in die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning2 in 42 vonnoumlten ist Das von Ladd (1995) verwendete Notationsinventar musste an einigen Stellen erweitert werden wurde aber als adaumlquates Mittel zur Beschreibung von Intonationsmustern bestaumltigt indem es in seiner erweiterten Version allen beobachteten linguistisch unterscheidbaren Anredeintonationen (vgl Tab 2 in 47 alle Konturen koumlnnen auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern via den Link httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml eingehoumlrt werden) standhielt Im abschliessenden 5 Kapitel wird va die Frage diskutiert in welchem Ausmass Anredeintonationen Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben koumlnnen Dieses Arbeitspapier ist aus einer 2005 verfassten Seminararbeit mit dem gleichen Titel entstanden Mehrere Personen haben mir in den verschiedenen Phasen dieser Arbeit mit ihren kritischen Anmerkungen geholfen Mein Dank gilt insbesondere Marc Matter Adrian Leemann Prof Beat Siebenhaar Prof Iwar Werlen und Fabienne Tissot Natuumlrlich uumlbernehme ich die alleinige Verantwortung fuumlr verbleibende Maumlngel dieses Arbeitspapiers

2 Diesen Begriff uumlbernehme ich von Ladd (199539)

3

2 Intonation

Bei der Definition von Intonation stuumltze ich mich auf Ladds Definition wonach sich Intonation auf den Gebrauch von bdquosuprasegmental phonetic features to convey postlexical or sentence-level pragmatic meanings in a linguistically structured wayldquo (Ladd 19956) bezieht Die durch Ladd kursiv gesetzten Termi-ni sind die zentralen Punkte und beduumlrfen einiger Erklaumlrung Dabei gehe ich nur auf die fuumlr diese Arbeit relevanten beschriebenen Probleme ein 1 Suprasegmental meint ndash in Uumlbereinstimmung mit der gaumlngigen Definition ndash Phaumlnomene bezuumlglich der Grundfrequenz3 Intensitaumlt oder Dauer 2 Intonation schreibt ganzen Phrasen eine Bedeutung zu (Ladd 19957) Sie schliesst somit lexikalische Merkmale wie Betonung Akzent und Ton aus Pho-netisch gibt es natuumlrlich vielfaumlltige Uumlberschneidungen dieser zwei Arten von Phaumlnomenen doch koumlnnen sie meistens auseinander gehalten werden 3 Viel schwieriger von Intonation zu unterscheiden sind paralinguistische bdquofea-tures in which continuously variable physical parameters (eg tempo and loud-ness) directly signal continuously variable states of the speaker (eg degree of involvement or arousal)ldquo (Ladd 19958) Im Gegensatz dazu ist Intonation in bdquocategorically distinct entities (eg low tone or boundary rise) and relations (eg stronger than weaker than)ldquo organisiert Diese Unterscheidung ist haumlufig nicht ganz einfach zu treffen Was laut Ladd (199511) eine intonationale Phonologie mindestens braucht ist bdquoa) a level of description in which the sounds of an utterance are characterised in terms of a relatively small number of categorically distinct entities ndash phonemes features or the like ndash and b) a mapping between such a description and a physi-cal description of the utterance in terms of continuously varying parameters such as an acoustic waveform or tracks of the movement of the articulatorsldquo Ich werde im 4 Kapitel versuchen dieser Forderung auf beiden Beschreibungs-ebenen nachzukommen

3 Die Grundfrequenz wird abwechselnd auch mit F0 oder Pitch bezeichnet mit unter-schiedlichen Implikationen In der hier vorliegenden Arbeit genuumlgt es diese drei Begriffe synonym fuumlr den Verlauf der Stimmhoumlhe zu verwenden Einzelne Abschnitte des Verlaufs dieser Grundfrequenz werden als fallende steigende oder ebene Konturen beschrieben oder als verschiedenste Kombinationen dieser drei

4

3 Anredeintonationen

Anredeintonationen oder zumindest gewisse Aspekte davon haben einen Sonderstatus innerhalb der Intonationsforschung Die Rufkontur wird daher schon seit uumlber 60 Jahren von LinguistInnen untersucht Alle hier beigezogenen Forschungsbeitraumlge befassen sich mit der Rufintonation aufgrund ihrer speziel-len Tonalitaumlt insbesondere wegen ihres haumlufig gesungenen Charakters Die Her-angehensweisen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich geartet Auch nehmen die restlichen Anredekonturen ndash wenn sie uumlberhaupt beruumlcksichtigt werden ndash einen unterschiedlich wichtigen Platz darin ein Wie wir jedoch sehen werden gibt es eine grosse Vielfalt an moumlglichen Intonationen mit welchen man eine Person beim Namen ansprechen kann Die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Anredeintonation gruumlndet in meinem Interesse die lexiko-semantische Komponente der Sprache kontrolliert zu halten und umfasst daher alle moumlglichen Adressierungen welche lexikalisch gesehen ausschliesslich aus dem Namen der adressierten Person bestehen Im folgenden Literaturuumlberblick werden die meines Erachtens fuumlr die Eroumlrterung dieser Konturengruppe wesentlichen Beitraumlge beruumlcksichtigt Die Erkenntnisse die ich aus dieser Literaturbetrachtung ziehe werde ich bei der anschliessenden Untersuchung saumlmtlicher beobachteter Intonationsmuster meines eigenen Dia-lekts anwenden und erproben

31 Pike (1945) Die erste substantielle Behandlung der Rufkontur findet sich in Pike (1945) welcher sie innerhalb seiner gesamtheitlichen Betrachtung der Intonation des amerikanischen Englisch mit gesungenen Kinderversen in Zusammenhang stellt bdquoAnother chant uses a deg2-3 contour with each syllable of the primary contour very long and each of the syllables of the precontour somewhat precise or stac-cato and evenly spaced Its meaning is of a CALL often with WARNING by or to childrenldquo (Pike 194571)4 Pike gibt folgende Beispiele fuumlr diese Kontur 4 In Pikes Transkription entsprechen die Nummern 1 bis 4 den vier Ebenen extra-high high mid and low (Pike 194525ndash6) Mit [deg] wird der Beginn bzw die betonte Silbe einer pri-mary contour (Pike 194527) gekennzeichnet durch [] werden Silben gelaumlngt durch [-] zu primaumlren Konturen verbunden und durch [] werden ebendiese voneinander getrennt Eine deg2-3-Kontur beschreibt also den Fall von einer betonten hohen und langen Silbe auf eine mittlere Tonhoumlhe ndash ebenfalls lange ausgehalten ndash hinab Die Majuskelschreibung im obigen Zitat wurde von Pike uumlbernommen

5

Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

6

ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

7

levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

8

Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

11

38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

17

Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

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26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

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43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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II

461 bdquoMilitary Riseldquo 55 462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo 55 47 Zusammenfassung 56

5 SCHLUSSFOLGERUNGEN 58

6 BIBLIOGRAPHIE 59

1

1 Einleitung

Wesentlich fuumlr eine phonologische Beschreibung von Intonation ist die Suche nach Erklaumlrungen wieso ein bestimmtes Intonationsmuster an einem gegebenen Ort einsetzt oder einen Gipfel erreicht Diese Suche haumlngt eng zusammen mit der Frage welche Bedeutung einem solchen Intonationsmuster zukommt Bei einer derartigen Untersuchung stellt sich jedoch schon bald die Unsicherheit ein ob denn nun eine zugewiesene Bedeutung tatsaumlchlich ausschliesslich dem unter-suchten Intonationsmuster zukommt oder ob nicht ein wesentlicher Teil davon dem verwendeten Lexikon zuzuschreiben ist Ein einfaches Beispiel Bei ober-flaumlchlicher Betrachtung der Intonation einer Frage wie Wohin gehst du koumlnnte man schnell einmal den Schlussanstieg als Frageintonation identifizieren Schaut man jedoch etwas genauer hin merkt man dass die Frage ja durch das Fragead-verb wohin wie auch durch die Satzstellung gekennzeichnet ist und dass die Frageintonation eigentlich redundant ist Dies zeigt sich auch dadurch dass die gleiche Frage mit etwas anderen Konnotationen (zB erstaunt) mit einem Schlussabstieg intoniert werden kann Bei den meisten Untersuchungen von Intonationsmustern muss also fruumlher oder spaumlter entschieden werden welche Bedeutung nun tatsaumlchlich der Intonation und welche eigentlich dem Lexikon oder der Syntax zukommt Dieses Problem kann man umgehen indem man ein Feld untersucht bei dem die lexikalische Bedeu-tung vernachlaumlssigt werden kann Wird etwa ein Name wie Kim zB isoliert bdquonett bittendldquo ausgesprochen kann man davon ausgehen dass diese Konnota-tion va durch die spezifische Intonation ndash eine auf dem F0-Maximum ver-weilende dann um etwa vier Halbtonschritte sinkende und gegen den Schluss wieder auf das Maximum ansteigende Kontur ndash hervorgerufen wird da dem Namen ausser der deiktischen welche das Wesen der Anrede ausmacht keine eigentliche Bedeutung anhaftet Diese Neutralisierung der Semantik ist es welche eine Untersuchung der verschiedensten Anredeintonationen ndash in dieser Arbeit anhand des luzerndeutschen Dialekts des Autoren vorgenommen ndash speziell interessant und fuumlr die allgemeine Intonationsforschung vielverspre-chend macht1 Wie spaumltestens im vierten Kapitel ersichtlich wird verbleiben genuumlgend andere Probleme bei einer solchen Untersuchung Nicht nur das Lexikon kann mit der Intonation interferieren Bei mehreren anderen Faktoren wie zB der Stimmin-tensitaumlt -qualitaumlt und -quantitaumlt aber auch bei Pitchbewegungen selber muss immer wieder eine schwierige Trennung von Linguistik und Paralinguistik 1 Eine andere Methode dasselbe Problem zu umgehen haben Schaeffler and Summers (1999) gewaumlhlt indem sie bdquodelexicalized (filtered) speech itemsldquo (Schaeffler and Summers 19992311) verwendeten um die prosodischen Eigenheiten deutscher Dialekte zu unter-suchen

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vorgenommen werden Umso mehr lohnt es sich das spezielle Feld der Anrede ndash in dem wenigstens die dem Lexikon anhaftende Semantik neutralisiert ist ndash auf intonatorische Gesichtspunkte hin zu untersuchen Auf der anderen Seite ist das Thema auch wegen seiner Vielfalt faszinierend Wie viele pragmatische Inhalte man uumlbermitteln kann bloss indem man mit der Stimme an einer bestimmten Stelle einen Schlenker nach oben macht oder an einer anderen Stelle einen Halbton tiefer hinab steigt ist erstaunlich Es gilt des-halb auch herauszufinden ob die traditionellen Beschreibungssysteme dieser Vielfalt von Intonationsmustern gewachsen sind Nach einem kurzen theoretischen Abriss uumlber Intonation im Allgemeinen im 2 Kapitel gehe ich im 3 Kapitel ausfuumlhrlicher auf die Literatur zu Anredeintonati-onen im Speziellen ein Insbesondere wird dabei ein Kernpunkt der Interessen der IntonationsforscherInnen die gesungene Rufkontur (engl chanted call) be-leuchtet waumlhrend die restlichen mannigfaltigen Intonationsmuster weniger Be-achtung finden Im 4 Kapitel beschreibe ich die Vielfalt der in meinem eigenen Dialekt angetroffenen Anredeintonationen zu welchen ich durch Introspektive (zu diesem Ansatz vgl 41) gelangte Im Verlauf der Beschaumlftigung mit diesem Thema ergab sich dabei eine erstaunliche Systematik fuumlr deren Verstaumlndnis eine kurze theoretische Einfuumlhrung in die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning2 in 42 vonnoumlten ist Das von Ladd (1995) verwendete Notationsinventar musste an einigen Stellen erweitert werden wurde aber als adaumlquates Mittel zur Beschreibung von Intonationsmustern bestaumltigt indem es in seiner erweiterten Version allen beobachteten linguistisch unterscheidbaren Anredeintonationen (vgl Tab 2 in 47 alle Konturen koumlnnen auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern via den Link httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml eingehoumlrt werden) standhielt Im abschliessenden 5 Kapitel wird va die Frage diskutiert in welchem Ausmass Anredeintonationen Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben koumlnnen Dieses Arbeitspapier ist aus einer 2005 verfassten Seminararbeit mit dem gleichen Titel entstanden Mehrere Personen haben mir in den verschiedenen Phasen dieser Arbeit mit ihren kritischen Anmerkungen geholfen Mein Dank gilt insbesondere Marc Matter Adrian Leemann Prof Beat Siebenhaar Prof Iwar Werlen und Fabienne Tissot Natuumlrlich uumlbernehme ich die alleinige Verantwortung fuumlr verbleibende Maumlngel dieses Arbeitspapiers

2 Diesen Begriff uumlbernehme ich von Ladd (199539)

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2 Intonation

Bei der Definition von Intonation stuumltze ich mich auf Ladds Definition wonach sich Intonation auf den Gebrauch von bdquosuprasegmental phonetic features to convey postlexical or sentence-level pragmatic meanings in a linguistically structured wayldquo (Ladd 19956) bezieht Die durch Ladd kursiv gesetzten Termi-ni sind die zentralen Punkte und beduumlrfen einiger Erklaumlrung Dabei gehe ich nur auf die fuumlr diese Arbeit relevanten beschriebenen Probleme ein 1 Suprasegmental meint ndash in Uumlbereinstimmung mit der gaumlngigen Definition ndash Phaumlnomene bezuumlglich der Grundfrequenz3 Intensitaumlt oder Dauer 2 Intonation schreibt ganzen Phrasen eine Bedeutung zu (Ladd 19957) Sie schliesst somit lexikalische Merkmale wie Betonung Akzent und Ton aus Pho-netisch gibt es natuumlrlich vielfaumlltige Uumlberschneidungen dieser zwei Arten von Phaumlnomenen doch koumlnnen sie meistens auseinander gehalten werden 3 Viel schwieriger von Intonation zu unterscheiden sind paralinguistische bdquofea-tures in which continuously variable physical parameters (eg tempo and loud-ness) directly signal continuously variable states of the speaker (eg degree of involvement or arousal)ldquo (Ladd 19958) Im Gegensatz dazu ist Intonation in bdquocategorically distinct entities (eg low tone or boundary rise) and relations (eg stronger than weaker than)ldquo organisiert Diese Unterscheidung ist haumlufig nicht ganz einfach zu treffen Was laut Ladd (199511) eine intonationale Phonologie mindestens braucht ist bdquoa) a level of description in which the sounds of an utterance are characterised in terms of a relatively small number of categorically distinct entities ndash phonemes features or the like ndash and b) a mapping between such a description and a physi-cal description of the utterance in terms of continuously varying parameters such as an acoustic waveform or tracks of the movement of the articulatorsldquo Ich werde im 4 Kapitel versuchen dieser Forderung auf beiden Beschreibungs-ebenen nachzukommen

3 Die Grundfrequenz wird abwechselnd auch mit F0 oder Pitch bezeichnet mit unter-schiedlichen Implikationen In der hier vorliegenden Arbeit genuumlgt es diese drei Begriffe synonym fuumlr den Verlauf der Stimmhoumlhe zu verwenden Einzelne Abschnitte des Verlaufs dieser Grundfrequenz werden als fallende steigende oder ebene Konturen beschrieben oder als verschiedenste Kombinationen dieser drei

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3 Anredeintonationen

Anredeintonationen oder zumindest gewisse Aspekte davon haben einen Sonderstatus innerhalb der Intonationsforschung Die Rufkontur wird daher schon seit uumlber 60 Jahren von LinguistInnen untersucht Alle hier beigezogenen Forschungsbeitraumlge befassen sich mit der Rufintonation aufgrund ihrer speziel-len Tonalitaumlt insbesondere wegen ihres haumlufig gesungenen Charakters Die Her-angehensweisen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich geartet Auch nehmen die restlichen Anredekonturen ndash wenn sie uumlberhaupt beruumlcksichtigt werden ndash einen unterschiedlich wichtigen Platz darin ein Wie wir jedoch sehen werden gibt es eine grosse Vielfalt an moumlglichen Intonationen mit welchen man eine Person beim Namen ansprechen kann Die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Anredeintonation gruumlndet in meinem Interesse die lexiko-semantische Komponente der Sprache kontrolliert zu halten und umfasst daher alle moumlglichen Adressierungen welche lexikalisch gesehen ausschliesslich aus dem Namen der adressierten Person bestehen Im folgenden Literaturuumlberblick werden die meines Erachtens fuumlr die Eroumlrterung dieser Konturengruppe wesentlichen Beitraumlge beruumlcksichtigt Die Erkenntnisse die ich aus dieser Literaturbetrachtung ziehe werde ich bei der anschliessenden Untersuchung saumlmtlicher beobachteter Intonationsmuster meines eigenen Dia-lekts anwenden und erproben

31 Pike (1945) Die erste substantielle Behandlung der Rufkontur findet sich in Pike (1945) welcher sie innerhalb seiner gesamtheitlichen Betrachtung der Intonation des amerikanischen Englisch mit gesungenen Kinderversen in Zusammenhang stellt bdquoAnother chant uses a deg2-3 contour with each syllable of the primary contour very long and each of the syllables of the precontour somewhat precise or stac-cato and evenly spaced Its meaning is of a CALL often with WARNING by or to childrenldquo (Pike 194571)4 Pike gibt folgende Beispiele fuumlr diese Kontur 4 In Pikes Transkription entsprechen die Nummern 1 bis 4 den vier Ebenen extra-high high mid and low (Pike 194525ndash6) Mit [deg] wird der Beginn bzw die betonte Silbe einer pri-mary contour (Pike 194527) gekennzeichnet durch [] werden Silben gelaumlngt durch [-] zu primaumlren Konturen verbunden und durch [] werden ebendiese voneinander getrennt Eine deg2-3-Kontur beschreibt also den Fall von einer betonten hohen und langen Silbe auf eine mittlere Tonhoumlhe ndash ebenfalls lange ausgehalten ndash hinab Die Majuskelschreibung im obigen Zitat wurde von Pike uumlbernommen

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Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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1 Einleitung

Wesentlich fuumlr eine phonologische Beschreibung von Intonation ist die Suche nach Erklaumlrungen wieso ein bestimmtes Intonationsmuster an einem gegebenen Ort einsetzt oder einen Gipfel erreicht Diese Suche haumlngt eng zusammen mit der Frage welche Bedeutung einem solchen Intonationsmuster zukommt Bei einer derartigen Untersuchung stellt sich jedoch schon bald die Unsicherheit ein ob denn nun eine zugewiesene Bedeutung tatsaumlchlich ausschliesslich dem unter-suchten Intonationsmuster zukommt oder ob nicht ein wesentlicher Teil davon dem verwendeten Lexikon zuzuschreiben ist Ein einfaches Beispiel Bei ober-flaumlchlicher Betrachtung der Intonation einer Frage wie Wohin gehst du koumlnnte man schnell einmal den Schlussanstieg als Frageintonation identifizieren Schaut man jedoch etwas genauer hin merkt man dass die Frage ja durch das Fragead-verb wohin wie auch durch die Satzstellung gekennzeichnet ist und dass die Frageintonation eigentlich redundant ist Dies zeigt sich auch dadurch dass die gleiche Frage mit etwas anderen Konnotationen (zB erstaunt) mit einem Schlussabstieg intoniert werden kann Bei den meisten Untersuchungen von Intonationsmustern muss also fruumlher oder spaumlter entschieden werden welche Bedeutung nun tatsaumlchlich der Intonation und welche eigentlich dem Lexikon oder der Syntax zukommt Dieses Problem kann man umgehen indem man ein Feld untersucht bei dem die lexikalische Bedeu-tung vernachlaumlssigt werden kann Wird etwa ein Name wie Kim zB isoliert bdquonett bittendldquo ausgesprochen kann man davon ausgehen dass diese Konnota-tion va durch die spezifische Intonation ndash eine auf dem F0-Maximum ver-weilende dann um etwa vier Halbtonschritte sinkende und gegen den Schluss wieder auf das Maximum ansteigende Kontur ndash hervorgerufen wird da dem Namen ausser der deiktischen welche das Wesen der Anrede ausmacht keine eigentliche Bedeutung anhaftet Diese Neutralisierung der Semantik ist es welche eine Untersuchung der verschiedensten Anredeintonationen ndash in dieser Arbeit anhand des luzerndeutschen Dialekts des Autoren vorgenommen ndash speziell interessant und fuumlr die allgemeine Intonationsforschung vielverspre-chend macht1 Wie spaumltestens im vierten Kapitel ersichtlich wird verbleiben genuumlgend andere Probleme bei einer solchen Untersuchung Nicht nur das Lexikon kann mit der Intonation interferieren Bei mehreren anderen Faktoren wie zB der Stimmin-tensitaumlt -qualitaumlt und -quantitaumlt aber auch bei Pitchbewegungen selber muss immer wieder eine schwierige Trennung von Linguistik und Paralinguistik 1 Eine andere Methode dasselbe Problem zu umgehen haben Schaeffler and Summers (1999) gewaumlhlt indem sie bdquodelexicalized (filtered) speech itemsldquo (Schaeffler and Summers 19992311) verwendeten um die prosodischen Eigenheiten deutscher Dialekte zu unter-suchen

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vorgenommen werden Umso mehr lohnt es sich das spezielle Feld der Anrede ndash in dem wenigstens die dem Lexikon anhaftende Semantik neutralisiert ist ndash auf intonatorische Gesichtspunkte hin zu untersuchen Auf der anderen Seite ist das Thema auch wegen seiner Vielfalt faszinierend Wie viele pragmatische Inhalte man uumlbermitteln kann bloss indem man mit der Stimme an einer bestimmten Stelle einen Schlenker nach oben macht oder an einer anderen Stelle einen Halbton tiefer hinab steigt ist erstaunlich Es gilt des-halb auch herauszufinden ob die traditionellen Beschreibungssysteme dieser Vielfalt von Intonationsmustern gewachsen sind Nach einem kurzen theoretischen Abriss uumlber Intonation im Allgemeinen im 2 Kapitel gehe ich im 3 Kapitel ausfuumlhrlicher auf die Literatur zu Anredeintonati-onen im Speziellen ein Insbesondere wird dabei ein Kernpunkt der Interessen der IntonationsforscherInnen die gesungene Rufkontur (engl chanted call) be-leuchtet waumlhrend die restlichen mannigfaltigen Intonationsmuster weniger Be-achtung finden Im 4 Kapitel beschreibe ich die Vielfalt der in meinem eigenen Dialekt angetroffenen Anredeintonationen zu welchen ich durch Introspektive (zu diesem Ansatz vgl 41) gelangte Im Verlauf der Beschaumlftigung mit diesem Thema ergab sich dabei eine erstaunliche Systematik fuumlr deren Verstaumlndnis eine kurze theoretische Einfuumlhrung in die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning2 in 42 vonnoumlten ist Das von Ladd (1995) verwendete Notationsinventar musste an einigen Stellen erweitert werden wurde aber als adaumlquates Mittel zur Beschreibung von Intonationsmustern bestaumltigt indem es in seiner erweiterten Version allen beobachteten linguistisch unterscheidbaren Anredeintonationen (vgl Tab 2 in 47 alle Konturen koumlnnen auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern via den Link httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml eingehoumlrt werden) standhielt Im abschliessenden 5 Kapitel wird va die Frage diskutiert in welchem Ausmass Anredeintonationen Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben koumlnnen Dieses Arbeitspapier ist aus einer 2005 verfassten Seminararbeit mit dem gleichen Titel entstanden Mehrere Personen haben mir in den verschiedenen Phasen dieser Arbeit mit ihren kritischen Anmerkungen geholfen Mein Dank gilt insbesondere Marc Matter Adrian Leemann Prof Beat Siebenhaar Prof Iwar Werlen und Fabienne Tissot Natuumlrlich uumlbernehme ich die alleinige Verantwortung fuumlr verbleibende Maumlngel dieses Arbeitspapiers

2 Diesen Begriff uumlbernehme ich von Ladd (199539)

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2 Intonation

Bei der Definition von Intonation stuumltze ich mich auf Ladds Definition wonach sich Intonation auf den Gebrauch von bdquosuprasegmental phonetic features to convey postlexical or sentence-level pragmatic meanings in a linguistically structured wayldquo (Ladd 19956) bezieht Die durch Ladd kursiv gesetzten Termi-ni sind die zentralen Punkte und beduumlrfen einiger Erklaumlrung Dabei gehe ich nur auf die fuumlr diese Arbeit relevanten beschriebenen Probleme ein 1 Suprasegmental meint ndash in Uumlbereinstimmung mit der gaumlngigen Definition ndash Phaumlnomene bezuumlglich der Grundfrequenz3 Intensitaumlt oder Dauer 2 Intonation schreibt ganzen Phrasen eine Bedeutung zu (Ladd 19957) Sie schliesst somit lexikalische Merkmale wie Betonung Akzent und Ton aus Pho-netisch gibt es natuumlrlich vielfaumlltige Uumlberschneidungen dieser zwei Arten von Phaumlnomenen doch koumlnnen sie meistens auseinander gehalten werden 3 Viel schwieriger von Intonation zu unterscheiden sind paralinguistische bdquofea-tures in which continuously variable physical parameters (eg tempo and loud-ness) directly signal continuously variable states of the speaker (eg degree of involvement or arousal)ldquo (Ladd 19958) Im Gegensatz dazu ist Intonation in bdquocategorically distinct entities (eg low tone or boundary rise) and relations (eg stronger than weaker than)ldquo organisiert Diese Unterscheidung ist haumlufig nicht ganz einfach zu treffen Was laut Ladd (199511) eine intonationale Phonologie mindestens braucht ist bdquoa) a level of description in which the sounds of an utterance are characterised in terms of a relatively small number of categorically distinct entities ndash phonemes features or the like ndash and b) a mapping between such a description and a physi-cal description of the utterance in terms of continuously varying parameters such as an acoustic waveform or tracks of the movement of the articulatorsldquo Ich werde im 4 Kapitel versuchen dieser Forderung auf beiden Beschreibungs-ebenen nachzukommen

3 Die Grundfrequenz wird abwechselnd auch mit F0 oder Pitch bezeichnet mit unter-schiedlichen Implikationen In der hier vorliegenden Arbeit genuumlgt es diese drei Begriffe synonym fuumlr den Verlauf der Stimmhoumlhe zu verwenden Einzelne Abschnitte des Verlaufs dieser Grundfrequenz werden als fallende steigende oder ebene Konturen beschrieben oder als verschiedenste Kombinationen dieser drei

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3 Anredeintonationen

Anredeintonationen oder zumindest gewisse Aspekte davon haben einen Sonderstatus innerhalb der Intonationsforschung Die Rufkontur wird daher schon seit uumlber 60 Jahren von LinguistInnen untersucht Alle hier beigezogenen Forschungsbeitraumlge befassen sich mit der Rufintonation aufgrund ihrer speziel-len Tonalitaumlt insbesondere wegen ihres haumlufig gesungenen Charakters Die Her-angehensweisen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich geartet Auch nehmen die restlichen Anredekonturen ndash wenn sie uumlberhaupt beruumlcksichtigt werden ndash einen unterschiedlich wichtigen Platz darin ein Wie wir jedoch sehen werden gibt es eine grosse Vielfalt an moumlglichen Intonationen mit welchen man eine Person beim Namen ansprechen kann Die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Anredeintonation gruumlndet in meinem Interesse die lexiko-semantische Komponente der Sprache kontrolliert zu halten und umfasst daher alle moumlglichen Adressierungen welche lexikalisch gesehen ausschliesslich aus dem Namen der adressierten Person bestehen Im folgenden Literaturuumlberblick werden die meines Erachtens fuumlr die Eroumlrterung dieser Konturengruppe wesentlichen Beitraumlge beruumlcksichtigt Die Erkenntnisse die ich aus dieser Literaturbetrachtung ziehe werde ich bei der anschliessenden Untersuchung saumlmtlicher beobachteter Intonationsmuster meines eigenen Dia-lekts anwenden und erproben

31 Pike (1945) Die erste substantielle Behandlung der Rufkontur findet sich in Pike (1945) welcher sie innerhalb seiner gesamtheitlichen Betrachtung der Intonation des amerikanischen Englisch mit gesungenen Kinderversen in Zusammenhang stellt bdquoAnother chant uses a deg2-3 contour with each syllable of the primary contour very long and each of the syllables of the precontour somewhat precise or stac-cato and evenly spaced Its meaning is of a CALL often with WARNING by or to childrenldquo (Pike 194571)4 Pike gibt folgende Beispiele fuumlr diese Kontur 4 In Pikes Transkription entsprechen die Nummern 1 bis 4 den vier Ebenen extra-high high mid and low (Pike 194525ndash6) Mit [deg] wird der Beginn bzw die betonte Silbe einer pri-mary contour (Pike 194527) gekennzeichnet durch [] werden Silben gelaumlngt durch [-] zu primaumlren Konturen verbunden und durch [] werden ebendiese voneinander getrennt Eine deg2-3-Kontur beschreibt also den Fall von einer betonten hohen und langen Silbe auf eine mittlere Tonhoumlhe ndash ebenfalls lange ausgehalten ndash hinab Die Majuskelschreibung im obigen Zitat wurde von Pike uumlbernommen

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Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

37

Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

38

45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

39

Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

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6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

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19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

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25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

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36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

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39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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vorgenommen werden Umso mehr lohnt es sich das spezielle Feld der Anrede ndash in dem wenigstens die dem Lexikon anhaftende Semantik neutralisiert ist ndash auf intonatorische Gesichtspunkte hin zu untersuchen Auf der anderen Seite ist das Thema auch wegen seiner Vielfalt faszinierend Wie viele pragmatische Inhalte man uumlbermitteln kann bloss indem man mit der Stimme an einer bestimmten Stelle einen Schlenker nach oben macht oder an einer anderen Stelle einen Halbton tiefer hinab steigt ist erstaunlich Es gilt des-halb auch herauszufinden ob die traditionellen Beschreibungssysteme dieser Vielfalt von Intonationsmustern gewachsen sind Nach einem kurzen theoretischen Abriss uumlber Intonation im Allgemeinen im 2 Kapitel gehe ich im 3 Kapitel ausfuumlhrlicher auf die Literatur zu Anredeintonati-onen im Speziellen ein Insbesondere wird dabei ein Kernpunkt der Interessen der IntonationsforscherInnen die gesungene Rufkontur (engl chanted call) be-leuchtet waumlhrend die restlichen mannigfaltigen Intonationsmuster weniger Be-achtung finden Im 4 Kapitel beschreibe ich die Vielfalt der in meinem eigenen Dialekt angetroffenen Anredeintonationen zu welchen ich durch Introspektive (zu diesem Ansatz vgl 41) gelangte Im Verlauf der Beschaumlftigung mit diesem Thema ergab sich dabei eine erstaunliche Systematik fuumlr deren Verstaumlndnis eine kurze theoretische Einfuumlhrung in die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning2 in 42 vonnoumlten ist Das von Ladd (1995) verwendete Notationsinventar musste an einigen Stellen erweitert werden wurde aber als adaumlquates Mittel zur Beschreibung von Intonationsmustern bestaumltigt indem es in seiner erweiterten Version allen beobachteten linguistisch unterscheidbaren Anredeintonationen (vgl Tab 2 in 47 alle Konturen koumlnnen auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern via den Link httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml eingehoumlrt werden) standhielt Im abschliessenden 5 Kapitel wird va die Frage diskutiert in welchem Ausmass Anredeintonationen Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben koumlnnen Dieses Arbeitspapier ist aus einer 2005 verfassten Seminararbeit mit dem gleichen Titel entstanden Mehrere Personen haben mir in den verschiedenen Phasen dieser Arbeit mit ihren kritischen Anmerkungen geholfen Mein Dank gilt insbesondere Marc Matter Adrian Leemann Prof Beat Siebenhaar Prof Iwar Werlen und Fabienne Tissot Natuumlrlich uumlbernehme ich die alleinige Verantwortung fuumlr verbleibende Maumlngel dieses Arbeitspapiers

2 Diesen Begriff uumlbernehme ich von Ladd (199539)

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2 Intonation

Bei der Definition von Intonation stuumltze ich mich auf Ladds Definition wonach sich Intonation auf den Gebrauch von bdquosuprasegmental phonetic features to convey postlexical or sentence-level pragmatic meanings in a linguistically structured wayldquo (Ladd 19956) bezieht Die durch Ladd kursiv gesetzten Termi-ni sind die zentralen Punkte und beduumlrfen einiger Erklaumlrung Dabei gehe ich nur auf die fuumlr diese Arbeit relevanten beschriebenen Probleme ein 1 Suprasegmental meint ndash in Uumlbereinstimmung mit der gaumlngigen Definition ndash Phaumlnomene bezuumlglich der Grundfrequenz3 Intensitaumlt oder Dauer 2 Intonation schreibt ganzen Phrasen eine Bedeutung zu (Ladd 19957) Sie schliesst somit lexikalische Merkmale wie Betonung Akzent und Ton aus Pho-netisch gibt es natuumlrlich vielfaumlltige Uumlberschneidungen dieser zwei Arten von Phaumlnomenen doch koumlnnen sie meistens auseinander gehalten werden 3 Viel schwieriger von Intonation zu unterscheiden sind paralinguistische bdquofea-tures in which continuously variable physical parameters (eg tempo and loud-ness) directly signal continuously variable states of the speaker (eg degree of involvement or arousal)ldquo (Ladd 19958) Im Gegensatz dazu ist Intonation in bdquocategorically distinct entities (eg low tone or boundary rise) and relations (eg stronger than weaker than)ldquo organisiert Diese Unterscheidung ist haumlufig nicht ganz einfach zu treffen Was laut Ladd (199511) eine intonationale Phonologie mindestens braucht ist bdquoa) a level of description in which the sounds of an utterance are characterised in terms of a relatively small number of categorically distinct entities ndash phonemes features or the like ndash and b) a mapping between such a description and a physi-cal description of the utterance in terms of continuously varying parameters such as an acoustic waveform or tracks of the movement of the articulatorsldquo Ich werde im 4 Kapitel versuchen dieser Forderung auf beiden Beschreibungs-ebenen nachzukommen

3 Die Grundfrequenz wird abwechselnd auch mit F0 oder Pitch bezeichnet mit unter-schiedlichen Implikationen In der hier vorliegenden Arbeit genuumlgt es diese drei Begriffe synonym fuumlr den Verlauf der Stimmhoumlhe zu verwenden Einzelne Abschnitte des Verlaufs dieser Grundfrequenz werden als fallende steigende oder ebene Konturen beschrieben oder als verschiedenste Kombinationen dieser drei

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3 Anredeintonationen

Anredeintonationen oder zumindest gewisse Aspekte davon haben einen Sonderstatus innerhalb der Intonationsforschung Die Rufkontur wird daher schon seit uumlber 60 Jahren von LinguistInnen untersucht Alle hier beigezogenen Forschungsbeitraumlge befassen sich mit der Rufintonation aufgrund ihrer speziel-len Tonalitaumlt insbesondere wegen ihres haumlufig gesungenen Charakters Die Her-angehensweisen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich geartet Auch nehmen die restlichen Anredekonturen ndash wenn sie uumlberhaupt beruumlcksichtigt werden ndash einen unterschiedlich wichtigen Platz darin ein Wie wir jedoch sehen werden gibt es eine grosse Vielfalt an moumlglichen Intonationen mit welchen man eine Person beim Namen ansprechen kann Die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Anredeintonation gruumlndet in meinem Interesse die lexiko-semantische Komponente der Sprache kontrolliert zu halten und umfasst daher alle moumlglichen Adressierungen welche lexikalisch gesehen ausschliesslich aus dem Namen der adressierten Person bestehen Im folgenden Literaturuumlberblick werden die meines Erachtens fuumlr die Eroumlrterung dieser Konturengruppe wesentlichen Beitraumlge beruumlcksichtigt Die Erkenntnisse die ich aus dieser Literaturbetrachtung ziehe werde ich bei der anschliessenden Untersuchung saumlmtlicher beobachteter Intonationsmuster meines eigenen Dia-lekts anwenden und erproben

31 Pike (1945) Die erste substantielle Behandlung der Rufkontur findet sich in Pike (1945) welcher sie innerhalb seiner gesamtheitlichen Betrachtung der Intonation des amerikanischen Englisch mit gesungenen Kinderversen in Zusammenhang stellt bdquoAnother chant uses a deg2-3 contour with each syllable of the primary contour very long and each of the syllables of the precontour somewhat precise or stac-cato and evenly spaced Its meaning is of a CALL often with WARNING by or to childrenldquo (Pike 194571)4 Pike gibt folgende Beispiele fuumlr diese Kontur 4 In Pikes Transkription entsprechen die Nummern 1 bis 4 den vier Ebenen extra-high high mid and low (Pike 194525ndash6) Mit [deg] wird der Beginn bzw die betonte Silbe einer pri-mary contour (Pike 194527) gekennzeichnet durch [] werden Silben gelaumlngt durch [-] zu primaumlren Konturen verbunden und durch [] werden ebendiese voneinander getrennt Eine deg2-3-Kontur beschreibt also den Fall von einer betonten hohen und langen Silbe auf eine mittlere Tonhoumlhe ndash ebenfalls lange ausgehalten ndash hinab Die Majuskelschreibung im obigen Zitat wurde von Pike uumlbernommen

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Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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2 Intonation

Bei der Definition von Intonation stuumltze ich mich auf Ladds Definition wonach sich Intonation auf den Gebrauch von bdquosuprasegmental phonetic features to convey postlexical or sentence-level pragmatic meanings in a linguistically structured wayldquo (Ladd 19956) bezieht Die durch Ladd kursiv gesetzten Termi-ni sind die zentralen Punkte und beduumlrfen einiger Erklaumlrung Dabei gehe ich nur auf die fuumlr diese Arbeit relevanten beschriebenen Probleme ein 1 Suprasegmental meint ndash in Uumlbereinstimmung mit der gaumlngigen Definition ndash Phaumlnomene bezuumlglich der Grundfrequenz3 Intensitaumlt oder Dauer 2 Intonation schreibt ganzen Phrasen eine Bedeutung zu (Ladd 19957) Sie schliesst somit lexikalische Merkmale wie Betonung Akzent und Ton aus Pho-netisch gibt es natuumlrlich vielfaumlltige Uumlberschneidungen dieser zwei Arten von Phaumlnomenen doch koumlnnen sie meistens auseinander gehalten werden 3 Viel schwieriger von Intonation zu unterscheiden sind paralinguistische bdquofea-tures in which continuously variable physical parameters (eg tempo and loud-ness) directly signal continuously variable states of the speaker (eg degree of involvement or arousal)ldquo (Ladd 19958) Im Gegensatz dazu ist Intonation in bdquocategorically distinct entities (eg low tone or boundary rise) and relations (eg stronger than weaker than)ldquo organisiert Diese Unterscheidung ist haumlufig nicht ganz einfach zu treffen Was laut Ladd (199511) eine intonationale Phonologie mindestens braucht ist bdquoa) a level of description in which the sounds of an utterance are characterised in terms of a relatively small number of categorically distinct entities ndash phonemes features or the like ndash and b) a mapping between such a description and a physi-cal description of the utterance in terms of continuously varying parameters such as an acoustic waveform or tracks of the movement of the articulatorsldquo Ich werde im 4 Kapitel versuchen dieser Forderung auf beiden Beschreibungs-ebenen nachzukommen

3 Die Grundfrequenz wird abwechselnd auch mit F0 oder Pitch bezeichnet mit unter-schiedlichen Implikationen In der hier vorliegenden Arbeit genuumlgt es diese drei Begriffe synonym fuumlr den Verlauf der Stimmhoumlhe zu verwenden Einzelne Abschnitte des Verlaufs dieser Grundfrequenz werden als fallende steigende oder ebene Konturen beschrieben oder als verschiedenste Kombinationen dieser drei

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3 Anredeintonationen

Anredeintonationen oder zumindest gewisse Aspekte davon haben einen Sonderstatus innerhalb der Intonationsforschung Die Rufkontur wird daher schon seit uumlber 60 Jahren von LinguistInnen untersucht Alle hier beigezogenen Forschungsbeitraumlge befassen sich mit der Rufintonation aufgrund ihrer speziel-len Tonalitaumlt insbesondere wegen ihres haumlufig gesungenen Charakters Die Her-angehensweisen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich geartet Auch nehmen die restlichen Anredekonturen ndash wenn sie uumlberhaupt beruumlcksichtigt werden ndash einen unterschiedlich wichtigen Platz darin ein Wie wir jedoch sehen werden gibt es eine grosse Vielfalt an moumlglichen Intonationen mit welchen man eine Person beim Namen ansprechen kann Die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Anredeintonation gruumlndet in meinem Interesse die lexiko-semantische Komponente der Sprache kontrolliert zu halten und umfasst daher alle moumlglichen Adressierungen welche lexikalisch gesehen ausschliesslich aus dem Namen der adressierten Person bestehen Im folgenden Literaturuumlberblick werden die meines Erachtens fuumlr die Eroumlrterung dieser Konturengruppe wesentlichen Beitraumlge beruumlcksichtigt Die Erkenntnisse die ich aus dieser Literaturbetrachtung ziehe werde ich bei der anschliessenden Untersuchung saumlmtlicher beobachteter Intonationsmuster meines eigenen Dia-lekts anwenden und erproben

31 Pike (1945) Die erste substantielle Behandlung der Rufkontur findet sich in Pike (1945) welcher sie innerhalb seiner gesamtheitlichen Betrachtung der Intonation des amerikanischen Englisch mit gesungenen Kinderversen in Zusammenhang stellt bdquoAnother chant uses a deg2-3 contour with each syllable of the primary contour very long and each of the syllables of the precontour somewhat precise or stac-cato and evenly spaced Its meaning is of a CALL often with WARNING by or to childrenldquo (Pike 194571)4 Pike gibt folgende Beispiele fuumlr diese Kontur 4 In Pikes Transkription entsprechen die Nummern 1 bis 4 den vier Ebenen extra-high high mid and low (Pike 194525ndash6) Mit [deg] wird der Beginn bzw die betonte Silbe einer pri-mary contour (Pike 194527) gekennzeichnet durch [] werden Silben gelaumlngt durch [-] zu primaumlren Konturen verbunden und durch [] werden ebendiese voneinander getrennt Eine deg2-3-Kontur beschreibt also den Fall von einer betonten hohen und langen Silbe auf eine mittlere Tonhoumlhe ndash ebenfalls lange ausgehalten ndash hinab Die Majuskelschreibung im obigen Zitat wurde von Pike uumlbernommen

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Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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3 Anredeintonationen

Anredeintonationen oder zumindest gewisse Aspekte davon haben einen Sonderstatus innerhalb der Intonationsforschung Die Rufkontur wird daher schon seit uumlber 60 Jahren von LinguistInnen untersucht Alle hier beigezogenen Forschungsbeitraumlge befassen sich mit der Rufintonation aufgrund ihrer speziel-len Tonalitaumlt insbesondere wegen ihres haumlufig gesungenen Charakters Die Her-angehensweisen und Interessen sind dabei sehr unterschiedlich geartet Auch nehmen die restlichen Anredekonturen ndash wenn sie uumlberhaupt beruumlcksichtigt werden ndash einen unterschiedlich wichtigen Platz darin ein Wie wir jedoch sehen werden gibt es eine grosse Vielfalt an moumlglichen Intonationen mit welchen man eine Person beim Namen ansprechen kann Die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Anredeintonation gruumlndet in meinem Interesse die lexiko-semantische Komponente der Sprache kontrolliert zu halten und umfasst daher alle moumlglichen Adressierungen welche lexikalisch gesehen ausschliesslich aus dem Namen der adressierten Person bestehen Im folgenden Literaturuumlberblick werden die meines Erachtens fuumlr die Eroumlrterung dieser Konturengruppe wesentlichen Beitraumlge beruumlcksichtigt Die Erkenntnisse die ich aus dieser Literaturbetrachtung ziehe werde ich bei der anschliessenden Untersuchung saumlmtlicher beobachteter Intonationsmuster meines eigenen Dia-lekts anwenden und erproben

31 Pike (1945) Die erste substantielle Behandlung der Rufkontur findet sich in Pike (1945) welcher sie innerhalb seiner gesamtheitlichen Betrachtung der Intonation des amerikanischen Englisch mit gesungenen Kinderversen in Zusammenhang stellt bdquoAnother chant uses a deg2-3 contour with each syllable of the primary contour very long and each of the syllables of the precontour somewhat precise or stac-cato and evenly spaced Its meaning is of a CALL often with WARNING by or to childrenldquo (Pike 194571)4 Pike gibt folgende Beispiele fuumlr diese Kontur 4 In Pikes Transkription entsprechen die Nummern 1 bis 4 den vier Ebenen extra-high high mid and low (Pike 194525ndash6) Mit [deg] wird der Beginn bzw die betonte Silbe einer pri-mary contour (Pike 194527) gekennzeichnet durch [] werden Silben gelaumlngt durch [-] zu primaumlren Konturen verbunden und durch [] werden ebendiese voneinander getrennt Eine deg2-3-Kontur beschreibt also den Fall von einer betonten hohen und langen Silbe auf eine mittlere Tonhoumlhe ndash ebenfalls lange ausgehalten ndash hinab Die Majuskelschreibung im obigen Zitat wurde von Pike uumlbernommen

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Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

27

Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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Tommie come here deg2-3 4- deg2-3 Hurry the train is going to leave deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Mommy I want a drink of water deg2-3 3- -3- -3- -3- -3- deg2-3 Bei Pike finden sich auch erste Hinweise auf eine zweite Rufkontur Er bezieht sich in Fussnote 115 (Pike 1945187ndash8) auf Dr Eugene A Nida laut welchem der zweite Ton tief sei wenn der Gerufene (Tommy) in Sichtweite ist Gemaumlss Pike wird diese Kontur verwendet um der mehrmals wiederholten deg2-3-Kontur Nachdruck zu verleihen und zwar dann wenn der Sprecher weiss dass der Ad-ressat ihn houmlren kann auch wenn er nicht sichtbar ist Gleichzeitig aber wuumlrde Pike das Fallen auf die unterste pitch-Ebene 4 mit bdquoextra-strong stress normal quantity and lack of a chanting typeldquo (Pike 1946188) begleiten Es wuumlrde sich also seines Erachtens nicht mehr um einen bdquochantldquo ndash also eine quasi gesungene Kontur ndash handeln da bdquoregular rules of attention and emphasisldquo zur Anwendung kaumlmen

32 Abe (1962) Abe unterscheidet vier hauptsaumlchliche5 Typ I high-downglide suspended Typ II upglide suspended Typ III simple fall Typ IV simple rise6 Graphisch stellt Abe (1962520) die vier Typen folgendermassen dar7

Bei Typ I handelt es sich um die von Pike beschriebene deg2-3-Kontur Abe er-gaumlnzt deren Beschreibung um zwei moumlgliche Aufwaumlrtsschlenker am Anfang und am Schluss der Kontur Den ersten beschreibt er undeutlich bdquoyou start by rais-

5 Die von Abe hier uumlbernommenen Bezeichnungen werden im folgenden Text erlaumlutert 6 Im Folgenden verwende ich fuumlr den rise den deutschen Ausdruck Anstieg waumlhrend ich den fall auch im Deutschen Fall nenne 7 Johnny ist ein beliebiger Name der nur zur Illustration der verschiedenen Konturen dient

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

27

Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

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ing your voice quite high on the first syllable Johnldquo (Abe 1962519) haumllt ihn aber graphisch fest Den zweiten Aufwaumlrtsschlenker unterschlaumlgt er in seiner graphischen Darstellung da sein Typ I bdquowith or without slight terminal riseldquo (Abe 1962519) vorkomme Wie wir spaumlter sehen werden ist das Auftreten bzw Nichtauftreten dieses Schlussschlenkers fuumlr die Pragmatik einer Anrede durch-aus von Bedeutung Bei Typ III faumlllt die Stimme des Sprechers bdquoas it moves from the first syllable to the second with the second syllable ending in a completely falling toneldquo (Abe 1962519) Die Bezeichnung simple fall ist hinsichtlich der spaumlteren Intonations-forschung etwas verfaumlnglich weil sie da fuumlr den Fall mit dem typischen Intervall von vier Halbtonschritten verwendet wird und diesen von dem von Abe gemein-ten tiefen Fall ndash mit dem typischen Intervall einer Quint (sieben Halbtonschritte) und mehr ndash unterscheidet Dass Abe diesen letzteren Fall beschreibt wird klar wenn er ihn als bdquoreiterated callldquo untersucht Wenn derselbe Fall naumlmlich wied-erholt wird vergroumlssert sich das Intervall kontinuierlich von anfaumlnglich einer Quint bis zu uumlber einer Oktave wie Abe Spencer (1951) entnimmt Dieses Wachsen des Intervalls widerspiegle zugleich die bdquoincreasing annoyanceldquo des Sprechers und stimme damit uumlberein dass bdquoto make large intervals requires more muscular action than to make small onesldquo8 (Spencer 1951) Abe bezeich-net nun diese Kontur als simple fall um ihn vom high-downglide zu unterschei-den der eben zusaumltzlich suspended ist also auf einer ebenen Tonhoumlhe gedehnt realisiert wird Wichtig ist ausserdem Abes Unterscheidung zwischen echten calls wie den er-sten zwei Typen und unechten calls bzw address contours wie den Typen III und IV Gemaumlss Abe hat Distanz zwischen Rufer und Houmlrer nicht nur eine Auswirkung auf die Lautstaumlrke sondern

The genuine call invariably ends in a mid-suspended tone whenever and wherever distance matters This long level stretch of tone is admittedly an effective means to carry oneacutes voice far or to ring it above other types of sound ndash eg noise ndash even in case the person being called is within easy touching distance (Abe 1962522)

Diese Erklaumlrung des Wesens der Rufkontur wird erst von Ladd (1978) ange-fochten hat aber trotzdem bis heute groumlsstenteils ihre Akzeptanz behalten Neu bei Abe im Vergleich zu Pike sind die restlichen zwei Typen bei welchen der zweite Ton houmlher ist als der erste Gemaumlss Abe (1962522) kann nun Typ IV als Alloton von Typ II betrachtet werden bei welchem der Sprecher bdquoon a lower 8 Allgemein verlangen mittlere Toumlne bdquono appreciable effort of muscular adjustmentldquo waumlhrend der Aufwand waumlchst bdquoas we either ascend or descendldquo Daraus folgt Abe dass bdquoa departure from the middle notes in either direction will mark increasing emotion while a return towards the middle notes will mark decreasing emotionldquo (Spencer 1951)

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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levelldquo beginnt und seine Stimme auf die letzte Silbe bdquowhich is kept level as in Type Ildquo hinaufbewegt (Abe 1962519) Die Bedeutung dieses Typs II beschreibt Abe mit bdquomild activization or energizationldquo (Abe 1962522) Ausserdem bestehe ein Kontinuum zwischen Typ II und IV mit abnehmender Implikation von Dis-tanz Einen interessanten Punkt uumlbernimmt Abe von Anderson (1958sect66) der sagt dass bdquocalls with rising unstressed syllable are more imperative or reprovingldquo Diese Aussage ist etwas ungenau da eine Steigung am Ende der unbetonten Silbe (wenn diese zugleich die Endsilbe ist) einen ganz anderen Effekt auf den Houmlrer haben kann Die folgende Beschreibung klaumlrt jedoch vermutlich das Prob-lem So wird bei einer Anrede mit dem Namen Peter die erste Silbe Pe hoch re-alisiert waumlhrend ter unbetont ist bdquobut the beginning portion of this syllable starts still higher and ter ends in a completely falling toneldquo (Abe 1962523) Es handelt sich also mE bei bdquorising unstressed syllableldquo nicht um eine in sich aufsteigende Silbe sondern um eine im Vergleich zur vorhergehenden betonten Silbe houmlherliegende fallende Silbe Vor einem solchen Hintergrund ist Andersons obige Verallgemeinerung schwierig zu interpretieren Die Beschreibungssysteme der folgenden vier Autoren stehen in der britischen Tradition Auf diese Tradition naumlher einzugehen wuumlrde den Rahmen dieser Ar-beit sprengen Dem Briefwechsel zwischen Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) werden daher nur die fuumlr diese Untersuchung zentralen Punkte entnommen

33 Fox (1969) Fox stellt fest dass Pikes calling contour bis anhin nicht fuumlr das britische Eng-lisch beschrieben worden ist obwohl sie dort bdquoquite commonldquo9 (Fox 196913) sei Er ergaumlnzt Pikes Beschreibung indem er die Position des step-downacutes10 vom hohen auf den mittleren Ton genauer untersucht Dieser geschieht im Englischen bdquoat the first prominent syllable of the tail If no prominent syllable follows a normally weak syllable will be made strong for the purposeldquo (Fox 196913) Schliesslich bdquoif there is no tail at all the nucleus will be split into twoldquo11 9 Die hier behandelten Briefe von Fox (1969) Crystal (1969) Hill (1969) und Lewis (1970) erschienen alle im bdquoMaicirctre Phonologiqueldquo einem Journal in welchem mit phonetischer Schrift geschrieben wurde Alle Zitate (wie auch die Darstellung auf der naumlchsten Seite) wur-den von mir in die Standardschrift uumlbertragen 10 Nicht zu verwechseln mit dem von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriff des down-step welcher die schrittweise Deklination der Grundfrequenz an bestimmten Punkten einer Aumlusserung bezeichnet 11 Mit dem Nukleus ist in der britischen Tradition die betonte Silbe einer Aumlusserung gemeint

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

9

monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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Fox stellt fest dass der Gebrauch dieser Kontur bdquorestrictedldquo sei Sie koumlnne je-doch mit allen Satztypen auftreten und habe bdquoa distinct signalling functionldquo Er raumlumt ihr auch eine spezielle Position im System der bdquovocativesldquo ein welche er folgendermassen zusammenstellt (Fox 196914)12 rise-fall-rise John neutral summons fall John repeated summons rise-fall John reproachful summons split low rise Joˏohn intimate summons high rise John strong signalling summons step-down Jo-ohn mild signalling summons Fox erlaumlutert diese gehaltvolle Liste kaum Der rise-fall-rise wird spaumlter von Gussenhoven (2004) als wheedling Intonation beschrieben und entspricht Abes Typ I mit dem erwaumlhnten Aufwaumlrtsschlenker am Ende der Kontur Der fall und der step-down sind die beiden bereits von Pike (1945) behandelten Konturen Der rise-fall ist das von Abe (1962) mit Bezug auf Anderson (1958) beobachtete Intonationsmuster und wird von mir in 453 als bdquowarnendldquo fuumlrs Schweizer-deutsche beschrieben Der high rise entspricht Abes Typ IV (Hier fehlt eine Un-terscheidung von einem allfaumllligen gesungenen Typ II) Es bleibt der split low rise welcher vermutlich den rise-fall-rise mit einem tieferen Sprung auf den zweiten Ton hinunter beschreibt Die Bezeichnung des Letzteren als bdquoneutral summonsldquo legt naumlmlich nahe dass es sich beim Aufwaumlrtsschlenker zu Beginn um den gleichen bei einsilbigen Namen freiwilligen bzw oft neutralisierten An-stieg handelt wie beim split low rise wo Fox ihn in seiner Darstellung allerdings wegliess

34 Crystal (1969) Seiner Kritik an Fox (1969) vorausgehend warnt Crystal davor aufgrund der Beobachtungen bei der Rufkontur die Beschreibungsansaumltze von Intonation all-gemein anzupassen und zu erweitern Im Konkreten findet Crystal Foxacute arbitraumlre Auswahl einer einzigen aus mehre-ren moumlglichen Bedeutungen des high rise stifte Verwirrung Als Beispiel nennt er die bdquoanxious queryldquo in der Bedeutung bdquoare you still in the room or has the

12 Dieses Notationssystem (auch von Crystal verwendet) wie auch die damit beschriebenen Konturen scheinen nur praumlliminaumlr herausgearbeitet Die steigenden fallenden und ebenen Striche beschreiben den typischen Verlauf der Grundfrequenz waumlhrend der Asterisk den Nukleus der Kontur markiert

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

14

ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

17

Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

18

311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

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42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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monster got youldquo welche durch dieselbe Kontur vermittelt werden kann Auch die anderen Kategorien sind fuumlr ihn zu einschraumlnkend beschrieben Der rise-fall-rise in einer hohen Tonlage klinge anstatt bdquoneutralldquo eher bdquowarningldquo oder bdquoanx-iousldquo (vgl Quirk and Crystal 1966) oder der rise-fall veraumlndere sich durch ein Laumlcheln von bdquoreproachfulldquo zu bdquoadmiringldquo Der split low rise schliesslich im-pliziere nicht mehr Intimitaumlt bdquoif the rising element is narrowed (and sometimes increased in loudness simultaneously)ldquo sondern vielmehr bdquoIm warning youldquo (Crystal 196936) Diese Kritik ist mE sehr wichtig Auch nach dieser Warnung fassten jedoch Forschende ihre Beschreibungen verschiedener Konturen immer wieder zu eng und zogen verfruumlht allgemeine Schluumlsse daraus

36 Lewis (1970) Lewis (1970) diskutiert den bei Fox (1969) und Crystal (1970) umstrittenen Status der calling contour indem er bdquodistinct tonal systemsldquo (Lewis 197031) annimmt zu welchen er bdquoconversation chant sing song spoken proseldquo und moumlglicherweise bdquooratory lecturing formal disputation prayer recitation un-scripted commentary cross-examination panel discussion and actingldquo zaumlhlt Die calling contours indes gehoumlren dem bdquotonal system of remote speechldquo (197032) an Dieses widerspiegle die Gefuumlhle des Sprechers bdquoof less than normal proxim-ity The separation may be very slight and need not be a physical reality at allldquo (ebd)

37 Gibbon (1976) Gibbon beruft sich auf Pike (194571) und Abe (1962) bezuumlglich der Charakter-isierung des spoken chant und aumlhnlicher Konturen und streicht deren spezielle Position innerhalb des Systems der Sprache hervor bdquoThey tend to occur with formulaic or distributionally relatively isolated items [hellip] eg apostrophically usable items like proper names [hellip] in easily identifiable contextsldquo (Gibbon 1976275) Auch strukturell seien sie isoliert da sie tendenziell nicht mit an-deren Mustern zusammen im selben Turn vorkommen Als solch ausser-gewoumlhnliches Phaumlnomen stellen sie einen bdquorefreshing change for the intonation analystldquo dar und kommen Chomskys (195714) bdquoclear caseldquo am naumlchsten den dieser beschrieb als bdquothe most useful place to start a systematic descriptionldquo Auch wenn man aus den Ergebnissen die sich aus einer solchen Untersuchung ergeben moumlglicherweise nicht generalisierende Schluumlsse ziehen koumlnne lohnt sich Gibbons Erachtens das Risiko allemal (Gibbon 1976276)

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

17

Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

37

Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

38

45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

39

Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Grundlegend fuumlr Gibbons Untersuchung ist eine Aufzaumlhlung der verschiedenen bdquorolesldquo des spoken chants anhand englischer und deutscher Beispiele wobei es natuumlrlich phonetische und funktionale Unterschiede zwischen den Sprachen gibt (Gibbon 1976277) 1 Hailingndashhalndashlo ndashyoondashhoo13 2 Calling Manundashendashla helndashlo-o 3 Greeting ndashMor-gen ndashByndashye 4 Formulaic Shouting wo ndashbist ndashdu where ndashare ndashyou 5 Talking to babes-in-arms was ndashmacht er ndashdenn 6 Recapitulation ndashlau-ter 7 Transaction ndashbit-te Gemaumlss Gibbon (1976279) enthalten alle Anwendungen bdquodecidedly formulaic or stereotyped lexico-syntactic itemsldquo Sie neigen dazu bdquohighly situation-dependentldquo und bdquolow in information valueldquo (Gibbon 1976280) zu sein Aufbauend auf Abes (1962522) Prinzip welches die Dehnung der Toumlne durch die Uumlberwindung von Distanz begruumlndet kann Gibbon die verschiedenen Funk-tionen des bdquospoken chantsldquo erklaumlren Alle angefuumlhrten Beispiele betreffen bdquositua-tions where difficulty is experienced in getting across to the communication partnerldquo (Gibbon 1976280) In den scheinbaren Ausnahmen 5 und 6 findet diese Schwierigkeit bdquoat a different level of comprehensionldquo statt das Gespraumlch mit dem Baby sei bdquoessentially monologicldquo und Kommunikation finde ndash wenn uumlberhaupt ndash bdquoon a primitive level of awareness of familiar and unfamiliar sur-roundingsldquo statt Die Distanz koumlnne man hier als bdquosocialldquo (Gibbon 1976280) bezeichnen Tendenziell wird diese Kontur laut Gibbon (1976280) eher von Personen verwendet die nicht in taumlglichem Kontakt mit dem Saumlugling stehen Bei den bdquorecapitulationsldquo ist Distanz auf eine aumlhnliche Art und Weise zu verste-hen bdquothe listener is either uncertain or slow on the uptakeldquo oder bdquothe speaker has not been able to make himself heard and consequently understoodldquo (Gibbon 1976281) Auch die restlichen Gruppen werden von Gibbon dahingehend inter-pretiert dass die Dehnung dieser Konturen schliesslich der Uumlberwindung einer (tatsaumlchlichen oder metaphorischen) Distanz diene

13 Der hoch gelegene Strich beschreibt hier den Beginn des hohen ebenen Tons der auf mit-tlerer Houmlhe gelegene indes den Beginn des mittleren ebenso ebenen Tons Befindet sich Text vor dem ersten solchen Strich (wie zB bei Manundashendashla) wird dieser Text auf einem tieferen Pitch intoniert Ich fuumlhre pro Kategorie nur ein bis zwei Beispiele von Gibbons zahlreichen auf

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

27

Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

59

6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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38 Leben (1976) Das fuumlr Leben zentrale Problem der bdquovocative intonationldquo ist die Bestimmung der Position des downstep14 Er sucht eine Erklaumlrung dafuumlr dass dieser bei ndash

Pamendashla und ndashLanndashcaster nicht am selben Ort stattfindet Leben (197698ndash9) beschreibt den bdquochanted vocativeldquo folgendermassen15 1 Vor der gesternten Silbe sind alle Silben L 2 Die gesternte Silbe ist H 3 Wenn nur reduzierte Vokale auf die gesternte Silbe folgen sind diese alle H ausser der letzten die M ist

(Wenn die gesternte Silbe zugleich die letzte Silbe ist wird sie zu zwei Silben gedehnt deren zweite M ist)

4 Wenn mindestens eine unreduzierte Silbe auf die gesternte folgt sind alle Sil-ben nach der gesternten und vor dieser unreduzierten Silbe H die unreduzierte und die darauf folgenden (restlichen) Silben M

Problematisch ist nun jedoch bdquoThe strong autosegmental hypothesis forbids re-presenting a single contour by two formulas with the choice between them gov-erned by segmental differencesldquo (Leben 197699) Leben muss daher beide Kon-turen mit LHM beschreiben Bei einigen Beispielen wird dadurch jedoch nicht die korrekte Kontur generiert Daher muss eine Regel formuliert werden die H nach rechts ausweitet bdquostopping just before an unreduced vowel or just before

14 Wiederum nicht zu verwechseln mit dem Pierrehumbertschen downstep siehe Fussnote 10 15 In seiner Notation schliesst sich Leben an Goldsmith (197528ff) an In dessen bdquoautoseg-mentaler Phonologieldquo bezeichnet bdquoHldquo einen hohen Ton bdquoLldquo einen tiefen Ton und bdquoMldquo einen mittleren Ton Der Asterisk uumlber dem bdquoHldquo signalisiert dass der hohe Ton mit der akzentuier-ten Silbe assoziiert wird [deg] bezeichnet reduzierte Silben (vgl Goldsmith 197536)

12

the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

14

ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

15

Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

17

Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

18

311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

19

langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

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44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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the final syllable whichever comes firstldquo (Leben 1976101) Diese Regel nennt Leben (1976101) tone spreading und stellt sie folgendermassen dar16

Einen ersten Einwand die Regel sei bdquoad hoc since it seems designed solely to make the strong autosegmental treatment consistent with observational ade-quacyldquo kann Leben (1976101) entgegnen indem er andere Bereiche zeigt wo die Regel zur Anwendung kommt Gleichzeitig zeigt er tone spreading auch uumlber L hinaus auf um den Verstoss gegen eine implikationale Universale (for-muliert von Hyman and Schuh 1974) zu umgehen die besagt dass bdquolanguages exhibiting spreading of H over M must also exhibit spreading of H over Lldquo (Le-ben 1976101) Uumlberall trifft die Ausweitung auf die gleiche Beschraumlnkung bdquoH does not spread onto unreduced vowelsldquo (Leben 1976106) Leben haumllt tone spreading daher fuumlr ein bdquounitary phenomenonldquo

39 Liberman (1978) Fuumlr Liberman besteht der vocative chant aus drei Pitches Der erste ist optional und immer tiefer als die zwei anderen Pitches haumlufig eine Quart oder Quint un-ter dem zweiten Pitch Der zweite und dritte Pitch sind obligatorisch bdquoThe third pitch is fixed a minor third below the secondldquo (Liberman 197819) Dieses In-tervall bezeichnet Liberman als bdquoa very natural interval for people to singldquo Es sei ihm von Musiklehrern gesagt worden bdquothat itacutes the one interval that every-one knows how to sing without working at itldquo obwohl es mathematisch bdquoa quite complex proportionldquo (ebd) darstellt Ausserdem ist gemaumlss Liberman (197820) H bdquoalways rising in its initial por-tionldquo In seiner Beschreibung des vocative chant (L)HM folgt er Leben (1976) ausser dass jener das L nie explizit in Klammern setzte und H mit einem Aster-isk assoziierte Auch Libermans Regeln fuumlr die bdquotune-to-text associationldquo stimmen mit denjeni-gen Lebens (1976) uumlberein

16 Das Schwa bezeichnet einen reduzierten Vokal X und Y stehen fuumlr die umstehenden Seg-mente

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

17

Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

18

311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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a The high tone is associated with the main stress of the text and with any syl-lables which intervene between the main stress and the point at which the mid tone is associated b If there are any syllables preceding the main stress the low tone is associated with them if no such syllables exist the low tone does not occur c If there is a secondary stress in the portion of the text following the main stress the mid tone is associated with it as well as with any following syllables d If the syllables following the main stress are all unstressed the mid tone is as-sociated with the last of them e If nothing follows the main stress then that syllable is bdquobrokenldquo into two dis-tinct parts the second of which receives the mid tone Verstoumlsse gegen diese Regeln produzieren bdquoungrammatical results or at least re-sults which can be understood only on the basis that the stress pattern has been arbitrarily altered in such a way that the generalisations will holdldquo (Liberman 197821)

310 Ladd (1978) Seit Pike (1945) haben alle Intonationsforscher die Rufkontur als spezielle call-ing oder vocative Intonation beschrieben Ladd behauptet das Rufen aus der Distanz (auch im uumlbertragenen Sinne) oder auch die Warnung seien bdquosimply ap-plications to a particular usage of a more general meaning of the intonation un-der discussionldquo (Ladd 1978519) Ladd bemerkt dass uumlber die Funktion als calling intonation mehr Einigkeit herrscht als uumlber deren formale Eigenschaften und fragt sich was denn charak-teristisch ist an dieser Kontur (Ladd 1978517) Den tiefen Ton vor den ab-gestuften ebenen Toumlnen betrachtet er zunaumlchst nicht als bdquointegral part of the con-tourldquo Das Intervall welches Liberman (1978) auf eine kleine Terz (drei Halbtonschritte) festsetzen wollte ist gemaumlss Ladd (1978518) bdquoby no means fixedldquo Auch die oft auftretende Laumlngung des Tons gehoumlrt laut Ladd eher nicht zum Wesen der Kontur Trotzdem ist die Kontur seines Erachtens klar genug beschreibbar sodass sie als bdquoreal unit (morpheme linguistic sign intonation contour or whatever) of Englishldquo behandelt werden kann Von den diskutierten Merkmalen bleibt indes nur eines uumlbrig Ladd impliziert also durch seine Nota-tion bloss den bdquosteady level pitchldquo (Ladd 1978518) Abe (1962) sah bei der calling contour eine direkte Verbindung zwischen Form und Funktion Von anderen Forschern wird diese Verbindung weniger direkt angenommen jedoch von allen wird bdquodistance between the interlocutorsldquo als bdquoin some way significantldquo dargestellt (Ladd 1978518) Die Rufkontur ist aber auch

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

17

Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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ohne Distanz moumlglich Bei der Warnung zB ist Augenkontakt gegeben (Ladd 1978519) Diese Funktion kann jedoch von Leben und Liberman nicht mit dem Rufen in Verbindung gebracht werden und wird einfach hingenommen Ein Ziel von Ladd (1978) ist es daher zu zeigen dass die Rufkontur in ihrem Wesen keine Rufkontur ist Ladd illustriert anhand uumlberzeugender Beispiele17 dass die Grundbedeutung der diskutierten Intonation bdquostylizedldquo und in stereotypen voraussagbaren Kontexten anwendbar ist (Ladd 1978520ndash1)

Der stilisierte Fall ist jedoch nur passend wenn die Warnung eigentlich eine Er-innerung ist (zB wenn die Stufe schon seit Wochen kaputt ist) nicht aber in einem Notfall (zB ein Bergsteiger zum andern)

Bei diesem Beispiel ist eine stilisierte Intonation nur aus dem Munde einer Yetimutter denkbar welche ihre Kinder wie jeden Tag vor den Gefahren auf deren Schulweg warnt

Ladd fuumlhrt anschliessend zwingende Argumente an die gegen eine Interpreta-tion als calling contour sprechen (Ladd 1978522) So ist es zB in einer echten Notlage undenkbar

zu schreien Dies wuumlrde tatsaumlchlich implizieren dass es sich um routinemaumlssige Umstaumlnde handelt Dieses Beispiel widerlegt deshalb die bis dahin weit ver-breitete Annahme dass die ebenen langgezogenen Toumlne ein Mittel seien die Houmlrbarkeit zu verbessern In einer Situation in der das Gehoumlrtwerden absolute Prioritaumlt hat kann diese Intonation nicht angewendet werden

17 Hier wird nur ein kleiner Teil von Ladds (1978521) Evidenz aufgefuumlhrt

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

32

die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

33

nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Ein zweites Argument gegen die Interpretation als Rufkontur findet Ladd in der bereits von Pike und auch Abe beschriebenen Situation in welcher auf einen oder zwei stilisierte Rufe eines Namens ein unstilisierter tiefer Fall folgt ver-bunden mit gesteigerter Lautstaumlrke Dieses Muster ist nicht nur mit Personen-namen beobachtbar (vgl Ladd 1978523) und durch die von Abe formulierte Distanzhypothese nicht zu erklaumlren Im Gegenteil Waumlhrend die stilisierten Rufe ndash falls sie uumlberhaupt gehoumlrt werden ndash als bdquoroutinemaumlssigldquo interpretiert werden ist die Wahrscheinlichkeit beim unstilisierten Ruf offenbar groumlsser dass die an-gerufene Person ihn uumlberhaupt houmlrt und schliesslich als dringlich interpretiert Ein drittes Argument sieht Ladd darin dass die stilisierte Intonation haumlufig zur Anwendung kommt wenn sich die Gespraumlchspartner direkt gegenuumlber stehen va im Zusammenhang mit Formeln wie Guten Morgen Danke schoumln oder Entschuldigung Im Gegensatz dazu kaumlme jedoch

einem Affront gleich wenn sie dem Rettungsschwimmer entgegengebracht wuumlrde der den Sprecher eben vor dem Ertrinkungstod gerettet hat Dies ist wiederum der stereotypen stilisierten Konnotation dieser Intonation zuzufuumlhren Ladd (1978524) stellt schliesslich fest dass der Zusammenhang zwischen stili-sierter Intonation und Rufen wenn auch nicht zufaumlllig so doch sekundaumlr ist da es immerhin einen statistischen Zusammenhang gibt Er erklaumlrt diesen folgen-dermassen Auf groumlssere Distanz hin ergibt es wenig Sinn komplizierte Aus-sagen zu machen da solche sowieso nicht verstanden wuumlrden Man beschraumlnkt sich also auf kurze und wenig Ungewohntes enthaltende Botschaften Solche stereotype Inhalte werden aber sehr haumlufig mit stilisierter Intonation gekoppelt vermittelt Daher ist zu erwarten dass relativ haumlufig Konversation uumlber eine ge-wisse Distanz hin stilisiert stattfindet (Ladd 1978524) Ladd beobachtet dass man von einer linguistischen Kategorie stylized und von einem paralinguistischen Phaumlnomen chant ausgehen kann Waumlhrend er das Er-stere als all-or-none Kontrast (vgl Bolinger 1961) beschreibt handelt es sich beim Letzteren um ein graduelles Merkmal Dabei betrachtet Ladd wie oben er-waumlhnt die Ebenheit des Tons als essentiell fuumlr die Stilisierung waumlhrend er Qualitaumlt der Stimme Laumlnge der Toumlne und auch Groumlsse des Intervalls zu den graduierbaren Eigenschaften einer solchen Kontur zaumlhlt (Ladd 1978524ndash5) Ladds oben zusammengefasster Untersuchung liegt implizit die Annahme zu-grunde dass der stylized fall eine Modifikation des plain fall ist Er vergleicht

16

die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

18

311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

19

langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

21

Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

23

oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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die stilisierte Kontur stets mit der entsprechenden unstilisierten Kontur So bleibt eine stilisierte Aussage eine Aussage eine stilisierte Frage eine Frage und ein stilisierter Vokativ ein Vokativ Die Stilisierung ist daher eine bdquomodifica-tionldquo oder bdquoadditionldquo zu der bdquobasic intonational messageldquo die durch die jeweilige Kontur vermittelt wird (Ladd 1978525ndash6) Ladd zeigt anhand vieler Beispielpaare dass die Stilisierung mit vergleichbaren Funktionen auch auf andere ndash nicht vokative ndash Konturen uumlbertragbar ist (Ladd 1978526ndash9) Ein Beispiel der Uumlbertragung auf die low-rising Kontur soll seine Argumentation veranschaulichen

vs

Waumlhrend die erste Frage zB auf einer Sight-seeing-Tour durch eine Stadt von jemandem gestellt werden kann der besagte Tuumlrme noch nie zuvor gesehen hat impliziert die Intonation der zweiten Version dass der Fragende wissen sollte was es mit diesen Tuumlrmen auf sich hat da er moumlglicherweise selber fruumlher an diesem Ort gewohnt hat oder der Befragte ihm zu einem fruumlheren Zeitpunkt uumlber die Tuumlrme Auskunft gegeben hat Die Kraft der Frage aumlndert sich durch die Stili-sierung gemaumlss Ladd (1978528) von I request you to inform me zu I request you to remind me Auf den high rise uumlbertragen bewirkt die Stilisierung einen bdquoovertone of tired-ness or resignationldquo (Ladd 1978529) den er auch bei einigen Uumlbertragungen auf den low rise beobachtet hat (vgl Ladd 1978526-27)

vs

17

Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

18

311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

19

langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

20

4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

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ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

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26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

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39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Am interessantesten ist die Anwendung auf Listen wo auch haumlufig der high rise verwendet wird Bei solchen Listen zeigt die Ebenheit der Toumlne an dass die Einzelheiten der Liste nicht individuell von Bedeutung sind sondern eine lose Gruppierung darstellen bdquowhich the hearer can fill out for himselfldquo (Ladd 1978529) Bei informativen Elementen einer Liste ist die stilisierte Intonation nicht angebracht vgl zB Ladd (1978529)

Die Stilisierung der einzelnen Listenelemente ist hier nur moumlglich da es sich dabei um Zutaten handelt die so ziemlich in jedem Keks enthalten sind Bei in-formativeren Elementen und ohne eine die Liste als uninteressant deklarierende Einleitung wuumlrde der einfache high rise angewendet Zusammenfassend schliesst Ladd (1978531) aus der oben praumlsentierten Evi-denz dass es ein allgemeines Phaumlnomen der stilisierten Intonation gibt welche signalisiert dass eine Aumlusserung bdquoin some wayldquo Teil einer stereotypen Situation ist oder dass sie mehr vorhersagbar oder weniger informativ als eine entspre-chende Aussage mit einfacher (unstilisierter) Intonation ist In Ladds Sinne lies-se sich dann die klassische Rufkontur so interpretieren dass sie eine Mutter zB dann anwendet wenn sie das Kind ins Haus ruft weil dort ndash wie jeden Abend ndash das Abendessen bereitsteht Wenn es indes ein paar Stunden spaumlter darum geht dem Kind klarzumachen dass es Zeit ist schlafen zu gehen ist die stilisierte Kontur kaum mehr ausreichend und muss wohl durch einen unstilisierten Ruf bekraumlftigt werden Obwohl Ladd von der Untersuchung der Rufkontur ausgehend eine daruumlber hinaus reichende Regelmaumlssigkeit beobachten konnte warnt er bdquothe fact that stylized intonation is derivative from plain intonation means that we should be cautious about studying chants to learn about intonation Given their special function and phonological status it would seem more reasonable to treat them as a category apart ndash or at the very least not to treat them as critical evidence about the heart of the systemldquo (Ladd 1978537)

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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311 Ladd (1995) Ladd (1995) repraumlsentiert mehr oder weniger den heutigen Stand der Forschung bezuumlglich der Rufkontur Laut Ladd (1995136) ist man sich weitgehend einig daruumlber dass die calling contour die Folge eines H-Tons und eines downstepped H-Tons ist Was jedoch die Notation betrifft so haben sich die verschiedenen Forscher noch nicht einigen koumlnnen Gerade die phonologische Analyse des von Pierrehumbert (1980) eingefuumlhrten Begriffs des downsteps ist houmlchst umstrit-ten18 Der downstep bezeichnet bdquothe stepwise lowering of pitch (or of the tonal space) at specific pitch accentsldquo (Ladd 199574) Ich verwende im Folgenden Ladds Notation19 welcher den downstepped Ton mit einem darauffolgenden bdquoldquo markiert Auch uumlber die Markierung der Ebenheit der Toumlne ist man sich in der Intona-tionsforschung nicht einig Ladd (1995) notiert die Rufkontur jeweils ohne Schlussgrenzton ndash eine Loumlsung welche er in Ladd (1983745) vorschlug20 Bei aller Uumlbereinstimmung findet Ladd aber auch unterschiedliche Auspraumlgun-gen der Rufkontur in den verschiedenen Sprachen So wird sie zB im Deutschen breiter angewendet als im amerikanischen Englisch (vgl Ladd 1995136) im Franzoumlsischen und Ungarischen kommt die HH -Folge21 immer auf die letzten zwei Silben zu liegen waumlhrend sich im Englischen und Deutschen die Prominenz einzelner Silben dieser Regel uumlberordnet (vgl Ladd 1995138) im Hollaumlndischen schliesslich kann die Rufkontur mehrere down-steps beinhalten waumlhrend im Deutschen nur ein einziger moumlglich ist (vgl Ladd 1995138-9 Gussenhoven 1993) Abgesehen von diesen Unterschieden stimmt Ladds Beschreibung mit den fruumlheren Arbeiten uumlber die klassische Rufkontur uumlberein

312 Gussenhoven (2004) Ausser einigen notationstechnischen Abweichungen auf welche hier nicht eingegangen wird ist bei Gussenhoven (2004) nur neu dass er die Laumlngung der jeweils mindestens ersten Silbe der beiden obligatorischen Ebenen der Rufkon-tur fuumlr phonologisch haumllt Dies begruumlndet er damit dass der Kontrast zwischen

18 Uumlber die Probleme welche Pierrehumberts (1980 etc) Analyse des downsteps als Folge von HLH mit sich bringt schreibt Ladd (199585ndash96105ndash110136ndash137) ausfuumlhrlich 19 Ladds Notation ist im Uumlbrigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevorzugten 20 In den von Pierrehumbert (1980) gepraumlgten Notationssystemen kann eine Kontur durch Grenztoumlne (durch [] bezeichnet) begrenzt werden Die typische Frageintonation zB bei welcher die Stimme am Ende aufsteigt wird durch ein H (am Ende) markiert 21 Ladd verbindet die einzelnen Toumlne einer Kontur mit zwei Punkten

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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langen und kurzen Vokalen neutralisiert wird sodass im Englischen zB die Namen Jen und Jane gleich lange dauern wenn sie gerufen werden (Gussenho-ven 2004312) Von Gussenhoven (2004) werden auch einige weitere ndash teilweise neue ndash Anre-dekonturen beschrieben Der low vocative chant landet im Gegensatz zur klas-sischen Rufkontur auf einem tiefen zweiten Ton Hier wird dabei der tiefe Ton deutlich als eben und langgezogen beschrieben hebt sich also von dem von Pike (1945) in einer Fussnote erwaumlhnten ab Der low vocative chant druumlckt neben routineness (bdquoIacuteve told you a thousand timesldquo) Ungeduld aus (Gussenhoven 2004314) Weiter behandelt Gussenhoven (2004) die wheedling Intonation welche wohl dem von Fox (1969) skizzierten rise-fall-rise entspricht und welche von Abe (1962) als Variante seines Typ I beschrieben wurde Waumlhrend die Kraft dieser Kontur aber von den zwei fruumlheren Autoren noch als neutral empfunden wurde empfindet sie Gussenhoven als wheedling22 Er beschreibt die Kontur als voca-tive fall-rise bdquoin which the second level is followed by a rise in the last section of the last syllableldquo (Gussenhoven 2004315) (Ll) H H HI

23 Eine letzte Kontur die Gussenhoven behandelt ist der delayed vocative chant Ll LH H Gussenhoven (2004315) schreibt dieser Intonation nebst der bdquoroutinenessldquo welche er auf den vocative chant zuruumlckfuumlhrt bdquosome special significanceldquo zu das letzte Wort im Sinne von bdquoBedeutsamkeitldquo

22 bdquoA wheedling toneldquo wird im Pons (2001960) mit bdquoein [ein]schmeichelnder Tonfallldquo wie-dergegeben 23 Gussenhovens Notation impliziert hier und im Folgenden ein downstepped zweites H ndash phonetisch gesehen Das tiefgestellte I steht fuumlr bdquointonational phraseldquo und kann hier der Ein-fachkeit halber als Bezeichnung des Grenztons im Sinne von Pierrehumbert (1980) interpre-tiert werden

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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4 Anredekonturen im Luzerndeutschen

41 Vorbemerkungen Die bestehende im Vorangehenden diskutierte Literatur uumlber das Thema dieser Arbeit beruumlcksichtigt nur einen kleinen Teil der (zumindest im Luzerndeut-schen) moumlglichen Anredekonturen Dies haumlngt auch damit zusammen dass ndash von Ladds wegweisender Analyse der Stilisierung abgesehen ndash einzelne distink-tive intonatorische Elemente nie systematisch in all ihren verschiedenen Mani-festationen untersucht wurden Verschiedene Forschende beschrieben zwar Muster wie zB das spaumlter von Gussenhoven wheedling genannte doch niemand hielt fest dass nur ein bestimmter Teil der gesamten Kontur fuumlr die einschmei-chelnde Bedeutungskomponente verantwortlich ist und dass dieser Teil (der Schlussaufstieg naumlmlich) auf verschiedenste andere Konturen uumlbertragen werden kann und dort dieselbe Bedeutungskomponente mit sich bringt Uumlber die Exis-tenz von solchen Intonemen sind sich zwar die an der in 42 skizzierten Lingu-istrsquos Theory of Intonational Meaning beteiligten Forschenden einig doch hat man es bis anhin versaumlumt das aus den in der Einfuumlhrung genannten Gruumlnden speziell interessante Feld der Anredekonturen unter diesen Gesichtspunkten zu untersuchen Dies wird in der vorliegenden Untersuchung nachgeholt In meinem eigenen Idiolekt des Luzerndeutschen lassen sich neun Intoneme eru-ieren Vier davon werden im Folgenden als Basiskonturen bezeichnet (vgl 43) da sie durch die verbleibenden fuumlnf Muster (dh auch durch mehrere gleichzei-tig) modifiziert werden koumlnnen (vgl 45) Alle daraus resultierenden theoretisch und praktisch moumlglichen Uumlberlagerungen (aus verschiedenen unten diskutierten Gruumlnden technischer wie auch semantischer Art sind gewisse Intoneme nicht mit anderen kompatibel sodass am Ende von 47 phonologisch distinkten Mustern ausgegangen wird) werden in diesem Kapitel systematisch eroumlrtert Auf die the-oretisch uneingeschraumlnkten paralinguistischen Phrasierungsmoumlglichkeiten wird in 44 hingewiesen Deren Diskussion ist jedoch fuumlr diese Untersuchung nur von sekundaumlrer Bedeutung sie widerspiegelt va den Sensibilisierungsprozess auf zu abstrahierende Faktoren welcher eine essentielle Grundlage fuumlr die intro-spektive Erhebung der linguistischen Intonationsmuster darstellt In 46 wird nur kurz auf zwei sich von den restlichen unterscheidende Konturen eingegan-gen Einerseits ist es die Vielfalt dieser Intonationsmuster die eine breit abgestuumltzte empirische Untersuchung im Rahmen einer Seminararbeit verunmoumlglicht Ande-rerseits gibt es der Beobachtung oder Elizitierung intonatorischer Minimalpaare uumlberhaupt inhaumlrente methodische Probleme die nur schwer zu bewaumlltigen sind und auf die im Folgenden naumlher eingegangen werden soll

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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Von den in dieser Arbeit untersuchten Intonationsmustern ist nur ein ganz klei-ner Teil im Alltag ausserhalb ganz bestimmter Domaumlnen regelmaumlssig zu be-obachten Der groumlsste Teil der hier diskutierten Anredekonturen wird fast aus-schliesslich von oder gegenuumlber von Kindern verwendet zwischen Erwachsenen sind die meisten Muster nur in einem sehr intimen Rahmen denkbar Innerhalb dieser Konturen ist wiederum der groumlsste Teil an ganz bestimmte Kontexte wie zB Tadel oder Einschmeicheln geknuumlpft Eine rein beobachtende Erhebung all dieser Intonationsmuster wuumlrde also eine immens grosse Datenmenge (verdeckter Aufnahmen) voraussetzen ganz abge-sehen vom Eindringen in eine sehr private Sphaumlre Entscheidender noch ist aber dass der Bedeutungsunterschied der mit einem minimalen intonatorischen Un-terschied einhergeht in diesen Domaumlnen so nuanciert sein kann dass die be-obachtende Person nach jedem Auftreten einer Anredekontur Interviews mit den involvierten Subjekten durchfuumlhren muumlsste um das Intonationsmuster in der zu ebendiesem fuumlhrenden Situation mit den damit verbundenen Emotionen und Vorgeschichten verankern zu koumlnnen Selbst dann waumlre jedoch eine erfolgreiche Identifizierung der von der anredenden Person beabsichtigten pragmatischen Kraft und dem produzierten Intonationsmuster lange nicht garantiert erstens (die folgenden vier Punkte sind miteinander verknuumlpft) weil sie fast voumlllig von der Interpretation der involvierten Subjekte abhaumlngt zweitens weil dieser Inter-pretation die mit der produzierten Intonation verbundenen Emotionen in die Quere kommen drittens weil ein Teil der beabsichtigten pragmatischen Kraft stets mit paralinguistischen oder auch nicht-sprachlichen Mitteln ausgedruumlckt wird und viertens weil gerade das fuumlr die Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Faktoren vorausgesetzte Abstraktionsvermoumlgen nicht spontan von einer Versuchsperson erwartet werden kann Ein solch aufwaumlndiges Erhebungsverfahren eruumlbrigt sich schliesslich dadurch dass durch den eben be-schriebenen Eingriff des Interviews die Verdecktheit der beobachtenden Person nicht mehr gewaumlhrleistet waumlre was die Daten auf seine Weise beeinflussen wuumlr-de Auf der anderen Seite liessen sich mit einer nicht eingreifenden rein be-obachtenden Methode nur sehr triviale intonatorische Unterschiede (ohne Ge-wissheit) festmachen solche zB die eindeutig eine Handlung bzw das Aus-bleiben einer solchen voraussetzen oder zur Folge haben Die vorliegende Arbeit geht jedoch weit uumlber solche Unterscheidungen hinaus Die bereits kurz erwaumlhnten paralinguistischen und nicht-sprachlichen Aus-drucksweisen sind auch hinderlich beim Versuch intonatorische Minimalpaare zu elizitieren Grundsaumltzlich muumlsste man dabei sich minimal unterscheidende Si-tuationen kreieren Dafuumlr dass diese jeweils in eine bestimmte Intonation muumln-den wuumlrden und nicht zB eine Ohrfeige zur Folge haumltten koumlnnte keine Gewaumlhr bestehen Dieser Punkt impliziert auch die Voraussetzung dass die untersu-chende Person in einer ganz bestimmten Beziehung zur untersuchten Person ste-

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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hen oder aber Kinder an ihrer Statt dazu trainieren muumlsste sich minimal unter-scheidende Situationen zu kreieren Es ist dabei sehr fraglich ob die untersuchte Person solche Serien von sich minimal unterscheidenden Provokationen jedes Mal mit der gesuchten Intonation quittieren wuumlrde viel eher waumlre zu erwarten dass sie die rein linguistischen Erziehungsweisen mangels Erfolg komplett auf-geben wuumlrde Solche Folgen waumlren fuumlr die Intonationsforschung natuumlrlich nicht verantwortbar Fuumlr die Elizitierung von intonatorischen Minimalpaaren ist aus diesen wie auch aus den im vorangehenden Abschnitt genannten Gruumlnden fuumlr mich kein durchfuumlhrbares Szenario denkbar Fuumlr eine intersubjektive empirische Untersuchung von Anredekonturen eignet sich daher nur eine von den Versuchspersonen her passive bei welcher diese verschiedene Intonationsmuster bewerten muumlssen Diese wird idealerweise in zwei Schritten durchgefuumlhrt In einem ersten qualitativen Schritt soll eine relativ kleine Gruppe von Versuchspersonen mit eigenen Worten die Bedeutung der gehoumlrten Intonationsmuster moumlglichst genau beschreiben und dabei Vermutun-gen uumlber Emotionen und Absichten der Sprecherin gegebenenfalls auch uumlber eine durch die verwendete Kontur implizierte Vorgeschichte anstellen Dabei sollten sich die Versuchspersonen wohl nicht selbst sondern eine Drittperson (in den meisten Faumlllen ein Kind) als Angesprochene verstehen da sonst die Verwir-rung uumlber den unangebrachten Ton bei der Versuchsperson wohl einer nuumlchter-nen Bewertung des Intonationsmusters im Wege stehen wuumlrde Entsprechend waumlren auch Evaluationen der Art X ist wuumltend auf Y oder X ist enttaumluscht von Y denkbar In einem spaumlteren quantitativen Schritt wuumlrden dann einer groumlsseren Gruppe entsprechende Intonationsmuster praumlsentiert diesmal mit einer mithilfe des vorangehenden Schritts entwickelten Auswahl an Kriterien (wie zB vor-wurfsvoll einschmeichelnd oder dringlich etc) die entweder als zutreffend oder nicht-zutreffend erachtet werden sollen In einzelnen Faumlllen koumlnnte auch die Er-hebung mittels eines semantischen Differentials mit Eigenschaftspaaren wie nett ndash unanstaumlndig oder wichtig ndash unwichtig etc angebracht sein Dabei muumlssten wohl sich minimal unterscheidende Intonationsmuster der Versuchsperson so-wohl in unmittelbarer Aufeinanderfolge als auch in einigem Abstand praumlsentiert werden Die unmittelbare Aufeinanderfolge wuumlrde auf der einen Seite den Kon-trast fuumlr die Versuchsperson verdeutlichen auf der anderen Seite waumlren bei der Interpretation aber auch Interferenzen mit den Erwartungen gegenuumlber natuumlrli-cherweise auftretenden minimalen Veraumlnderungen (bezuumlglich der Produktion wie auch der Wahrnehmung) von unmittelbar aufeinander folgenden Intonati-onsmustern zu erwarten (vgl 442) Auf diese oder eine aumlhnliche Art und Weise waumlre ein Nachweis der intersubjektiven Realitaumlt der in dieser Arbeit postulierten Intoneme denkbar Grundlegende Voraussetzung fuumlr eine derartige Untersuchung ist jedoch das Postulieren von Intonationsmustern bzw deren Unterscheidbarkeit Da aber wie

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

37

Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

38

45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

39

Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

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7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

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31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

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betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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oben eroumlrtert weder rein beobachtende noch elizitierende Erhebungen zu der hier angestrebten Dichte von Intonationsmustern fuumlhren koumlnnen bleibt nur der Weg der Introspektive Diese vom Autoren gewaumlhlte Methode soll im Folgenden kurz beschrieben werden Als Ausgangspunkt diente ein knappes Dutzend im Alltag beobachteter Intona-tionsmuster Mithilfe der einschlaumlgigen Lektuumlre ging es darum diese Muster zu identifizieren gegeneinander abzugrenzen und herauszufinden wo es sich um einen linguistischen und wo um einen paralinguistischen Unterschied handelte Bei der dafuumlr benoumltigten wiederholten Aumlusserung und Anhoumlrung von sich aumlh-nelnden Konturen stellte Praat eine grosse Hilfe dar Nach der Identifizierung der paralinguistischen Faktoren ging es fortan konstant darum von diesen zu abstrahieren eine nicht zu unterschaumltzende Herausforderung da praktisch jede sprachliche Aumlusserung von solchen Faktoren mitgepraumlgt wird Auf diese Weise liessen sich die beobachteten Konturen nach und nach in Intoneme aufspalten denen eine unterschiedlich deutlich umrissene Grundbedeutung zugeordnet wer-den konnte In der naumlchsten Phase wurden diese Intoneme mit allen anderen In-tonemen kombiniert um herauszufinden welche Kombinationen moumlglich sind und welche nicht und in letzterem Fall ob technische oder semantische Gruumlnde fuumlr diese Inkompatibilitaumlt verantwortlich sind Vor allem in einer letzten houmlchs-te Konzentration abfordernden Phase (va im Zusammenhang mit dem in 455 beschriebenen Muster) wurden theoretisch zwar moumlgliche praktisch aber kaum je realisierte Konturen wieder und wieder produziert um ein Urteil uumlber deren Grammatikalitaumlt abgeben zu koumlnnen Im Unterkapitel 43 werden die verschiedenen paralinguistischen Faktoren kurz beschrieben von welchen bei dieser Untersuchung abstrahiert werden musste um zum linguistischen Kern der Anredekonturen gelangen zu koumlnnen Anhand von Beispielen soll dabei auf die Probleme der fuumlr diese Arbeit grundlegenden Unterscheidung von linguistischen und paralinguistischen Kriterien aufmerksam gemacht werden gemaumlss Ladd (199539) bdquothe basic task of analysing intonatio-nal phonologyldquo In keiner Art und Weise handelt es sich um eine erschoumlpfende Abhandlung der bei einer Anrede beteiligten paralinguistischen Mittel Daher sollen auch die zahlreichen Forschungsergebnisse zur Wechselwirkung von E-motionen und Pitch Intensitaumlt Stimmqualitaumlt oder Dauer nicht beruumlcksichtigt werden24 43 dient dafuumlr auch zur Illustration eines weiteren Problems auf welches bereits von Crystal (1969) aufmerksam gemacht wurde Von den verschiedensten Auto-ren wurden Konturen immer wieder mit einem einzigen Adjektiv (zB als neut-ral oder intim) charakterisiert Dies muss auch in der vorliegenden Untersu-

24 Vgl zB Murray amp Arnott (1993) Frick (1985) oder Baumlnziger amp Scherer (2005)

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

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Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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chung so getaumltigt werden Entscheidend ist aber das Wissen dass mit veraumlnder-ten paralinguistischen Variablen eine einzige Kontur ganz unterschiedliche Be-deutungen annehmen kann Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung ist eine phonologische und in ein-geschraumlnktem Masse eine phonetische Analyse der im Idiolekt des Autoren vor-kommenden Intonationsmuster Da der Autor in einer ausschliesslich Luzern-deutsch sprechenden naumlheren Umgebung aufgewachsen ist geht er zumindest von einer regionalen Guumlltigkeit der Beobachtungen aus Aufgrund der grossen Uumlbereinstimmungen mit der bestehenden groumlsstenteils englischsprachigen Lite-ratur lassen sich bezuumlglich einiger Merkmale gar universelle Tendenzen (zB Stilisierung oder wheedling) vermuten Es gilt nun die Postulate dieser Arbeit sowohl insgesamt als auch in ihren Einzelheiten auf ihre intersubjektive Guumlltig-keit hin zu uumlberpruumlfen Bezuumlglich der Notation halte ich mich an Ladd (1995) dessen Notation im Uumlb-rigen praktisch identisch mit der von ToBI (vgl Silverman et al 1992) bevor-zugten ist Der von einem Asterisk gefolgte Pitchakzent (H bezeichnet den ho-hen L den tiefen) faumlllt auf die prominenteste Silbe der Aumlusserung den Nuk-leus Dabei bezeichnen komplexe Pitchakzente (in dieser Arbeit kommt nur LH zur Verwendung) eine Pitchbewegung innerhalb des Nukleus Eine Kontur wird weiter charakterisiert durch den freistehenden ungesternten Phrasenton H oder L der mit dem vorangehenden Pitchakzent durch zwei Punkte verbunden ist Alle ausser den stilisierten Anredekonturen sind schliesslich durch einen finalen Grenzton (H oder L durch einen Bindestrich mit dem Phrasenton verbun-den) gekennzeichnet einige wenige durch einen initialen (vgl 455) Praumlnuklea-re Toumlne muumlssen fuumlr die Anredekonturen keine angesetzt werden (vgl Ladd 1995210ff) Einige zusaumltzliche ad-hoc Notationen werden jeweils an Ort und Stelle erlaumlutert

42 Linguistacutes Theory of Intonational Meaning Wie bereits erwaumlhnt wird eine adaumlquate phonologische Beschreibung der An-redekonturen im Luzerndeutschen erst ermoumlglicht durch die Linguistacutes Theory of Intonational Meaning die daher an dieser Stelle kurz vorgestellt wird Der zentrale Gedanke der von Ladd so genannten Linguistacutes Theory of Intonati-onal Meaning ist dass die einzelnen Elemente von Intonation eine Bedeutung haben (Ladd 199539) Diese Theorie wurde von zahlreichen LinguistInnen mit den verschiedensten Interessen entwickelt Im vorherigen Kapitel konnte man zB anhand der Stilisierung sehen wie in Ladd (1978) Libermans (1975) Ansatz untermauert wird der von einer allgemeinen ungenauen Bedeutung von Intona-

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tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

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Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

25

tion spricht welche in spezifischen Kontexten lebhaft zum Ausdruck kommt Nicht nur Ladd (1978) verwendete dabei Analysen einzelner Intonationselemen-te um nachzuweisen dass ebendiese Kategorien uumlberhaupt existierten Auch wenn die Ansichten uumlber die phonologischen Kategorien von Intonation nach wie vor sehr verschieden sind ist man sich heute im Grossen und Ganzen einig daruumlber bdquohow those categories contribute to the meaning of an utteranceldquo (Ladd 199540) So werden die basic tones (einfacher und tiefer Fall sowie Anstieg) ndash im Fol-genden Basiskonturen genannt ndash verschiedenen Modifikationen unterzogen Ak-zente koumlnnen nicht nur hoch oder tief sein sondern auch downstepped oder non-downstepped delayed oder non-delayed raised oder non-raised etc Jeder sol-chen Kategorie ndash der Basiskontur und der Modifikation ndash wird nun eine Grund-bedeutung zugeordnet bdquoon the basis of which specific nuances and specific functions of intonational distinctions can be describedldquo (Ladd 199599) Die zB von Ward und Hirschberg (1985) oder Pierrehumbert und Hirschberg (1990) auf diese Weise erschlossenen Grundbedeutungen fuumlr die verschiedenen phonologischen Kategorien von Intonation sind indes schwierig auf die hier un-tersuchten Vokative anzuwenden da sie meistens an Begriffe wie discourse re-ferent predicate oder lexical item gebunden sind welche in Vokativen gar nicht oder zumindest nicht in derselben Weise vorkommen Ein Vergleich der im Fol-genden eruierten Grundbedeutungen mit denjenigen der eben zitierten Arbeiten waumlre jedoch in einem spaumlteren ndash den Rahmen dieser Arbeit sprengenden ndash Schritt anzustreben Auf die Rufkonturen anwendbar ist jedoch zB Gussenhovens (1984) Beschrei-bung des peak-delays wonach dieser eine Aumlusserung auf irgendeine Art als sehr bedeutsam und non-routine markiere Im Folgenden werden nicht alle moumlglichen Modifikationen der Basiskonturen ausfuumlhrlich beschrieben vielmehr wird jeweils versucht das Prinzip der Uumlberla-gerung der verschiedenen Elemente zu illustrieren Die Gesamtheit der Kombi-nationen dieser intonationalen Morpheme wird in 47 dargestellt und kann auf der Homepage des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft der Universitaumlt Bern (httpiswunibechcontentforschungarbeitspapierezempindex_gerhtml) ndash an den Namen Jan und Angelika exemplifiziert ndash eingehoumlrt werden Im Folgenden beziehen sich die nummerierten Bezeichnungen der Konturen (1) ndash (48) auf die Darstellung in ebendieser Tabelle (wie auch auf der Website)

26

43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

27

Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

32

die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

33

nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

34

Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

36

444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

38

45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

39

Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

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betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

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36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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43 Die verschiedenen Basiskonturen

431 Einfacher tiefer und uumlbergrosser Fall Beim einfachen Fall25 handelt es sich um den Abstieg von einem hohen auf ei-nen mittelhohen bzw downstepped Ton Typischerweise umfasst er ein Intervall von etwa vier Halbtonschritten doch besteht kein kategorieller Unterschied zwi-schen dem Intervall von zwei und dem von fuumlnf Halbtonschritten uumlber welche sich der einfache Fall auch hinziehen kann Im Vergleich zum tiefen Fall welcher den Abstieg von einem ebenfalls hohen auf einen um mindestens sieben Halbtonschritte tiefer gelegenen Ton bezeich-net wirkt der einfache Fall weniger dringlich Er impliziert eine geringere Wichtigkeit und kommt va dann zur Anwendung wenn es sich um eine ge-fuumlhlsneutrale Anrufung geht Der tiefe Fall indes vermittelt eine groumlssere Dring-lichkeit und impliziert oft eine Vorgeschichte Entsprechend wird der tiefe Fall viel haumlufiger mit den in 44 und 45 beschriebenen paralinguistischen und lin-guistischen Modifikationen kombiniert Im Gegensatz dazu scheint der einfache Fall solche Faumlrbungen nicht zu beguumlnstigen Der einfache Fall wird schliesslich haumlufig auf groumlssere Distanzen angewendet doch kann (bzw muss) der tiefe Fall dort ndash unter gewissen Umstaumlnden ndash auch angewendet werden Notationstechnisch unterscheiden sich die beiden Faumllle im Phrasenton wie bei Ladd faumlllt der tiefe Fall auf einen tiefen Ton L und der einfache auf einen downstepped H Untenstehend sind Screenshots von Praat-Dateien der wheedling Modifikationen des tiefen (Abb 1) und des einfachen Falls (Abb 2) abgebildet26 Darauf ist er-sichtlich dass sich die Grundfrequenz beim tiefen Fall um etwa vier Halbtoumlne tiefer senkt als beim einfachen Fall waumlhrend der Nukleus (und die darauffol-gende Silbe) etwa auf der gleichen Houmlhe intoniert wird

25 Dieser Begriff dient hier nicht ndash wie bei einzelnen Autoren ndash zur Abgrenzung vom stilisier-ten sondern vielmehr derjenigen vom tiefen Fall 26Die in diesem Kapitel verwendeten Praat-Dateien sind allesamt basierend auf Aufnahmen meiner eigenen Stimme (vgl die Sound-files unter dem oben erwaumlhnten Link) hergestellt worden Die abgebildeten Grundfrequenzkurven werden von mir als prototypisch fuumlr das jeweilige Intonationsmuster empfunden und sind anhand eines einsilbigen (Jan) und eines mehrsilbigen Namens (Angelika die akzentuierte Silbe ist jeweils mit Grossbuchstaben her-vorgehoben an-GE-li-ka) exemplifiziert

27

Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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27

Abb 1 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen sie-ben Halbtonschritte27

Abb 2 Der wheedling einfache Fall (Kontur 10) zwischen dem Pitchmaximum und dem Pitchminimum liegen vier Halbtonschritte An einigen Stellen deuten die Daten auf einen linguistischen Unterschied zwi-schen dem tiefen und einem bdquouumlbergrossenldquo Fall hin Bei Letzterem ist das Inter-vall groumlsser als eine Oktave Die Verwendung des uumlbergrossen Falls impliziert in den meisten Faumlllen so etwas wie Entsetzen oder Unglaumlubigkeit besonders deutlich ist diese Komponente zB bei der vorwurfsvoll warnend stilisierten An-redekontur herauszuhoumlren (vgl die Konturen (37) und (40)) Der kategorielle Unterschied zwischen uumlbergrossem und tiefem Fall ist bei den wheedling Modi-fikationen weniger eindeutig houmlrbar hier scheint der uumlbergrosse Fall eindringli-cher oder mehr Aufmerksamkeit erheischend als der entsprechende tiefe Fall zu sein (vgl Abb 3 mit den Pendants in Abb 1 und 2)

27

Entsprechend Benzmuumlller Grice amp Baumann (19966) werden die Labels fuumlr die Akzenttoumlne bdquoauf die lokalen Extremwerte der FO-Kurve (Gipfel bzw Taumller) in der akzentuierten Silbe gesetzt es sei denn der Extremwert liegt ausserhalb der Akzentsilbeldquo

28

Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

32

die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

33

nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

34

Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

36

444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

39

Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

58

5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Eine moumlgliche notationstechnische Loumlsung entnehme ich Ladd (1995207) der einen (emphatisch) erhoumlhten Ton bdquoad hocldquo mit H28 bezeichnet Diese Notation hat den Nachteil dass dadurch scheinbar die Vergroumlsserung des Intervalls nach unten ausgeschlossen wird obwohl diese de facto oft mit derjenigen nach oben einhergeht oder diese gar ersetzt

Abb 3 Der wheedling uumlbergrosse Fall (Kontur 12) die Grundfrequenz ist hier bis 250 Hz aufgezeichnet (gegenuumlber 220 Hz in Abb 1 und 2) da das Intervall zwischen dem Peak und dem darauf folgenden Tal 17 Halbtonschritte umfasst

432 Anstieg Der Anstieg wird ungleich dem Fall in der Literatur nicht weiter unterteilt Auch ich sehe keinen Anlass zu einer solchen (linguistischen) Unterscheidung Der Anstieg bezeichnet den Aufstieg von einem tiefen Ton auf einen houmlheren Ton Haumlufig beinhaltet er eine fragende Konnotation welche ja auch abgesehen von Anredekonturen typischerweise durch den Aufstieg gekennzeichnet ist An an-deren Orten va wenn der Aufstieg weniger ausgepraumlgt oder von einem Plateau gefolgt ist kann er auch eine weiterweisende Bedeutung innehaben Diese imp-liziert dass weiterer Diskurs oder auch eine Handlung auf die Anrede folgen muss In den folgenden Ausfuumlhrungen wird der Anstieg mit einem tiefen Schlussgrenzton (entsprechend dem unmarkierten einfachen und tiefen Fall) als unmarkierter Anstieg betrachtet29 Notationstechnisch ist der Anstieg durch ei-nen tiefen Pitchakzent (L) und einen hohen Phrasenton (H) gekennzeichnet

28 Ladds an ebendieser Stelle verwendetes Beispiel (61b) vermittelt uumlberdies aumlhnliche Konno-tationen wie die hier fuumlr den uumlbergrossen Fall beschriebenen 29 bdquoUnmarkiertldquo wird in dieser Arbeit im Sinne von bdquomerkmallosldquo hinsichtlich des im jeweili-gen Kontext gegenuumlbergestellten Merkmals oder ndash wenn wie oben nicht spezifiziert ndash hin-sichtlich aller Modifikationen verwendet

29

44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

30

Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

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4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

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7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

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Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

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19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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44 (Para-)linguistische Faktoren Wie bereits erwaumlhnt ist es bei einer phonologischen Untersuchung von Intonati-on grundlegend paralinguistische Kriterien von linguistischen zu unterscheiden In dieser Arbeit uumlber die Anredeintonationen wird die lexikalische Komponente kontrolliert gehalten Das segmentale Material jeder hier behandelten Aussage hat bloss deiktischen Charakter Trotzdem bleiben genuumlgend Faktoren die zu-sammen mit der Intonation an der pragmatischen Bedeutung der jeweiligen An-rede mitgestalten wobei die paralinguistischen Kriterien von den linguistischen oft nicht einfach zu unterscheiden sind Die einzelnen Konturen werden jeweils anhand verschiedensilbiger Namen welche das segmentale Material jeder hier beruumlcksichtigten Anrede bilden ver-anschaulicht Sie dienten im Uumlbrigen auch zur Eruierung dieser Intonationsmus-ter

441 Intensitaumlt Lautstaumlrke Mit einer partiellen Intensitaumltssteigerung30 kann ein tiefer Fall mit ansonsten un-veraumlndertem F0-Verlauf31 (siehe Abb 4) seine pragmatische Kraft von freudig uumlberrascht zu ungeduldig veraumlndern Auf den Namen Angelika angewendet zeigt sich dass eine solche Intensitaumltssteigerung an verschiedenen Stellen eine in seinem Wesen gleichbleibende Auswirkung auf die Kontur hat Waumlhrend der unintensivierte tiefe Fall also zB bei einem ungeplanten doch erfreulichen Treffen mit einer Angelika verwendet werden kann kommt eine mit erhoumlhtem Druck ausgesprochene zweite oder auch vierte Silbe in einer durch Ungeduld gekennzeichneten Situation zum Zug Weniger gebraumluchlich jedoch ebenfalls moumlglich sind partielle Intensitaumltssteigerungen auf der (unakzentuierten) ersten oder dritten Silbe wie uumlberhaupt eine gesamthafte Intensitaumltssteigerung In die-sem letzteren Fall wird wohl ndash aufgrund der relativen Gleichheit der Intensitaumlt der einzelnen Silben ndash die Stimmqualitaumlt zum entscheidenden Faktor wobei sich diese zwei Variablen nicht nur an diesem Punkt uumlberschneiden vgl 445

30 Intensitaumlt meint hier das akustische Korrelat zur Lautstaumlrke 31 Dieses Intonationsmuster ist als Folge (L) HL-L beschreibbar wobei F0 einer schnel-len mehr oder weniger gleichmaumlssigen Abwaumlrtsbewegung unterzogen wird die sich uumlber ein Intervall von kaum weniger als sieben Halbtonschritte hinwegzieht Dieser Fall setzt mit der akzentuierten Silbe ein welcher ein unterschiedlich stark ausgepraumlgter tiefer Vorlauf voraus-geht

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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Abb 4 Unmarkierter tiefer Fall die durchgehende Linie kennzeichnet die in diesem Fall relativ gleichmaumlssige Intensitaumlt Eine entscheidende Schwierigkeit liegt darin dass die Intensitaumlt grundsaumltzlich zu den die Intonation konstituierenden Faktoren gezaumlhlt wird (vgl Kapitel 2) Gleichzeitig aber setzt Ladd (19958) fuumlr linguistische Kriterien eine kategoriel-le Natur voraus waumlhrend die hier besprochene Intensitaumltssteigerung doch eher gradueller Art zu sein scheint So kann eine leichte Ungeduld mit einer leichten Intensivierung der in jedem Fall akzentuierten zweiten Silbe von Angelika aus-gedruumlckt werden eine staumlrkere Ungeduld indessen mit einer staumlrkeren Intensi-vierung derselben Silbe etc Ein weiteres Problem besteht darin dass ein haumlufiger Nebeneffekt der hier dis-kutierten Intensitaumltssteigerung die Dehnung der betroffenen Silbe ist Wie die Intensitaumlt gehoumlrt nun auch die Laumlnge grundsaumltzlich zu den fuumlr die Intonation ent-scheidenden Kriterien Aber auch fuumlr die Laumlnge scheint mir hier deutlich zu sein dass damit kein kategorieller Unterschied verbunden ist So kann ndash wenn dies auch nicht dem Normalfall entspricht ndash einerseits die freudig uumlberraschte Kon-tur sehr langgezogen realisiert werden und andererseits die ungeduldige Intona-tion sehr komprimiert Entsprechend verhaumllt es sich mit der Gespanntheit Obwohl diese im Normalfall mit der Lautstaumlrke gekoppelt gesteigert wird kann eine Silbe auch deutlich und mit grossem Druck artikuliert und trotzdem leise ausgesprochen werden Auf der anderen Seite kann eine Erhoumlhung der Lautstaumlrke auch ganz ohne eine ge-steigerte Artikulationsdeutlichkeit vollzogen werden Die Gespanntheit faumlllt in

31

diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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diesem Sinn bereits unter das Kriterium der Stimmqualitaumlt welche in 445 be-sprochen wird Die Intensitaumltssteigerung ist mehr oder weniger auf alle in diesem Kapitel be-sprochenen Konturen anwendbar Es liesse sich wohl sogar eine universale Ten-denz formulieren nach welcher bei houmlherer Dringlichkeit einer Aussage ent-sprechend mehr Energie aufgewendet wird welche sich dann meistens als ge-steigerte Intensitaumlt aumlussert

442 Tonhoumlhe Intervall Bei einigen kurzen Personennamen va aber bei solchen bei denen die betonte Silbe kurz ist wie zB Simi oder Kim und noch mehr bei solchen die zusaumltzlich mit einem aspirierten Verschlusslaut anlauten wie zB Patrick (sprich [ph hellip]) oder Paumldi ist der Unterschied zwischen einer bestimmten Ruf- und einer be-stimmten Anredekontur kaum zu houmlren ndash vorausgesetzt sie werden in derselben Lautstaumlrke und Stimmqualitaumlt produziert In dieser Sektion bezeichne ich mit der Rufkontur denjenigen tiefen Fall den ich in der letzten Sektion als freudig uumlber-raschte Kontur bezeichnet habe (Kontur 1) Mit der Anredekontur indes meine ich die Kontur welche sich von dieser Rufkontur durch einen verzoumlgerten Peak unterscheidet und welche je nach Stimmqualitaumlt eine warnende Konnotation an-nehmen kann (Kontur 13 vgl 453) Waumlhrend sich der peak delay beim Namen Angelika bei der Anredekontur deutlich niederschlaumlgt ndash in Form eines Pitchtals auf der betonten Silbe GE welche bei der entsprechenden Rufkontur auf dem hohen Peak der Kontur liegt ndash ist er bei den kuumlrzeren oben erwaumlhnten Namen meistens kaum houmlrbar Diese praktische Ununterscheidbarkeit in letzteren Faumlllen verleitete mich dazu eine allfaumlllige Differenzierung mittels des umfassten Inter-valls oder der Tonhoumlhe zu untersuchen Die Rufkontur kommt zur Verwendung wenn sich die adressierte Person im nauml-heren Umkreis befindet oder zumindest darin vermutet wird weshalb die Laut-staumlrke dabei gegenuumlber der normalen Sprechstimme kaum zunehmen muss Die Anredekontur wird hingegen verwendet wenn die Gespraumlchsdistanz bereits her-gestellt ist und nur noch die Aufmerksamkeit sichergestellt werden muss In Ausnahmefaumlllen kann dabei die Anrede- auf die Rufkontur folgen wenn zB nach Verwendung der Letzteren keine Antwort bei der rufenden Person ange-kommen ist diese aber mittlerweile die unmittelbare Naumlhe der gerufenen Person erreicht hat Da ich bei meiner Untersuchung die beiden Konturen etliche Male miteinander kontrastierte kreierte ich genau diese Situation der Aufeinanderfolge Dabei er-gab sich dass ich die Rufkontur jeweils auf einer houmlheren Tonstufe realisierte als die Anredekontur Dies hat nun mE damit zu tun dass die Tonhoumlhe haumlufig

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

58

5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

59

6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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die (beabsichtigte) Lautstaumlrke widerspiegelt32 Es ergibt also Sinn dass man die Anredekontur wenn sie auf die Rufkontur folgt auf einem tieferen Pitch produ-ziert (oder auch umgekehrt dh wenn man ohne zu schauen jemanden mit der Anredekontur anreden will dann aber wahrnimmt dass dieser sich etwas weiter entfernt befindet aus diesem Grund auf die Rufkontur wechselt und diese auf einem houmlheren Pitch realisiert) Es ist auch moumlglich dass dies in gewissen Situ-ationen die Regel darstellt Dies ist jedoch fuumlr mich zur Zeit nicht uumlberpruumlfbar da es eine separate Untersuchung bedingt Sicher erscheint mir jedoch dass we-der Tonhoumlhe noch Intervall von phonologischer Bedeutung sind in diesem Zu-sammenhang Es ist sowohl moumlglich die Rufkontur mit einer Quint (sieben Halbtonschritte) als auch die Anredekontur mit einer Oktave (zwoumllf Halbton-schritte) zu realisieren (und umgekehrt) (Trotzdem ist es nicht unmoumlglich dass es so etwas wie ein prototypisches Intervall einer Quint gibt fuumlr die Anredekon-tur waumlhrend das der Rufkontur wohl groumlsser sein wuumlrde) Sowohl Tonhoumlhe als auch Intervall korrelieren schliesslich auch mit sprecher- und stimmungsspezi-fischen Parametern welche kompliziert zu kontrollieren sind Im Gegensatz dazu hat das Intervall eine eindeutig linguistische Bedeutung bei der Unterscheidung des einfachen und des tiefen Falls wie in 431 beschrieben Aumlhnlich verhaumllt es sich bei der Abgrenzung des uumlbergrossen Falls wo allerdings nicht ganz klar ist ob das Intervall oder die Tonhoumlhe das entscheidende Krite-rium darstellt Letztere Variante waumlre notationstechnisch (wie in 431 gezeigt) weniger problematisch An dieser Stelle bleibt festzuhalten dass mit dem Intervall ein weiterer Parame-ter an einigen Stellen linguistisch an anderen Stellen jedoch (bloss) paralinguis-tisch zu werten ist

443 Tonhoumlhenbewegung Selbst Bewegungen der Grundfrequenz koumlnnen nicht immer als linguistisch ein-gestuft werden So gibt es im Schweizerdeutschen eine Variante des bdquoungedul-digenldquo einfachen Falls welche durch ein kurzes Pitchtal am Anfang des zwei-ten tiefen Tons charakterisiert ist Ich nenne sie stuumlrmend da sie unter anderem typisch ist fuumlr kleine Kinder die am Hosenbein eines Elternteils zerren weil sie unbedingt ein Eis moumlchten ndash eine Verhaltensweise die man im Schweizerdeut-schen als stuumlrmen bezeichnet Allgemeiner ausgedruumlckt benuumltzt man diese Into- 32 Schon als kleines Kind verwirrte mich die Tatsache dass meine Freunde bei einem be-liebten Nachsingspiel bei welchem man immer lauter werden musste va kontinuierlich houmlher sangen Dies ruumlhrt wohl daher dass bei der Steuerung sowohl der Grundfrequenz als auch der Lautstaumlrke der subglottale Druck mitentscheidend ist (vgl zB Pompino-Marschall 199539ndash40)

33

nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

34

Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

38

45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

39

Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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nation wenn man ungeduldig ist und die adressierte Person (ohne die man das Ziel nicht erreichen kann weil sie zB muumlndiger ist oder mehr Geld hat als die sprechende Person weshalb die stuumlrmende Kontur auch meistens von Kindern verwendet wird) dazu bringen will im eigenen Interesse zu handeln Dabei wirkt der Ton nicht wie bei der wheedling Intonation freundlich (bzw ein-schmeichelnd) sondern unverhuumlllt fordernd und aufdringlich Eine prototypische Anwendung auf den tiefen Fall waumlre zB die Reaktion des oben bdquobestuumlrmtenldquo Elternteils mit der impliziten Botschaft Houmlr jetzt auf zu stuumlr-men Die beiden Verwendungsweisen verbindet die Ungeduld bezuumlglich einer Handlung des bdquoGespraumlchspartnersldquo Im einen Fall wird der Beginn einer sol-chen im anderen Fall die Beendigung einer langeanhaltenden und daher stoumlren-den Handlung gewuumlnscht Dies entspricht der obigen Charakterisierung (vgl 431) des tiefen Falls wonach dieser Kontur meist eine Geschichte vorausgeht in diesem Fall das bdquoGestuumlrmeldquo des Kindes33 Auch die stuumlrmende Kontur wird deutlicher sichtbar wenn man sie am Beispiel von mehrsilbigen Namen betrachtet (vgl Abb 5) Beim Namen Angelika zB folgt auf das mitteltiefe Vorfeld ang die hohe akzentuierte Silbe GE und die (mittel-)tiefe unbetonte Silbe li ein zweiter houmlher gelegener und intensivierter Ton auf der Silbe ka welche schliesslich mit dem tiefen Grenzton (L) aufhoumlrt Die Houmlhe dieses zweiten hohen Tons variiert indes stark Er kann auch nicht als downstepped bezeichnet werden da er bei grosser Ungeduld die Houmlhe des ersten H durchaus uumlbersteigen kann Andererseits kann der Aufstieg nach dem Zwi-schentief auch minimal sein bzw gaumlnzlich durch eine Intensitaumltssteigerung er-setzt werden

33 Die Verteilung dieser zwei prototypischen Anwendungen der stuumlrmenden Intonation kann moumlglicherweise auch auf eine Tendenz zuruumlckgefuumlhrt werden wonach die an einem Gespraumlch teilnehmende Person die auf eine Handlung der anderen angewiesen ist und moumlglicherweise diese Abhaumlngigkeit zeigen will fuumlr den zweiten tieferen Ton eher ein houmlheres Register ein-schlaumlgt waumlhrend diejenige die mehr Macht oder Muumlndigkeit hat und weiss dass die andere ohne sie nicht zum Ziel kommt mit einem tieferen Register einen gewissen Respekt einfor-dert

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Abb 5 Stuumlrmender tiefer Fall die teilweise unterbrochene Linie bezeichnet die Grundfrequenz die durchge-hende die Intensitaumlt Aus dieser Beobachtung kann man schliessen dass es sich bei der stuumlrmenden Kontur um ein graduelles Phaumlnomen handelt Je houmlher man also den zweiten F0-Peak ansetzt desto groumlsser ist die Ungeduld die vermittelt wird Zusaumltzlich ist wie weiter oben bereits erwaumlhnt gesteigerte Tonhoumlhe grundsaumltzlich als Neben-erscheinung gesteigerter Intensitaumlt zu erwarten Die stuumlrmende und ungeduldige Intonation sind daher durch die in 432 beschriebene Intensitaumlt-Tonhoumlhe-Uumlbertragung oft nicht klar voneinander trennbar Verdeutlicht wird dies auch durch die Tatsache dass mit der stuumlrmenden F0-Bewegung keine zusaumltzliche Bedeutungskomponente zum ungeduldigen tiefen Fall hinzukommt In der stuumlr-menden Intonation kommt die ungeduldige pragmatische Kraft staumlrker und wohl auch unverbluumlmter zum Ausdruck Es stellt sich aber auch hier (wie ganz allgemein siehe 431) die Frage wo denn die Grenze zwischen dem eher kindlichen einfachen stuumlrmenden Fall und dem eher einem Kind gegenuumlber verwendeten tiefen stuumlrmenden Fall anzusetzen ist Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten da der charakteristische zwei-te Aufstieg durch zwei Parameter naumlmlich einerseits das Zwischentief und an-dererseits den zweiten Gipfel festgelegt wird Vermutlich ist der erste dieser zwei Parameter entscheidender fuumlr die Zuordnung zum einfachen oder zum tie-fen Fall Tentativ wuumlrde ich die Kontur bei welcher das Zwischentief sieben Halbtonschritte unter dem ersten H liegt und der zweite Gipfel etwa vier Halbtonschritte umfasst als ambivalent und damit als die ungefaumlhre Grenze zwischen dem einfachen und dem tiefen stuumlrmenden Fall bezeichnen Um ge-

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nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

58

5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

59

6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

35

nauere Aussagen machen zu koumlnnen muumlsste man die verschiedenen Parameter jedoch an einer groumlsseren Versuchsgruppe systematisch uumlberpruumlfen Die stuumlrmende Modifikation ist nicht auf alle anderen in diesem Kapitel behan-delten Konturen problemlos anwendbar Die Modifikation der in 452 behan-delten wheedling Intonation welche durch einen hohen Schlussgrenzton ausge-zeichnet ist klingt ambivalent bis unverstaumlndlich ndash ob nun die Schlusssilbe nach dem zweiten Peak gleichmaumlssig hinauf gleitet oder ob sie sich vor dem hohen Schlussgrenzton noch einmal auf die Houmlhe des Zwischentiefs senkt Im ersten Fall ist es wohl von der Groumlsse des Aufstiegs auf den zweiten Peak bzw von der damit verbundenen oder gaumlnzlich dafuumlr eintretenden Intensitaumltssteigerung ab-haumlngig ob die Kontur als stuumlrmend oder als wheedling ndash zwei von der pragmati-schen Kraft her nur schwer zu vereinbarende Modifikationen ndash wahrgenommen wird Der zweite Fall klingt als ob sich die sprechende Person mitten in der An-rede der Person von der sie etwas will fuumlr eine weniger offensive Strategie ent-scheiden (und infolgedessen die stuumlrmende mit einer wheedling Intonation zu canceln versuchen) wuumlrde Anders verhaumllt es sich bei der Uumlbertragung des stuumlrmenden Elements auf stili-sierte Konturen bei welchen der Pitch am Ende ausgehalten wird (und deren stereotype pragmatische Kraft sich bestens mit der stuumlrmenden verbinden laumlsst) Wie im vorhergehenden Abschnitt gibt es auch hier wieder (mindestens) zwei Moumlglichkeiten der Uumlberlagerung Entweder wird die Schlusssilbe ka auf dem zweiten Peak ausgehalten oder die Stilisierung setzt erst ein wenn sich die Grundfrequenz wieder der Houmlhe des Zwischentiefs (der Silbe li) genaumlhert hat Die beiden Varianten scheinen sich nicht kategorisch zu unterscheiden Viel-mehr veraumlndert sich die Staumlrke der stuumlrmenden Konnotation proportional zur Houmlhe des Aufstiegs der Schlusssilbe der ein beliebig grosses Intervall umfassen kann34 Die stereotype Bedeutungskomponente indes impliziert hier ein laumlngeres vorausgegangenes bdquoGestuumlrmeldquo Das Fazit dieser Sektion ist wiederum dass sogar der zentralste linguistische Faktor von Intonation in gewissen Situationen nur eine paralinguistische Funk-tion hat

34 Die Regel dass sich die jeweilige pragmatische Kraft proportional zur Houmlhe des Aufstiegs verhaumllt scheint mir uumlberdies generell auch auf den Anstieg uumlbertragbar (weshalb linguistisch nicht zwischen mehreren Typen von Anstieg unterschieden werden muss)

36

444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

37

Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

38

45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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444 Dauer In 441 wurde bereits gezeigt dass eine verlaumlngerte Dauer von Kontur(teil)en grundsaumltzlich als Nebenprodukt von gesteigerter Lautstaumlrke auftreten kann Viel staumlrker noch ist die Quantitaumlt jedoch mit der Stimmqualitaumlt gekoppelt auf wel-che in der naumlchsten Sektion naumlher eingegangen wird So wuumlrde eine Kontur zB sehr wahrscheinlich durch einen weinerlichen muumlden aber auch durch einen fluumlsternden35 Tonfall langgezogen In solchen Faumlllen handelt es sich indes ein-deutig um paralinguistische Variablen Im Zusammenhang mit der Stilisierung sind die Verhaumlltnisse viel schwieriger zu interpretieren Die Forschenden sind sich in dieser Hinsicht zB bis heute nicht einig ob es sich bei der Laumlnge um einen notwendigen Bestandteil der klassi-schen Rufkontur handelt oder ob die Ebenheit der Toumlne allein wesentlich ist (vgl zB Ladd 1978518) Auch von Ladd anerkannt wird jedenfalls die Tatsa-che dass sich bei der klassischen Rufkontur ein Ton uumlber mehrere Silben hin-weg ausbreiten kann wie es Lebens (1976) tone spreading rule erklaumlrt Zumin-dest hierbei handelt es sich um ein linguistisches Phaumlnomen das sich von dem im vorigen Abschnitt beschriebenen paralinguistischen Faktor Dauer klar ab-hebt

445 Stimmqualitaumlt Lautqualitaumlt An der pragmatischen Kraft jeder Anredeintonation beteiligt jedoch von allen Faktoren am deutlichsten dem paralinguistischen Bereich zuzuordnen ist die Stimmqualitaumlt Durch diese lassen sich die unterschiedlichsten Konnotationen auf ein und dieselbe Kontur projizieren Exemplarisch laumlsst sich dies anhand ei-ner tadelnden Intonation zeigen welche wiederum mit der freudig uumlberraschten (siehe 441) voumlllig identisch ist bis eben auf die Stimmqualitaumlt bzw deren akus-tisches Korrelat die Lautqualitaumlt Je nach pragmatischem Inhalt hat zB das i der ersten Silbe von Simi eine ganz unterschiedliche Formantenstruktur Wenn der Sprecher also einen tadelnden Ton einschlaumlgt (typischerweise einem Kind gegenuumlber zB wenn es etwas angestellt hat das der Sprecher ihm schon bdquotau-sendmalldquo auszutreiben versucht hat) beeinflusst dies die Hauptformanten der Vokale auf gleichmaumlssige Art und Weise In meinem eigenen Sprachgebrauch liegt dabei der erste Formant des i bei einer tadelnden Rufintonation im Schnitt um etwa 70 Hz (413 Hz vs 343 Hz) und der dritte Formant etwa um 100 Hz (3096 vs 2099) houmlher als bei einer gefuumlhlsneutralen Rufintonation (bei praktisch identischen Pitchkurven) der zweite Formant veraumlndert sich nur unwesentlich

35 Diese Adjektive sind als paralinguistische ad-hoc-Beschreibungen zu verstehen und nicht etwa als linguistische Kategorien (vgl zB Laver (1994190ndash1) zu bdquowhisperldquo)

37

Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

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Solche Veraumlnderungen der Stimmqualitaumlt wirken sich sehr wahrscheinlich von Person zu Person houmlchst unterschiedlich auf die Vokale aber auch auf die Kon-sonanten aus So koumlnnte man wohl eine Tendenz feststellen gemaumlss der bei groumlsserer Wichtigkeit des durch die Anrede eroumlffneten Anliegens die Artikulati-on der Konsonanten entsprechend an Deutlichkeit36 zunimmt Gegenlaumlufig dazu muumlsste man jedoch vermuten dass in einer Situation in der es um Leben und Tod geht eine sorgfaumlltige Artikulation in den Hintergrund geruumlckt wird Mit Si-cherheit kann man jedoch festhalten dass dieselbe Kontur je nach Stimmqualitaumlt unterschiedlichste pragmatische Kraft haben kann Einmal mehr laumlsst sich an dieser Stelle auch die Vermischung der verschiedenen an der pragmatischen Kraft mitformenden Faktoren demonstrieren In einer wie der zuletzt vorgestellten Situation ist es bestimmt auch ein Hauptanliegen uumlber-haupt gehoumlrt zu werden weshalb nach Moumlglichkeit eine grosse Lautstaumlrke ver-wendet wird Gleichzeitig ist man vielleicht unter einem grossen Zeitdruck wel-cher sich seinerseits auf die Laumlnge der Intonation negativ auswirkt Bei einem weinerlichen Tonfall andererseits wuumlrde die Aumlusserung wohl eher langgezogen etc

446 Schlussfolgerungen In 44 wurde einerseits gezeigt wie wichtig die Unterscheidung von linguis-tischen und paralinguistischen Faktoren fuumlr eine Untersuchung wie die vorlieg-ende ist Am eindruumlcklichsten wird dies durch die Tatsache illustriert dass sogar die konstituierenden Faktoren von Intonation ndash die Grundfrequenz Intensitaumlt und Dauer ndash in einigen Faumlllen als nicht linguistisch angesehen werden muumlssen Andererseits sollte dieses Teilkapitel aufzeigen wie problematisch es ist eine einzelne Kontur mit einem einzigen Attribut wie wheedling oder warnend zu bezeichnen37 Wenn man alle moumlglichen eben diskutierten (meist) paralinguis-tischen Parameter in Betracht zieht findet man fuumlr die meisten Konturen meh-rere recht unterschiedliche Auspraumlgungen welche sich jeweils kaum durch einen einzigen Begriff erfassen lassen Trotzdem ist es natuumlrlich notwendig Gegenstaumlnde einer Untersuchung zu bezeichnen weshalb auch die im Folgenden betrachteten Intonationsmuster mit ebensolchen Attributen versehen sind Diese Namengebung beansprucht jedoch keine allgemeine Guumlltigkeit

36 Hier uumlberschneidet sich der Parameter der Stimmqualitaumlt mit dem der Intensitaumlt (siehe 441) 37 Vgl bereits Crystal (1969)

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

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10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

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Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

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29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

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31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

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- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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45 Die verschiedenen Modifikationen Die im folgenden Unterkapitel behandelten Modifikationen sind prinzipiell auf alle in 43 beschriebenen Basiskonturen anwendbar Gewisse Kopplungen sind jedoch viel weniger gebraumluchlich als andere oder gar nicht moumlglich teils auf-grund inkompatibler pragmatischer Bedeutungskomponenten teils aber auch aus rein technischen Gruumlnden Einerseits koumlnnen sie gegenteilige Pitchbewegungen enthalten andererseits (fast) identische und daher ununterscheidbare Auf solche Inkompatibilitaumlten wird jeweils an Ort und Stelle eingegangen

451 Stilisiert Die Verhaumlltnisse bezuumlglich der stilisierten Intonation im Schweizerdeutschen entsprechen im Grossen und Ganzen den in Ladd (1978) beschriebenen bzw zu-sammengefassten weshalb auch Ladds Bezeichnung beibehalten wird Die An-wendung der Stilisierung auf den einfachen und den tiefen Fall wurde in Kapitel 3 ausfuumlhrlich beschrieben Vom stilisierten tiefen weiter zu unterscheiden ist ein stilisierter uumlbergrosser Fall welcher zusaumltzlich eine gewisse Ungeduld bzw Unglaumlubigkeit (zB bezuumlglich der Renitenz der angerufenen Person) ausdruumlckt Die Abbildungen 6ndash8 geben die Grundfrequenzkurven des tiefen einfachen und uumlbergrossen Falls wieder

Abb 6 Stilisierter tiefer Fall (Kontur 5) Max 176 Hz Min 114 Hz Intervall sieben Halbtonschritte

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Abb 7 Stilisierter einfacher Fall (Kontur 6) Max 164 Hz Min 126 Hz Intervall vier Halbtonschritte

Abb 8 Stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Max 193 Hz Min 97 Hz Intervall elf Halbtonschritte Auf den unmarkierten Anstieg (Abb 9) angewendet scheint mir die stilisierte Kontur im Schweizerdeutschen nicht sehr gebraumluchlich Wenn man sich eine Anwendung trotzdem vorstellt houmlrt man erwartungsgemaumlss eine stereotype Konnotation heraus Ein solcher stilisierter Anstieg koumlnnte zB in einer Situati-on verwendet werden in welcher ein Lehrer zum wiederholten Mal die einzige die Hand erhoben haltende stets gleiche Schuumllerin aufrufen muss um eine Ant-wort auf die gestellte Frage zu bekommen

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

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ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

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25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

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31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

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39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Abb 9 Stilisierter Anstieg (Kontur 7) Die Kombination mit den weiter unten beschriebenen Modifikationen warnend und vorwurfsvoll zeigt dass die Stilisierung sich auch ndash ohne ihre pragmatische Kraft zu veraumlndern ndash auf den zweiten Ton beschraumlnken kann Die versuchte Kopplung mit wheedling wiederum legt nahe dass allein der zweite Ton zum Wesen der Stilisierung gehoumlrt Wenn dieser zweite lange Ton naumlmlich am Ende ndash wie fuumlr wheedling charakteristisch ndash aufsteigt geht die stereotype Konnotation verloren Was bleibt ist eine langgezogene wheedling Kontur welche sich lin-guistisch nicht von einer kuumlrzeren ebensolchen unterscheidet Die Laumlnge bzw Ebenheit des ersten Tons scheint dabei eine blosse Begleiterscheinung zu sein Die in Ladd (1995) verwendete Notation welche sich durch die Absenz eines abschliessenden Grenztons auszeichnet betrachte ich als die sinnvollste

452 Wheedling Gussenhoven (2004) beschreibt eine wheedling Variante des vocative chant welche durch einen auf den zweiten tiefen ebenen Ton folgenden Anstieg cha-rakterisiert und durch einen Schlussgrenzton H gekennzeichnet ist Dieser Schlussaufstieg ist mit den gleichen pragmatischen Implikationen auf einige weitere auch ungesungene Konturen anwendbar wobei seine pragmatische Kraft je nach Laumlnge und Intensitaumlt variiert Die wheedling Modifikation des tie-fen einfachen und uumlbergrossen Falls wurde in Sektion 431 mithilfe von Praat-Screenshots dargestellt vgl Abb 1ndash3 Mit der wheedling Intonation impliziert die Sprecherin dass sie vom Adressaten eine bestimmte Handlung erwuumlnscht Die Sprecherin darf gar nach der Anwen-dung dieser Kontur auf den blossen Namen des Adressaten damit rechnen dass dieser sich auf eine Bitte von ihrer Seite gefasst macht bzw bereits zum Vorn-herein klarstellt wenn er keine Zeit fuumlr die Erweisung eines Gefallens hat

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

58

5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Auch auf eine sehr kurze gaumlnzlich bdquoungesungeneldquo Folge von kurzem H und H ist der Effekt des H-Grenztons deutlich houmlrbar Waumlhrend bei einer diesbezuumlg-lich unmarkierten Intonation die Adressatin nicht ausschliessen kann dass der Sprecher sie zB an eine Sitzung erinnern will kann sie bei einem leichten An-steigen von F0 am Schluss der Anrede sicher sein dass diese sich auf eine Hand-lung bezieht die in mehr oder weniger direktem Interesse des Sprechers ist Wird die wheedling Kontur auf den tiefen Fall angewendet ist sie ebenfalls mit einer Erwartung seitens des Sprechers verbunden doch kann sich diese auch darauf beschraumlnken fuumlr einen Augenblick die Aufmerksamkeit der Houmlrerin zu haben Entsprechendes laumlsst sich auch fuumlr den wheedling Anstieg festhalten Nach ei-nem allfaumllligen Vorlauf in mitteltiefer Tonlage steigt diese Kontur relativ gleichmaumlssig von einem tiefen Nukleus zu einem hohen Schlussgrenzton und wird in einer Situation angewendet in der irgendein Kommentar von der adres-sierten Person erwartet wird Vom unmarkierten Anstieg unterscheidet sich die wheedling Version wohl durch die Houmlhe des Schlussaufstiegs In Verbindung mit der in der naumlchsten Sektion beschriebenen warnenden Kontur entspricht die resultierende pragmatische Kraft etwa einer dringlichen Bitte Bei mehreren anderen Konturen ist die Kopplung mit der wheedling Modifikati-on problematisch Wie in 443 anhand der stuumlrmenden Intonation gezeigt wur-de koumlnnen dabei technische wie auch semantische Gruumlnde eine Rolle spielen Bei den stilisierten Konturen ist es die Ebenheit des zweiten Tons welche einen Schlussaufstieg ausschliesst Einige weiter unten diskutierte Konturen (vgl zB 462) schliessen eine wheedling Modifikation wohl dadurch aus dass sie viel-mehr Kommentare sind als Anreden welche eine Handlung bewirken sollen So scheint auch eine Kombination mit der vorwurfsvollen Kontur durch inkompa-tible Bedeutungskomponenten verhindert zu werden Das vorwurfsvolle Element laumlsst sich ndash aumlhnlich wie das stuumlrmende ndash schwer mit dem einschmeichelnden des wheedling Schlenkers verbinden Diese Beobachtung bestaumltigt einerseits die Charakterisierung der beiden Modifikationen andererseits die Abhaumlngigkeit der Kombinierbarkeit zweier Konturen von der Kompatibilitaumlt ihrer jeweiligen Be-deutungskomponenten

453 Warnend Abe (1962) diskutiert eine Kontur welche aus einem hohen ebenen ersten Ton und aus einem zweiten noch houmlher beginnenden tief fallenden Ton besteht und welche er wie Anderson (1958sect66) als bdquoimperative or reprovingldquo empfindet und als Anstieg einordnet Fox (1969) beschreibt das wohl gleiche Muster als ri-

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

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40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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se-fall Beide Konturen zeichnen sich durch einen steilen Aufstieg von der be-tonten Silbe auf den Beginn der nachfolgenden Silbe(n) hinauf aus und werden hier als warnende Konturen behandelt Foxacute rise-fall-rise gehoumlrt wohl eher nicht zu den warnenden Konturen da Fox ihn als bdquoneutral summonsldquo umschreibt Der in diesem Fall (dh bei auf der ersten Silbe betonten Namen) nicht obligatori-sche vor oder zu Beginn der betonten Silbe eintretende Anfangsaufstieg muss daher von dem fuumlr die warnende Kontur wesentlichen und deshalb obligatori-schen Aufstieg unterschieden werden welcher zu einem verzoumlgerten Peak (nach oder spaumlt in der betonten Silbe) fuumlhrt Der Unterschied ist in den Abbildungen 10 und 11 gut erkennbar (in Tab 1 sind die lokalen Peaks der entscheidenden Silben numerisch dargestellt die wichtigen Zahlen sind durch fette Schreibwei-se hervorgehoben) Bei beiden Konturen wird der Vorlauf auf einer mittleren Tonhoumlhe produziert Waumlhrend jedoch im zweiten (warnenden) Fall ein Abstieg auf die betonte Silbe (GE) gefolgt von einem schnellen Aufstieg nach oder am Ende der betonten Silbe stattfindet liegt im ersten (unmarkierten) Fall die beton-te Silbe deutlich oberhalb des Vorlaufs und houmlchstens knapp unterhalb des Peaks (dh ein minimaler peak delay ist gerade bei unmarkierten wheedling Konturen nicht ungewoumlhnlich) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan tendieren diese beiden Aufstiege indes dazu neutralisiert zu werden

Abb 10 Der wheedling tiefe Fall (Kontur 9)

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Abb 11 Der warnend wheedling tiefe Fall (Kontur 21) ang GE li ka- a unmarkiert 135 208 213 113 165 warnend 126 111 120-193 102 192 Tab 1 Grundfrequenzen von zwei typischen Beispielen des wheedling tiefen Falls und des warnend wheedling tiefen Falls Das Attribut warnend trifft nur auf einen Teil der dadurch gekennzeichneten Konturen zu erscheint mir aber als besonders typisch fuumlr das zu diskutierende Muster Die Gesamtheit der Faumllle liesse sich vielleicht besser mit eindringlich erfassen doch ist dieser Begriff weniger praumlgnant und exklusiv als eben war-nend kann eine eindringliche Komponente doch auch von anderen linguisti-schen Konturen wie zB dem uumlbergrossen Fall oder auch von paralinguisti-schen Modifikationen wie zB einer Intensitaumltssteigerung hervorgerufen wer-den Die warnende Kontur ist durch eine aufsteigende betonte Silbe (mit dem Pit-chakzent LH) ausgezeichnet Sie kann sowohl den Anstieg als auch den einfa-chen und den tiefen Fall modifizieren Dabei kommt das warnende Moment beim tiefen Fall am deutlichsten zum Ausdruck Waumlhrend die pragmatische Kraft des einfachen Falls zB noch mit Houmlrst du mir mal zu paraphrasiert werden kann trifft auf diejenige des tiefen Falls viel eher Houmlrst du mir jetzt end-lich zu zu Auf den Anstieg uumlbertragen wirkt die warnende Modifikation etwas intimer als die unmarkierte falls sie sich denn tatsaumlchlich ndash wie ich annehme ndash in einer Vergroumlsserung des Abstiegs vom Vorlauf auf den betonten tiefen Ton auswirkt Da die warnende Modifikation den Nukleus einer Aumlusserung betrifft ist sie auch mit den zuvor behandelten das Ende der Kontur veraumlndernden Modifikationen stilisiert und wheedling koppelbar Dabei uumlberlagern sich auch die pragmati-schen Implikationen der verschiedenen Teilkonturen regelmaumlssig So klingen

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

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13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

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ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

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25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

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36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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stilisierte Modifikationen stereotyp waumlhrend wheedling bekraumlftigen dass etwas vom Houmlrer erwartet wird In aumlhnlicher Art und Weise funktioniert auch die Ver-staumlrkung der warnenden (oder auch dringlichen) Komponente durch (partielle oder gesamthafte) Intensivierung oder stuumlrmende Veraumlnderung der F0-Bewegung Ebenfalls kann zB die von Fox beschriebene Konnotation bdquointima-teldquo mittels einer gehauchten Stimme hervorgehoben werden Natuumlrlich sind ei-nige weitere Schraffierungen mithilfe der Stimmqualitaumlt moumlglich An dieser Stelle muss eine weitere Beobachtung erwaumlhnt werden Wenn man beim warnenden (insbesondere tiefen) Fall den Aufstieg nach der tiefen Kern-silbe sehr umfangreich realisiert und dabei typischerweise von der Brust- in die Kopfstimme wechselt (und damit eine kindliche Stimmqualitaumlt einschlaumlgt) laumlsst sich die Kraft der dabei resultierenden Intonation etwa als Du Schlingel du um-schreiben Es handelt sich hierbei kaum um einen kategoriellen Unterschied zum unmarkierten Fall Vielmehr scheint die uumlbertriebene Pitchbewegung und der damit verbundene Wechsel des Stimmregisters eine kindliche Stimmqualitaumlt auszumachen und daher die Verwendung gegenuumlber einem Kind das etwas (maumlssig) Schlimmes getan hat zu beguumlnstigen Was die Notation betrifft so lassen sich die vier warnend modifizierten Basis-konturen folgendermassen wiedergeben der einfache Fall durch LHH (hellip) der tiefe Fall durch LHL (hellip) der Anstieg durch LHH (hellip) und der uumlber-grosse Fall durch LHL (hellip) wobei der komplexe Pitchakzent der letzten Kontur eine Erweiterung der bdquotraditionellenldquo Notation darstellt Werden diese Konturen unmarkiert realisiert tritt an ihr Ende ein tiefer Grenzton L falls wheedling dann ein hoher Grenzton H bei einer stilisierten Realisierung bleibt der Grenzton aus

454 Vorwurfsvoll Bei der vorwurfsvollen Modifikation liegt die entscheidende Veraumlnderung in ei-ner Art Stilisierung38 der nuklearen Pitchbewegung wobei der Kern der Kontur auf der akzentuierten Silbe komprimiert vollzogen wird Dieser Kern umfasst bei einem komplexen nuklearen Akzent diesen selbst (also zB LH bei der warnenden Kontur vgl Abb 18) waumlhrend er bei einem einfachen nuklearen Akzent den folgenden Phrasenton miteinbezieht (zB HL- beim tiefen Fall vgl Abb 12) Bei einem einsilbigen Namen wie Jan bei dem sich jede (auch nicht-vorwurfsvolle) Kontur auf die einzige vorhandene Silbe beschraumlnken muss bewirkt die vorwurfsvolle Modifikation eine Verkuumlrzung des Vorlaufs ei-

38 Zu dieser Bezeichnung passt die Tatsache dass der geschleifte Ton auch auf eine (in belie-bigem Ausmass) gesungene Art und Weise produziert werden kann wie dies von Ladd (1978524-5) fuumlr die stilisierten ebenen Toumlne beschrieben wird

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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ne Vergroumlsserung des Intervalls sowie eine Intensivierung der nuklearen Pitch-bewegung ndash alles Mittel zur Hervorhebung der nuklearen Pitchbewegung ndash und verhindert so eine Neutralisierung mit der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (vgl Abb 16) Im Konkreten bedeutet das zB fuumlr den vorwurfsvollen (und sonst unmarkierten) tiefen Fall des Namens Angelika (Abb 12) eine auf die mittelhohe39 Silbe ang folgende Schleifung der Silbe GE vom F0-Maximum in hoher Geschwindigkeit auf das ungefaumlhre F0-Minimum in dessen Naumlhe die restliche Kontur (lika) reali-siert wird Waumlhrend also im unmarkierten tiefen Fall (Abb 13) der Peak erst spaumlt in (oder gar nach) der akzentuierten Silbe erreicht wird und die Folgesilbe sich mitten in der Abwaumlrtsbewegung der Grundfrequenz befindet vollzieht sich beim vorwurfsvollen Pendant die gesamte Fallbewegung auf der betonten Silbe

Abb 12 Vorwurfsvoller tiefer Fall (Kontur 25)

Abb 13 Unmarkierter tiefer Fall (Kontur 1) 39 Bei bdquomittelhochldquo handelt es sich um eine rein phonetische Beschreibung welche nicht im-pliziert dass man auch auf der phonologischen Seite von einem mittleren Ton M ausgehen muumlsste

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

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19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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In entsprechender Weise aber noch deutlicher ist diese Unterscheidung beim stilisierten uumlbergrossen Fall (Abb 14 und 15) zu beobachten

Abb 14 Vorwurfsvoll stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 32)

Abb 15 Unmarkierter stilisierter uumlbergrosser Fall (Kontur 8) Auf einen einsilbigen Namen wie Jan angewendet ist die vorwurfsvolle Modifi-kation wie bereits angesprochen schwieriger definierbar Sie scheint sich aber auch hier als Komprimierung der Kernkontur zu manifestieren Eine typische vorwurfsvolle Entsprechung des sonst unmarkierten tiefen Falls unterscheidet sich von jenem dadurch dass der Peak etwa doppelt so schnell (wie in Abb 16 gezeigt)40 und das F0-Tal bereits kurz nach der Haumllfte der Kontur beinahe er-reicht ist waumlhrend die Grundfrequenz sich beim unmarkierten Pendant nach Er-reichen des Peaks relativ kontinuierlich bis am Schluss senkt (nota bene Der graphische Unterbruch der Grundfrequenzkurve in der vorwurfsvollen Kontur in Abb 16 ist akustisch nicht als Unterbruch wahrnehmbar)

40 Dabei wird hier ndash zu Beginn der Kontur ndash das F0-Maximum von unten her angepeilt ganz im Gegensatz zur uumlberdruumlssigen entsprechenden Kontur welche in 455 behandelt wird

47

Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

48

Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

49

Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

51

also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

59

6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

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Abb 16 In diesem vorwurfsvollen tiefen Fall (Kontur 25 rechts) wird die maximale Grundfrequenz bereits nach 8 beim unmarkierten tiefen Fall (Kontur 1 links) jedoch erst nach 16 Hundertstelsekunden erreicht Auch eine steigende nukleare Kontur wie diejenige beim warnenden tiefen Fall (mit dem komplexen nuklearen Akzent LH) wird durch die vorwurfsvolle Mo-difikation hervorgehoben wie dies wiederum die Anwendung auf den Namen Angelika zeigt (Abb 17 und 18) Auf die mittelhohe Anfangssilbe ang folgt hier die Schleifung der betonten Silbe GE beginnend auf dem mittelhohen An-fangston und sich mit hoher Geschwindigkeit (meist) knapp uumlber das Pitch-maximum neigend und schliesslich die zwei Endsilben welche relativ schnell das tiefste Niveau erreichen Waumlhrend sich beim warnenden tiefen Fall (Abb 17) die Steigung uumlber die akzentuierte und die darauf folgende Silbe erstreckt begrenzt sie sich beim vorwurfsvoll warnenden tiefen Fall (Abb 18) auf die ak-zentuierte Silbe Die Realisierung auf einer einzigen Silbe hat unter anderem zur Folge dass die Kontur nicht durch allfaumlllige Konsonanten unterbrochen wird wie es bei der unten abgebildeten nicht-vorwurfsvollen Intonation von Angelika der Fall ist (vgl die Grundfrequenzkurven der beiden Abbildungen) Es gehoumlrt zum Wesen der vorwurfsvollen Stilisierung solche Unterbruumlche zu vermeiden

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

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Abb 17 Unmarkierter warnender tiefer Fall (Kontur 13)

Abb 18 Vorwurfsvoll warnender tiefer Fall (Kontur 33) Wird die vorwurfsvolle Kontur auf den unmarkierten Anstieg (also auf eine aus nuklearem Akzent und Phrasenton zusammengesetzte Kontur) angewendet (vgl Abb 20) wird wiederum der gesamte Aufstieg auf der akzentuierten Silbe reali-siert waumlhrend er sich bei der nicht-vorwurfsvollen Entsprechung (Abb 19) bis uumlber die Folgesilbe hinaus erstreckt wo er wiederum durch eine Konsonanten-fuge unterbrochen wird und dadurch nicht einmal einen eigentlichen Peak er-reicht

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Abb 19 Unmarkierter Anstieg (Kontur 3)

Abb 20 Vorwurfsvoller Anstieg (Kontur 27) Bei den warnenden Entsprechungen dieser Konturen ist der Abstieg vom Vor-lauf auf den tief beginnenden Nukleus groumlsser Auch bei diesen zwei Modifika-tionen ist die vorwurfsvolle Konnotation deutlich herauszuhoumlren Auch (im Sinne von Sektion 441) stilisierte Konturen koumlnnen zusaumltzlich vor-wurfsvoll realisiert werden Der eben diskutierte Anstieg (warnend oder unmar-kiert) koumlnnte dann ndash mit zwei ebenen langgezogenen Schlusssilben auf dem Peak des geschleiften Anstiegs41 ndash zB von einer Lehrerin formuliert werden die einen seine Finger schnipsenden Schuumller aufruft von dem sie genau zu wis-sen denkt (und diesem Gefuumlhl durch die vorwurfsvolle Kontur Ausdruck ver-leiht) dass seine Bemerkung wie immer uumlberhaupt nicht zum Thema passt Sehr deutlich unterscheidet sich auch die vorwurfsvolle Modifikation des war-nend stilisierten tiefen Falls von ihrer unmarkierten Entsprechung Wiederum 41Diese Kontur ist nicht zu verwechseln mit einem aumlhnlichen uumlberdruumlssigen Anstieg bei welchem das F0-Minimum nicht wie hier von oben her angepeilt wird sondern bereits der Vorlauf ang auf diesem Minimum liegt (vgl 455)

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

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betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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spielt sich der Kern der Kontur bei der vorwurfsvollen Version innerhalb der ak-zentuierten Silbe ab (Abb 22) waumlhrend diese bei der unmarkierten Version praktisch eben ist (Abb 21)

Abb 21 Warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 17)

Abb 22 Vorwurfsvoll warnend stilisierter tiefer Fall (Kontur 37) Die vorwurfsvolle Intonation laumlsst sich auch auf den einfachen und den uumlber-grossen Fall anwenden Weiter ist sie auch mit der stuumlrmenden Modifikation kombinierbar Mit dem wheedling Schlussschlenker schliesslich scheint die vorwurfsvolle Kontur nicht kompatibel zu sein ganz einfach weil deren pragma-tische Kraft des Vorwurfs nicht mit der Strategie des Einschmeichelns welche mit der wheedling Intonation verbunden ist vereinbar ist Die Notation der vorwurfsvollen Kontur ist insofern problematisch als die Be-wegung welche dadurch veraumlndert wird wie erwaumlhnt unterschiedliche Ton-kombinationen betrifft So wird zB beim warnenden tiefen Fall die Bewegung innerhalb des komplexen nuklearen Akzents LH erfasst waumlhrend bei einem unmarkierten tiefen Fall HL-L der einfache nukleare Akzent H zusammen mit dem Phrasenton L- die vorwurfsvoll modifizierte Kontur enthaumllt Man muss

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

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6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

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25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

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31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

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36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

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39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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also entweder den Wirkungsskopus der Modifikation mit Klammern definieren oder die Kontur insgesamt markieren mit der Regelung dass bei einem einfa-chen nuklearen Akzent der nachfolgende Phrasenton von der Modifikation mit-erfasst wird Wenn man sich schliesslich fuumlr [~] als Kennzeichen (und die erste der beiden vorgeschlagenen Loumlsungen) entscheidet koumlnnte der vorwurfsvolle tiefe Fall etwa als ~(HL-)L notiert werden das warnende Pendant hingegen als ~(LH)L-L Diese zwei Beispiele illustrieren auch die Problematik des Ansatzes eines komplexen Pitchakzents zur Darstellung der vorwurfsvollen Sti-lisierung Waumlhrend dieser bei fallenden nuklearen Pitchbewegungen wie im ers-teren Beispiel durchaus sinnvoll erscheint (es koumlnnte etwa als HL-L-L notiert werden) ist er auf die warnende Kontur mit ihrem komplexen steigenden Pitch-akzent (LH) nicht anwendbar Die vorgeschlagene Notation mit der Tilde wahrt im Gegensatz dazu eine gewisse Konsistenz

455 Uumlberdruumlssig nicht-auffordernd Ein mit der vorwurfsvollen Kontur nahe verwandtes Intonationsmuster ist das in 454 bereits angesprochene uumlberdruumlssige Auf den einfachen tiefen und uumlber-grossen Fall angewendet wird die Kontur folgendermassen realisiert (wieder am Beispiel des Namens Angelika illustriert vgl Abb 23) Der Vorlauf ang wird noch auf dem jeweils houmlchsten Niveau wiedergegeben doch schon innerhalb des ersten Abschnitts der betonten Silbe GE wird die Grundfrequenz auf das Minimum hinuntergeschleift auf dem auch die letzten beiden Silben lika aus-gehalten werden (bzw von dem sie nur leicht abweichen) Der Anstieg stellt das exakte Spiegelbild des Falls dar insofern als hier die betonte Silbe (bzw deren Anfangsteil) vom F0-Minimum aufs F0-Maximum geschleift wird Waumlhrend der Vorlauf also bei allen anderen Modifikationen auf einer mittleren Houmlhe realisiert wird faumlllt er bei den zu eroumlrternden Konturen beim Fall mit dem F0-Maximum und beim Anstieg mit dem F0-Minimum zusammen

Abb 23 Uumlberdruumlssiger einfacher Fall (Kontur 42)

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

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2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Die uumlberdruumlssige Kontur unterscheidet sich formal nur durch den initialen mit dem Nukleus auf einer Houmlhe liegenden Grenzton von einer entsprechenden vor-wurfsvoll stilisierten Intonation Zumindest beim (einfachen tiefen und uumlber-grossen) Fall hebt sich auch die pragmatische Kraft der uumlberdruumlssigen Kontur nur minimal von der vorwurfsvoll stilisierten ab es fehlt ihr eine auffordernde Komponente Waumlhrend zB der oben abgebildete uumlberdruumlssige wie auch der vorwurfsvoll stilisierte einfache Fall beide durchaus Uumlberdruss gegenuumlber einer Verhaltensweise der angesprochenen Person ausdruumlcken enthaumllt nur der Letzte-re die pragmatische Kraft die zB mit Komm jetzt endlich paraphrasiert werden kann der Erstere kommentiert das Uumlberdruss ausloumlsende Geschehen ohne je-doch direkt auf eine Handlung der angesprochenen Person hinzuzielen Werden die beiden Modifikationen auf den Anstieg angewendet verschwimmt dieser Unterschied ein wenig Dies hat wohl damit zu tun dass der Anstieg per se eine weiterfuumlhrende Bedeutungskomponente enthaumllt So kann der vorwurfsvoll stili-sierte wie auch der uumlberdruumlssige Anstieg zB in einer Situation angewendet werden in welcher ein (in ungeziemender Art und Weise gereizter) Lehrer zum wiederholten Mal die gleiche Schuumllerin aufrufen muss da sich sonst nie jemand auf seine Fragen meldet Waumlhrend der erste Anstieg jedoch von der Schuumllerin als Aufforderung die Frage zu beantworten verstanden wird fehlt letzterem diese pragmatische Kraft neben dem Uumlberdruss der dadurch vermittelt wird druumlckt dieser dank der weiterfuumlhrenden Bedeutungskomponente nichtsdestotrotz die Erwartung aus dass die Schuumllerin wohl oder uumlbel die gestellte Frage beant-worten wird Den Uumlberdruss signalisiert der Sprecher indes erst in zweiter Linie der Houmlrerin va aber dem Rest der Klasse also der Mithoumlrerschaft Es laumlsst sich folglich ein weiteres Intonationsmorphem der initiale mit dem fol-genden Kern auf gleicher Ebene befindliche Grenzton eruieren der jedoch nur in sehr beschraumlnktem Masse mit den anderen in diesem Kapitel beschriebenen Konturen kombinierbar ist Dies hat va damit zu tun dass er eine der Anrede inhaumlrente Bedeutungskomponente naumlmlich die pragmatische Kraft welche die angesprochene Person zu einer Handlung ndash auch wenn dies nur das Richten der Aufmerksamkeit auf die sprechende Person ist ndash auffordert cancelt um nicht zu sagen zu canceln versucht Eine zweite Gruppe von Konturen deren Modifika-tion durch den initialen Grenzton in gewissen Situationen denkbar ist ist die sonst unmarkierte (Konturen 1ndash4) So koumlnnte ein nicht-auffordernder tiefer Fall zB dann zum Zuge kommen wenn die sprechende die angesprochene Person eben erst bemerkt hat seine pragmatische Kraft koumlnnte man als registrierend beschreiben oder mit Aha du bist auch hier paraphrasieren Tatsaumlchlich scheint der hohe initiale Grenzton bzw (an Angelika exemplifiziert) der auf der gleichen Grundfrequenz wie die akzentuierte Kernsilbe GE realisierte Vorlauf (ang) die Anrede ihrer adressierenden Kraft berauben zu wollen (Dass diese Kraft nicht vollstaumlndig verloren gehen kann liegt im Wesen der Aussprache ei-nes Personennamens deren Traumlgerin oder Traumlger anwesend ist) Auch auf den

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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uumlbergrossen Fall angewendet ist die pragmatische Kraft des initialen H gut er-kennbar gegenuumlber dem tiefen tritt im uumlbergrossen Fall die Komponente er-staunt staumlrker zu Tage Die entsprechende (dh durch einen tiefen Grenzton bzw durch einen auf der gleichen Grundfrequenz wie der tiefe Nukleus reali-sierten Vorlauf ausgezeichnete) Modifikation des (unmarkierten) Anstiegs klingt ebenfalls nicht wie eine direkte Anrede sondern vielmehr wie ein laut ausge-sprochener Gedanke der etwa mit Wieso nicht Angelika Moumlchte wohl Angelika diesen Job uumlbernehmen umschrieben werden koumlnnte Der nicht-auffordernd modifizierten ausstehenden unmarkierten Kontur dem einfachen Fall indes scheint eine kohaumlrente pragmatische Kraft zu fehlen dies leuchtet ein wenn man eine mit der nicht-auffordernden im Widerstreit stehende rufende Kompo-nente des einfachen Falls in Betracht zieht Eine weitere Kontur die durch die nicht-auffordernde Modifikation nicht ein-deutig ungrammatisch zu werden scheint ist diejenige des vorwurfsvollen tiefen Falls Im Unterschied zu dem im vorhergehenden Abschnitt beschriebenen nicht-auffordernden tiefen Fall druumlckt dessen vorwurfsvolle Entsprechung einen leichten ndash nicht unbedingt gegen die angesprochene Person sondern vielmehr gegen die Umstaumlnde die zur Verspaumltung eben dieser Person gefuumlhrt haben ge-richteten ndash Vorwurf aus die pragmatische Kraft dieser Kontur kann mit Bist du doch noch aufgetaucht nur ungenau paraphrasiert werden Wie die im Folgen-den kurz beschriebenen nicht-auffordernden Modifikationen ist der nicht-auffordernd vorwurfsvolle tiefe Fall einem Bereich zwischen Ungrammatikalitaumlt und Nicht-Unterscheidbarkeit von der auffordernden (dh ohne den initialen Grenzton) Entsprechung zuzuordnen Wird der initiale Grenzton mit dem finalen wheedling Aufstieg kombiniert klingen nicht-erstbetonte (dh nicht auf der ersten Silbe betonte) Namen wie Angelika unnatuumlrlich waumlhrend bei erstbetonten (dh auf der ersten Silbe beton-te) Namen wie Jan kaum ein Unterschied zu auffordernden Konturen houmlrbar ist Auf einen Namen wie Angelika angewendet klingen die stilisierten Konturen mit einem initialen Grenzton auf unnatuumlrliche bzw unsprachliche Weise gesun-gen Auf der anderen Seite wird dieser Unterschied auf erstbetonte Namen (wie zB Jan) angewendet teilweise neutralisiert dh kaum houmlrbar Beide diese Phauml-nomene lassen sich auch bei den nicht-auffordernden Modifikationen der war-nend stilisierten Konturen beobachten Die Neutralisierung der Unterscheidung bezuumlglich des initialen Grenztons bei anfangsbetonten Namen ist indes aufgrund des komplexen nuklearen Akzents hier noch weiter fortgeschritten Bei den warnend nicht-stilisierten Konturen scheint der initiale Grenzton auch bei nicht-erstbetonten Namen kaum bemerkbar Dasselbe laumlsst sich uumlber die vorwurfsvol-len Entsprechungen der warnenden Intonationen aussagen

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Bei der Anwendung auf die verschiedenen Modifikationen scheint sich die The-se zu bestaumltigen dass der in dieser Sektion besprochene initiale Grenzton ein wesentliches Element der Anrede zu canceln versucht naumlmlich die auffordernde (oder unter den beschriebenen Umstaumlnden auch bdquoadressierendeldquo) Kraft Der Versuch einer solchen Anwendung fuumlhrt zu drei verschiedenen Ergebnissen Erstens (wie zuoberst anhand der uumlberdruumlssigen Konturen gezeigt) die modifi-zierte Anredekontur ist in einem mit der Aufhebung der auffordernden Kompo-nente kompatiblen Kontext anwendbar (und von der auffordernden Entspre-chung zumindest bei nicht-erstbetonten Namen eindeutig unterscheidbar) Zwei-tens (wie zB bei der wheedling Modifikation des tiefen Falls eines Namens wie Angelika) die Modifizierung durch den initialen Grenzton fuumlhrt zu einer un-grammatischen Kontur Drittens (bei den meisten Anwendungen auf erstbetonte Namen) die nicht-auffordernd modifizierte Kontur naumlhert sich in beliebigem Ausmass der Neutralisierung mit der auffordernden Entsprechung Bezuumlglich der zweiten Gruppe von Ergebnissen ist nicht auszuschliessen dass sich mit der Anwendung einzelner solcher Konturen kompatible Situationen dem Vorstellungsvermoumlgen des Autors entziehen Die Moumlglichkeit einer solchen Situation haumltte fuumlr die betreffende Kontur die Zuordnung zur ersten Gruppe zur Folge Weder die teilweise Neutralisierung noch die teilweise Generierung von un-grammatischen Konturen sprechen gegen die phonologische Realitaumlt des initia-len Grenztons Dass va bei einsilbigen Namen einzelne Modifikationen dazu tendieren neutralisiert zu werden wurde in dieser Arbeit an verschiedenen Or-ten gezeigt Die Generierung von ungrammatischen Konturen schliesslich hat ih-ren Ursprung darin dass ndash wie weiter oben festgestellt ndash die pragmatische Kraft des initialen Grenztons also die Aufhebung der Adressierung mit dem Wesen der Anrede im Widerstreit stehen muss Anders formuliert laumlsst sich festhalten dass die Bewegung von einem mittleren zu einem extremen (hohen oder tiefen) Ton essentiell zum Vorlauf einer Anredekontur gehoumlrt und nur in ganz bestimm-ten Situationen ausbleibt Was die Notation betrifft so kann die Ebenheit des Vorlaufs vor einem hohen initialen nuklearen Akzent als hoher Grenzton H vor einem tiefen (inklusive LH) jedoch als tiefer Grenzton L notiert werden Ein scheinbares Problem bei dieser Notation ist die Inkonsequenz dass gerade das Weglassen des Schlussgrenztons im Sinne von Ladd (1995) die Ebenheit der zweiten Haumllfte der Kontur anzeigt (wie bei der stilisierten Intonation) waumlhrend hier das Hinzufuumlgen des Anfangsgrenztons die Ebenheit der ersten Haumllfte der Kontur signalisieren soll Diese Asymmetrie der Notation ist jedoch hinreichend durch die Asymmet-rie der Kontur insgesamt zu rechtfertigen So ist zB der unmarkierte Beginn ei-ner Kontur dadurch ausgezeichnet dass das F0-Maximum von einer mittleren

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

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Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Tonlage her angepeilt wird (dass also der Aufstieg auf einen hohen Nukleus mit dem Abstieg auf einen tiefen Nukleus gleichbedeutend im Sinne von unmar-kiert ist) waumlhrend der unmarkierte Schluss einer Kontur unabhaumlngig von Pitch-akzent und Phrasenton durch einen Abstieg gekennzeichnet ist und der Aufstieg ebenso unabhaumlngig von nuklearem Akzent und Phrasenton die wheedling Be-deutungskomponente mit sich bringt Die Asymmetrie der Funktionen der initia-len auf der einen und finalen Grenztoumlne auf der anderen Seite ist also nicht wei-ter stossend In der Tab 2 in 47 sind nur die nicht-auffordernden Modifikationen der vor-wurfsvoll stilisierten und der unmarkierten Konturen aufgefuumlhrt Die verblei-benden Kombinationsmoumlglichkeiten scheinen ndash wie in diesem Unterkapitel er-laumlutert ndash kaum verwendet zu werden

46 Speziellere Konturen Die folgenden zwei Intonationsmuster sind nicht wie die zuvor beschriebenen Modifikationen auf die verschiedenen Falls und den Anstieg uumlbertragbar Beides sind spezielle Konturen welche in nur einer einzigen Auspraumlgung vorkommen

461 bdquoMilitary Riseldquo Der von Hill (1969) beschriebene bdquomilitary riseldquo bei welchem nur die allerletzte Silbe auf einem houmlheren Ton bdquogebelltldquo wird kommt wohl auch im Schweizer-deutschen in entsprechenden Domaumlnen zur Anwendung Eine genauere Betrach-tung lohnt sich jedenfalls nicht da dieses Intonationsmuster unabhaumlngig von den in diesem Kapitel eroumlrterten Konturen und Modifikationen auftritt und sich nicht wie jene in intonationale Morpheme auftrennen laumlsst

462 bdquoDu bist mir eine(r)ldquo Die letzte zu diskutierende Kontur erstreckt sich jeweils uumlber zwei aufeinander-folgende Aumlusserungen desselben Namens Dabei wird dieser Name das erste Mal ndash nach einem mittelhohen Vorlauf ndash auf einer hohen Stufe langgestreckt und das zweite Mal ndash nach einem Vorlauf auf der hohen Stufe ndash auf einer tiefe-ren Stufe ebenso langgestreckt produziert Diese tiefere Stufe befindet sich bei mir typischerweise etwa sechs Halbtonschritte unter der hohen kann sich aber auch nur zwei oder bis zu zwoumllf Halbtonschritten darunter befinden ndash ohne sich dabei kategorisch zu unterscheiden Die pragmatische Kraft dieses va Kindern gegenuumlber verwendeten Intonationsmusters wird im Schweizerdeutschen am treffendsten durch das tautologische Du bist mir eine(r) wiedergegeben Da-durch wird auf eine vertraute gut gemeinte Art auf die Unverbesserlichkeit (in einem speziellen Belang) der adressierten Person angespielt

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

57

tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

58

5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

59

6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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47 Zusammenfassung Zu Beginn dieses Kapitels wurden vier Basiskonturen kurz beschrieben wel-chen den allen ausser den beiden in 46 beschriebenen Anredekonturen zugrun-deliegen Darauf folgte die Beschreibung einer Vielfalt von paralinguistischen und linguistischen Modifikationsmoumlglichkeiten ebendieser Konturen wobei der Schwerpunkt auf den letzteren lag Diese werden daher anschliessend in Tabelle 2 zusammengefasst Die paralinguistischen Parameter werden hier vernachlaumls-sigt im Bewusstsein dass sie die pragmatische Kraft jeder einzelnen Kontur fast beliebig weiter veraumlndern koumlnnen Die Kopplungen die prinzipiell nicht moumlglich sind (sei dies aus technischen Gruumlnden wie bei derjenigen von stilisiert und wheedling oder aus inhaltlichen wie bei derjenigen von vorwurfsvoll und wheedling) wurden in der untenstehen-den Tabelle nicht beruumlcksichtigt Die moumlglichen unten notierten Modifikationen sind am Beispiel der zwei Namen Angelika und Jan auf der Website des Instituts fuumlr Sprachwissenschaft abhoumlrbar Mehrere Modifikationen des Anstiegs sind nicht deutlich voneinander unter-scheidbar So sind (7) (19) (31) und (39) allesamt durch eine aufsteigende am Ende jedoch ebene Kontur ausgezeichnet Ob und inwiefern sich diese Kontur phonetisch bei den einzelnen Auspraumlgungen unterscheidet ist nicht gesichert Die Ursache dafuumlr liegt einerseits darin dass die warnende Modifikation des Anstiegs (anders als bei einem Fall) einen aufsteigenden Pitchakzent auf eine sowieso schon steigende Kontur legt und andererseits darin dass die vorwurfs-vollen Modifikationen des unmarkierten wie auch des warnenden Anstiegs den Aufstieg innerhalb der Kernsilbe wiederum hervorheben sollen Neben der dadurch etwas weniger auffaumllligen Schleifung der prominentesten Silbe wirkt sich die vorwurfsvolle wie auch die warnende Modifikation wohl zusaumltzlich steigernd auf das umfasste Intervall aus Die gleiche Schwierigkeit besteht bezuumlglich den nicht-stilisierten absteigenden Konturen (3) (15) und (35) und den nicht-stilisierten bis am Ende aufsteigenden Konturen (11) und (23) Auch dort haben die Modifikationen vermutlich unterschiedliche Auswirkungen auf die Groumlsse des Intervalls Es ist aber nicht auszuschliessen dass ein Teil der in diesem Abschnitt besprochenen Modifikationen beim Anstieg neutralisiert sind Die Tatsache dass gleiche Toumlne unterschiedliche phonetische Realisierungen haben koumlnnen zeigt sich jedoch auch darin dass das L des warnenden An-stiegs stets tiefer liegt als das L des entsprechenden einfachen und tiefen Falls Bei auf der ersten Silbe betonten Namen (wie zB dem exemplarisch verwende-ten Jan) ist insbesondere durch die starke Reduktion des Vorlaufs von zusaumltzli-chen moumlglichen Neutralisierungen der vielfaumlltigen Modifikationen auszugehen

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tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

57

tiefer Fall einfacher Fall Anstieg uumlbergrosser Fall unmarkiert (1) HL-L (2) HH-L (3) LH-L (4) HL-L stilisiert (5) HL (6) HH (7) LH (8) HL wheedling (9) HL-H (10) HH-H (11) LH-H (12) HL-H warnend (13) LHL-L (14) LHH-L (15) LHH-L (16) LHL-L warnend stilisiert

(17) LHL (18) LHH (19) LHH (20) LHL

warnend wheedling

(21) LHL-H (22) LHH-H (23) LHH-H (24) LHL-H

vorwurfsvoll (25) ~(HL-)L (26) ~(HH-)L (27) ~(LH-)L (28) ~(HL-)L vorwurfsvoll stilisiert

(29) ~(HL) (30) ~(HH) (31) ~(LH) (32) ~(HL)

vorwurfsvoll warnend

(33) ~(LH)L-L (34) ~(LH)H-L (35) ~(LH)H-L (36) ~(LH)L-L

vorwurfsvoll warnend stilisiert

(37) ~(LH)L (38) ~(LH)H (39) ~(LH)H (40) ~(LH)L

uumlberdruumlssig (41) H~(HL) (42) H~(HH) (43) L~(LH) (44) H~(HL) nicht-auffordernd

(45) H-HL-L (46) ndash (47) L-LH-L (48) H-HL-L

Tab 2 Die Anredekonturen des Luzerndeutschen im Uumlberblick Die Linguists Theory of Intonational Meaning liefert eine wertvolle Grundlage fuumlr die Untersuchung von Intonationsmustern Wie in dieser Theorie angenom-men lassen sich (zumindest) die Anredekonturen in vielfaumlltige Intoneme aufspal-ten deren Bedeutungskomponenten zusammengenommen die pragmatische Kraft der jeweiligen Anredeintonation ausmachen Es hat sich auch gezeigt dass die von Ladd (1995) erarbeitete Version der Nota-tionskonventionen Pierrehumberts (1980) ein nuumltzliches Werkzeug in einer sol-chen Untersuchung ist Zur Bezeichnung des uumlbergrossen Falls wurde eine ad-hoc-Loumlsung von Ladd (1995) uumlbernommen [] markiert das bdquouumlberhoheldquo H auch innerhalb eines komplexen Pitchakzents LH Beim vorwurfsvollen Into-nationsmuster fuumlhrte ich ndash ebenfalls ad hoc ndash die Tilde zur Bezeichnung der sti-lisierten Kontur ein Zur Notation der nicht-auffordernden Modifikation muss-ten schliesslich initiale Grenztoumlne eingefuumlhrt werden In allen anderen Faumlllen waren die gegebenen Markierungen hinreichend und adaumlquat

58

5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

59

6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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5 Schlussfolgerungen

Uumlber die Anredeintonationen insgesamt stand bis zu diesem Zeitpunkt eine um-fassende Arbeit aus Die Aufmerksamkeit der Intonationsforschung richtete sich va auf die klassische Rufkontur welche sich durch ihre mehr oder weniger ge-sungene Art und Weise von den uumlbrigen Intonationsmustern im System der Sprache wesentlich unterscheidet Entsprechend ist die Frage in welchem Ausmass die Rufintonation Aufschluss auf andere Bereiche der Intonation geben kann umstritten Auf die restlichen Anredekonturen gingen die meisten Forschenden nur kurz und wenn dann meist zur Beleuchtung der klassischen Rufkontur ein Gerade aus einer eingehenden Betrachtung der Anredekonturen koumlnnen jedoch mE wichtige Erkenntnisse gezogen und auf das gesamte Sprachsystem uumlbertragen werden Dieses spezielle Feld bringt fuumlr eine Untersuchung ndash wie in der Ein-fuumlhrung erlaumlutert ndash den gewichtigen Vorteil mit sich dass dabei die lexikale Semantik neutralisiert ist Trotz dieser Eigenheit koumlnnen alle im 4 Kapitel beschriebenen Intonationsmuster problemlos vom anredespezifischen in einen allgemeineren Kontext uumlbertragen werden So ist zB ein stilisierter einfacher Fall uumlber ein gerufenes S znacht esch paraad (Das Nachtessen ist bereit) denk-bar ein bereits ungeduldiger warnender tiefer Fall uumlber die Pseudofrage Chonsch du etz haumli (Kommst du jetzt nach Hause) oder ein vorwurfsvoll warnender uumlbergrosser Fall uumlber ein schockiertes Gograveogravet s nograve (Geht es noch Spinnst du) als Reaktion auf eine freche Bemerkung eines Kindes etc Der Nachteil dieser Anredeintonationen ist indes deren eingeschraumlnkte Ver-wendung Die allermeisten in dieser Arbeit behandelten Konturen werden va von oder gegenuumlber von Kindern verwendet und sind zwischen zwei erwachse-nen Gespraumlchspartnern nur wenn diese in einem ganz bestimmten Verhaumlltnis zueinander stehen in ganz bestimmten Situationen denkbar Aus diesen Gruumlnden kommt den Anredeintonationen eine eher marginale Bedeutung zu Ihr meist mit starken Emotionen wie Ungeduld oder Enttaumluschung verbundenes Auftreten macht sie aber auch schwer untersuchbar (vgl 41) Die durch Intro-spektive gewonnenen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit bieten jedoch die Grundlage fuumlr eine breiter abgestuumltzte intersubjektive Uumlberpruumlfung der einzel-nen postulierten Intoneme und damit auch des gesamten hier gewaumlhlten Ansatzes

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6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

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Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

59

6 Bibliographie

Abe Isamu 1962 bdquoCall Contoursldquo Proceedings of the 4th International Con-gress of Phonetic Sciences The Hague Mouton 519ndash23 Anderson Elizabeth T 1958 The Intonation of American English Kenkyusha Tokyo Baumlnziger Tanja und Klaus R Scherer 2005 bdquoThe role of intonation in emo-tional expressionsldquo Speech Communication 46 252ndash267 Benzmuumlller Ralf Martine Grice und Stefan Baumann1996 Trainings-materialien zur Etikettierung Deutscher Intonation mit GToBI Version 2 ndash Uuml-berarbeitete Fassung httpwwwuni-koelndephil-fakphonetikgtobiguide-lines-version2chtml Zit 09092008 Bolinger Dwight 1961 Generality Gradience and the All-or-None The Hague Mouton Chomsky Noam 1957 Syntactic Structures The Hague Mouton Crystal David 1969 bdquoA Forgotten English Tone An Alternative Analysisldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 34ndash7 Gibbon Dafydd 1976 Perspectives of Intonation Analysis (Forum Linguisti-cum 9) Bern Lang Fox Anthony 1969 bdquoA Forgotten English Toneldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 84 13ndash4 Frick Robert W 1985 bdquoCommunicating emotion The role of prosodic fea-turesldquo Psychological Bulletin 97 412ndash429 Goldsmith John 1975 bdquoAn Overview of Autosegmental Phonologyldquo Linguis-tic Analysis 2 23ndash68 Gussenhoven Carlos 1993 bdquoThe Dutch Foot and the Chanted Callldquo Journal of Linguistics 29 37ndash63 Hyman Larry M und Russel G Schuh 1974 bdquoUniversals of Tone Rules Evi-dence from West Africaldquo Linguistic Inquiry 5 81ndash115 Ladd D Robert 1978 bdquoStylized Intonationldquo Language 543 517ndash40

60

Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

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Ladd D Robert 1983 bdquoPhonological Features of Intonational Peaksldquo Lan-guage 594 721ndash59 Ladd D Robert 1995 Intonational Phonology Cambridge University Press Laver John 1994 Principles of Phonetics Cambridge University Press Leben William 1976 bdquoThe Tones in English Intonationldquo Linguistic Analysis 2 69ndash107 Lewis J Windsor 1970 bdquoThe Tonal System of Remote Speechldquo Le Maicirctre Phoneacutetique 85 31ndash6 Liberman Mark 1975 The Intonational System of English MIT Dissertation Murray Iain R und John L Arnott 1993 bdquoToward the simulation of emotion in synthetic speech A review of the literature on human vocal emotionldquo Journal of the Acoustical Society of America 93 (2) 1097ndash1108 Pierrehumbert Janet 1980 The Phonology and Phonetics of English Intonation PhD thesis MIT published 1988 by IULC Pierrehumbert Janet und Julia Hirschberg 1990 bdquoThe Meaning of Intonational Contours in the Interpretation of Discourseldquo Intentions in Communication Cambridge MA MIT Press 271ndash311 Pike Kenneth 1945 The Intonation of American English Ann Arbor Universi-ty of Michigan Press Pompino-Marschall Bernd 1995 Einfuumlhrung in die Phonetik Berlin de Gruy-ter Pons Grosswoumlrterbuch fuumlr Experten und Universitaumlt Englisch-Deutsch 2001 Vollstaumlndige Neuentwicklung Stuttgart Duumlsseldorf Leipzig Ernst Klett Verlag Quirk Randolph und David Crystal 1966 bdquoOn Scales of Contrast in English Connected Speechldquo In Memory of J R Firth ed C E Bazell et al London Longmans 359ndash69 Schaeffler Felix und Robert Summers 1999 bdquoRecognizing German Dialects by Prosodic Features Aloneldquo Proceedings of the International Congress of Phonetic Sciences 1999 2311ndash4 San Francisco

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

61

Silverman Kim et al 1992 bdquoToBI A Standard for Labeling English Prosodyldquo Proceedings Second International Conference on Spoken Language Processing 2 Banff Canada 867ndash70 Spencer Herbert 1951 The Origin and Function of Music Philosophical Li-brary Inc Ward Gregory und Julia Hirschberg 1985 bdquoImplicating Uncertaintyldquo Langua-ge 61 747ndash76

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

Arbeitspapiere bisher erschienen 1 Egli Urs Zwei Vortraumlge zur Einfuumlhrung in die transformationelle

Grammatik 1970 Vergriffen

2 Egli Urs Zwei Aufsaumltze zum Vergleich der stoischen Sprachtheorie mit modernen Theorien 1970 Vergriffen

3 Egli Urs Roulet E Lexpression des relations dergativiteacute et de tran-sitiviteacute dans une grammaire geacuteneacuterative transformationnelle du fran-ccedilais 1971 Vergriffen

4 Sechs Vortraumlge zur modernen Linguistik Hrsg von Urs Egli 1972 5 Baltica Senn Alfred Bestand und Struktur des litauischen Wort-

schatzes - Locher Jan Peter Tauta bei Bretke - Beobachtungen zur altlitauischen Lexik 1972

6 Sandoz Claude Les noms grecs de la forme Etude linguistique 1971

7 Schmitter Hans Fragesaumltze in einer berndeutschen Transformati-onsgrammatik 1972

8 Schmitter Hans Ein automatisches Fragebeantwortungssystem 1973

9 Nottaris A Angelo Syntaxe de la proposition relative en franccedilais contemporain 1973 Vergriffen

10 Sandoz Claude Opuscules de grammaire indo-europeacuteenne 1973 11 Zyar MA Die Nominalkomposita des Paschto 1974

Vergriffen 12 Moser Rupert R Swahili Sprachgeographie und -geschichte

Grammatikalischer Abriss Chrestomathie 1974 Vergriffen

13 LAtlas linguistique des parlers iraniens Atlas de lAfghanistan 1974 Vergriffen

14 Werlen Iwar Zur Phonologie der Mundart von Brig 1976 15 Soguel Eric Quelques aspects de larabe moderne (langue de la

presse) 1976 16 Engler Rudolf Saussure und die Romanistik 1976 17 Spiess Federico Karl Jaberg und die Sprachgeographie in der taumlgli-

chen Arbeit des Dialektologen 1980 18 Gmuumlr Remo Das Meacutemoire von F de Saussure 1980

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

19 Werlen Iwar Uumlber Modalitaumlten in natuumlrlichen Sprachen 1982 20 Werlen Iwar Sprachbiographien von Auslaumlndern der zweiten Gene-

ration Arbeitsbericht zu einem soziolinguistischen Projekt Unter Mitarbeit von M Baumlhler F Roncoroni-Waser Z Penner R Piva L Seethaler 1986

21 Gmuumlr Remo Das Schicksal von F de Saussures Meacutemoire Eine Re-zeptionsgeschichte 1986

22 Wormser Andreas Aspekt und Tempus im modernen Persisch Eine Untersuchung anhand von Hedayats Erzaumlhlung sag-e welgard 1987

23 Sanders W Szlek St Niederhauser J Ein neues Woumlrterbuch der deutschen Sprache 1987

24 Penner Zvi The grammar of the nominal sentence A govern-ment-binding approach 1988

25 Bader Thomas Penner Zvi A government-binding account of the complementizer system in Bernese Swiss German 1988

26 Hashimoto Kenichi Zu den Kausativkonstruktionen im Deutschen und im Japanischen Eine kontrastive Untersuchung am Beispiel der lassen- und der sase-Konstruktionen 1989

27 Bader Thomas Locality constraints on wh-constructions in Bernese and other Germanic languages 1990

28 Wymann Adrian Die Selbstdarstellung in narrativen Interviews als Parameter von Kommunikationskulturen 1990

29 Rohrbach Ruedi Le deacutefi de la description grammaticale Les propo-sitions subordonneacutees dans lEssai de Grammaire de la Langue Fran-ccedilaise de Damourette et Pichon Preacutesentation critique dune grammaire synchronique 1990

30 Penner Zvi The Earliest Stage in the Acquisition of the Nominal Phrase in Bernese Swiss German Syntactic Bootstrapping and the Ar-chitecture of Language Learning 1993

31 Wegmuumlller Ursula Klitika im Vicentino 1993 32 Bader Thomas Iwar Werlen und Adrian Wymann Towards a

Typology of Modality 1994 33 Volkart Marianne Zu Brugmanns Gesetz im Altindischen 1994 34 Lobsang Ghulam Hassan Short Sketch of Balti Grammar A Ti-

betan Dialect Spoken in Northern Pakistan 1995 35 Hajnal Ivo Die Entzifferung unbekannter Schriften Drei Fallstudien

- ein Szenario (mit einem Ausblick auf die kretische Linearschrift A) 1996

36 Wegmuumlller Ursula Sentence Structure and Ergativity in Tagalog 1998

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

oder uumlber die Homepage httpwwwiswunibechlenyaiswliveforschungarbeitspapierhtml

37 Kunz Richard Das indonesische Passiv Eine linguistische Annaumlhe-rung 2000

38 Waumllchli Bernhard amp Zuacutentildeiga Fernando (Hrsg) Sprachbeschrei-bung amp Typologie Publikation zum Workshop vom 16 Dezember 2000 in Bern 2001

39 Werlen Iwar Buri Barbara Matter Marc amp Johanna Ziberi Projekt Uumlsserschwyz Dialektanpassung und Dialektloyalitaumlt von Oberwalliser Migranten 2002

40 Murray Heather Tracing the Development of Language Awareness An Exploratory Study of Language Teachers in Training 2003

41 Broger Anne Die ā-Staumlmme im Rgveda und ihre Stellung im Genus-system 2004

42 Leemann Adrian Acoustic analysis of Swiss English vowel quality 2007

43 Studer Patrick Kreiselmaier Felicia amp Flubacher Mi-Cha Lan-guage policyndashplanning in a multilingual European context 2008

44 Zemp Marius Anredekonturen im Luzerndeutschen Eine intonatio-nale Teilgrammatik 2008

Bestellungen koumlnnen gerichtet werden an Universitaumlt Bern Institut fuumlr Sprachwissenschaft Unitobler Laumlnggassstr 49 CH - 3000 Bern 9

Tel +41 (0)31 631 80 05 Fax +41 (0)31 631 36 03 E-Mail ispraiswunibech

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