Das soziale Netz: Neue Öffentlichkeit und mehr Demokratie? Eine Positionsbestimmung mit Rückgriff...
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Das soziale Netz: Neue Öffentlichkeit und mehr Demokratie?
Eine Positionsbestimmung
1. Einleitung
Das Internet, Ende der achtziger Jahre euphorisch als
Demokratisierungsmaschine begrüßt, mittlerweile in seinem
partizipatorischen und emanzipatorischen Potential ambivalent
eingeschätzt, verändert auf jeden Fall die Öffentlichkeiten
bestehender politischen Systeme weltweit, ganz gleich, welche
Systeme es sein mögen. Es ist offensichtlich, dass aufgrund
der extrem niedrigen Zugangshürden zu Information und zur
Bereitstellung von Information viel mehr Menschen die
Möglichkeit haben sich an der politischen Öffentlichkeit zu
beteiligen und zu versuchen auf diese Einfluss zu nehmen. Gern
genannte Beispiele sind hier der »Arabische Frühling« als
Beispiel aus nichtdemokratischen Systemen, und in westlich
demokratischen Ländern der Protest gegen ACTA, das Anti
Counterfeiting Trade Agreement, oder einfach die vielen Online
Petitionen, die von den Unzufriedenen kaum mehr als ein
Mausklick verlangen.
Dieser Artikel möchte den Versuch unternehmen das Verhältnis
und die Interdependenzen der reziproken Möglichkeiten des
Internets, die im weiteren Verlauf unter dem Stichwort des
sozialen Netzes subsumiert werden sollen, Öffentlichkeit und
Demokratie aus der Perspektive der politischen Theorie und
Ideengeschichte aufzuzeigen. Dies soll zu einer angemessenen
1
Einschätzung des demokratischen Potentials des sozialen Netzes
führen.
Dabei wird im dritten Abschnitt »Ideengeschichtliche
Retrospektive – Kant und Bentham« auf den Zusammenhang von
Öffentlichkeit und Demokratie eingegangen und die Bedingungen,
unter denen diese beiden positiv zusammenhängen. Dies bietet
den Vorteil, dass man aktuelle Phänomene mit einem Arsenal von
Argumenten und Beobachtungen beleuchten kann, die man so in
der zeitgenössischen Debatte nicht mehr findet, die jedoch
wichtige Perspektiven für die gegenwärtige Diskussion über
Demokratie und Öffentlichkeit bieten. Kant und Bentham bieten
sich an, da beide die zentralen Theoretiker sind, die sich
paradigmatisch mit der Bedeutung der Öffentlichkeit für die
Demokratie auseinandergesetzt haben – einmal aus
republikanischer und einmal aus liberaler Perspektive.
Anschließend wird im vierten Abschnitt »Die zwei Begriffe von
Öffentlichkeit und ihre Weiterführung bei Foucault und
Habermas« zunächst mit Foucault (4.1. Foucault) Benthams
Modell des Panoptizismus kritisch diskutiert um es dann in
Bezug auf das soziale Netz und denen in ihm zu beobachtenden
Tendenzen der Sur-, Sous- und Coveillance, die hier – anders
als im angelsächsischen Raum – kritisch diskutiert werden
sollen, weiter zu führen. Habermas‘ Kant Interpretation und
seine Theorie der deliberativen Demokratie (4.2. Habermas)
werden diskutiert um zu verdeutlichen, dass auch die durch das
soziale Netz »erweiterte« Öffentlichkeit in einer
deliberativen Demokratie lediglich als Resonanzboden zu
verstehen sei.
2
Zunächst aber noch einige Präliminarien zur Problematisierung
des Konzepts der Öffentlichkeit und seiner geläufigen
Bedeutung in Bezug auf Demokratie und Partizipation, Inklusion
und Exklusion (Abschnitt zwei), um so den Zusammenhang des
ideengeschichtlichen Teils und seiner Anwendung in Bezug auf
das soziale Netz deutlich zu machen.
2. Das Konzept der Öffentlichkeit: Demokratie und
Partizipation, Inklusion und Exklusion,
Die Frage der Öffentlichkeit und ihre Aufgabe in der
Demokratie weist schon immer eine große Diskrepanz zwischen
normativen Anforderungen und realem Gehalt auf. So schreiben
sich die Aufklärung und die aus ihr resultierenden
Gesellschaftsordnungen zu, die Zensur abgeschafft und damit
eine unrestringierte Öffentlichkeit geschaffen zu haben, doch
ist es damit bei genauerem Hinsehen nicht so gut bestellt. Die
Zensur durch Kirche und Absolutismus wurden abgeschafft –
jedoch nur um an ihre Stelle die Zensur des freien Marktes,
die der ökonomischen Macht, des guten Geschmacks und des
staatlichen Interesses an Geheimhaltung zu setzen.1
Die selbstevidente Notwendigkeit der Pluralität und
Meinungsfreiheit für eine demokratische Öffentlichkeit ist bei
1 Sue Curry Jansen (1988): Censorship. The Knot that Binds Power and Knowledge, Oxford, 4, vgl. 74f.Vgl. Edward S. Herman und Noam Chomsky (1988): Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media, New York. Vgl. Karl Marx (1842): Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen, in: MEW 1, 28-77, 63.
3
näherer Betrachtung bis heute nicht gewährleistet.2 Jodi Dean
konstatiert daher, dass Öffentlichkeit die neue Ideologie des
Informationszeitalters ist, und dass diese Ideologie von
vielen unbeirrt übernommen wird.3 Diese Frage gilt umso mehr,
als der Verdacht besteht, dass die Öffentlichkeit in den
westlichen demokratischen Ländern bei weitem nicht den
grundlegenden normativen Prinzipien einer Demokratie
entspricht und nicht auf Partizipation angelegt ist, sondern
auf die Exklusion vieler baut. Aus einer ideologiekritischen
Perspektive heraus ließe sich mit Jodi Dean und David Golumbia
argumentieren, dass unsere real existierende Öffentlichkeit
nur eine Scheinöffentlichkeit ist, die den Ansprüchen aller
gängigen Demokratietheorien eigentlich nicht annähernd genügt.4
Unterschiedliche Formen der Demokratie weisen verschiedene
Formen der Öffentlichkeit auf und nutzen das Potential des
»Internets« unterschiedlich.5 Offensichtlich besteht ein
Funktionszusammenhang zwischen der Demokratieform und der
Öffentlichkeit, der darauf hinweist, dass Öffentlichkeit
Resultat eines Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozesses ist. Die
Form der Öffentlichkeit steht somit in einem Spannungs- und
Wechselverhältnis zu den unterschiedlichen Formen der 2 Vgl. Joachim Gauck, Vorwort, in: DIVSI Milieu Studie zu Vertrauen und
Sicherheit im Internet, Hrsg. von Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI), Hamburg 2012. [Online unter: https:// www.divsi.de/sites/default/files/presse/docs/DIVSI-Milieu-Studie_Gesamtfassung.pdf, 20.03.2012]
3 Jodi Dean (2002): Publicity’s Secret. How Technoculture Capitalizes on Democracy, Ithaca (New York), 35.
4 Dean (2002): Publicity’s Secret; David Golumbia (2009): The Cultural Logic of Computation, Cambridge (Mass.).
5 Renate Martinsen (2009), Öffentlichkeit in der Mediendemokratie aus derPerspektive konkurrierender Demokratietheorien, in: Frank Marcinkowski und Barbara Pfetsch (2009) (Hrsg.): PVS Sonderheft 2009. Politik in der Mediendemokratie, Baden-Baden, 37 – 68.
4
Demokratie. Ein weiterer Punkt diesbezüglich, auf den Luhmann
aufmerksam macht, ist, dass es immer von der Kommunikation –
und damit von der Öffentlichkeit – ausgeschlossene geben wird,
und dass der Versuch dies zu ändern, also alle einzuschließen
zur Ideologie werden muss.6
Die Frage, die sich angesichts der vielen emanzipatorischen
Erwartungshaltungen gegenüber dem sozialen Netz stellt, ist,
ob und inwieweit das soziale Netz, das ja potentiell alle
inkludiert, nicht auch wieder eine ausschließende
Öffentlichkeit herstellt. Hierzu sind, neben den üblich
sozioökonomischen Faktoren, die bekannten Stichworte
ausreichend um das Problem zu markieren, die alle mehr oder
weniger eng um den englischen Literacy Begriff kreisen: Media
Literacy, Computer Literacy, Digital Literacy, Visual
Literacy, Information Literacy, Literacy allgemein, der
funktionale Analphabetismus und nicht zuletzt die Netiquette.7
Diese diversen Literacy Arten sind nötig sind um das soziale
Netz mit all seinen Möglichkeiten erfolgreich zu nutzen, d.h.
zu konsumieren und zu gestalten, Inhalte zu produzieren, mit
einem Wort: zu prosumieren. Die Folgen dieser ungleich
verteilten Literacy sind ein steter, sich vergrößernder
»digital divide«, also eine stetig zunehmende Exklusion.8
6 Niklas Luhmann (1989): Reden und Schweigen, in: Niklas Luhmann und Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt/M., 11-20, 19f.
7 Vgl. u.a. W. James Potter (2011): Media Literacy, London u.a.; Renee Hobbs (2011): Digital and Media Literacy: Connecting Culture and Classroom, London u.a.; R.W: Burniske (2007): Literacy in the Digital Age, London u.a.; James Elkins (Hg.) (2008): Visual Literacy, New York 2008; Teresa S. Welsh & Melissa S. Wright (2010): Information Literacy in the Digital Age: An Evidenz-Based Approach, Oxford.
8 Jan van Dijk (2012): The Network Society, London, Thousand Oaks, 192-209; Jan van Dijk (2005): The Deepening Divide. Inequality in the Information Society, London, Thousand Oaks; Pippa Norris (2001): Digital
5
Ideengeschichtlich kann man sehen, dass die Öffentlichkeit
seit je ein begrenzter Raum ist, der zum Einem nicht alle
umfasst, und zum anderen auch nicht die Summe des Wissens
seiner Teilnehmerinnen wiederspiegelt, sozusagen keine savoir de
tous und schon gar keine savoir générale darstellt. Öffentlichkeit
erinnert mehr an eine savoir particulière unter den Bedingungen der
Existenz von Interessensvereinigungen, Parteien,
Gewerkschaften; Kirchen, Macht, Geld usw., die je nach
gesellschaftlicher Machtverteilung und aktuellem
Diskursverlauf mehr oder weniger offen und mehr oder weniger
plural ist. Die Öffentlichkeit erinnert insofern an einen
Schauplatz an dem der gesellschaftliche Kampf um Hegemonie und
Macht diskursiv ausgetragen wird.9 Sie ist also kein Ort der
Chancengleichheit und der Wahrheitsfindung, sondern einer des
Machtkampfes um gesellschaftliche Hegemonie bei dem die
nötigen Ressourcen für das erfolgreiche Bestehen in diesen
Kämpfen von vornherein ungleich verteilt sind.
Zu erwähnen ist im Zusammenhang der Frage von Öffentlichkeit
und Demokratie stets auch der Stellenwert des Geheimnisses –
dies wurde uns zuletzt eindringlich durch den NSA Skandal
verdeutlicht, aber auch – um die Ambivalenz zu unterstreichen,
durch das Verhalten der deutschen Sicherheitsbehörden im NSU
Skandal. Wiederspricht das Geheimnis doch diametral den
Anforderungen der Transparenz und Öffentlichkeit, dennoch wird
Divide. Civic Engagement, Information Poverty, and the Internet Worldwide, Cambridge.
9 Gerade hierzu sind Rousseaus Ausführungen zu Partikularinteressensvertungen aller Art noch heute interessant und bedenkenswert. Vgl. Jean-Jacques Rousseau (1977): Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart.
6
es von den meisten Autoren als notwendige Bedingung für die
Existenz eines demokratischen Staates angesehen.10
So hat in der Zeit der Aufklärung das Geheimnis in der
Demokratisierung absolutistischer Gesellschaften eine wichtige
Rolle gespielt, wie die Existenz von Freimaurerlogen und
bürgerlichen Lesezirkeln zeigen.11 Die Frage die sich stellt,
ist ob und inwiefern dieses »geschichtliche Zwillingspaar«12
auch heute noch unzertrennlich ist und wenn ja, ob sich die
Bedeutung seiner Unzertrennlichkeit nicht deutlich verschoben
hat. Das Geheimnis war damals die Voraussetzung für die
Existenz einer Sphäre, in der aufgeklärt gedacht und
gesprochen werden konnte, in der man gegen den Staat und seine
Politik Stellung beziehen konnte. Dieses Verständnis von
Geheimnis schützt die emanzipierten, aufgeklärten und
politisierten Menschen vor dem Zugriff des Staates und der
Einschränkung der Denk- und Redefreiheit.13 Heute ist es
umgekehrt, dass der Staat das Geheimnis nutzt, um sich vor der
Denk- und Redefreiheit seiner Bürgerinnen zu schützen, ganz,
wie es im absolutistischen Staat ebenso der Fall war, und
umgekehrt, dass durch den Wegfall der Privatsphäre der
10 Vgl. Susan L. Maret & Jan Goldman (Hg.) (2009): Government Secrecy. Classic and Contemporary Readings, Westport (Conneticut), London. Hier vor allem der Aufsatz: Gowder (2009): Secrecy as Mystification of Power: Meaning and Ethics in the Security State [2006], 674-694.Vgl. Sissela Bok (1989): Secrets. On the Ethics of Concealement and Revelation, New York.
11 Reinhart Koselleck (1997): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/Main, 41-103. Vgl. auch Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt/M., vor allem Kapitel II. Soziale Strukturen der Öffentlichkeit, 86-121.
12 Koselleck (1997): Kritik und Krise, 49.13 Koselleck (1997): Kritik und Krise, 60f.
7
geschützte Raum für das aufgeklärte Denken wieder verloren
geht.
Aus dem bisher gesagten wird deutlich, dass unter den
Kommunikationsbedingungen des sozialen Netzes eine erneute
kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Demokratie
und Öffentlichkeit wichtig ist, solange man davon ausgeht,
dass das soziale Netz die Öffentlichkeit verändert. Diese
kritische Auseinandersetzung kann helfen zu beurteilen,
inwiefern die Demokratisierungshoffnungen die auf dem
Potential des sozialen Netzes beruhen, berechtigte Hoffnungen
sind.
3. Ideengeschichtliche Retrospektive – Kant und Bentham
3.1 Bürgerliche Öffentlichkeit als Resonanzboden für Publikumswünsche
In der Berlinischen Monatsschrift wurde seit 1783 eine
Auseinandersetzung über die Frage »Was ist Aufklärung?«
geführt. Die Berlinische Monatsschrift stellte im
absolutistischen Preußen Friedrich II. eine Art literarische
Bühne der Aufklärung dar, die das gebildete Bürgertum auch
über weite Räume versammelte und so die bürgerlichen Salons in
Berlin und anderen Städten kurzschloss.14 Diese Zeitschrift,
14 Andreas Frei (1999): Die publizistische Bühne der Aufklärung: Zeitschriften als Schlüssel zur Öffentlichkeit, in: Kant als politischerSchriftsteller, hrsg. von Theo Stammen, Würzburg, 29-42.Vgl. Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit; Ernst Manheim (1979): Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Canstatt; Richard van Dülmen (1986): Die Gesellschaft der Aufklärer. Zurbürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland,
8
wie auch andere zur gleichen Zeit entstandene, waren eine
Erweiterung der Öffentlichkeit und damit der bürgerlichen
Kommunikation in der Hinsicht, dass Sie die mündlichen
Debatten aus privaten geschlossenen Räumen nach außen in die
Öffentlichkeit trugen und somit weit entfernte Bürger
zusammenführte zu einem aufgeklärten, politischen Publikum.15
Mit einem Mal gab es also eine ortsungebundene bürgerliche
Öffentlichkeit, die über politische Fragen kontrovers
diskutierte, die zuvor in den Arkanräumen der
Geheimgesellschaften behütet blieben.16
Was aber hatte die Entstehung einer solchen Öffentlichkeit für
Konsequenzen? Eine intellektuelle Öffentlichkeit die über
politische Fragen stritt, nicht mehr nur über ästhetische oder
philosophische. Der Raum öffentlicher Meinungsbildung und
Kritik wurde vom gebildeten Bürgertum nun erstmals
eingerichtet und etabliert. Damit eroberte das
Bildungsbürgertum jenen öffentlichen Raum, den später
parlamentarische Versammlungen übernahmen, und damit das
gebildete Bürgertum aus seiner nichtinstitutionellen
Öffentlichkeit wieder zurückdrängte und ersetzte. Die
fehlenden politischen Institutionen wurden also durch eigene
Institutionen wechselseitiger Kommunikation ersetzt. Und dort
wurden Fragen bezüglich des Verhältnisses von Kirche,
Aufklärung und Staat kontrovers diskutiert.17 Gerade bei
Frankfurt/M. 15 Zur Frage der Zeitschriftenlandschaft im damaligen Preußen vgl. Andreas
Frei (1999): Die publizistische Bühne der Aufklärung; Van Dülmen (1986):Die Gesellschaft der Aufklärer, 130.
16 Reinhart Koselleck (1997) : Kritik und Krise, 49-103.17 Vgl. dazu die z.B. Inhaltsverzeichnisse der Berlinischen Monatsschrift.
Friedrich Gedike, Johann Erich Biester (Hg.) (1986): Berlinische
9
letzterer musste sich der monistische Staat herausgefordert
fühlen - immerhin ging es hier darum, ob die Gesetze,
Handlungen und damit auch die Verfasstheit des absoluten
Staates gut oder schlecht seien. Die Einführung des
unabhängigen Maßstabs eines Natur- bzw. Vernunftrechts
ermöglichte der bürgerlichen Öffentlichkeit eine kritische
Distanz zu dem bestehenden Staatswesen.18
Die Frage die sich nun stellte, war die: unterminierte eine
solche öffentlich betriebene Aufklärung die öffentliche
Ordnung oder stärkte sie sie durch vernünftige Vorschläge?
Letzten Endes ging es um die Frage: Lässt der Staat sich von
einer bürgerlichen Öffentlichkeit öffentlich »zurechtweisen«
oder verbittet er sich das? Es ging um mehr als um die Frage
Meinungsfreiheit oder Zensur, es ging um die Frage
Republikanismus oder Absolutismus.19 Letzten Endes läuft diese
Zuspitzung auf die Frage hinaus, ob der absolutistische Staat
auf mittelfristige bzw. lange Sicht bereit ist, seine
Machtvollkommenheit und Unfehlbarkeit aufzugeben und das
Bürgertum an dieser Macht zu beteiligen – und sei es nur
disputierend, wie Kant es in seinem Kompromissvorschlag für
möglich hält.20
Monatsschrift (1783-1796), Auswahl, Leipzig.18 Vgl. Peter Niesen (2005): Kants Theorie der Redefreiheit, Baden-Baden,
20. 19 Tobias Bevc (1999): Revolution oder Reform? Kants Weg zur
republikanischen Denkungsart, in: Kant als politischer Denker, hrsg. vonTheo Stammen, Würzburg 1999, 173-200.
20 Immanuel Kant (1977) [1798]: Der Streit der Fakultäten, in: Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, hrsg. von Wilhelm Weischedel (I. Kant, Werkausgabe Bd. XI),Frankfurt/Main, 261-393, 364f.
10
Die Gewährleistung politischer Redefreiheit ist nach Kant
sowohl in Demokratien wie auch in Autokratien für ein
grundlegendes Recht der Bürger. In letzteren »dient sie zur
Verteidigung angeborener Rechte«, in ersteren ist sie
Voraussetzung für die »Ausübung politischer Autonomie«.21
Für diese Autonomie zentral ist der öffentliche
Vernunftgebrauch den Kant schon in der Schrift Beantwortung der
Frage: Was heißt Aufklärung? (1784), also zehn Jahre vor den anderen
»kleinen politischen Schriften« beschwört. Hier wird das Ideal
der Öffentlichkeit und der Publizitätsfreiheit eingefordert.22
Der öffentliche Raum ist für Kant der Ort in dem der auf
»Wahrheit und Durchführbarkeit angelegte Austausch der
Meinungen« stattfinden soll, der für alle gleichermaßen
erreichbar ist. Unterschiedlich sind die Einschätzungen
darüber, ob Kants Forderung nach Redefreiheit inklusiver oder
exklusiver Natur war, ob er nun der Auffassung war, das
wirklich alle in den republikanischen Geist des Disputierens
einbezogen werden sollen oder nicht. Habermas stellt fest,
dass Kinder, Frauen und Nichteigentümer ausgeschlossen sind
aus Kants Konzeption der Redefreiheit.23 In der »Metaphysik der
Sitten« jedoch schreibt Kant dem Menschen seine
Partizipationsrechte fundamentaler zu: Dem Menschen als 21 Niesen (2005): Kants Theorie der Redefreiheit, 184.22 Immanuel Kant (1977) [1784]: Beantwortung der Frage: Was ist
Aufklärung?, in: Ders., Schriften zur Anthropologie etc, 53-61. Immanuel Kant (1977) [1795]: Zum ewigen Frieden, in: Ders., Schriften zur Anthropologie etc,195-251.Immanuel Kant (1967) [1793]: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis, mit einer Einleitung von Dieter Henrich, Frankfurt/M., 39-87.
23 Immanuel Kant (1967): Über den Gemeinspruch, 65.Vgl. Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, 186f.
11
Privatrechtssubjekt, als Staats- und Weltbürger (öffentliches
Recht) kommen diese Rollen als »eines mit Rechten
ausgestatteten, der Zurechnung fähigen Wesens« zu. Dieses
Wesen existiert schon im Naturzustand.24 Somit muss prinzipiell
jeder Mensch bei Kant als aktiver Partizipant am politischen
Geschehen angesehen werden – und nicht nur jede besitzende
männliche Person. Kant ist hier auf einer Wellenlänge mit
Bentham, der, wie weiter unten ausgeführt, die Öffentlichkeit
prinzipiell auch als Weltöffentlichkeit versteht.25
Der Grund dieser Divergenz des Verständnisses von Kants
Öffentlichkeitsverständnis liegt im unterschiedlichen
Beschreibungshorizont. Der inklusive Begriff der
Öffentlichkeit ist normativer Natur, Habermas‘
Öffentlichkeitsbegriff ist der Versuch einer empirischen
Beschreibung der damaligen bürgerlichen Öffentlichkeit.
Die »Sphäre der Öffentlichkeit, der Publizität, die Kant am
Ende der Friedenschrift in den Rang eines ‚transcendentalen
und bejahenden‘ Prinzips der Politik erhebt«26, ist der
»gemeinsam geteilte, ideelle Raum, in dem sich seit jeher die
politischen Fragen gestellt haben.«27 Und diese öffentliche
Diskussion der politischen Fragen ist die richtige Art und
Weise wie man mit solchen Fragen umzugehen hat, da sie sicher
stellt, dass somit die beste Lösung für sie gefunden wird.
24 Peter Niesen (2005): Kants Theorie der Redefreiheit, 25. Vgl. Immanuel Kant (1797): Die Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werkausgabe Bd. 8, hrsg. vom Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1977, 329, 345.
25 Bentham (1983): Constituional Code, 39. 26 Volker Gerhardt (1996): Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der
Politik, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. von Gerhard Schönrich und Yasushi Kato, Frankfurt/M., 464-488, 486.
27 Gerhardt (1996): Ausübende Rechtslehre, 487.
12
Dies wird spätestens in Kants »Streit der Fakultäten«
deutlich: hier vertritt Kant den Standpunkt, die Französische
Revolution mit ihrem Kampf für den Republikanismus sei ein
Geschichtszeichen dafür, dass sich das menschliche Geschlecht
auf dem Weg zum Besseren befände. Dies bedeutet nicht weniger,
als dass Kant die Französische Revolution und den
Republikanismus als Fortschritt ansieht, als Fortschritt in
die Richtung, was wir heute unter Demokratie verstehen.28
Wichtig ist in unserem Zusammenhang der Frage nach dem
Zusammenspiel von Politik, Medien und Öffentlichkeit, nicht so
sehr, wer für Kant alles zur Öffentlichkeit gehört, sondern
vielmehr das, was – aus unserer Perspektive – die empirische
Öffentlichkeit zu Kants Zeiten für Auswirkungen auf die
politische Sphäre und ihre Form hatte. Waren es bei Kant ja
noch die Philosophen, die als Aufklärer alleine galten und
ihre Stimme »ehrerbietig an den Staat« richteten und nicht
»vertraulich ans Volk«29, so hat alleine schon diese kleine
Öffentlichkeit für den damaligen absolutistischen Staat
potentiell katastrophale Folgen, zumindest aus dessen
Perspektive. Denn wenn er die Aufklärer gewähren und sie bzw.
die Öffentlichkeit als Rat gebende akzeptieren würde, so ist
seine absolute Stellung hinfällig. Die Unfehlbarkeit, die
»Zwei Körper«-Lehre und die damit zusammenhängende Autorität
sind in höchstem Maße gefährdet30, wie sowohl die
absolutistischen Herrscher als auch die damaligen Aufklärer am28 Bevc (1999): Revolution oder Reform?29 Kant (1977): Der Streit der Fakultäten, 362f. Vgl. dazu aber auch John
Christian Laursen (1986): The Subversive Kant: The Vocabulary of „Public“ and „Publicity“.
30 Ernst Kantorowicz (1990): Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München.
13
Beispiel der Französischen Revolution deutlich vor Augen
geführt bekommen haben.
Demnach sieht Kants Republikanismuskonzept die bürgerliche
Öffentlichkeit als »Resonanzboden« vor, die die
»Publikumswünsche« an ihre legitimen Vertreter heranträgt.
In Kants Überlegungen zur Öffentlichkeit und der ihr
zugedachten Regierungsform tritt klar die Bestrebung zu Tage,
mit Hilfe der neuesten Kommunikationsmedien Politik zu
betreiben, in dem Sinne, dass die Diskussionen über Politik,
die zuvor in den Arkanräumen literarischer Gesellschaften
stattfanden, nun vor ein allgemeines Publikum getragen werden.
Die Zeitschriften des preußischen intellektuellen Bürgertums
haben eine Medialisierung im heutigen Wortgebrauch betrieben.
Sie haben eine vorher nicht existente Öffentlichkeit
hergestellt und eine Politisierung dieser Öffentlichkeit mit
sich gebracht. Der Staat und seine Politik wurden nun
beobachtet und der Staat war sich dessen bewusst und reagierte
darauf. Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II.
wurden die Zensurbeschränkungen verstärkt – und damit wurde
klar: er hatte die Botschaft des politisch räsonierenden
Publikums zwar verstanden, jedoch die falschen Schlüsse daraus
gezogen. Zensur und die Einschränkung der Publizitätsfreiheit,
die Kontrolle der Publikationen wurde angeordnet. Damit ließ
sich die nun in Gang gekommene Medialisierung nicht aufhalten,
doch zumindest ein wenig bremsen – retrospektiv erinnert dies
ein wenig an die Versuche heute, das Internet zu überwachen
und die freie Rede darin zu kontrollieren.
14
3.2. Radikale Öffentlichkeit als Grundlegung repräsentativer Demokratie
Jeremy Bentham (*1748 - †1832) gehört zu den sehr frühen und
sehr radikalen Fürsprechern von Öffentlichkeit. Diese
Öffentlichkeit hängt aus der Perspektive Benthams direkt mit
der Qualität der aus ihr resultierenden repräsentativen
Demokratie zusammen. Er fordert die Transparenz des
parlamentarischen Systems, und erinnert somit an die heute
erneut aktuellen Forderungen nach mehr Transparenz des
demokratischen Systems und der öffentlichen Verwaltung.
Bentham strebt in seinem Constitutional Code die Maximierung der
Öffentlichkeit durch ein Veröffentlichungssystem an, in dem
neben allen Gesetzen auch andere Daten die von Interesse für
die Öffentlichkeit sein könnten veröffentlicht werden sollen.31
Zunächst sollen hier nun die Forderungen bezüglich der
radikalen Öffentlichkeit parlamentarischer Sitzungen aus
Benthams Essay on Political Tactics angeführt werden. Hofmann
argumentiert, dass diese Forderungen zum institutionellen
Kernbereich von Repräsentation gehören. Bentham identifiziert
folgende Gründe: »1. Öffentlichkeit erzwingt von den
Parlamentariern die Erfüllung ihrer Pflicht; 2. Sie
mobilisiert das Vertrauen und die Akzeptanz der Bürger für die
Politik der Regierung; 3. Sie ermöglicht die Artikulation der
Wünsche der Regierten; 4. Sie ist die Voraussetzung jedes
sinnvollen Wahlaktes durch die Bevölkerung; 5. Sie mobilisiert
das Wissen der Gesellschaft für die Politik; 6. Sie ist
31 Jeremy Bentham (1995): Constitutional Code, in: The Works of Jeremy Bentham, hrsg. von John Bowring, Bd. IX, Bristol.
15
amüsant.«32 Die Öffentlichkeit hat hier eine Informations-,
Kontroll-, Dialog-, Bildungs- und Unterhaltungsfunktion, die
gleichzeitig den Missbrauch der politischen Macht durch die
Repräsentanten verhindert. 33
Öffentlichkeit ist das Werkzeug um das gesunde Misstrauen
gegenüber allen politischen Institutionen abzufedern und es so
den Menschen zu ermöglichen, Vertrauen in das politische
System zu entwickeln. Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass
Bentham nicht von einer Parlamentsöffentlichkeit spricht,
sondern von einer inklusiven Öffentlichkeit jenseits des
Parlaments und der in ihm vertretenen Parteien. Um nämlich auf
die Vorstellungen der Menschen zu reagieren muss das Parlament
und die Regierung die Vielfalt der externen Welt der
allgemeinen Öffentlichkeit registrieren. Der öffentliche
Diskurs erfüllt damit zweierlei Funktion: Einerseits
ermöglicht er die Informationsbeschaffung aus dem ganzen Land
und allen Wissensbereichen, andererseits zeigt er was wie
verbessert werden kann.34
Das Volk »ist aber nur das machteffiziente Zentrum einer
universalen Öffentlichkeit zu der letztlich alle Menschen
zählen, auch diejenigen, die gar nicht wahlberechtigt sind
oder anderen Staaten angehören. Öffentlichkeit konstituiert
sich aus dieser universalen Diskursgemeinschaft für Bentham
unter kontingenten Bedingungen als verschiedenste 32 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 279. Vgl. Bentham
(1995): Essay on Political Tactics, 310-312.33 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 310.34 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 281. Vgl. “Public
opinion [bei Bentham] has not only the function of surveillance but alsothat of innovation.” Slavko Splichal (2002): Principles of Publicity andPress Freedom, Lanham et al, 48.
16
Teilöffentlichkeiten, die als Agenten einer großen
Kommunikationsgemeinschaft aller Menschen […] über politische
Gegenstände kommunizieren.«35
Hieraus resultiert dann die öffentliche Meinung, die themen-
und nicht institutionenzentriert ist. Niesen ist der
Auffassung, dass dies nun nicht bedeute, dass die Grenzen
politischer Gemeinschaften unbedeutend werden, und ein
globales öffentliches Tribunal eingerichtet werden könne,
sondern vielmehr, »dass die Zusammensetzung der einzelnen
Tribunale, die sich auf politische Herrschaft in einem Land
richten, nicht durch die Grenzen der politischen Gemeinschaft
bestimmt werden.«36 Gerade in Zeiten der Transnationalisierung
politischer Entscheidungen und der Entgrenzung von Gründen und
Wirkungen politischer Entscheidungen ist dieser Aspekt
Benthams‘ Öffentlichkeitskonzepts sicherlich ein
hochaktueller, der später noch von Bedeutung werden wird.37
35 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 281f. Vgl. Bentham (1983): Constitutional Code, 39.
36 Peter Niesen (2009): Tribunal der Zeitungsleser. Bentham über schwache und starke Öffentlichkeiten, in: Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus: Hume, Bentham, Mill, hrsg. von Olaf Asbach, Baden-Baden, 153-182, 177.Was sicherlich bemerkenswert an dieser Konzeption ist, dass man sie als einen Vorläufer der Theorien Transnationaler Öffentlichkeit und Beteiligung im Sinne Frasers und Benhabibs sehen kann. Vgl. Nancy Fraser(2010): Transnationalizing the Public Sphere: On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Postwestphelian World, in: Dies., Scalesof Justice. Reimagining Political Space in a Globalizing World, 76-99; Seyla Benhabib (2005): Die Krise des Nationalstaats und die Grenzen des Demos, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53, 1, 83–95.
37 Vgl. Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash (1996): Reflexive Modernisierung, Frankfurt/M.; Ulrich Beck (Hrsg.) (1998): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/M.; Saskia Sassen (2008): Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton and Oxford. Vgl. auch die Literatur aus der vorangegangenen Fußnote.
17
Es stellt sich noch die Frage, was Bentham unter Publicity,
d.h. Öffentlichkeit, versteht. Wer ist das Publikum, das diese
strenge Kontrolle der Parlamentarier ausführen soll?
Einerseits, wie oben schon dargestellt, versteht Bentham unter
dem Publikum alle Menschen, also auch solche die nicht wählen
dürfen und/oder gar nicht dem betreffenden Staat angehören.38
Andererseits differenziert er das Publikum in drei Klassen:
Die erste Klasse beschäftigt sich kaum mit den Dingen die das
öffentliche Leben betreffen. Diese Klasse wäre wohl in
heutiger Diktion als »politikfern« zu bezeichnen, wobei
Bentham diese Klassifikation nicht auf Desinteresse
zurückführt, sondern darauf, dass diese Menschen weder Zeit
zum Lesen noch zum Räsonieren haben. Die zweite Klasse bildet
sich zwar ein Urteil, dieses sei aber »geliehen« – und zwar
von den Behauptungen anderer. Es handelt sich hier also um die
Menschen, die sich entweder nicht die Mühe machen oder nicht
in der Lage sind, sich selbst eine Meinung zu bilden. Die
dritte Klasse setzt sich aus denen zusammen, die sich selbst
ein Urteil bilden und zwar aus der Information, derer sie
habhaft werden können.39
Benthams Ausführungen sind deswegen interessant, da er die
vielen auch heute noch gängigen Einwände gegen eine
vollständige Öffentlichkeit in öffentlichen Angelegenheiten
eingängig widerlegt. Als letzten Punkt greift er den Vorwurf
auf, dass ein Regime der Öffentlichkeit eines des Misstrauens
sei, genau das begrüßt Bentham.40 Denn wem sollten wir
38 Bentham (1995): Constitutional Code, V/4/3.39 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 313.40 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 314.
18
Misstrauen, wenn nicht denen, denen wir Macht und Autorität,
diese Macht zu Missbrauchen, eingeräumt haben? Daher kommt
Bentham zu dem Schluss:
»The efficacy of this great instrument extends to
everything – legislation, administration, judicature.
Without publicity, no good is permanent: under the auspices
of publicity, no evil can continue. «41
Es wird deutlich, dass Bentham das Prinzip der Öffentlichkeit
als das wichtigste Moment zur Wahrung von Demokratie und zur
Sicherung derselben vor Korruption, Patronage, Nepotismus etc.
sieht. Sie stellt das einzige und einfachste Mittel dar, durch
Transparenz und potentieller Einbeziehung aller das Richtige
vom Falschen zu unterscheiden und Fehlentwicklungen frühzeitig
zu entdecken und zu bekämpfen. Nicht zuletzt sieht Bentham in
der Öffentlichkeit die »entscheidende Institution« die die
»Konvergenz dessen, was sein soll (das Glück der großen Zahl)
mit dem was ist (das Glück der wenigen) für möglich hält. «42
Bentham wollte dennoch keine völlige Transparenz aller
Angelegenheiten. Die Privatsphäre hält er für ein hohes Gut,
solange sie nicht politische Gegenstände berührt. Im
politischen Bereich jedoch ist es eigentlich nur der
Kriegsfall, der eine Geheimhaltung gewisser Dinge
rechtfertigen kann.43
Die vermeintliche Inkompetenz des Massenpublikums, die Gefahr
es könne manipuliert werden, und Sachverhalte müssten zu stark
41 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 314.42 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 284.43 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 285f.; und hier auch
die Fußnote 121.
19
komplexitätsreduziert werden um sie der Masse verständlich zu
machen, damit sie sich eine Meinung bilden könnten, sind
Fragen, die auch heute noch virulent sind. Mit Bentham kann
man diese Bedenken anhand seiner Überlegungen zu den drei
Klassen des Publikums zerstreuen bzw. ihnen entgegenwirken.
Die aufgeklärte Urteilsbildung der dritten Klasse durch die
freie Öffentlichkeit wirkt so, dass auch die beiden anderen
Klassen davon profitieren. Allerdings schließt auch Bentham
nicht aus, dass sich hier ein Einfallstor für
Manipulationsstrategien befindet. Dies kann nur durch die
völlige Meinungs- und Publikationsfreiheit und dem Ächten
künstlicher Würden (Geld, Macht) geschlossen werden.44
Deutlich wird bei all diesen Argumentationsketten Benthams,
dass das Medium der Öffentlichkeit unhintergehbar ist in einer
demokratischen Gesellschaft, da man sich nur in diesem Medium
gegen es wenden kann. Der universale gesellschaftliche Diskurs
ist die Plattform auf der Urteile gefällt werden. Selbst, wenn
diese als uninformiert und schlecht sich herausstellen, bleibt
keine andere Möglichkeit als in diesem Medium zu verharren,
selbst wenn man gegen es argumentieren möchte.45
Bentham spricht der Öffentlichkeit sehr optimistisch genau das
zu, was Kant dem Republikanismus in Verbindung mit
Publizitätsfreiheit zuspricht. Öffentlichkeit ist ein
ununterbrochener Prozess der Aufklärung, der letzten Endes
44 Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 287. Vgl. hier auch Fußnote 130. Vgl dazu auch Habermas, der ebenso auf dem Ausschluss solcher „künstlicher Würden“ besteht.
45 Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 287; Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 310.
20
unfehlbar ist46, mithin auch dazu führt, dass alle drei Klassen
an ihr partizipieren werden.
Neben den positiven Effekten, die Bentham der Öffentlichkeit
zuschreibt, ist ein weiteres Moment hervorzuheben, das für die
heutige Diskussion von Öffentlichkeit und ihrer Funktion von
Bedeutung ist:
His [Benthams] crucial insight is to conceive of the public
as a mode of opinion-making and mass society less as an
arena for the passive consumption of ideas than a kind of
feedback loop which has a potentially transformative effect
on the ideas it receives. Rather than naming a realm of
action or reflection, ‘publicity’ transforms ‘public’ into
a set of practices or mode of action.”47
Folgt man diesem Gedanken, ist Benthams Öffentlichkeit ein
Konzept der politischen Kultur, das das Funktionieren der
parlamentarischen Demokratie in ein Abhängigkeitsverhältnis
einer inklusiven, universalen Diskursgemeinschaft stellt,
deren Grundlage Transparenz und freie Verfügbarkeit von
Information zur Voraussetzung hat. Diese Interpretation von
Franta erinnert an Stuart Halls Einsichten zur Populärkultur
und dem interpretatorisch produktiven Rezipienten, der das
Rezipierte durch den eigenen Wahrnehmungs- und
46 Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 288; vgl. Bentham(1995): Essay on Political Tactics, 368.
47 Franta (2007): Romanticism and the Rise of the mass public, 2. Vgl. dazu auch Splichals und Hofmanns Gedanke wie oben ausgeführt, dass die Öffentlichkeit nicht nur im negativen Sinne Machtmissbrauch und negativeFolgeerscheinungen von Macht und Mandat überwacht, sondern auch positiv Input in das politische System bringen kann. Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 281; und Splichal (2002): Principles ofPublicity and Press Freedom, 48.
21
Konstruktionsfilter laufen lässt, um sich so sein eigenes Bild
von der durch die Medien hergestellten Welt zu machen und
gleichzeitig zu dieser Welt aktiv beizutragen, indem er an der
Öffentlichkeit sich beteiligt.48
4. Die zwei Begriffe von Öffentlichkeit und ihre Weiterführung
bei Foucault und Habermas
Anhand von Kant und Bentham werden die Unterschiede des
Öffentlichkeitsbegriffs mehr als deutlich:
»With utilitarianism the idea of freedom of expression and
publication has been instrumentalized in publicity as a
means to hold governors accountable to the governed. On the
other hand, the idea of freedom of expression and
publication, which proceeded from the idea of communication
as a generic ability and need and thus natural freedom and
right of human beings, remained instrumental in the
authentic Spinozean sense – as a right of the individual
absolutely necessary for human progress. «49
Während die erstere Lesart der »idea of freedom of expression
and publication« in das Konzept der Presse als vierten Gewalt
mündete und der Öffentlichkeit somit die Aufgabe zukommt den
Missbrauch von Regierungsmacht zu begrenzen, konzentriert sich
die zweite, also die kantische, Lesart auf das 48 Hall, S. (1997): Introduction. In: Hall, Stuart (ed.), Representation.
Cultural Representations and Signifying Practices. London; Hall, Stuart (1980): Encoding/Decoding, in: Culture, Media, Language, hrsg. von Stuart Hall u.a., London, 128-138.
49 Splichal (2002): Principles of Publicity, 26f.
22
Aufklärungsdenken und dessen Überzeugung, dass die Freiheit zu
kommunizieren dem Mensch als Menschen genuin zukommt, und es
daher Pflicht sei, allen Menschen dieses Recht zu gewähren.
Dieses Argument kann bei so unterschiedlichen Autoren wie
Rousseau, Kant, Marx und John Stuart Mill gefunden werden, es
fehlt ihm aber »an authentic institutionalization of its
universal principle of publicity mediating between politics
and morals«.50 Dies bietet Habermas mit seinem Konzept der
deliberativen Demokratie, das ja genau in diese Leerstelle der
politischen Theorie greift und versucht sie zu füllen.51
Zunächst aber soll Foucaults Aufnahme und genealogische
Interpretation und aktualisierte Weiterführung des
benthamschen Öffentlichkeitsbegriffs zeigen, wie ambivalent
selbst diese klare und scheinbar eindeutige Funktion von
Öffentlichkeit ist. Diese Darstellung zeigt auf und
verdeutlicht gleichzeitig einige Aspekte der Probleme der
Öffentlichkeit des sozialen Netzes, die heute virulent sind.
4. Die zwei Begriffe von Öffentlichkeit und ihre Weiterführung
bei Foucault und Habermas
4.1.1 Foucault und der Panoptizismus
Die Öffentlichkeit und ihre Funktion als Kontrollmechanismus
aller politischen Institutionen sind im Kontext des hier
diskutierten Verhältnisses von Demokratie, Öffentlichkeit und
50 Splichal (2002): Principles of Publicity, 27.51 Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main. Hier
vor allem die beiden Kapitel VII und VIII, S. 349-467; Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/Main 277-292
23
Medien deutlich geworden. Benthams Konzeption des Panoptikums
hier einschlägig.52 Gerade in Foucaults Lesart wird diese
Aktualität noch deutlicher. Dieser kommt in seinen
Ausführungen über das Panoptikum hinsichtlich moderner
Disziplinargesellschaften zu dem Schluss, dass das Verfahren
des »Unter-Beobachtung-Stellens« die natürliche Verlängerung
einer von den Disziplinarmethoden und Überprüfungsverfahren
geprägten Gesellschaft ist.53 Diese Methode des »Unter-
Beobachtung-Stellens« kann man aber ohne große Fantasie auch
auf Benthams Prinzip der Öffentlichkeit beziehen. Die von
Bentham geforderte Öffentlichkeit und Transparenz aller
politischen Verfahren und Verhandlungen macht somit die
Öffentlichkeit zum Beobachtungsturm von dem aus das politische
System überwacht wird. Kraft dieser Überwachung können alle
Verfehlungen im politischen System sofort gesehen und geahndet
werden.54 Die Hauptwirkung des Panoptikums besteht in der
»Schaffung eines bewussten und permanenten
Sichtbarkeitszustandes«, der ein »automatisches Funktionieren
der Macht sicherstellt«. Foucault bezieht das zwar auf die
Gefangenen im Gefängnis, jedoch ist diese Beobachtung genauso
korrekt für die Öffentlichkeit und die von ihr beobachteten
Parlamentarierinnen, Richterinnen, Beamtinnen etc. Die
Konsequenz aus diesem Überwachungskonzept ist die
Automatisierung und Entindividualisierung von Macht, die noch
52 Jeremy Bentham (1995) [1791]: Panopticon; or the Inspection-House, in: Ders.: Collected Works, hrsg von John Bowring, Band IV, 37-172.
53 Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main.
54 Vgl Dilip Parameshwar Gaonkar und Robert J. McCarthy Jr. (1994): Panopticism and Publicity: Bentham’s Quest for Transparency, in: Public Culture 6, 547-575.
24
dazu ohne Rituale, Zeremonien und Stigmen, in denen die
Übermacht des Souveräns zum Ausdruck kam«, auskommt.55
Die radikale Öffentlichkeit als Grundlegung repräsentativer
Demokratie wie sie uns in Gestalt von Benthams Theorie
entgegengetreten ist, wird nun durch Foucaults Interpretation
einer totalen Kontrolldurchdringung der Gesellschaft und der
Individuen erweitert.
Wir haben hier nicht nur eine Umkehr des sonst üblichen
Überwachungsmechanismus‘: Anstatt dass der Staat bzw. seine
Institutionen die Bürger überwacht und zur Ordnung ruft, ist
nun die Öffentlichkeit, die sich ja aus allen Menschen
zusammensetzt, Disziplinar des Staates und seiner Vertreter
und Institutionen. Gleichzeitig aber bleibt das andere
Überwachungsverhältnis aufrecht erhalten: die überwachenden
Bürgerinnen werden auch überwacht. Zudem liegt ein Verhältnis
gegenseitiger Kontrolle vor, in dem viele gleichzeitig in
ihren unterschiedlichen Rollen (Staatsdienerinnen/Bürgerinnen)
beide Perspektiven einnehmen.56 In diesem System der
Überwachung kommt die Kategorie der Verinnerlichung zum
Tragen. Die Verinnerlichung der Überwachung im Panoptikum erst
macht aus dem Panoptikum das gewünschte Instrument: Die
Überwachung ohne Überwachung, die Etablierung der
Selbstüberwachung der Insassen des Gefängnisses und natürlich
auch der Parlamentarierinnen.57 Gleichzeitig haben aber auch
schon die Bürgerinnen die Überwachung ihrerseits
55 Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen, 258f.56 Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen, 267-269. Vgl. Gaonkar
und McCarthy Jr. (1994): Panopticism and Publicity, 554.57 Gaonkar und McCarthy Jr. (1994): Panopticism and Publicity, 563f.
25
verinnerlicht.58 Beobachtung muss daher »als ein wesentliches
Moment sozialer Kontrolle und der Durchsetzung moralischer und
politischer Regeln« verstanden werden.59 Aus heutiger
Perspektive ist Benthams Panoptikum als eine gesellschaftliche
Institution anzusehen, die den ideologischen Staatsapparaten
Althussers sehr nahe kommt60:
Für Bentham und Foucault ist das Moment der imaginierten
Überwachung und Beobachtung zentral, sie steuert das Verhalten
der Delinquentinnen, Schülerinnen, Bürgerinnen etc. Im
Idealfall übernimmt die Beobachtete die
Beobachtungsperspektive und übernimmt dann das äußere Motiv zu
einem inneren.61 Damit wäre dann eine Art innengesteuerte
Außenperspektive – eine vermeintliche autonome Perspektive des
Subjekts – die handlungsleitende Perspektive. Geschmeidiger
kann man die Subjekte nicht entmündigen. Nicht zuletzt, weil
die Beobachterinnen, die also, die das korrekte Funktionieren
des politischen Systems durch die Öffentlichkeit gewährleisten
sollen, zunächst selbst durch die Institutionen geprägt
wurden, die von dem Staat betrieben werden, der anschließend
beobachtet werden soll: Schulen, Universitäten etc.
Foucault beschreibt das Aufkommen der Forderung nach
Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als
Ergebnis der Angst vor dunklen Räumen die die Sichtbarkeit von
58 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 90. Vgl. Jeremy Bentham (1843): Rationale of Judicial Evidence, in: Ders., Works VI, 27.
59 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 91.60 Louis Althusser (1976): Idéologie et appareils idéologiques d’État, in:
In ouvrage de Louis Althusser, POSITIONS (1964-1975), Paris, 67-125.61 Bentham (1843): Panopticon, 40; Hofmann (2002): Politik des
aufgeklärten Glücks, 94f.
26
Dingen, Menschen und Wahrheiten verhindern.62 Er sieht ähnlich
wie Habermas einen grundlegenden Wechsel in der Struktur der
politischen Autorität in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts, und zwar von der königlichen Prärogative hin zur
öffentlichen Überwachung, jedoch, wie Peters feststellt, mit
einem signifikanten Unterschied: »Foucault sees the
Enlightenment notion of publicity as the key disciplinary tool
of modern ‚carceral‘ societies, while Habermas takes it as a
lasting norm of public reason.«63
Foucault wendet also Benthams positives Öffentlichkeitskonzept
hin zu einem ambivalenten Konzept der alles durchdringenden
gegenseitigen Überwachung. Interessant ist dabei, dass diese
gegenseitige Durchdringung und Überwachung die Form eines
Machtspiels darstellt, und in je unterschiedlichen Formen der
Gouvernementalität münden kann.64 Emanzipation und echte
Demokratie sind also keine Alleingänger.
4.1.2 Panoptizismus und soziales Netz
Die von Bentham und Foucault beschriebene panoptizistische
Funktion der Überwachung mit dialektischer Funktionsweise
führt bei Bentham zu einer gut funktionierenden 62 Michel Foucault (1980): In the Eye of the Power, in: Power/Knowledge.
Selected Interviews and Other Writings, 1972-1977, hrsg. von C. Gordon, New York, 146-165, 153f. Das soziale Netz stellt damals ungeahnte Möglichkeiten dieses kollektiven anonymen Blicks dar. Vgl. unten und Sherry Turkle (2011): Alone Together, New York.
63 John Durham Peters (1993): Distrust of Representation: Habermas on the Public Sphere, in: Media, Culture and Society, 15, 541-571, 548. Vgl. Habermas (1990): Strukturwandel.
64 Michel Foucault (1999): In Verteidigung der Gesellschaft; Michel Foucault (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt/Main
27
repräsentativen Demokratie und bei Foucault ist sie Ausdruck
der jeweiligen Machtverhältnisse innerhalb eines Staates, die
unterschiedliche Freiheitsgrade abhängig von der jeweiligen
Form der Gouvernementalität erlauben. Im sozialen Netz kann
man seit seiner Einführung verschiedene Formen der
gegenseitigen Überwachung beobachten.
Zur herkömmlichen Überwachung (»surveillance«) kommt noch die
»Unterwachung« (»sousveillance«) und die gegenseitige
Überwachung aller im Medium der Öffentlichkeit
(»coveillance«). Der Begriff der »sousveillance« wurde 2002
von Steve Mann im Gegensatz zur »surveillance« geprägt.65
Bedeuten soll er schlicht, dass die, die normalerweise
überwacht werden, nun durch das soziale Netz und der
Möglichkeiten der digitalen Technologie selbst
Feedbackmöglichkeiten – und dadurch Überwachungsmöglichkeiten
– haben66: ob das nun evaluierende Studierende sind,
Konsumenten die über irreführende Praktiken von Geschäften und
Unternehmen berichten, Namensschilder auf Polizeiuniformen,
das Filmen von Polizisten bei Verkehrskontrollen oder
Demonstrationen etc. pp. All diese Dinge werden langsam aber
sicher in unseren Alltag integriert und führen (angeblich) zu
einer Ermächtigung der Konsumenten im weitesten Sinne. Ein
weiterer Schritt ist die coveillance, d.h. die gegenseitige
Überwachung der Bürger. Die »sous- und coveillance« sei die
der Netzwerkgesellschaft angemessene Form der Überwachung,
während die »surveillance« hierarchischen 65 Mann, Steve (2002): Sousveillance, online unter:
http://wearcam.org/sousveillance.htm, letzter Zugriff: 21.11.2012.66 Wie man an den Beispielen sehen kann, gilt das auch für die analoge
Welt. Die digitale macht nur viele Formen der sousveillance einfacher.
28
Industriegesellschaft angemessen war, die mit ihrem
Überwachungsregime eine Art »Neo-Panoptikum« der sozialen
Kontrolle geschaffen hat. Das soziale Netz und andere neue
Technologien erlaubten es heute, dass jeder zugleich Subjekt
und Objekt von Überwachung ist. Damit werde die Einseitigkeit
der Überwachung transzendiert. Ob dies aber tatsächlich zu
einer »self-empowering sousveillance for people as they
traverse their multiple and complex networks[.]« führt67, sei
dahingestellt, da es zu bedenken gilt, dass diese sous- und
coveillance alsbald zu einem netzwerkartigen Blockwartsystem
ausufern kann, das Vergleiche mit autoritären Staaten nicht
scheuen muss. Das Neo-Panoptikum der sozialen Kontrolle, ist
in den netzwerkgesellschaftlichen Formen der Überwachung der
Post-Industriegesellschaft sicherlich deutlich umfassender und
unterdrückender als die Überwachung in den herkömmlichen
Surveillance-Formen. Vor allem die schon jetzt zu beobachtende
Verschmelzung von öffentlich und privat im sozialen Netz führt
zu einer gegenseitigen Überwachung der Menschen in allen
Lebensbereichen, was folglich zu einer Ausdehnung der
Öffentlichkeit in alle Lebensbereiche führt. Dies erhöht den
Konformitätsdruck und die »Tyrannei der Mehrheit«
(Tocqueville/Mill) beträchtlich und ist, da sie nun
gleichzeitig dem Initiator der Surveillance, also dem Staat
und der Industrie, sowie allen anderen Menschen zugleich
zugänglich ist, viel umfassender und tiefgehender. Zudem wird 67 Mann, Steve, Nolan, Jason, Wellmann, Berry (2003): Sousveillance:
Inventing and Using Wearable Computing Devices for Data Collection in Surveillance Environments, in: Surveillance & Society 1, 3, 31–355, 348.Vgl. die verharmlosende und m.E. naive Beschreibung von sur-, sous- und coveillance in: Lee Rainie und Barry Wellmann (2012): Networked. The NewSocial Operating System, Cambridge (Mass.), 238-241.
29
diese Form der Überwachung auch verinnerlicht und als
permanenter Begleiter in allen Lebensbereichen gesehen.68 Die
von John Stuart Mill betonte Bedeutung der individuellen
Freiheit und ihre Bedrohung durch soziale Konventionen der
Mehrheitsgesellschaft sind hier durchaus zu bedenken.69 Kurz:
Die Internetöffentlichkeit kann zu einer Perfektionierung
eines gesamtgesellschaftlichen Panoptikums führen, das nicht
nur hinsichtlich gesetzeskonformen Handelns überwacht, sondern
auch alle anderen Ausdrucksformen menschlichen Zusammenlebens
und individuellen Ausdrucks unter die Kontrolle des Zeitgeists
der Mehrheitsgesellschaft stellt. Die Vorstellung, dass man in
einer Demokratie etwas zu verstecken hat, und dass dies
legitim ist, geht hier verloren.70 Die Vielfalt der Individuen
wird geringer und somit auch die der Meinungen. Die Welt wird
eindimensionaler und die Möglichkeit alternative Vorstellungen
zu entwickeln und zu äußern beschränkter.71
4.2.1. Habermas und bürgerliche Öffentlichkeit
Jürgen Habermas‘ deliberative Demokratietheorie bietet hier
das Mittelstück zwischen den beiden bei Kant und Bentham
hervorgetretenen Ansätzen des Republikanismus und des
Liberalismus. Habermas verortet seine Theorie in den modernen
Massengesellschaften, also in einem massenmedial bestimmten
68 Sherry Turkle (2011): Alone Together. Why we Expect more from Technology and Less from Each Other, New York, 256-264.
69 John Stuart Mill (1977): Über die Freiheit, Stuttgart.70 Sherry Turkle (2011): Alone Together, 263f.71 Tobias Bevc (2011): Überlegungen zum demokratischen Potential des Web
2.0, in: Telepolis, online unter http://www.heise.de/tp/artikel/35/35283/1.html, letzter Zugriff am 20.02.2013.
30
Diskurs. Dennoch ist nach Habermas die massenmediale
öffentliche Meinung, wie sie im partizipatorischen
Demokratieparadigma sich vorzustellen ist, nämlich als Summe
der Einzelmeinungen, völlig unbefriedigend, weil aufgrund
dieser Summe schlecht allgemein gültige Entscheidungen zu
fällen sind.72 Beim liberalen Paradigma fällt negativ auf, dass
nicht die Gesamtgesellschaft repräsentiert ist, sondern die
politische und ökonomische Elite überrepräsentiert ist.73 Dies
führt zu den allgemeinen negativen Begleiterscheinungen die
uns heute aus repräsentativen Demokratien bekannt sind:
Politikverdrossenheit, Rückkehr ins Private, Protestwahlen.
Um aus diesem Dilemma zu entfliehen versucht Habermas aus
beiden Ansätzen eine sublimierte Demokratieform zu schaffen,
die deliberative Demokratie. Die in Körperschaften
organisierte Meinungsbildung, die zu verantwortlichen
Entscheidungen führen soll, kann dem Ziel der kooperativen
Wahrheitssuche nur in dem Maße gerecht werden, wie sie für
alle Themen und Argumente durchlässig bleibt.74 Somit hofft
Habermas auf das freie Zusammenspiel institutionell verfasster
Willensbildung und nicht vermachteter Kommunikationsströme
einer nicht organisierten Öffentlichkeit: »Die kommunikativ
verflüssigte Souveränität bringt sich in der Macht
72 Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society. Does Democracy still Enjoy an Epistemic Dimension? The Impact of Normative Theory on Empirical Research, in: Communication Theory 16 411–426, 416.Vgl. das Schema von Martinsen (2009), Öffentlichkeit in der Mediendemokratie aus der Perspektive konkurrierender Demokratietheorien,60.
73 Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie; Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society?, 412ff.
74 Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main, 43.
31
öffentlicher Diskurse zur Geltung. «75 Themen von
gesamtgesellschaftlicher Relevanz werden bewertet und
diskutiert. Diese Meinungen müssen dann aber »in Beschlüssen
demokratisch verfasster Körperschaften Gestalt annehmen, weil
die Verantwortung für praktisch folgenreiche Beschlüsse eine
institutionelle Zurechnung verlangt.« Insofern muss man mit
Habermas festhalten, dass die Diskurse nicht herrschen,
sondern mit ihrer kommunikativen Macht die administrative
Macht beeinflussen und zwar im Sinne von Beschaffung oder
Entzug von Legitimation.76 Eine zentrale Rolle spielen hier
neben den Massenmedien die zivilgesellschaftlichen Akteure wie
Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Bürgerrechts- und
Umweltorganisationen etc.77 Ziel der Öffentlichkeit ist
jedenfalls die Selbstbindung aller Akteure an einen diskursiv
ermittelten Konsens. Damit soll eine Rationalisierung des
Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses unter Einbindung
von Akteuren aus allen gesellschaftlichen Teilbereichen
stattfinden.78 Wenn man nun an das Internet und vor allem das
soziale Netz denkt, in dem ja jeder in den öffentlichen
Diskurs hineintragen kann, was er denkt das von Belang ist, so
ist Habermas Stellungnahme dazu in Bezug auf die politische
Öffentlichkeit recht eindeutig:
75 Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main, 44.
76 Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main, 44.
77 Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie, 287-292;78 Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie, Vgl.
Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main. Hier vorallem die Kapitel VII „Deliberative Politik – ein Verfahrensbegriff der Demokratie“ und VIII „Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit.
32
»There are two types of actors without whom no political
public sphere could be put to work: professionals of the
media system—especially journalists who edit news, reports,
and commentaries—and politicians who occupy the centre of
the political system and are both the coauthors and
addressees of public opinions. Mediated political
communication is carried on by an elite.« 79
Fünf weitere Personentypen macht Habermas aus, die auf der
virtuellen Bühne der Öffentlichkeit mitspielen: »lobbyists«,
»advocates of interest groups«, »experts«, »moral
entrepreneurs« und »intellectuals«.
Einen Absatz später formuliert Habermas
»To put it in a nutshell, the deliberative model expects
the political public sphere to ensure the formation of a
plurality of considered public opinions. «80
»Considered public opinions«, also keine endlose Pluralität an
Einzelstimmen, die, wie oben im Zusammenhang der
partizipativen Demokratie schon angedeutet, nicht zu einer
legitimen Beschlussfassung führen können. Nur so kann es keine
Kakophonie der Einzelmeinungen geben und nur auf diese Weise
lässt sich ein strukturierter deliberativer Prozess
durchführen, der zu einem Ergebnis führt, und zwischen
Republikanismus und Liberalismus, einen dritten Weg der
demokratischen Legitimation darstellt.
79 Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society?, 416.80 Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society?, 416.
33
Die politische Öffentlichkeit stellt im deliberativen Prozess
den »Resonanzboden für das Aufspüren gesamtgesellschaftlicher
Probleme« dar und ist zugleich der Filter für
interessenverallgemeinernde und informative Beiträge zu
relevanten Themen […] und [strahlt] diese ‚öffentliche
Meinungen‘ sowohl an das zerstreute Publikum der
Staatsbürger zurück […] wie an die formellen Agenden der
zuständigen Körperschaften weiterleitet.81
Soweit hört es sich noch nach Kant an, dem man unterstellen
darf, dass er genau diese Aufgaben der Öffentlichkeit
zuschrieb, nämlich eine »ungesteuerte Zirkulation öffentlicher
Meinung«, die somit einen »Rationalisierungsdruck« ausübt, der
»die Qualität der Entscheidungen verbessert«, die, in Kants
Worten zu einem Monarchen führt, der republikanisch regiert.
Und auch in seiner Schlussfolgerung bleibt Habermas ganz bei
Kants Forderung, was die politische Öffentlichkeit eigentlich
bewirken soll: »freilich kann die kommunikative Macht, zu der
die Konkurrenz öffentlicher Meinungen nach demokratischen
Verfahren verarbeitet wird, nicht selber ‚herrschen‘, sondern
bestenfalls den Gebrauch der administrativen Macht steuern.«82
4.2.2. Habermas und das soziale Netz
Das Internet könne zum Funktionieren einer deliberativen
Demokratie beitragen, da es jenseits der Logik der
81 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie, in: Ders., Ach, Europa, Frankfurt/Main, 138-191, 144.
82 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 144f.
34
Massenmedien funktioniert und reziproke Strukturen aufweist.
Habermas konstatiert, dass das Internet ja nicht nur -
»neugierige Surfer« hervorgebracht habe, sondern es hat »auch
die historische Gestalt eines egalitären Publikums von
schreibenden und lesenden Konversationsteilnehmern und
Briefpartnern wiederbelebt.«83 Einerseits wird hier deutlich,
dass Habermas dieses Publikum nun mit der im »Strukturwandel«
beschriebenen bürgerlichen Öffentlichkeit gleichsetzt (und
damit natürlich Kritik an den demokratischen Eigenschaften des
Internets provoziert, da diese Zuweisung gleichzeitig eine
Exklusion darstellt84) um das demokratische Potential des
Internets hervorzuheben. Andererseits attestiert Habermas dem
Internet unzweideutige demokratische Verdienste in autoritären
Staaten, da dies Zensur unterminiere sowie autoritäre Regime
in ihren Versuchen spontane öffentliche Meinungen zu
kontrollieren und zu unterdrücken behindere. Dabei nimmt er
anscheinend nicht zur Kenntnis, dass dieselbe Technologie
gerade auch autoritäre Regime dazu befähigt die Opposition zu
unterdrücken und die öffentliche Meinung noch perfider zu
steuern.85 Habermas geht es darum zu zeigen, wie Deliberation
in der repräsentativen Demokratie unter den gegenwärtigen
Umständen funktionieren kann. Der Beitrag des »World Wide Web«
zur öffentlichen Kommunikation besteht nach Habermas in der
Fragmentierung des Publikums in nur durch Spezialinteressen
zusammengehaltene Zufallsgruppen. Das Internet liefert somit
83 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 161.
84 Tobias Bevc (2012): Internet-Öffentlichkeit zwischen normativen Erwartungen und realen Fallstricken, in: vorgänge 4, Nr. 200, 4-15.
85 Vgl. Evgeny Morozov (2011): The Net Delusion.
35
die »Hardware für die Enträumlichung einer verdinglichten und
beschleunigten Kommunikation«, kann aber der zentrifugalen
Tendenz dieser Kommunikation nichts entgegensetzen. Habermas
konstatiert somit eine Transnationalisierung der
fragmentierten Teilöffentlichkeiten, die jedoch den Anschluss
zu den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten und den
dortigen Diskussionen und Problemen verloren haben.86
Gleichzeitig wäre hier aber auch zu fragen, welche
Legitimation solche transnationalen Öffentlichkeiten
eigentlich haben, dass sie auf nationale Öffentlichkeiten und
deren Entscheidungsfindung und Beschlussfassung durch
nationale Parlamente Einfluss haben sollten. Hier eröffnet
sich ein ganz entscheidendes Problem des Regierens jenseits
des Nationalstaats aus einer anderen Perspektive. Während
sonst die Frage diskutiert wird, wie transnationale politische
Gebilde ohne entsprechende politische Öffentlichkeit
demokratische Beschlüsse fassen können, und das daher ein
Demokratidefizit zu konstatieren sei87, fehlt die Diskussion
der Frage, welchen (un-)demokratischen Einfluss transnationale
(ad hoc) Öffentlichkeiten auf nationalstaatliche
Entscheidungen und Diskussionen haben können, wie es
beispielsweise auch im arabischen Frühling der Fall war.88
86 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 162.
87 Vgl. Nancy Fraser (2010): Transnationalizing the Public Sphere: On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Postwestphelian World.
88 Vgl. Malcolm Gladwell (2010): Small Change. Why the Revolution will notbe tweeted, in: The New Yorker, 4.10.2010, online unter http://www.newyorker.com/reporting/2010/10/04/101004fa_fact_gladwell (zuletzt abgerufen am 8.2.2013); Evgeny Morozov (2011): Internet Delusion. How not to Liberate the World, New York; Jon B. Alterman (2011): The Revolution will not be tweeted, in: The Washington Quarterly, Fall 2011 (34:4), 103-116; Mark Evans (2011): Egyptian
36
Das Internet an sich kann also nach Habermas die Zweifel am
Beitrag der Massenkommunikation zur deliberativen Demokratie
nicht ausräumen. Daher macht Habermas dann auch klar, dass es
ihm um das institutionelle Arrangement der deliberativen
Demokratie geht, um ihre Machbarkeit aufzuzeigen. Und zwar ihm
Rahmen nationaler Öffentlichkeiten in liberalen
Verfassungsstaaten des Westens.89 Letzten Endes geht es ihm mit
dem deliberativen Modell darum zu zeigen, unter welchen
Bedingungen die politische Öffentlichkeit einen angemessenen
Beitrag zum Legitimationsprozess politischer Entscheidungen
leisten könnte. Dass das soziale Netz dazu entscheidend
positiv beitragen könnte, ist unter Berücksichtigung der
Tatsache, dass viele der normativen Voraussetzungen der
deliberativen Demokratie im sozialen Netz nicht zwangsläufig
gegeben sind, kontingent, und, wenn man neben sozialen
Ungleichheiten, weiterhin die das soziale Netz durchdringende,
opake und klandestine Macht der Ökonomie in Betracht zieht,
unwahrscheinlich.
5. Ausblick
Zu Beginn dieses Artikels steht die Behauptung, dass die Form
der Öffentlichkeit und die Nutzung des sozialen Netzes in
einem Spannungs- und Wechselverhältnis zu den Crisis: Why the revolution will not be tweeted, online unter: http://blog.sysomos.com/2011/01/31/egyptian-crisis-twitte/ (zuletzt abgerufen am 2.11.2011); Bieta Andemariam (2011): The Revolution will not be Tweeted. Why the Mobil Phone is still Critical to Reaching the Massesin the Middle East, online unter: http://techchange.org/2011/06/16/the-revolution-will-not-be-tweeted-why-the-mobile-phone-is-still-critical-to-reaching-the-masses-in-the-middle-east/ (zuletzt abgerufen am 15.10.2011).
89 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 188.
37
unterschiedlichen Formen der Demokratie stehen. Einerseits
wird an Kant und Habermas deutlich, dass die Öffentlichkeit
hier nur als Resonanzboden für das politische System dienen
soll, um so die »Publikumswünsche« an die Herrschenden
heranzutragen. In Bezug auf das soziale Netz betont Habermas
aber, dass hier nicht jede einzelne Stimme gehört werden soll,
sondern nur »considered opinions«, die als solche nur gelten
können, nachdem sie einen gesellschaftlichen Ausleseprozess
hinter sich gebracht haben. Das wiederum legt den Schluss
nahe, dass sich durch das soziale Netz nicht viel an der
Öffentlichkeit verändert, zumindest nicht bezüglich einer
politisch-legitimatorischen Öffentlichkeit. Die Hoffnungen
eines Walter Benjamins oder Bert Brechts bezüglich neuer
Medien und den durch sie gewonnenen Beteiligungsmöglichkeiten
aller Menschen mag Habermas sich nicht anschließen, wenn er
deklariert, dass dort einerseits die historische Gestalt des
egalitären Publikums wiederbelebt werde, und gleichzeitig die
Fragmentierung dieses Publikums in Spezialinteressen und in
transnationale Öffentlichkeiten beklagt und damit das Internet
für eine enträumlichte und verdinglichte Kommunikation mit
zentrifugaler Tendenz verantwortlich macht. Daraus kann keine
Öffentlichkeit entstehen, die den normativen Ansprüchen seiner
deliberativen Demokratietheorie genüge tut. Habermas ist also
nicht der Ansicht, dass durch die neuen reziproken
kommunikativen Möglichkeiten des sozialen Netzes zwangsläufig
eine demokratische Öffentlichkeit entsteht, wie sie für die
deliberative Demokratie wünschenswert wäre. Hier erschließt
sich somit auch der Rückgriff auf Kant und Habermas‘
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Kantrezeption nochmals: Dort, wie heute in Bezug auf das
soziale Netz, haben wir eine doppelte Deutung von
Öffentlichkeit: eine empirische und eine normativ-
theoretische: empirisch ist die damalige Öffentlichkeit und
die heutige »Netzöffentlichkeit«, eine Öffentlichkeit eines
kleinen Teils der Gesellschaft, der soziökonomisch besser
gestellt und viel besser gebildet ist, als der
gesellschaftliche Durchschnitt. Normativ-theoretisch sind alle
inkludiert und Teil dieser Öffentlichkeit. Die
demokratietheoretischen Implikationen dieses Spagats zwischen
Theorie und Praxis müssen natürlich bei allen Überlegungen zum
Thema Demokratie und sozialem Netz berücksichtigt werden.
Mit Foucault ist festzustellen, dass durch das soziale Netz
ein bislang unvorstellbares Panoptikum der gegenseitigen
Überwachung und Kontrolle sich errichtet hat, indem die
Menschen sich zu allem Überfluss auch noch selbst entblößen.
Gleichzeitig sind sich viele der Problematik bewusst, dass
alle ihre Handlungen und Äußerungen in die Öffentlichkeit
gelangen und dort ein Eigenleben annehmen können. Daher ist
von einer zunehmenden Selbstzensur und einer wachsenden
Ausrichtung am Mainstream auszugehen, da Konformität auch im
Privatleben in Zukunft die einzige Möglichkeit bleibt, nicht
aufzufallen, nicht vom Bannstrahl der gesellschaftlichen
Exklusion getroffen zu werden. Vom Funktionsprinzip der
repräsentativen Demokratie regrediert Öffentlichkeit hier zu
einer reziproken vertikalen und horizontalen, peer-to-peer
Überwachungskultur, in der der hegemoniale gesellschaftliche
Diskursstets die Oberhand behält. Die steten Kämpfe um
39
Hegemonie und Macht der unterschiedlichen gesellschaftlichen
Gruppen, die es schon immer gegeben hat, stehen noch mehr als
zuvor unter den Vorzeichen einer asymmetrischen Verteilung der
Chancen, wobei diese Chancen beim Kapital und der Staatsmacht
zu verorten sind.
Was heißt dies in Bezug auf die anfängliche gestellte Frage
nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit, Demokratie unter den
Bedingungen des sozialen Netzes? Die allzu optimistischen
Annahmen diesbezüglich, die nun schon seit den Anfängen des
Internets geäußert werden, halten einer kritischen Prüfung
unter Einbeziehung ideengeschichtlicher Erfahrungswerte und
Reflektionen nicht stand.90 Die Inklusion und Partizipation
aller, die ja prinzipiell schon seit Kant und Bentham auf der
Agenda steht – wie oben deutlich wurde –, hat auch durch das
soziale Netz zu keiner wesentlichen Erweiterung der
Öffentlichkeit geführt. Benthams Unterscheidung der drei
Publika scheint bis heute Bestand zu haben, auch wenn dies in
Zeiten der political correctness natürlich nicht laut gesagt
werden darf. Genau von einer solchen Strukturierung der
Bevölkerung und der Öffentlichkeit scheint auch Habermas
auszugehen, wenn er noch für das Zeitalter des sozialen Netzes
deklamiert, dass in der Öffentlichkeit einer deliberativen
Demokratie nur »considered opinions« was zu suchen haben, und
der ganze Rest zu fragmentiert sei und sich um Spezialthemen
gruppiere, um sinnvoll zu dieser beizutragen. Die von Foucault
90 Vgl. Jan Felix Schrape (2010): Neue Demokratie im Netz. Eine Kritik an den Visionen der Informationsgesellschaft, Bielefeld, 13f.; Vgl. Lawrence K. Grossman (1995): The Electronic Republic: Reshaping Democracy in the Information Age, New York; Clay Shirky (2008): Here comes everybody; und Lee Rainie und Barry Wellmann (2012): Networked.
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konstatierte Kontrollgesellschaft ist nun in einem Umfang
vorhanden, der wohl seine kühnsten Erwartungen übertroffen
hätte, mit genau den Auswirkungen wie Tocqueville und Mill sie
vorausgesagt haben.
Ohne hier näher darauf eingehen zu können, ist für das soziale
Netz noch der kaum zu ermessende Einfluss mächtiger Oligopole
wie Google, Facebook, Amazon etc. hinzuweisen, die
selbstverständlich eine große Macht darüber haben, welche
Inhalte Verbreitung finden und welche nicht.91 Die künstliche
Würde Geld, wird im sozialen Netz direkt in die der Macht
umgesetzt und damit werden die gesellschaftlichen Diskurse
bestimmt.
Letztlich kann man nur konstatieren, dass unter den
gegenwärtigen Bedingungen des sozialen Netzes vor allem die
klassische Öffentlichkeit aufzufinden ist, in der jedoch der
Einfluss auf die Öffentlichkeit durch neue und mächtige
Mitspieler neu austariert wird. Primäre Zugangsbedingungen zu
diesem Machtspiel sind – wie seit je – Geld und Macht, und
nicht, wie häufig behauptet, eine Technologie, die
Reziprozität für jeden ermöglicht.
91 Vgl. Dan Schiller (2013): Netz-Regenten. Aufstand gegen Amerikas digitale Herrschaft, in: Le Monde diplomatique, 2/2013, deutsche Ausgabe, S. 1, 11. Vgl. PewInternet.org (2012): Search Engine use 2012, Online unter: http://www.pewinternet.org/Reports/2012/Search-Engine-Use-2012/Summary-of-findings/ Search-engines.aspx, letzter Zugriff: 22.08.2012. Vgl. dazu: Holger Schmidt (2013): Amazon ist der Google-König in Deutschland, in: Focus Online, Netzökonomie Blog, 17.02.2013, online unter http://www.focus.de/digital/internet/netzoekonomie-blog/seo-sem-amazon-ist-der-google-koenig-in-deutschland_aid_921161.html, letzter Zugriff: 20.02.2013
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