Das soziale Netz: Neue Öffentlichkeit und mehr Demokratie? Eine Positionsbestimmung mit Rückgriff...

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Das soziale Netz: Neue Öffentlichkeit und mehr Demokratie? Eine Positionsbestimmung 1. Einleitung Das Internet, Ende der achtziger Jahre euphorisch als Demokratisierungsmaschine begrüßt, mittlerweile in seinem partizipatorischen und emanzipatorischen Potential ambivalent eingeschätzt, verändert auf jeden Fall die Öffentlichkeiten bestehender politischen Systeme weltweit, ganz gleich, welche Systeme es sein mögen. Es ist offensichtlich, dass aufgrund der extrem niedrigen Zugangshürden zu Information und zur Bereitstellung von Information viel mehr Menschen die Möglichkeit haben sich an der politischen Öffentlichkeit zu beteiligen und zu versuchen auf diese Einfluss zu nehmen. Gern genannte Beispiele sind hier der »Arabische Frühling« als Beispiel aus nichtdemokratischen Systemen, und in westlich demokratischen Ländern der Protest gegen ACTA, das Anti Counterfeiting Trade Agreement, oder einfach die vielen Online Petitionen, die von den Unzufriedenen kaum mehr als ein Mausklick verlangen. Dieser Artikel möchte den Versuch unternehmen das Verhältnis und die Interdependenzen der reziproken Möglichkeiten des Internets, die im weiteren Verlauf unter dem Stichwort des sozialen Netzes subsumiert werden sollen, Öffentlichkeit und Demokratie aus der Perspektive der politischen Theorie und Ideengeschichte aufzuzeigen. Dies soll zu einer angemessenen 1

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Das soziale Netz: Neue Öffentlichkeit und mehr Demokratie?

Eine Positionsbestimmung

1. Einleitung

Das Internet, Ende der achtziger Jahre euphorisch als

Demokratisierungsmaschine begrüßt, mittlerweile in seinem

partizipatorischen und emanzipatorischen Potential ambivalent

eingeschätzt, verändert auf jeden Fall die Öffentlichkeiten

bestehender politischen Systeme weltweit, ganz gleich, welche

Systeme es sein mögen. Es ist offensichtlich, dass aufgrund

der extrem niedrigen Zugangshürden zu Information und zur

Bereitstellung von Information viel mehr Menschen die

Möglichkeit haben sich an der politischen Öffentlichkeit zu

beteiligen und zu versuchen auf diese Einfluss zu nehmen. Gern

genannte Beispiele sind hier der »Arabische Frühling« als

Beispiel aus nichtdemokratischen Systemen, und in westlich

demokratischen Ländern der Protest gegen ACTA, das Anti

Counterfeiting Trade Agreement, oder einfach die vielen Online

Petitionen, die von den Unzufriedenen kaum mehr als ein

Mausklick verlangen.

Dieser Artikel möchte den Versuch unternehmen das Verhältnis

und die Interdependenzen der reziproken Möglichkeiten des

Internets, die im weiteren Verlauf unter dem Stichwort des

sozialen Netzes subsumiert werden sollen, Öffentlichkeit und

Demokratie aus der Perspektive der politischen Theorie und

Ideengeschichte aufzuzeigen. Dies soll zu einer angemessenen

1

Einschätzung des demokratischen Potentials des sozialen Netzes

führen.

Dabei wird im dritten Abschnitt »Ideengeschichtliche

Retrospektive – Kant und Bentham« auf den Zusammenhang von

Öffentlichkeit und Demokratie eingegangen und die Bedingungen,

unter denen diese beiden positiv zusammenhängen. Dies bietet

den Vorteil, dass man aktuelle Phänomene mit einem Arsenal von

Argumenten und Beobachtungen beleuchten kann, die man so in

der zeitgenössischen Debatte nicht mehr findet, die jedoch

wichtige Perspektiven für die gegenwärtige Diskussion über

Demokratie und Öffentlichkeit bieten. Kant und Bentham bieten

sich an, da beide die zentralen Theoretiker sind, die sich

paradigmatisch mit der Bedeutung der Öffentlichkeit für die

Demokratie auseinandergesetzt haben – einmal aus

republikanischer und einmal aus liberaler Perspektive.

Anschließend wird im vierten Abschnitt »Die zwei Begriffe von

Öffentlichkeit und ihre Weiterführung bei Foucault und

Habermas« zunächst mit Foucault (4.1. Foucault) Benthams

Modell des Panoptizismus kritisch diskutiert um es dann in

Bezug auf das soziale Netz und denen in ihm zu beobachtenden

Tendenzen der Sur-, Sous- und Coveillance, die hier – anders

als im angelsächsischen Raum – kritisch diskutiert werden

sollen, weiter zu führen. Habermas‘ Kant Interpretation und

seine Theorie der deliberativen Demokratie (4.2. Habermas)

werden diskutiert um zu verdeutlichen, dass auch die durch das

soziale Netz »erweiterte« Öffentlichkeit in einer

deliberativen Demokratie lediglich als Resonanzboden zu

verstehen sei.

2

Zunächst aber noch einige Präliminarien zur Problematisierung

des Konzepts der Öffentlichkeit und seiner geläufigen

Bedeutung in Bezug auf Demokratie und Partizipation, Inklusion

und Exklusion (Abschnitt zwei), um so den Zusammenhang des

ideengeschichtlichen Teils und seiner Anwendung in Bezug auf

das soziale Netz deutlich zu machen.

2. Das Konzept der Öffentlichkeit: Demokratie und

Partizipation, Inklusion und Exklusion,

Die Frage der Öffentlichkeit und ihre Aufgabe in der

Demokratie weist schon immer eine große Diskrepanz zwischen

normativen Anforderungen und realem Gehalt auf. So schreiben

sich die Aufklärung und die aus ihr resultierenden

Gesellschaftsordnungen zu, die Zensur abgeschafft und damit

eine unrestringierte Öffentlichkeit geschaffen zu haben, doch

ist es damit bei genauerem Hinsehen nicht so gut bestellt. Die

Zensur durch Kirche und Absolutismus wurden abgeschafft –

jedoch nur um an ihre Stelle die Zensur des freien Marktes,

die der ökonomischen Macht, des guten Geschmacks und des

staatlichen Interesses an Geheimhaltung zu setzen.1

Die selbstevidente Notwendigkeit der Pluralität und

Meinungsfreiheit für eine demokratische Öffentlichkeit ist bei

1 Sue Curry Jansen (1988): Censorship. The Knot that Binds Power and Knowledge, Oxford, 4, vgl. 74f.Vgl. Edward S. Herman und Noam Chomsky (1988): Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media, New York. Vgl. Karl Marx (1842): Debatten über Preßfreiheit und Publikation der Landständischen Verhandlungen, in: MEW 1, 28-77, 63.

3

näherer Betrachtung bis heute nicht gewährleistet.2 Jodi Dean

konstatiert daher, dass Öffentlichkeit die neue Ideologie des

Informationszeitalters ist, und dass diese Ideologie von

vielen unbeirrt übernommen wird.3 Diese Frage gilt umso mehr,

als der Verdacht besteht, dass die Öffentlichkeit in den

westlichen demokratischen Ländern bei weitem nicht den

grundlegenden normativen Prinzipien einer Demokratie

entspricht und nicht auf Partizipation angelegt ist, sondern

auf die Exklusion vieler baut. Aus einer ideologiekritischen

Perspektive heraus ließe sich mit Jodi Dean und David Golumbia

argumentieren, dass unsere real existierende Öffentlichkeit

nur eine Scheinöffentlichkeit ist, die den Ansprüchen aller

gängigen Demokratietheorien eigentlich nicht annähernd genügt.4

Unterschiedliche Formen der Demokratie weisen verschiedene

Formen der Öffentlichkeit auf und nutzen das Potential des

»Internets« unterschiedlich.5 Offensichtlich besteht ein

Funktionszusammenhang zwischen der Demokratieform und der

Öffentlichkeit, der darauf hinweist, dass Öffentlichkeit

Resultat eines Gestaltungs- und Wahrnehmungsprozesses ist. Die

Form der Öffentlichkeit steht somit in einem Spannungs- und

Wechselverhältnis zu den unterschiedlichen Formen der 2 Vgl. Joachim Gauck, Vorwort, in: DIVSI Milieu Studie zu Vertrauen und

Sicherheit im Internet, Hrsg. von Deutsches Institut für Vertrauen und Sicherheit im Internet (DIVSI), Hamburg 2012. [Online unter: https:// www.divsi.de/sites/default/files/presse/docs/DIVSI-Milieu-Studie_Gesamtfassung.pdf, 20.03.2012]

3 Jodi Dean (2002): Publicity’s Secret. How Technoculture Capitalizes on Democracy, Ithaca (New York), 35.

4 Dean (2002): Publicity’s Secret; David Golumbia (2009): The Cultural Logic of Computation, Cambridge (Mass.).

5 Renate Martinsen (2009), Öffentlichkeit in der Mediendemokratie aus derPerspektive konkurrierender Demokratietheorien, in: Frank Marcinkowski und Barbara Pfetsch (2009) (Hrsg.): PVS Sonderheft 2009. Politik in der Mediendemokratie, Baden-Baden, 37 – 68.

4

Demokratie. Ein weiterer Punkt diesbezüglich, auf den Luhmann

aufmerksam macht, ist, dass es immer von der Kommunikation –

und damit von der Öffentlichkeit – ausgeschlossene geben wird,

und dass der Versuch dies zu ändern, also alle einzuschließen

zur Ideologie werden muss.6

Die Frage, die sich angesichts der vielen emanzipatorischen

Erwartungshaltungen gegenüber dem sozialen Netz stellt, ist,

ob und inwieweit das soziale Netz, das ja potentiell alle

inkludiert, nicht auch wieder eine ausschließende

Öffentlichkeit herstellt. Hierzu sind, neben den üblich

sozioökonomischen Faktoren, die bekannten Stichworte

ausreichend um das Problem zu markieren, die alle mehr oder

weniger eng um den englischen Literacy Begriff kreisen: Media

Literacy, Computer Literacy, Digital Literacy, Visual

Literacy, Information Literacy, Literacy allgemein, der

funktionale Analphabetismus und nicht zuletzt die Netiquette.7

Diese diversen Literacy Arten sind nötig sind um das soziale

Netz mit all seinen Möglichkeiten erfolgreich zu nutzen, d.h.

zu konsumieren und zu gestalten, Inhalte zu produzieren, mit

einem Wort: zu prosumieren. Die Folgen dieser ungleich

verteilten Literacy sind ein steter, sich vergrößernder

»digital divide«, also eine stetig zunehmende Exklusion.8

6 Niklas Luhmann (1989): Reden und Schweigen, in: Niklas Luhmann und Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt/M., 11-20, 19f.

7 Vgl. u.a. W. James Potter (2011): Media Literacy, London u.a.; Renee Hobbs (2011): Digital and Media Literacy: Connecting Culture and Classroom, London u.a.; R.W: Burniske (2007): Literacy in the Digital Age, London u.a.; James Elkins (Hg.) (2008): Visual Literacy, New York 2008; Teresa S. Welsh & Melissa S. Wright (2010): Information Literacy in the Digital Age: An Evidenz-Based Approach, Oxford.

8 Jan van Dijk (2012): The Network Society, London, Thousand Oaks, 192-209; Jan van Dijk (2005): The Deepening Divide. Inequality in the Information Society, London, Thousand Oaks; Pippa Norris (2001): Digital

5

Ideengeschichtlich kann man sehen, dass die Öffentlichkeit

seit je ein begrenzter Raum ist, der zum Einem nicht alle

umfasst, und zum anderen auch nicht die Summe des Wissens

seiner Teilnehmerinnen wiederspiegelt, sozusagen keine savoir de

tous und schon gar keine savoir générale darstellt. Öffentlichkeit

erinnert mehr an eine savoir particulière unter den Bedingungen der

Existenz von Interessensvereinigungen, Parteien,

Gewerkschaften; Kirchen, Macht, Geld usw., die je nach

gesellschaftlicher Machtverteilung und aktuellem

Diskursverlauf mehr oder weniger offen und mehr oder weniger

plural ist. Die Öffentlichkeit erinnert insofern an einen

Schauplatz an dem der gesellschaftliche Kampf um Hegemonie und

Macht diskursiv ausgetragen wird.9 Sie ist also kein Ort der

Chancengleichheit und der Wahrheitsfindung, sondern einer des

Machtkampfes um gesellschaftliche Hegemonie bei dem die

nötigen Ressourcen für das erfolgreiche Bestehen in diesen

Kämpfen von vornherein ungleich verteilt sind.

Zu erwähnen ist im Zusammenhang der Frage von Öffentlichkeit

und Demokratie stets auch der Stellenwert des Geheimnisses –

dies wurde uns zuletzt eindringlich durch den NSA Skandal

verdeutlicht, aber auch – um die Ambivalenz zu unterstreichen,

durch das Verhalten der deutschen Sicherheitsbehörden im NSU

Skandal. Wiederspricht das Geheimnis doch diametral den

Anforderungen der Transparenz und Öffentlichkeit, dennoch wird

Divide. Civic Engagement, Information Poverty, and the Internet Worldwide, Cambridge.

9 Gerade hierzu sind Rousseaus Ausführungen zu Partikularinteressensvertungen aller Art noch heute interessant und bedenkenswert. Vgl. Jean-Jacques Rousseau (1977): Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart.

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es von den meisten Autoren als notwendige Bedingung für die

Existenz eines demokratischen Staates angesehen.10

So hat in der Zeit der Aufklärung das Geheimnis in der

Demokratisierung absolutistischer Gesellschaften eine wichtige

Rolle gespielt, wie die Existenz von Freimaurerlogen und

bürgerlichen Lesezirkeln zeigen.11 Die Frage die sich stellt,

ist ob und inwiefern dieses »geschichtliche Zwillingspaar«12

auch heute noch unzertrennlich ist und wenn ja, ob sich die

Bedeutung seiner Unzertrennlichkeit nicht deutlich verschoben

hat. Das Geheimnis war damals die Voraussetzung für die

Existenz einer Sphäre, in der aufgeklärt gedacht und

gesprochen werden konnte, in der man gegen den Staat und seine

Politik Stellung beziehen konnte. Dieses Verständnis von

Geheimnis schützt die emanzipierten, aufgeklärten und

politisierten Menschen vor dem Zugriff des Staates und der

Einschränkung der Denk- und Redefreiheit.13 Heute ist es

umgekehrt, dass der Staat das Geheimnis nutzt, um sich vor der

Denk- und Redefreiheit seiner Bürgerinnen zu schützen, ganz,

wie es im absolutistischen Staat ebenso der Fall war, und

umgekehrt, dass durch den Wegfall der Privatsphäre der

10 Vgl. Susan L. Maret & Jan Goldman (Hg.) (2009): Government Secrecy. Classic and Contemporary Readings, Westport (Conneticut), London. Hier vor allem der Aufsatz: Gowder (2009): Secrecy as Mystification of Power: Meaning and Ethics in the Security State [2006], 674-694.Vgl. Sissela Bok (1989): Secrets. On the Ethics of Concealement and Revelation, New York.

11 Reinhart Koselleck (1997): Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt/Main, 41-103. Vgl. auch Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Öffentlichkeit. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt/M., vor allem Kapitel II. Soziale Strukturen der Öffentlichkeit, 86-121.

12 Koselleck (1997): Kritik und Krise, 49.13 Koselleck (1997): Kritik und Krise, 60f.

7

geschützte Raum für das aufgeklärte Denken wieder verloren

geht.

Aus dem bisher gesagten wird deutlich, dass unter den

Kommunikationsbedingungen des sozialen Netzes eine erneute

kritische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Demokratie

und Öffentlichkeit wichtig ist, solange man davon ausgeht,

dass das soziale Netz die Öffentlichkeit verändert. Diese

kritische Auseinandersetzung kann helfen zu beurteilen,

inwiefern die Demokratisierungshoffnungen die auf dem

Potential des sozialen Netzes beruhen, berechtigte Hoffnungen

sind.

3. Ideengeschichtliche Retrospektive – Kant und Bentham

3.1 Bürgerliche Öffentlichkeit als Resonanzboden für Publikumswünsche

In der Berlinischen Monatsschrift wurde seit 1783 eine

Auseinandersetzung über die Frage »Was ist Aufklärung?«

geführt. Die Berlinische Monatsschrift stellte im

absolutistischen Preußen Friedrich II. eine Art literarische

Bühne der Aufklärung dar, die das gebildete Bürgertum auch

über weite Räume versammelte und so die bürgerlichen Salons in

Berlin und anderen Städten kurzschloss.14 Diese Zeitschrift,

14 Andreas Frei (1999): Die publizistische Bühne der Aufklärung: Zeitschriften als Schlüssel zur Öffentlichkeit, in: Kant als politischerSchriftsteller, hrsg. von Theo Stammen, Würzburg, 29-42.Vgl. Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit; Ernst Manheim (1979): Aufklärung und öffentliche Meinung. Studien zur Soziologie der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Stuttgart-Bad Canstatt; Richard van Dülmen (1986): Die Gesellschaft der Aufklärer. Zurbürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland,

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wie auch andere zur gleichen Zeit entstandene, waren eine

Erweiterung der Öffentlichkeit und damit der bürgerlichen

Kommunikation in der Hinsicht, dass Sie die mündlichen

Debatten aus privaten geschlossenen Räumen nach außen in die

Öffentlichkeit trugen und somit weit entfernte Bürger

zusammenführte zu einem aufgeklärten, politischen Publikum.15

Mit einem Mal gab es also eine ortsungebundene bürgerliche

Öffentlichkeit, die über politische Fragen kontrovers

diskutierte, die zuvor in den Arkanräumen der

Geheimgesellschaften behütet blieben.16

Was aber hatte die Entstehung einer solchen Öffentlichkeit für

Konsequenzen? Eine intellektuelle Öffentlichkeit die über

politische Fragen stritt, nicht mehr nur über ästhetische oder

philosophische. Der Raum öffentlicher Meinungsbildung und

Kritik wurde vom gebildeten Bürgertum nun erstmals

eingerichtet und etabliert. Damit eroberte das

Bildungsbürgertum jenen öffentlichen Raum, den später

parlamentarische Versammlungen übernahmen, und damit das

gebildete Bürgertum aus seiner nichtinstitutionellen

Öffentlichkeit wieder zurückdrängte und ersetzte. Die

fehlenden politischen Institutionen wurden also durch eigene

Institutionen wechselseitiger Kommunikation ersetzt. Und dort

wurden Fragen bezüglich des Verhältnisses von Kirche,

Aufklärung und Staat kontrovers diskutiert.17 Gerade bei

Frankfurt/M. 15 Zur Frage der Zeitschriftenlandschaft im damaligen Preußen vgl. Andreas

Frei (1999): Die publizistische Bühne der Aufklärung; Van Dülmen (1986):Die Gesellschaft der Aufklärer, 130.

16 Reinhart Koselleck (1997) : Kritik und Krise, 49-103.17 Vgl. dazu die z.B. Inhaltsverzeichnisse der Berlinischen Monatsschrift.

Friedrich Gedike, Johann Erich Biester (Hg.) (1986): Berlinische

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letzterer musste sich der monistische Staat herausgefordert

fühlen - immerhin ging es hier darum, ob die Gesetze,

Handlungen und damit auch die Verfasstheit des absoluten

Staates gut oder schlecht seien. Die Einführung des

unabhängigen Maßstabs eines Natur- bzw. Vernunftrechts

ermöglichte der bürgerlichen Öffentlichkeit eine kritische

Distanz zu dem bestehenden Staatswesen.18

Die Frage die sich nun stellte, war die: unterminierte eine

solche öffentlich betriebene Aufklärung die öffentliche

Ordnung oder stärkte sie sie durch vernünftige Vorschläge?

Letzten Endes ging es um die Frage: Lässt der Staat sich von

einer bürgerlichen Öffentlichkeit öffentlich »zurechtweisen«

oder verbittet er sich das? Es ging um mehr als um die Frage

Meinungsfreiheit oder Zensur, es ging um die Frage

Republikanismus oder Absolutismus.19 Letzten Endes läuft diese

Zuspitzung auf die Frage hinaus, ob der absolutistische Staat

auf mittelfristige bzw. lange Sicht bereit ist, seine

Machtvollkommenheit und Unfehlbarkeit aufzugeben und das

Bürgertum an dieser Macht zu beteiligen – und sei es nur

disputierend, wie Kant es in seinem Kompromissvorschlag für

möglich hält.20

Monatsschrift (1783-1796), Auswahl, Leipzig.18 Vgl. Peter Niesen (2005): Kants Theorie der Redefreiheit, Baden-Baden,

20. 19 Tobias Bevc (1999): Revolution oder Reform? Kants Weg zur

republikanischen Denkungsart, in: Kant als politischer Denker, hrsg. vonTheo Stammen, Würzburg 1999, 173-200.

20 Immanuel Kant (1977) [1798]: Der Streit der Fakultäten, in: Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik I, hrsg. von Wilhelm Weischedel (I. Kant, Werkausgabe Bd. XI),Frankfurt/Main, 261-393, 364f.

10

Die Gewährleistung politischer Redefreiheit ist nach Kant

sowohl in Demokratien wie auch in Autokratien für ein

grundlegendes Recht der Bürger. In letzteren »dient sie zur

Verteidigung angeborener Rechte«, in ersteren ist sie

Voraussetzung für die »Ausübung politischer Autonomie«.21

Für diese Autonomie zentral ist der öffentliche

Vernunftgebrauch den Kant schon in der Schrift Beantwortung der

Frage: Was heißt Aufklärung? (1784), also zehn Jahre vor den anderen

»kleinen politischen Schriften« beschwört. Hier wird das Ideal

der Öffentlichkeit und der Publizitätsfreiheit eingefordert.22

Der öffentliche Raum ist für Kant der Ort in dem der auf

»Wahrheit und Durchführbarkeit angelegte Austausch der

Meinungen« stattfinden soll, der für alle gleichermaßen

erreichbar ist. Unterschiedlich sind die Einschätzungen

darüber, ob Kants Forderung nach Redefreiheit inklusiver oder

exklusiver Natur war, ob er nun der Auffassung war, das

wirklich alle in den republikanischen Geist des Disputierens

einbezogen werden sollen oder nicht. Habermas stellt fest,

dass Kinder, Frauen und Nichteigentümer ausgeschlossen sind

aus Kants Konzeption der Redefreiheit.23 In der »Metaphysik der

Sitten« jedoch schreibt Kant dem Menschen seine

Partizipationsrechte fundamentaler zu: Dem Menschen als 21 Niesen (2005): Kants Theorie der Redefreiheit, 184.22 Immanuel Kant (1977) [1784]: Beantwortung der Frage: Was ist

Aufklärung?, in: Ders., Schriften zur Anthropologie etc, 53-61. Immanuel Kant (1977) [1795]: Zum ewigen Frieden, in: Ders., Schriften zur Anthropologie etc,195-251.Immanuel Kant (1967) [1793]: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Kant, Gentz, Rehberg. Über Theorie und Praxis, mit einer Einleitung von Dieter Henrich, Frankfurt/M., 39-87.

23 Immanuel Kant (1967): Über den Gemeinspruch, 65.Vgl. Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, 186f.

11

Privatrechtssubjekt, als Staats- und Weltbürger (öffentliches

Recht) kommen diese Rollen als »eines mit Rechten

ausgestatteten, der Zurechnung fähigen Wesens« zu. Dieses

Wesen existiert schon im Naturzustand.24 Somit muss prinzipiell

jeder Mensch bei Kant als aktiver Partizipant am politischen

Geschehen angesehen werden – und nicht nur jede besitzende

männliche Person. Kant ist hier auf einer Wellenlänge mit

Bentham, der, wie weiter unten ausgeführt, die Öffentlichkeit

prinzipiell auch als Weltöffentlichkeit versteht.25

Der Grund dieser Divergenz des Verständnisses von Kants

Öffentlichkeitsverständnis liegt im unterschiedlichen

Beschreibungshorizont. Der inklusive Begriff der

Öffentlichkeit ist normativer Natur, Habermas‘

Öffentlichkeitsbegriff ist der Versuch einer empirischen

Beschreibung der damaligen bürgerlichen Öffentlichkeit.

Die »Sphäre der Öffentlichkeit, der Publizität, die Kant am

Ende der Friedenschrift in den Rang eines ‚transcendentalen

und bejahenden‘ Prinzips der Politik erhebt«26, ist der

»gemeinsam geteilte, ideelle Raum, in dem sich seit jeher die

politischen Fragen gestellt haben.«27 Und diese öffentliche

Diskussion der politischen Fragen ist die richtige Art und

Weise wie man mit solchen Fragen umzugehen hat, da sie sicher

stellt, dass somit die beste Lösung für sie gefunden wird.

24 Peter Niesen (2005): Kants Theorie der Redefreiheit, 25. Vgl. Immanuel Kant (1797): Die Metaphysik der Sitten, in: Ders., Werkausgabe Bd. 8, hrsg. vom Wilhelm Weischedel, Frankfurt/Main 1977, 329, 345.

25 Bentham (1983): Constituional Code, 39. 26 Volker Gerhardt (1996): Ausübende Rechtslehre. Kants Begriff der

Politik, in: Kant in der Diskussion der Moderne, hrsg. von Gerhard Schönrich und Yasushi Kato, Frankfurt/M., 464-488, 486.

27 Gerhardt (1996): Ausübende Rechtslehre, 487.

12

Dies wird spätestens in Kants »Streit der Fakultäten«

deutlich: hier vertritt Kant den Standpunkt, die Französische

Revolution mit ihrem Kampf für den Republikanismus sei ein

Geschichtszeichen dafür, dass sich das menschliche Geschlecht

auf dem Weg zum Besseren befände. Dies bedeutet nicht weniger,

als dass Kant die Französische Revolution und den

Republikanismus als Fortschritt ansieht, als Fortschritt in

die Richtung, was wir heute unter Demokratie verstehen.28

Wichtig ist in unserem Zusammenhang der Frage nach dem

Zusammenspiel von Politik, Medien und Öffentlichkeit, nicht so

sehr, wer für Kant alles zur Öffentlichkeit gehört, sondern

vielmehr das, was – aus unserer Perspektive – die empirische

Öffentlichkeit zu Kants Zeiten für Auswirkungen auf die

politische Sphäre und ihre Form hatte. Waren es bei Kant ja

noch die Philosophen, die als Aufklärer alleine galten und

ihre Stimme »ehrerbietig an den Staat« richteten und nicht

»vertraulich ans Volk«29, so hat alleine schon diese kleine

Öffentlichkeit für den damaligen absolutistischen Staat

potentiell katastrophale Folgen, zumindest aus dessen

Perspektive. Denn wenn er die Aufklärer gewähren und sie bzw.

die Öffentlichkeit als Rat gebende akzeptieren würde, so ist

seine absolute Stellung hinfällig. Die Unfehlbarkeit, die

»Zwei Körper«-Lehre und die damit zusammenhängende Autorität

sind in höchstem Maße gefährdet30, wie sowohl die

absolutistischen Herrscher als auch die damaligen Aufklärer am28 Bevc (1999): Revolution oder Reform?29 Kant (1977): Der Streit der Fakultäten, 362f. Vgl. dazu aber auch John

Christian Laursen (1986): The Subversive Kant: The Vocabulary of „Public“ and „Publicity“.

30 Ernst Kantorowicz (1990): Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München.

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Beispiel der Französischen Revolution deutlich vor Augen

geführt bekommen haben.

Demnach sieht Kants Republikanismuskonzept die bürgerliche

Öffentlichkeit als »Resonanzboden« vor, die die

»Publikumswünsche« an ihre legitimen Vertreter heranträgt.

In Kants Überlegungen zur Öffentlichkeit und der ihr

zugedachten Regierungsform tritt klar die Bestrebung zu Tage,

mit Hilfe der neuesten Kommunikationsmedien Politik zu

betreiben, in dem Sinne, dass die Diskussionen über Politik,

die zuvor in den Arkanräumen literarischer Gesellschaften

stattfanden, nun vor ein allgemeines Publikum getragen werden.

Die Zeitschriften des preußischen intellektuellen Bürgertums

haben eine Medialisierung im heutigen Wortgebrauch betrieben.

Sie haben eine vorher nicht existente Öffentlichkeit

hergestellt und eine Politisierung dieser Öffentlichkeit mit

sich gebracht. Der Staat und seine Politik wurden nun

beobachtet und der Staat war sich dessen bewusst und reagierte

darauf. Mit dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms II.

wurden die Zensurbeschränkungen verstärkt – und damit wurde

klar: er hatte die Botschaft des politisch räsonierenden

Publikums zwar verstanden, jedoch die falschen Schlüsse daraus

gezogen. Zensur und die Einschränkung der Publizitätsfreiheit,

die Kontrolle der Publikationen wurde angeordnet. Damit ließ

sich die nun in Gang gekommene Medialisierung nicht aufhalten,

doch zumindest ein wenig bremsen – retrospektiv erinnert dies

ein wenig an die Versuche heute, das Internet zu überwachen

und die freie Rede darin zu kontrollieren.

14

3.2. Radikale Öffentlichkeit als Grundlegung repräsentativer Demokratie

Jeremy Bentham (*1748 - †1832) gehört zu den sehr frühen und

sehr radikalen Fürsprechern von Öffentlichkeit. Diese

Öffentlichkeit hängt aus der Perspektive Benthams direkt mit

der Qualität der aus ihr resultierenden repräsentativen

Demokratie zusammen. Er fordert die Transparenz des

parlamentarischen Systems, und erinnert somit an die heute

erneut aktuellen Forderungen nach mehr Transparenz des

demokratischen Systems und der öffentlichen Verwaltung.

Bentham strebt in seinem Constitutional Code die Maximierung der

Öffentlichkeit durch ein Veröffentlichungssystem an, in dem

neben allen Gesetzen auch andere Daten die von Interesse für

die Öffentlichkeit sein könnten veröffentlicht werden sollen.31

Zunächst sollen hier nun die Forderungen bezüglich der

radikalen Öffentlichkeit parlamentarischer Sitzungen aus

Benthams Essay on Political Tactics angeführt werden. Hofmann

argumentiert, dass diese Forderungen zum institutionellen

Kernbereich von Repräsentation gehören. Bentham identifiziert

folgende Gründe: »1. Öffentlichkeit erzwingt von den

Parlamentariern die Erfüllung ihrer Pflicht; 2. Sie

mobilisiert das Vertrauen und die Akzeptanz der Bürger für die

Politik der Regierung; 3. Sie ermöglicht die Artikulation der

Wünsche der Regierten; 4. Sie ist die Voraussetzung jedes

sinnvollen Wahlaktes durch die Bevölkerung; 5. Sie mobilisiert

das Wissen der Gesellschaft für die Politik; 6. Sie ist

31 Jeremy Bentham (1995): Constitutional Code, in: The Works of Jeremy Bentham, hrsg. von John Bowring, Bd. IX, Bristol.

15

amüsant.«32 Die Öffentlichkeit hat hier eine Informations-,

Kontroll-, Dialog-, Bildungs- und Unterhaltungsfunktion, die

gleichzeitig den Missbrauch der politischen Macht durch die

Repräsentanten verhindert. 33

Öffentlichkeit ist das Werkzeug um das gesunde Misstrauen

gegenüber allen politischen Institutionen abzufedern und es so

den Menschen zu ermöglichen, Vertrauen in das politische

System zu entwickeln. Jedoch ist es wichtig zu betonen, dass

Bentham nicht von einer Parlamentsöffentlichkeit spricht,

sondern von einer inklusiven Öffentlichkeit jenseits des

Parlaments und der in ihm vertretenen Parteien. Um nämlich auf

die Vorstellungen der Menschen zu reagieren muss das Parlament

und die Regierung die Vielfalt der externen Welt der

allgemeinen Öffentlichkeit registrieren. Der öffentliche

Diskurs erfüllt damit zweierlei Funktion: Einerseits

ermöglicht er die Informationsbeschaffung aus dem ganzen Land

und allen Wissensbereichen, andererseits zeigt er was wie

verbessert werden kann.34

Das Volk »ist aber nur das machteffiziente Zentrum einer

universalen Öffentlichkeit zu der letztlich alle Menschen

zählen, auch diejenigen, die gar nicht wahlberechtigt sind

oder anderen Staaten angehören. Öffentlichkeit konstituiert

sich aus dieser universalen Diskursgemeinschaft für Bentham

unter kontingenten Bedingungen als verschiedenste 32 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 279. Vgl. Bentham

(1995): Essay on Political Tactics, 310-312.33 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 310.34 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 281. Vgl. “Public

opinion [bei Bentham] has not only the function of surveillance but alsothat of innovation.” Slavko Splichal (2002): Principles of Publicity andPress Freedom, Lanham et al, 48.

16

Teilöffentlichkeiten, die als Agenten einer großen

Kommunikationsgemeinschaft aller Menschen […] über politische

Gegenstände kommunizieren.«35

Hieraus resultiert dann die öffentliche Meinung, die themen-

und nicht institutionenzentriert ist. Niesen ist der

Auffassung, dass dies nun nicht bedeute, dass die Grenzen

politischer Gemeinschaften unbedeutend werden, und ein

globales öffentliches Tribunal eingerichtet werden könne,

sondern vielmehr, »dass die Zusammensetzung der einzelnen

Tribunale, die sich auf politische Herrschaft in einem Land

richten, nicht durch die Grenzen der politischen Gemeinschaft

bestimmt werden.«36 Gerade in Zeiten der Transnationalisierung

politischer Entscheidungen und der Entgrenzung von Gründen und

Wirkungen politischer Entscheidungen ist dieser Aspekt

Benthams‘ Öffentlichkeitskonzepts sicherlich ein

hochaktueller, der später noch von Bedeutung werden wird.37

35 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 281f. Vgl. Bentham (1983): Constitutional Code, 39.

36 Peter Niesen (2009): Tribunal der Zeitungsleser. Bentham über schwache und starke Öffentlichkeiten, in: Vom Nutzen des Staates. Staatsverständnisse des klassischen Utilitarismus: Hume, Bentham, Mill, hrsg. von Olaf Asbach, Baden-Baden, 153-182, 177.Was sicherlich bemerkenswert an dieser Konzeption ist, dass man sie als einen Vorläufer der Theorien Transnationaler Öffentlichkeit und Beteiligung im Sinne Frasers und Benhabibs sehen kann. Vgl. Nancy Fraser(2010): Transnationalizing the Public Sphere: On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Postwestphelian World, in: Dies., Scalesof Justice. Reimagining Political Space in a Globalizing World, 76-99; Seyla Benhabib (2005): Die Krise des Nationalstaats und die Grenzen des Demos, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 53, 1, 83–95.

37 Vgl. Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash (1996): Reflexive Modernisierung, Frankfurt/M.; Ulrich Beck (Hrsg.) (1998): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt/M.; Saskia Sassen (2008): Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages, Princeton and Oxford. Vgl. auch die Literatur aus der vorangegangenen Fußnote.

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Es stellt sich noch die Frage, was Bentham unter Publicity,

d.h. Öffentlichkeit, versteht. Wer ist das Publikum, das diese

strenge Kontrolle der Parlamentarier ausführen soll?

Einerseits, wie oben schon dargestellt, versteht Bentham unter

dem Publikum alle Menschen, also auch solche die nicht wählen

dürfen und/oder gar nicht dem betreffenden Staat angehören.38

Andererseits differenziert er das Publikum in drei Klassen:

Die erste Klasse beschäftigt sich kaum mit den Dingen die das

öffentliche Leben betreffen. Diese Klasse wäre wohl in

heutiger Diktion als »politikfern« zu bezeichnen, wobei

Bentham diese Klassifikation nicht auf Desinteresse

zurückführt, sondern darauf, dass diese Menschen weder Zeit

zum Lesen noch zum Räsonieren haben. Die zweite Klasse bildet

sich zwar ein Urteil, dieses sei aber »geliehen« – und zwar

von den Behauptungen anderer. Es handelt sich hier also um die

Menschen, die sich entweder nicht die Mühe machen oder nicht

in der Lage sind, sich selbst eine Meinung zu bilden. Die

dritte Klasse setzt sich aus denen zusammen, die sich selbst

ein Urteil bilden und zwar aus der Information, derer sie

habhaft werden können.39

Benthams Ausführungen sind deswegen interessant, da er die

vielen auch heute noch gängigen Einwände gegen eine

vollständige Öffentlichkeit in öffentlichen Angelegenheiten

eingängig widerlegt. Als letzten Punkt greift er den Vorwurf

auf, dass ein Regime der Öffentlichkeit eines des Misstrauens

sei, genau das begrüßt Bentham.40 Denn wem sollten wir

38 Bentham (1995): Constitutional Code, V/4/3.39 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 313.40 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 314.

18

Misstrauen, wenn nicht denen, denen wir Macht und Autorität,

diese Macht zu Missbrauchen, eingeräumt haben? Daher kommt

Bentham zu dem Schluss:

»The efficacy of this great instrument extends to

everything – legislation, administration, judicature.

Without publicity, no good is permanent: under the auspices

of publicity, no evil can continue. «41

Es wird deutlich, dass Bentham das Prinzip der Öffentlichkeit

als das wichtigste Moment zur Wahrung von Demokratie und zur

Sicherung derselben vor Korruption, Patronage, Nepotismus etc.

sieht. Sie stellt das einzige und einfachste Mittel dar, durch

Transparenz und potentieller Einbeziehung aller das Richtige

vom Falschen zu unterscheiden und Fehlentwicklungen frühzeitig

zu entdecken und zu bekämpfen. Nicht zuletzt sieht Bentham in

der Öffentlichkeit die »entscheidende Institution« die die

»Konvergenz dessen, was sein soll (das Glück der großen Zahl)

mit dem was ist (das Glück der wenigen) für möglich hält. «42

Bentham wollte dennoch keine völlige Transparenz aller

Angelegenheiten. Die Privatsphäre hält er für ein hohes Gut,

solange sie nicht politische Gegenstände berührt. Im

politischen Bereich jedoch ist es eigentlich nur der

Kriegsfall, der eine Geheimhaltung gewisser Dinge

rechtfertigen kann.43

Die vermeintliche Inkompetenz des Massenpublikums, die Gefahr

es könne manipuliert werden, und Sachverhalte müssten zu stark

41 Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 314.42 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 284.43 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 285f.; und hier auch

die Fußnote 121.

19

komplexitätsreduziert werden um sie der Masse verständlich zu

machen, damit sie sich eine Meinung bilden könnten, sind

Fragen, die auch heute noch virulent sind. Mit Bentham kann

man diese Bedenken anhand seiner Überlegungen zu den drei

Klassen des Publikums zerstreuen bzw. ihnen entgegenwirken.

Die aufgeklärte Urteilsbildung der dritten Klasse durch die

freie Öffentlichkeit wirkt so, dass auch die beiden anderen

Klassen davon profitieren. Allerdings schließt auch Bentham

nicht aus, dass sich hier ein Einfallstor für

Manipulationsstrategien befindet. Dies kann nur durch die

völlige Meinungs- und Publikationsfreiheit und dem Ächten

künstlicher Würden (Geld, Macht) geschlossen werden.44

Deutlich wird bei all diesen Argumentationsketten Benthams,

dass das Medium der Öffentlichkeit unhintergehbar ist in einer

demokratischen Gesellschaft, da man sich nur in diesem Medium

gegen es wenden kann. Der universale gesellschaftliche Diskurs

ist die Plattform auf der Urteile gefällt werden. Selbst, wenn

diese als uninformiert und schlecht sich herausstellen, bleibt

keine andere Möglichkeit als in diesem Medium zu verharren,

selbst wenn man gegen es argumentieren möchte.45

Bentham spricht der Öffentlichkeit sehr optimistisch genau das

zu, was Kant dem Republikanismus in Verbindung mit

Publizitätsfreiheit zuspricht. Öffentlichkeit ist ein

ununterbrochener Prozess der Aufklärung, der letzten Endes

44 Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 287. Vgl. hier auch Fußnote 130. Vgl dazu auch Habermas, der ebenso auf dem Ausschluss solcher „künstlicher Würden“ besteht.

45 Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 287; Bentham (1995): Essay on Political Tactics, 310.

20

unfehlbar ist46, mithin auch dazu führt, dass alle drei Klassen

an ihr partizipieren werden.

Neben den positiven Effekten, die Bentham der Öffentlichkeit

zuschreibt, ist ein weiteres Moment hervorzuheben, das für die

heutige Diskussion von Öffentlichkeit und ihrer Funktion von

Bedeutung ist:

His [Benthams] crucial insight is to conceive of the public

as a mode of opinion-making and mass society less as an

arena for the passive consumption of ideas than a kind of

feedback loop which has a potentially transformative effect

on the ideas it receives. Rather than naming a realm of

action or reflection, ‘publicity’ transforms ‘public’ into

a set of practices or mode of action.”47

Folgt man diesem Gedanken, ist Benthams Öffentlichkeit ein

Konzept der politischen Kultur, das das Funktionieren der

parlamentarischen Demokratie in ein Abhängigkeitsverhältnis

einer inklusiven, universalen Diskursgemeinschaft stellt,

deren Grundlage Transparenz und freie Verfügbarkeit von

Information zur Voraussetzung hat. Diese Interpretation von

Franta erinnert an Stuart Halls Einsichten zur Populärkultur

und dem interpretatorisch produktiven Rezipienten, der das

Rezipierte durch den eigenen Wahrnehmungs- und

46 Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 288; vgl. Bentham(1995): Essay on Political Tactics, 368.

47 Franta (2007): Romanticism and the Rise of the mass public, 2. Vgl. dazu auch Splichals und Hofmanns Gedanke wie oben ausgeführt, dass die Öffentlichkeit nicht nur im negativen Sinne Machtmissbrauch und negativeFolgeerscheinungen von Macht und Mandat überwacht, sondern auch positiv Input in das politische System bringen kann. Vgl. Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 281; und Splichal (2002): Principles ofPublicity and Press Freedom, 48.

21

Konstruktionsfilter laufen lässt, um sich so sein eigenes Bild

von der durch die Medien hergestellten Welt zu machen und

gleichzeitig zu dieser Welt aktiv beizutragen, indem er an der

Öffentlichkeit sich beteiligt.48

4. Die zwei Begriffe von Öffentlichkeit und ihre Weiterführung

bei Foucault und Habermas

Anhand von Kant und Bentham werden die Unterschiede des

Öffentlichkeitsbegriffs mehr als deutlich:

»With utilitarianism the idea of freedom of expression and

publication has been instrumentalized in publicity as a

means to hold governors accountable to the governed. On the

other hand, the idea of freedom of expression and

publication, which proceeded from the idea of communication

as a generic ability and need and thus natural freedom and

right of human beings, remained instrumental in the

authentic Spinozean sense – as a right of the individual

absolutely necessary for human progress. «49

Während die erstere Lesart der »idea of freedom of expression

and publication« in das Konzept der Presse als vierten Gewalt

mündete und der Öffentlichkeit somit die Aufgabe zukommt den

Missbrauch von Regierungsmacht zu begrenzen, konzentriert sich

die zweite, also die kantische, Lesart auf das 48 Hall, S. (1997): Introduction. In: Hall, Stuart (ed.), Representation.

Cultural Representations and Signifying Practices. London; Hall, Stuart (1980): Encoding/Decoding, in: Culture, Media, Language, hrsg. von Stuart Hall u.a., London, 128-138.

49 Splichal (2002): Principles of Publicity, 26f.

22

Aufklärungsdenken und dessen Überzeugung, dass die Freiheit zu

kommunizieren dem Mensch als Menschen genuin zukommt, und es

daher Pflicht sei, allen Menschen dieses Recht zu gewähren.

Dieses Argument kann bei so unterschiedlichen Autoren wie

Rousseau, Kant, Marx und John Stuart Mill gefunden werden, es

fehlt ihm aber »an authentic institutionalization of its

universal principle of publicity mediating between politics

and morals«.50 Dies bietet Habermas mit seinem Konzept der

deliberativen Demokratie, das ja genau in diese Leerstelle der

politischen Theorie greift und versucht sie zu füllen.51

Zunächst aber soll Foucaults Aufnahme und genealogische

Interpretation und aktualisierte Weiterführung des

benthamschen Öffentlichkeitsbegriffs zeigen, wie ambivalent

selbst diese klare und scheinbar eindeutige Funktion von

Öffentlichkeit ist. Diese Darstellung zeigt auf und

verdeutlicht gleichzeitig einige Aspekte der Probleme der

Öffentlichkeit des sozialen Netzes, die heute virulent sind.

4. Die zwei Begriffe von Öffentlichkeit und ihre Weiterführung

bei Foucault und Habermas

4.1.1 Foucault und der Panoptizismus

Die Öffentlichkeit und ihre Funktion als Kontrollmechanismus

aller politischen Institutionen sind im Kontext des hier

diskutierten Verhältnisses von Demokratie, Öffentlichkeit und

50 Splichal (2002): Principles of Publicity, 27.51 Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main. Hier

vor allem die beiden Kapitel VII und VIII, S. 349-467; Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie, in: Ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt/Main 277-292

23

Medien deutlich geworden. Benthams Konzeption des Panoptikums

hier einschlägig.52 Gerade in Foucaults Lesart wird diese

Aktualität noch deutlicher. Dieser kommt in seinen

Ausführungen über das Panoptikum hinsichtlich moderner

Disziplinargesellschaften zu dem Schluss, dass das Verfahren

des »Unter-Beobachtung-Stellens« die natürliche Verlängerung

einer von den Disziplinarmethoden und Überprüfungsverfahren

geprägten Gesellschaft ist.53 Diese Methode des »Unter-

Beobachtung-Stellens« kann man aber ohne große Fantasie auch

auf Benthams Prinzip der Öffentlichkeit beziehen. Die von

Bentham geforderte Öffentlichkeit und Transparenz aller

politischen Verfahren und Verhandlungen macht somit die

Öffentlichkeit zum Beobachtungsturm von dem aus das politische

System überwacht wird. Kraft dieser Überwachung können alle

Verfehlungen im politischen System sofort gesehen und geahndet

werden.54 Die Hauptwirkung des Panoptikums besteht in der

»Schaffung eines bewussten und permanenten

Sichtbarkeitszustandes«, der ein »automatisches Funktionieren

der Macht sicherstellt«. Foucault bezieht das zwar auf die

Gefangenen im Gefängnis, jedoch ist diese Beobachtung genauso

korrekt für die Öffentlichkeit und die von ihr beobachteten

Parlamentarierinnen, Richterinnen, Beamtinnen etc. Die

Konsequenz aus diesem Überwachungskonzept ist die

Automatisierung und Entindividualisierung von Macht, die noch

52 Jeremy Bentham (1995) [1791]: Panopticon; or the Inspection-House, in: Ders.: Collected Works, hrsg von John Bowring, Band IV, 37-172.

53 Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main.

54 Vgl Dilip Parameshwar Gaonkar und Robert J. McCarthy Jr. (1994): Panopticism and Publicity: Bentham’s Quest for Transparency, in: Public Culture 6, 547-575.

24

dazu ohne Rituale, Zeremonien und Stigmen, in denen die

Übermacht des Souveräns zum Ausdruck kam«, auskommt.55

Die radikale Öffentlichkeit als Grundlegung repräsentativer

Demokratie wie sie uns in Gestalt von Benthams Theorie

entgegengetreten ist, wird nun durch Foucaults Interpretation

einer totalen Kontrolldurchdringung der Gesellschaft und der

Individuen erweitert.

Wir haben hier nicht nur eine Umkehr des sonst üblichen

Überwachungsmechanismus‘: Anstatt dass der Staat bzw. seine

Institutionen die Bürger überwacht und zur Ordnung ruft, ist

nun die Öffentlichkeit, die sich ja aus allen Menschen

zusammensetzt, Disziplinar des Staates und seiner Vertreter

und Institutionen. Gleichzeitig aber bleibt das andere

Überwachungsverhältnis aufrecht erhalten: die überwachenden

Bürgerinnen werden auch überwacht. Zudem liegt ein Verhältnis

gegenseitiger Kontrolle vor, in dem viele gleichzeitig in

ihren unterschiedlichen Rollen (Staatsdienerinnen/Bürgerinnen)

beide Perspektiven einnehmen.56 In diesem System der

Überwachung kommt die Kategorie der Verinnerlichung zum

Tragen. Die Verinnerlichung der Überwachung im Panoptikum erst

macht aus dem Panoptikum das gewünschte Instrument: Die

Überwachung ohne Überwachung, die Etablierung der

Selbstüberwachung der Insassen des Gefängnisses und natürlich

auch der Parlamentarierinnen.57 Gleichzeitig haben aber auch

schon die Bürgerinnen die Überwachung ihrerseits

55 Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen, 258f.56 Michel Foucault (1994): Überwachen und Strafen, 267-269. Vgl. Gaonkar

und McCarthy Jr. (1994): Panopticism and Publicity, 554.57 Gaonkar und McCarthy Jr. (1994): Panopticism and Publicity, 563f.

25

verinnerlicht.58 Beobachtung muss daher »als ein wesentliches

Moment sozialer Kontrolle und der Durchsetzung moralischer und

politischer Regeln« verstanden werden.59 Aus heutiger

Perspektive ist Benthams Panoptikum als eine gesellschaftliche

Institution anzusehen, die den ideologischen Staatsapparaten

Althussers sehr nahe kommt60:

Für Bentham und Foucault ist das Moment der imaginierten

Überwachung und Beobachtung zentral, sie steuert das Verhalten

der Delinquentinnen, Schülerinnen, Bürgerinnen etc. Im

Idealfall übernimmt die Beobachtete die

Beobachtungsperspektive und übernimmt dann das äußere Motiv zu

einem inneren.61 Damit wäre dann eine Art innengesteuerte

Außenperspektive – eine vermeintliche autonome Perspektive des

Subjekts – die handlungsleitende Perspektive. Geschmeidiger

kann man die Subjekte nicht entmündigen. Nicht zuletzt, weil

die Beobachterinnen, die also, die das korrekte Funktionieren

des politischen Systems durch die Öffentlichkeit gewährleisten

sollen, zunächst selbst durch die Institutionen geprägt

wurden, die von dem Staat betrieben werden, der anschließend

beobachtet werden soll: Schulen, Universitäten etc.

Foucault beschreibt das Aufkommen der Forderung nach

Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als

Ergebnis der Angst vor dunklen Räumen die die Sichtbarkeit von

58 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 90. Vgl. Jeremy Bentham (1843): Rationale of Judicial Evidence, in: Ders., Works VI, 27.

59 Hofmann (2002): Politik des aufgeklärten Glücks, 91.60 Louis Althusser (1976): Idéologie et appareils idéologiques d’État, in:

In ouvrage de Louis Althusser, POSITIONS (1964-1975), Paris, 67-125.61 Bentham (1843): Panopticon, 40; Hofmann (2002): Politik des

aufgeklärten Glücks, 94f.

26

Dingen, Menschen und Wahrheiten verhindern.62 Er sieht ähnlich

wie Habermas einen grundlegenden Wechsel in der Struktur der

politischen Autorität in der zweiten Hälfte des 18.

Jahrhunderts, und zwar von der königlichen Prärogative hin zur

öffentlichen Überwachung, jedoch, wie Peters feststellt, mit

einem signifikanten Unterschied: »Foucault sees the

Enlightenment notion of publicity as the key disciplinary tool

of modern ‚carceral‘ societies, while Habermas takes it as a

lasting norm of public reason.«63

Foucault wendet also Benthams positives Öffentlichkeitskonzept

hin zu einem ambivalenten Konzept der alles durchdringenden

gegenseitigen Überwachung. Interessant ist dabei, dass diese

gegenseitige Durchdringung und Überwachung die Form eines

Machtspiels darstellt, und in je unterschiedlichen Formen der

Gouvernementalität münden kann.64 Emanzipation und echte

Demokratie sind also keine Alleingänger.

4.1.2 Panoptizismus und soziales Netz

Die von Bentham und Foucault beschriebene panoptizistische

Funktion der Überwachung mit dialektischer Funktionsweise

führt bei Bentham zu einer gut funktionierenden 62 Michel Foucault (1980): In the Eye of the Power, in: Power/Knowledge.

Selected Interviews and Other Writings, 1972-1977, hrsg. von C. Gordon, New York, 146-165, 153f. Das soziale Netz stellt damals ungeahnte Möglichkeiten dieses kollektiven anonymen Blicks dar. Vgl. unten und Sherry Turkle (2011): Alone Together, New York.

63 John Durham Peters (1993): Distrust of Representation: Habermas on the Public Sphere, in: Media, Culture and Society, 15, 541-571, 548. Vgl. Habermas (1990): Strukturwandel.

64 Michel Foucault (1999): In Verteidigung der Gesellschaft; Michel Foucault (2004): Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Vorlesung am Collège de France 1977-1978, hrsg. von Michel Sennelart, Frankfurt/Main

27

repräsentativen Demokratie und bei Foucault ist sie Ausdruck

der jeweiligen Machtverhältnisse innerhalb eines Staates, die

unterschiedliche Freiheitsgrade abhängig von der jeweiligen

Form der Gouvernementalität erlauben. Im sozialen Netz kann

man seit seiner Einführung verschiedene Formen der

gegenseitigen Überwachung beobachten.

Zur herkömmlichen Überwachung (»surveillance«) kommt noch die

»Unterwachung« (»sousveillance«) und die gegenseitige

Überwachung aller im Medium der Öffentlichkeit

(»coveillance«). Der Begriff der »sousveillance« wurde 2002

von Steve Mann im Gegensatz zur »surveillance« geprägt.65

Bedeuten soll er schlicht, dass die, die normalerweise

überwacht werden, nun durch das soziale Netz und der

Möglichkeiten der digitalen Technologie selbst

Feedbackmöglichkeiten – und dadurch Überwachungsmöglichkeiten

– haben66: ob das nun evaluierende Studierende sind,

Konsumenten die über irreführende Praktiken von Geschäften und

Unternehmen berichten, Namensschilder auf Polizeiuniformen,

das Filmen von Polizisten bei Verkehrskontrollen oder

Demonstrationen etc. pp. All diese Dinge werden langsam aber

sicher in unseren Alltag integriert und führen (angeblich) zu

einer Ermächtigung der Konsumenten im weitesten Sinne. Ein

weiterer Schritt ist die coveillance, d.h. die gegenseitige

Überwachung der Bürger. Die »sous- und coveillance« sei die

der Netzwerkgesellschaft angemessene Form der Überwachung,

während die »surveillance« hierarchischen 65 Mann, Steve (2002): Sousveillance, online unter:

http://wearcam.org/sousveillance.htm, letzter Zugriff: 21.11.2012.66 Wie man an den Beispielen sehen kann, gilt das auch für die analoge

Welt. Die digitale macht nur viele Formen der sousveillance einfacher.

28

Industriegesellschaft angemessen war, die mit ihrem

Überwachungsregime eine Art »Neo-Panoptikum« der sozialen

Kontrolle geschaffen hat. Das soziale Netz und andere neue

Technologien erlaubten es heute, dass jeder zugleich Subjekt

und Objekt von Überwachung ist. Damit werde die Einseitigkeit

der Überwachung transzendiert. Ob dies aber tatsächlich zu

einer »self-empowering sousveillance for people as they

traverse their multiple and complex networks[.]« führt67, sei

dahingestellt, da es zu bedenken gilt, dass diese sous- und

coveillance alsbald zu einem netzwerkartigen Blockwartsystem

ausufern kann, das Vergleiche mit autoritären Staaten nicht

scheuen muss. Das Neo-Panoptikum der sozialen Kontrolle, ist

in den netzwerkgesellschaftlichen Formen der Überwachung der

Post-Industriegesellschaft sicherlich deutlich umfassender und

unterdrückender als die Überwachung in den herkömmlichen

Surveillance-Formen. Vor allem die schon jetzt zu beobachtende

Verschmelzung von öffentlich und privat im sozialen Netz führt

zu einer gegenseitigen Überwachung der Menschen in allen

Lebensbereichen, was folglich zu einer Ausdehnung der

Öffentlichkeit in alle Lebensbereiche führt. Dies erhöht den

Konformitätsdruck und die »Tyrannei der Mehrheit«

(Tocqueville/Mill) beträchtlich und ist, da sie nun

gleichzeitig dem Initiator der Surveillance, also dem Staat

und der Industrie, sowie allen anderen Menschen zugleich

zugänglich ist, viel umfassender und tiefgehender. Zudem wird 67 Mann, Steve, Nolan, Jason, Wellmann, Berry (2003): Sousveillance:

Inventing and Using Wearable Computing Devices for Data Collection in Surveillance Environments, in: Surveillance & Society 1, 3, 31–355, 348.Vgl. die verharmlosende und m.E. naive Beschreibung von sur-, sous- und coveillance in: Lee Rainie und Barry Wellmann (2012): Networked. The NewSocial Operating System, Cambridge (Mass.), 238-241.

29

diese Form der Überwachung auch verinnerlicht und als

permanenter Begleiter in allen Lebensbereichen gesehen.68 Die

von John Stuart Mill betonte Bedeutung der individuellen

Freiheit und ihre Bedrohung durch soziale Konventionen der

Mehrheitsgesellschaft sind hier durchaus zu bedenken.69 Kurz:

Die Internetöffentlichkeit kann zu einer Perfektionierung

eines gesamtgesellschaftlichen Panoptikums führen, das nicht

nur hinsichtlich gesetzeskonformen Handelns überwacht, sondern

auch alle anderen Ausdrucksformen menschlichen Zusammenlebens

und individuellen Ausdrucks unter die Kontrolle des Zeitgeists

der Mehrheitsgesellschaft stellt. Die Vorstellung, dass man in

einer Demokratie etwas zu verstecken hat, und dass dies

legitim ist, geht hier verloren.70 Die Vielfalt der Individuen

wird geringer und somit auch die der Meinungen. Die Welt wird

eindimensionaler und die Möglichkeit alternative Vorstellungen

zu entwickeln und zu äußern beschränkter.71

4.2.1. Habermas und bürgerliche Öffentlichkeit

Jürgen Habermas‘ deliberative Demokratietheorie bietet hier

das Mittelstück zwischen den beiden bei Kant und Bentham

hervorgetretenen Ansätzen des Republikanismus und des

Liberalismus. Habermas verortet seine Theorie in den modernen

Massengesellschaften, also in einem massenmedial bestimmten

68 Sherry Turkle (2011): Alone Together. Why we Expect more from Technology and Less from Each Other, New York, 256-264.

69 John Stuart Mill (1977): Über die Freiheit, Stuttgart.70 Sherry Turkle (2011): Alone Together, 263f.71 Tobias Bevc (2011): Überlegungen zum demokratischen Potential des Web

2.0, in: Telepolis, online unter http://www.heise.de/tp/artikel/35/35283/1.html, letzter Zugriff am 20.02.2013.

30

Diskurs. Dennoch ist nach Habermas die massenmediale

öffentliche Meinung, wie sie im partizipatorischen

Demokratieparadigma sich vorzustellen ist, nämlich als Summe

der Einzelmeinungen, völlig unbefriedigend, weil aufgrund

dieser Summe schlecht allgemein gültige Entscheidungen zu

fällen sind.72 Beim liberalen Paradigma fällt negativ auf, dass

nicht die Gesamtgesellschaft repräsentiert ist, sondern die

politische und ökonomische Elite überrepräsentiert ist.73 Dies

führt zu den allgemeinen negativen Begleiterscheinungen die

uns heute aus repräsentativen Demokratien bekannt sind:

Politikverdrossenheit, Rückkehr ins Private, Protestwahlen.

Um aus diesem Dilemma zu entfliehen versucht Habermas aus

beiden Ansätzen eine sublimierte Demokratieform zu schaffen,

die deliberative Demokratie. Die in Körperschaften

organisierte Meinungsbildung, die zu verantwortlichen

Entscheidungen führen soll, kann dem Ziel der kooperativen

Wahrheitssuche nur in dem Maße gerecht werden, wie sie für

alle Themen und Argumente durchlässig bleibt.74 Somit hofft

Habermas auf das freie Zusammenspiel institutionell verfasster

Willensbildung und nicht vermachteter Kommunikationsströme

einer nicht organisierten Öffentlichkeit: »Die kommunikativ

verflüssigte Souveränität bringt sich in der Macht

72 Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society. Does Democracy still Enjoy an Epistemic Dimension? The Impact of Normative Theory on Empirical Research, in: Communication Theory 16 411–426, 416.Vgl. das Schema von Martinsen (2009), Öffentlichkeit in der Mediendemokratie aus der Perspektive konkurrierender Demokratietheorien,60.

73 Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie; Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society?, 412ff.

74 Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main, 43.

31

öffentlicher Diskurse zur Geltung. «75 Themen von

gesamtgesellschaftlicher Relevanz werden bewertet und

diskutiert. Diese Meinungen müssen dann aber »in Beschlüssen

demokratisch verfasster Körperschaften Gestalt annehmen, weil

die Verantwortung für praktisch folgenreiche Beschlüsse eine

institutionelle Zurechnung verlangt.« Insofern muss man mit

Habermas festhalten, dass die Diskurse nicht herrschen,

sondern mit ihrer kommunikativen Macht die administrative

Macht beeinflussen und zwar im Sinne von Beschaffung oder

Entzug von Legitimation.76 Eine zentrale Rolle spielen hier

neben den Massenmedien die zivilgesellschaftlichen Akteure wie

Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Bürgerrechts- und

Umweltorganisationen etc.77 Ziel der Öffentlichkeit ist

jedenfalls die Selbstbindung aller Akteure an einen diskursiv

ermittelten Konsens. Damit soll eine Rationalisierung des

Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses unter Einbindung

von Akteuren aus allen gesellschaftlichen Teilbereichen

stattfinden.78 Wenn man nun an das Internet und vor allem das

soziale Netz denkt, in dem ja jeder in den öffentlichen

Diskurs hineintragen kann, was er denkt das von Belang ist, so

ist Habermas Stellungnahme dazu in Bezug auf die politische

Öffentlichkeit recht eindeutig:

75 Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main, 44.

76 Jürgen Habermas (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt/Main, 44.

77 Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie, 287-292;78 Jürgen Habermas (1999): Drei normative Modelle der Demokratie, Vgl.

Jürgen Habermas (1992): Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main. Hier vorallem die Kapitel VII „Deliberative Politik – ein Verfahrensbegriff der Demokratie“ und VIII „Zur Rolle von Zivilgesellschaft und politischer Öffentlichkeit.

32

»There are two types of actors without whom no political

public sphere could be put to work: professionals of the

media system—especially journalists who edit news, reports,

and commentaries—and politicians who occupy the centre of

the political system and are both the coauthors and

addressees of public opinions. Mediated political

communication is carried on by an elite.« 79

Fünf weitere Personentypen macht Habermas aus, die auf der

virtuellen Bühne der Öffentlichkeit mitspielen: »lobbyists«,

»advocates of interest groups«, »experts«, »moral

entrepreneurs« und »intellectuals«.

Einen Absatz später formuliert Habermas

»To put it in a nutshell, the deliberative model expects

the political public sphere to ensure the formation of a

plurality of considered public opinions. «80

»Considered public opinions«, also keine endlose Pluralität an

Einzelstimmen, die, wie oben im Zusammenhang der

partizipativen Demokratie schon angedeutet, nicht zu einer

legitimen Beschlussfassung führen können. Nur so kann es keine

Kakophonie der Einzelmeinungen geben und nur auf diese Weise

lässt sich ein strukturierter deliberativer Prozess

durchführen, der zu einem Ergebnis führt, und zwischen

Republikanismus und Liberalismus, einen dritten Weg der

demokratischen Legitimation darstellt.

79 Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society?, 416.80 Jürgen Habermas (2006): Political Communication in Media Society?, 416.

33

Die politische Öffentlichkeit stellt im deliberativen Prozess

den »Resonanzboden für das Aufspüren gesamtgesellschaftlicher

Probleme« dar und ist zugleich der Filter für

interessenverallgemeinernde und informative Beiträge zu

relevanten Themen […] und [strahlt] diese ‚öffentliche

Meinungen‘ sowohl an das zerstreute Publikum der

Staatsbürger zurück […] wie an die formellen Agenden der

zuständigen Körperschaften weiterleitet.81

Soweit hört es sich noch nach Kant an, dem man unterstellen

darf, dass er genau diese Aufgaben der Öffentlichkeit

zuschrieb, nämlich eine »ungesteuerte Zirkulation öffentlicher

Meinung«, die somit einen »Rationalisierungsdruck« ausübt, der

»die Qualität der Entscheidungen verbessert«, die, in Kants

Worten zu einem Monarchen führt, der republikanisch regiert.

Und auch in seiner Schlussfolgerung bleibt Habermas ganz bei

Kants Forderung, was die politische Öffentlichkeit eigentlich

bewirken soll: »freilich kann die kommunikative Macht, zu der

die Konkurrenz öffentlicher Meinungen nach demokratischen

Verfahren verarbeitet wird, nicht selber ‚herrschen‘, sondern

bestenfalls den Gebrauch der administrativen Macht steuern.«82

4.2.2. Habermas und das soziale Netz

Das Internet könne zum Funktionieren einer deliberativen

Demokratie beitragen, da es jenseits der Logik der

81 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie, in: Ders., Ach, Europa, Frankfurt/Main, 138-191, 144.

82 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 144f.

34

Massenmedien funktioniert und reziproke Strukturen aufweist.

Habermas konstatiert, dass das Internet ja nicht nur -

»neugierige Surfer« hervorgebracht habe, sondern es hat »auch

die historische Gestalt eines egalitären Publikums von

schreibenden und lesenden Konversationsteilnehmern und

Briefpartnern wiederbelebt.«83 Einerseits wird hier deutlich,

dass Habermas dieses Publikum nun mit der im »Strukturwandel«

beschriebenen bürgerlichen Öffentlichkeit gleichsetzt (und

damit natürlich Kritik an den demokratischen Eigenschaften des

Internets provoziert, da diese Zuweisung gleichzeitig eine

Exklusion darstellt84) um das demokratische Potential des

Internets hervorzuheben. Andererseits attestiert Habermas dem

Internet unzweideutige demokratische Verdienste in autoritären

Staaten, da dies Zensur unterminiere sowie autoritäre Regime

in ihren Versuchen spontane öffentliche Meinungen zu

kontrollieren und zu unterdrücken behindere. Dabei nimmt er

anscheinend nicht zur Kenntnis, dass dieselbe Technologie

gerade auch autoritäre Regime dazu befähigt die Opposition zu

unterdrücken und die öffentliche Meinung noch perfider zu

steuern.85 Habermas geht es darum zu zeigen, wie Deliberation

in der repräsentativen Demokratie unter den gegenwärtigen

Umständen funktionieren kann. Der Beitrag des »World Wide Web«

zur öffentlichen Kommunikation besteht nach Habermas in der

Fragmentierung des Publikums in nur durch Spezialinteressen

zusammengehaltene Zufallsgruppen. Das Internet liefert somit

83 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 161.

84 Tobias Bevc (2012): Internet-Öffentlichkeit zwischen normativen Erwartungen und realen Fallstricken, in: vorgänge 4, Nr. 200, 4-15.

85 Vgl. Evgeny Morozov (2011): The Net Delusion.

35

die »Hardware für die Enträumlichung einer verdinglichten und

beschleunigten Kommunikation«, kann aber der zentrifugalen

Tendenz dieser Kommunikation nichts entgegensetzen. Habermas

konstatiert somit eine Transnationalisierung der

fragmentierten Teilöffentlichkeiten, die jedoch den Anschluss

zu den verschiedenen nationalen Öffentlichkeiten und den

dortigen Diskussionen und Problemen verloren haben.86

Gleichzeitig wäre hier aber auch zu fragen, welche

Legitimation solche transnationalen Öffentlichkeiten

eigentlich haben, dass sie auf nationale Öffentlichkeiten und

deren Entscheidungsfindung und Beschlussfassung durch

nationale Parlamente Einfluss haben sollten. Hier eröffnet

sich ein ganz entscheidendes Problem des Regierens jenseits

des Nationalstaats aus einer anderen Perspektive. Während

sonst die Frage diskutiert wird, wie transnationale politische

Gebilde ohne entsprechende politische Öffentlichkeit

demokratische Beschlüsse fassen können, und das daher ein

Demokratidefizit zu konstatieren sei87, fehlt die Diskussion

der Frage, welchen (un-)demokratischen Einfluss transnationale

(ad hoc) Öffentlichkeiten auf nationalstaatliche

Entscheidungen und Diskussionen haben können, wie es

beispielsweise auch im arabischen Frühling der Fall war.88

86 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 162.

87 Vgl. Nancy Fraser (2010): Transnationalizing the Public Sphere: On the Legitimacy and Efficacy of Public Opinion in a Postwestphelian World.

88 Vgl. Malcolm Gladwell (2010): Small Change. Why the Revolution will notbe tweeted, in: The New Yorker, 4.10.2010, online unter http://www.newyorker.com/reporting/2010/10/04/101004fa_fact_gladwell (zuletzt abgerufen am 8.2.2013); Evgeny Morozov (2011): Internet Delusion. How not to Liberate the World, New York; Jon B. Alterman (2011): The Revolution will not be tweeted, in: The Washington Quarterly, Fall 2011 (34:4), 103-116; Mark Evans (2011): Egyptian

36

Das Internet an sich kann also nach Habermas die Zweifel am

Beitrag der Massenkommunikation zur deliberativen Demokratie

nicht ausräumen. Daher macht Habermas dann auch klar, dass es

ihm um das institutionelle Arrangement der deliberativen

Demokratie geht, um ihre Machbarkeit aufzuzeigen. Und zwar ihm

Rahmen nationaler Öffentlichkeiten in liberalen

Verfassungsstaaten des Westens.89 Letzten Endes geht es ihm mit

dem deliberativen Modell darum zu zeigen, unter welchen

Bedingungen die politische Öffentlichkeit einen angemessenen

Beitrag zum Legitimationsprozess politischer Entscheidungen

leisten könnte. Dass das soziale Netz dazu entscheidend

positiv beitragen könnte, ist unter Berücksichtigung der

Tatsache, dass viele der normativen Voraussetzungen der

deliberativen Demokratie im sozialen Netz nicht zwangsläufig

gegeben sind, kontingent, und, wenn man neben sozialen

Ungleichheiten, weiterhin die das soziale Netz durchdringende,

opake und klandestine Macht der Ökonomie in Betracht zieht,

unwahrscheinlich.

5. Ausblick

Zu Beginn dieses Artikels steht die Behauptung, dass die Form

der Öffentlichkeit und die Nutzung des sozialen Netzes in

einem Spannungs- und Wechselverhältnis zu den Crisis: Why the revolution will not be tweeted, online unter: http://blog.sysomos.com/2011/01/31/egyptian-crisis-twitte/ (zuletzt abgerufen am 2.11.2011); Bieta Andemariam (2011): The Revolution will not be Tweeted. Why the Mobil Phone is still Critical to Reaching the Massesin the Middle East, online unter: http://techchange.org/2011/06/16/the-revolution-will-not-be-tweeted-why-the-mobile-phone-is-still-critical-to-reaching-the-masses-in-the-middle-east/ (zuletzt abgerufen am 15.10.2011).

89 Jürgen Habermas (2008): Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension?, 188.

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unterschiedlichen Formen der Demokratie stehen. Einerseits

wird an Kant und Habermas deutlich, dass die Öffentlichkeit

hier nur als Resonanzboden für das politische System dienen

soll, um so die »Publikumswünsche« an die Herrschenden

heranzutragen. In Bezug auf das soziale Netz betont Habermas

aber, dass hier nicht jede einzelne Stimme gehört werden soll,

sondern nur »considered opinions«, die als solche nur gelten

können, nachdem sie einen gesellschaftlichen Ausleseprozess

hinter sich gebracht haben. Das wiederum legt den Schluss

nahe, dass sich durch das soziale Netz nicht viel an der

Öffentlichkeit verändert, zumindest nicht bezüglich einer

politisch-legitimatorischen Öffentlichkeit. Die Hoffnungen

eines Walter Benjamins oder Bert Brechts bezüglich neuer

Medien und den durch sie gewonnenen Beteiligungsmöglichkeiten

aller Menschen mag Habermas sich nicht anschließen, wenn er

deklariert, dass dort einerseits die historische Gestalt des

egalitären Publikums wiederbelebt werde, und gleichzeitig die

Fragmentierung dieses Publikums in Spezialinteressen und in

transnationale Öffentlichkeiten beklagt und damit das Internet

für eine enträumlichte und verdinglichte Kommunikation mit

zentrifugaler Tendenz verantwortlich macht. Daraus kann keine

Öffentlichkeit entstehen, die den normativen Ansprüchen seiner

deliberativen Demokratietheorie genüge tut. Habermas ist also

nicht der Ansicht, dass durch die neuen reziproken

kommunikativen Möglichkeiten des sozialen Netzes zwangsläufig

eine demokratische Öffentlichkeit entsteht, wie sie für die

deliberative Demokratie wünschenswert wäre. Hier erschließt

sich somit auch der Rückgriff auf Kant und Habermas‘

38

Kantrezeption nochmals: Dort, wie heute in Bezug auf das

soziale Netz, haben wir eine doppelte Deutung von

Öffentlichkeit: eine empirische und eine normativ-

theoretische: empirisch ist die damalige Öffentlichkeit und

die heutige »Netzöffentlichkeit«, eine Öffentlichkeit eines

kleinen Teils der Gesellschaft, der soziökonomisch besser

gestellt und viel besser gebildet ist, als der

gesellschaftliche Durchschnitt. Normativ-theoretisch sind alle

inkludiert und Teil dieser Öffentlichkeit. Die

demokratietheoretischen Implikationen dieses Spagats zwischen

Theorie und Praxis müssen natürlich bei allen Überlegungen zum

Thema Demokratie und sozialem Netz berücksichtigt werden.

Mit Foucault ist festzustellen, dass durch das soziale Netz

ein bislang unvorstellbares Panoptikum der gegenseitigen

Überwachung und Kontrolle sich errichtet hat, indem die

Menschen sich zu allem Überfluss auch noch selbst entblößen.

Gleichzeitig sind sich viele der Problematik bewusst, dass

alle ihre Handlungen und Äußerungen in die Öffentlichkeit

gelangen und dort ein Eigenleben annehmen können. Daher ist

von einer zunehmenden Selbstzensur und einer wachsenden

Ausrichtung am Mainstream auszugehen, da Konformität auch im

Privatleben in Zukunft die einzige Möglichkeit bleibt, nicht

aufzufallen, nicht vom Bannstrahl der gesellschaftlichen

Exklusion getroffen zu werden. Vom Funktionsprinzip der

repräsentativen Demokratie regrediert Öffentlichkeit hier zu

einer reziproken vertikalen und horizontalen, peer-to-peer

Überwachungskultur, in der der hegemoniale gesellschaftliche

Diskursstets die Oberhand behält. Die steten Kämpfe um

39

Hegemonie und Macht der unterschiedlichen gesellschaftlichen

Gruppen, die es schon immer gegeben hat, stehen noch mehr als

zuvor unter den Vorzeichen einer asymmetrischen Verteilung der

Chancen, wobei diese Chancen beim Kapital und der Staatsmacht

zu verorten sind.

Was heißt dies in Bezug auf die anfängliche gestellte Frage

nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit, Demokratie unter den

Bedingungen des sozialen Netzes? Die allzu optimistischen

Annahmen diesbezüglich, die nun schon seit den Anfängen des

Internets geäußert werden, halten einer kritischen Prüfung

unter Einbeziehung ideengeschichtlicher Erfahrungswerte und

Reflektionen nicht stand.90 Die Inklusion und Partizipation

aller, die ja prinzipiell schon seit Kant und Bentham auf der

Agenda steht – wie oben deutlich wurde –, hat auch durch das

soziale Netz zu keiner wesentlichen Erweiterung der

Öffentlichkeit geführt. Benthams Unterscheidung der drei

Publika scheint bis heute Bestand zu haben, auch wenn dies in

Zeiten der political correctness natürlich nicht laut gesagt

werden darf. Genau von einer solchen Strukturierung der

Bevölkerung und der Öffentlichkeit scheint auch Habermas

auszugehen, wenn er noch für das Zeitalter des sozialen Netzes

deklamiert, dass in der Öffentlichkeit einer deliberativen

Demokratie nur »considered opinions« was zu suchen haben, und

der ganze Rest zu fragmentiert sei und sich um Spezialthemen

gruppiere, um sinnvoll zu dieser beizutragen. Die von Foucault

90 Vgl. Jan Felix Schrape (2010): Neue Demokratie im Netz. Eine Kritik an den Visionen der Informationsgesellschaft, Bielefeld, 13f.; Vgl. Lawrence K. Grossman (1995): The Electronic Republic: Reshaping Democracy in the Information Age, New York; Clay Shirky (2008): Here comes everybody; und Lee Rainie und Barry Wellmann (2012): Networked.

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konstatierte Kontrollgesellschaft ist nun in einem Umfang

vorhanden, der wohl seine kühnsten Erwartungen übertroffen

hätte, mit genau den Auswirkungen wie Tocqueville und Mill sie

vorausgesagt haben.

Ohne hier näher darauf eingehen zu können, ist für das soziale

Netz noch der kaum zu ermessende Einfluss mächtiger Oligopole

wie Google, Facebook, Amazon etc. hinzuweisen, die

selbstverständlich eine große Macht darüber haben, welche

Inhalte Verbreitung finden und welche nicht.91 Die künstliche

Würde Geld, wird im sozialen Netz direkt in die der Macht

umgesetzt und damit werden die gesellschaftlichen Diskurse

bestimmt.

Letztlich kann man nur konstatieren, dass unter den

gegenwärtigen Bedingungen des sozialen Netzes vor allem die

klassische Öffentlichkeit aufzufinden ist, in der jedoch der

Einfluss auf die Öffentlichkeit durch neue und mächtige

Mitspieler neu austariert wird. Primäre Zugangsbedingungen zu

diesem Machtspiel sind – wie seit je – Geld und Macht, und

nicht, wie häufig behauptet, eine Technologie, die

Reziprozität für jeden ermöglicht.

91 Vgl. Dan Schiller (2013): Netz-Regenten. Aufstand gegen Amerikas digitale Herrschaft, in: Le Monde diplomatique, 2/2013, deutsche Ausgabe, S. 1, 11. Vgl. PewInternet.org (2012): Search Engine use 2012, Online unter: http://www.pewinternet.org/Reports/2012/Search-Engine-Use-2012/Summary-of-findings/ Search-engines.aspx, letzter Zugriff: 22.08.2012. Vgl. dazu: Holger Schmidt (2013): Amazon ist der Google-König in Deutschland, in: Focus Online, Netzökonomie Blog, 17.02.2013, online unter http://www.focus.de/digital/internet/netzoekonomie-blog/seo-sem-amazon-ist-der-google-koenig-in-deutschland_aid_921161.html, letzter Zugriff: 20.02.2013

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Der Einfluss des sozialen Netzes auf das Verhältnis zu

Öffentlichkeit und Demokratie ist also allenfalls ein

negativer, solange die künstlichen Würden in ihrem Einfluss

auf die Öffentlichkeit nicht ausgeschaltet werden.

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