“Das Geld in der japanischen Literatur: Aspekte von Haben und Sein” [Money in Japanese...

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Das Geld in der japanischen Literatur Aspekte von Haben und Sein SIMONE MüLLER Einleitung Erich Fromm unterscheidet in seinem populären Werk Haben oder Sein (1976) zwischen einer menschlichen Existenzform des Habens und einer des Seins. Es handelt sich hierbei um den «Geist einer Gesellschaft, die den Menschen zum Mittelpunkt hat, und den Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht». 1 Eine Existenzform des Habens ist rational, kon- sum-, gewinn- und besitzorientiert, die des Seins intuitiv, beschaulich, selbstgenügsam, authentisch und auf Solidarität und gemeinsame Teil- habe ausgerichtet. Zur Veranschaulichung stellt Fromm den japanischen Haiku-Dichter Matsuo Bashō (1644–1694) dem englischen Dichter Al- fred Tennyson (1809–1892) gegenüber und definiert die Haikus von Bashō als Ausdruck des Seins, diejenigen von Tennyson als Ausdruck des Habens: Die Haben-Orientierung ist charakteristisch für den Menschen der westlichen Industriegesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, Ruhm, Macht zum beherr- schenden Thema des Lebens wurde. Weniger entfremdete Gesellschaften […], die noch nicht von den heutigen Ideen des «Fortschritts» infiziert sind, haben ihre eigenen Bashos; und vielleicht werden die Japaner nach ein paar weiteren Generationen der Industrialisierung ihre eigenen Tennysons haben. 2 Es ist offensichtlich, dass Erich Fromm Japan hier stark exotisiert. Das Japan der 1970er Jahre, als er sein Buch schrieb, befand sich keinesfalls in einem vormodernen Zustand der ‘Seins-Orientierung’ im Sinne Bashōs, 1 Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, übers. von Brigitte Stein, überarb. von Rainer Funk (München 1989 [1976]) 46. 2 Ebd., 46.

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Das Geld in der japanischen Literatur Aspekte von Haben und Sein

Si m o n e m ü L L e r

Einleitung

erich Fromm unterscheidet in seinem populären Werk Haben oder Sein (1976) zwischen einer menschlichen existenzform des Habens und einer des Seins. es handelt sich hierbei um den «Geist einer Gesellschaft, die den menschen zum mittelpunkt hat, und den Geist einer Gesellschaft, die sich um Dinge dreht».1 eine existenzform des Habens ist rational, kon-sum-, gewinn- und besitzorientiert, die des Seins intuitiv, beschaulich, selbstgenügsam, authentisch und auf Solidarität und gemeinsame Teil-habe ausgerichtet. Zur Veranschaulichung stellt Fromm den japanischen Haiku-Dichter matsuo Bashō (1644–1694) dem englischen Dichter Al-fred Tennyson (1809–1892) gegenüber und definiert die Haikus von Bashō als Ausdruck des Seins, diejenigen von Tennyson als Ausdruck des Habens:

Die Haben-orientierung ist charakteristisch für den menschen der westlichen industriegesellschaft, in welcher die Gier nach Geld, ruhm, macht zum beherr-schenden Thema des Lebens wurde. Weniger entfremdete Gesellschaften […], die noch nicht von den heutigen ideen des «Fortschritts» infiziert sind, haben ihre eigenen Bashos; und vielleicht werden die Japaner nach ein paar weiteren Generationen der industrialisierung ihre eigenen Tennysons haben.2

es ist offensichtlich, dass erich Fromm Japan hier stark exotisiert. Das Japan der 1970er Jahre, als er sein Buch schrieb, befand sich keinesfalls in einem vormodernen Zustand der ‘Seins-orientierung’ im Sinne Bashōs,

1 erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, übers. von Brigitte Stein, überarb. von rainer Funk (münchen 1989 [1976]) 46.

2 ebd., 46.

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der klar einer vorindustriellen Zeit zuzurechnen ist. Fromms Haben oder Sein widerspiegelt den westlichen Diskurs der 1960er und 1970er Jahre, repräsentiert durch zahlreiche weitere Abhandlungen wie Herbert mar-cuses Der eindimensionale Mensch (1964),3 in denen die westliche indus-trie-, Konsum- und zunehmend auch mediengesellschaft ins Kreuzfeuer der Kritik gerieten und der osten, insbesondere Japan, als utopische Ge-genwelt konstruiert wurde.

in den 1960er Jahren überrollte eine Welle des Japonismus europa, ins-besondere Frankreich. Viele Schriftsteller und Philosophen reisten nach Japan und kamen mit verklärenden Geschichten einer gegenkulturellen Utopie zurück. Der Philosoph Alexandre Kojève (1902–1968) beschrieb Japan als die Aktualisierung des Hegel’schen endes der Geschichte. Jac-ques Lacan (1901–1981) kehrte mit der überzeugung zurück, dass in Japan die Psychoanalyse unmöglich sei, da das östliche Subjekt nichts zu verheimlichen habe.4 roland Barthes (1915–1980) schließlich nahm in L’empire des signes (1970) eine semiotische Verfremdung Japans vor und zelebrierte eine Ästhetik des Fremden.

Klar ist, dass auch im Japan der 1960er Jahre der massenkonsum ein-zug gehalten hatte und Geld eine zentrale rolle spielte, nicht nur in Wirt-schaft und Politik, sondern im Alltags- und Sozialleben jedes einzelnen. Was ist nun aber die Bedeutung und der Stellenwert des Geldes in Japan? Wie Shingo Shimada und Sonja Gabbani in ihrem Aufsatz «überlegungen zur Äquivalenz von Zeit und Geld» betonen, setzt die Sinnhaftigkeit dieser Fragestellung voraus, dass sich in der Beziehung der japanischen Gesell-schaft zum Geld gewisse historisch und kulturspezifische Unterschiede ausmachen lassen.5

3 Herbert marcuse: Der eindimensionale mensch. Studien zur ideologie der fortgeschrit-tenen industriegesellschaft (Frankfurt am main 1989 [1964]) [Schriften Herbert mar-cuse 7].

4 Vgl. Jean-Philippe mathy: From Sign to Thing: The French Literary Avant-Garde and the Japanese Difference, in: Doug Slaymaker (Hg.): Confluences: Postwar Japan and France (Ann Arbor 2002) [michigan monographs in Japanese Studies 42] 34–48, hier 34.

5 Shingo Shimada, Sonja Gabbani: überlegungen zur Äquivalenz von Zeit und Geld, in: Angelika ernst, Peter Pörtner (Hg.): Die rolle des Geldes in Japans Gesellschaft, Wirt-schaft und Politik. Beiträge einer Kooperationstagung der Vereinigung für sozialwissen-schaftliche Japanforschung e.V. (Hamburg 1998) 65–75, hier 65.

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Die Literatur bietet ein geeignetes Untersuchungsfeld, um der Frage auf den Grund zu gehen. Sie widerspiegelt vor dem sozio-politischen und his-torischen Hintergrund ökonomische und soziale Wertvorstellungen einer Gesellschaft und deren Umgang mit und einstellung zum Geld und re-präsentiert in diese Sinne das ‘politische Unbewusste’6 einer Gesellschaft. Der Literatur eignet aber auch das Vermögen eines ‘Gegendiskurses’.7 Da sich die Literatur in gewissem maße außerhalb der üblichen Diskurs-zwänge befindet, kann sie die dort festgelegten Grenzen überschreiten. Sie kann deshalb ökonomische und soziale Wertvorstellungen in Frage stellen und alternative Seinsformen formulieren.

in einem ersten Teil werde ich zunächst in Form einer Sekundärstudie einen historischen und soziologischen überblick über das Thema Geld in Japan geben.8 im Anschluss werde ich anhand eines literaturgeschicht-lichen überschlags in Form einer motivgeschichte darstellen, wie Geld in der japanischen Literatur thematisiert wird und inwiefern modelle ent-wickelt werden, die sich dezidiert gegen monetär orientierte Werte richten.

Historische Aspekte des Geldes in Japan

münzen waren, wie erich Pauer in seiner Studie «Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan» gezeigt hat, in Japan durch den Kontakt mit China bereits vor 2000 Jahren bekannt; sie fanden auch als Grabbeigaben Verwendung.9 Aber erst durch die entdeckung einer Kup-fermine im Jahr 708 wurde das Gießen von münzen im eigenen Land möglich. Durch Quellen ist belegt, dass beträchtliche Geldsummen als

6 Vgl. Frederic Jameson: Das politische Unbewußte. Literatur als Symbol sozialen Han-delns, übers. von Ursula Bauer (reinbek bei Hamburg 1988).

7 Vgl. michel Foucault: Die ordnung des Diskurses, übers. von Walter Seitter, mit einem essay von ralf Konersmann (Frankfurt am main 2007); Achim Geisenhaslüke: Die Phi-losophie auf der Schwelle zur Literatur. über michel Foucault, in: richard Faber, Bar-bara naumann (Hg.): Literarische Philosophie – philosophische Literatur (Würzburg 1999) 169–184, hier 170.

8 Für die Ausführungen des historischen Teils stützte ich mich in erster Linie auf: erich Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, in: A. ernst, P. Pörtner (Hg.): Die rolle des Geldes in Japans Gesellschaft, 31–54.

9 Vgl. ebd., 34.

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Geschenke an Schreine und Tempel flossen. Hier zeigt sich eine enge Ver-knüpfung von Geld und religiösem opferritual. in diesem Zusammen-hang ist auch der Umstand zu sehen, dass ‘bezahlen’ mit dem Wort harau wiedergegeben wird, das auch ‘reinigen’ bedeutet. Dies deutet darauf hin, dass Geld ursprünglich den Zweck hatte, sich durch opfergaben von Ver-gehen und Schuld reinzuwaschen.10

Das münzgeld konnte sich aber gegenüber den bisherigen Tausch-gepflogenheiten in Form von naturalien und menschlicher Arbeitskraft nicht behaupten. 987 wurde der Gebrauch von Kupfermünzen schließlich gar verboten. in der Folge waren nur importierte münzen aus China, Korea und Südostasien in Gebrauch. Damit kumulierte Geldreichtum bald in den Händen der mit dem Außenhandel betrauten Kaufleute, die als die ‘reichen’ (utoku) bezeichnet wurden.11 Die regierungen ent-deckten den neu entstanden reichtum bald als Geldquelle für den Staat. So trieb das Ashikawa-Shōgunat – mit dem Ziel, die eigene macht zu fes-tigen – seit dem 15. Jahrhundert zunehmend von den Händlern Geld-steuern ein.

Auch das Tokugawa-Shogunat, das 1603 die Führung übernahm, er-kannte die macht des Geldes und begann damit, Grundsteuern in Form von münzen einzuziehen und eine Geldwirtschaft zu entwickeln. Außer-dem re-initiierte das Shogunat die einheimische münzherstellung. Seit 1680 wurden erstmals wieder Kupfer- und ferner Silber-, eisen- und Goldmünzen gefertigt.12 Parallel zur Geldwährung blieben aber nach wie vor naturalien, insbesondere reis, bis Anfang der meiji-Zeit das domi-nante Tauschmittel.

Das Ständesystem der edo-Zeit verhinderte unter anderem auch des-halb zunächst einen Durchbruch der Geldwirtschaft, da die Händler, die in erster Linie mit münzen zu tun hatten, in der feudalistischen, auf kon-fuzianischen Werten beruhenden Ständeordnung auf der untersten Stufe standen. ihnen wurde angelastet, dass sie selbst nichts produzierten, gie-rig seien und sich nur auf Kosten anderer bereicherten. im feudalen Japan

10 Vgl. Christoph Deutschmann: Theorien zur gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes und deren relevanz im Fall Japan, in: A. ernst, P. Pörtner (Hg.): Die rolle des Geldes in Japans Gesellschaft, 11–24, hier 16.

11 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 36–37.12 Vgl. ebd., 39.

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zeigt sich auf diese Weise ein durch die konfuzianische Lehre begründeter Widerstand gegen die Geldwirtschaft, der bis in die moderne hineinwirkt. in diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass in Japan bis heute die Frauen innerhalb der Familie die Finanzmittel verwalten. Diese teilen ihren ehemännern wöchentlich oder monatlich Taschengeld zu. Histo-risch wird diese Gepflogenheit ebenfalls auf den Konfuzianismus zurück-geführt. in der konfuzianischen rangordnung ist die Frau dem mann un-terstellt, ihr wurden deshalb die als niedrig eingestuften Geldgeschäfte überlassen.13

Die durch die edo-regierung verfolgte Abschließungspolitik, die nur direkten Handel mit Holland zuließ, beschränkte die Händler ebenfalls in ihrem Wirkungsbereich. Dennoch gelang es ihnen, den Handel auszu-bauen. nach konfuzianischem Vorbild setzten sie Fleiß und Sparsamkeit an oberste Stelle und verankerten diese Tugenden in sogenannten Haus-gesetzen. Hierzu gehörte auch das ‘Gesetz der Dreiteilung des Vermögens’ in Bargeld, immobilien und Geschäft, das noch bis in die moderne nach-wirken sollte.14

Die Kaufleute betätigten sich auch als eifrige Sammler von Kulturgü-tern und Kunstgegenständen. Die Händler der edo-Zeit waren typische Vertreter der genroku-Kultur, einer städtischen Bürger- und Vergnü-gungskultur ende des 17. Jahrhunderts, die durch ökonomische Stabilität und das Florieren von Kunst und Architektur gekennzeichnet war. Die wachsende einkommensschere zwischen den Händlern und der Bevölke-rung führte insbesondere seitens der edo-Gelehrten zu Bestrebungen, das Geld abzuschaffen. Außerdem wurde an das Gewissen der Kaufleute ap-pelliert, ihren reichtum abzugeben und mit der Bevölkerung zu teilen, was allerdings auf wenig resonanz stieß.15

im Zuge der modernisierungsreformen in der meiji-Zeit kam dem Geld bald große Bedeutung zu. erst jetzt vollzog sich ein grundlegender übergang von der natural- zur Geldwirtschaft. erstmals wurde die heu-tige Währungseinheit, der Yen, eingeführt. Die meiji-regierung verfolgte

13 Vgl. rainer Lindberg: einführung, in: Angelika ernst u.a. (Hg.): Geld in Japan (Berlin 1981) [oAG-reihe Japan modern 2] 13–21, hier 15.

14 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 41.15 Vgl. ebd., 44–45.

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eine Politik des Aufholens und überholens der Westmächte und inves-tierte, um dieses Ziel zu erreichen, in die Förderung der industrie, in die Stärkung des militärs und in die etablierung einer Kapitalwirtschaft. Auf diese Ziele hin wurde das erziehungssystem ausgerichtet und die Bevöl-kerung mobilisiert.

Das neokonfuzianische Ständesystem der edo-Zeit, das besonders so-ziale Pflichten in den Vordergrund gerückt hatte, wurde zunehmend vom Begriff des rechts abgelöst. Verschiedene, mit der marktwirtschaft ver-bundene rechte wurden verbrieft: Handelsfreiheit, Gewerbefreiheit, Ver-tragsfreiheit, freier marktzugang und das recht auf Landeigentum.16 mit dem recht auf Handelsfreiheit wuchs auch das Bewusstsein, den Handel für eigene interessen zu nutzen. Damit begann der Aufstieg der traditio-nellen Unternehmer in der moderne, die nun in die industrie finan-zierten, neue Unternehmen gründeten und auf diese Weise auf Familien-vermögen basierende industriekonglomerate aufbauten, die sogenannten zaibatsu. Aus Handelskapital wurde auf diese Weise industriekapital.17 Dennoch wurden die oben erwähnten Hausgesetze weiter beachtet, d.h., das traditionelle Denken wurde an die moderne industrie angepasst. nach 1900 boten die zaibatsu-industriellen das Bild des kultivierten Geldadels. Wie die Händler der edo-Zeit häuften sie reichtum an und sammelten Kunstschätze.

nach dem russisch-Japanischen Krieg (1904/05) kam erstmals der Stand der neureichen, der narikin, auf, die sich durch Kriegsspekulatio-nen Vermögen angehäuft hatten. ihre Zahl wuchs mit Beginn des ersten Weltkriegs massiv an. mit dem Begriff wurden rasch erworbener Geld-reichtum, extravaganzen, Verschwendungssucht und mangelndes Kultur-verständnis assoziiert.18 Die neureichen brachten ihr Geld auch in die Po-litik ein, indem sie Politiker finanziell unterstützten oder sich selbst in politische Ämter einkauften.

nach dem Zweiten Weltkrieg lag das Land wirtschaftlich am Boden und wurde durch massive inflationen gebeutelt. Doch Japan erholte sich – mit Unterstützung der US-Besatzungsmacht und nicht zuletzt auch dank

16 Vgl. ebd., 47.17 Vgl. ebd.18 Vgl. ebd., 48.

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des Korea-Kriegs – wirtschaftlich relativ schnell. Die USA initiierten zahl-reiche reformen, die auch die Finanzwelt betrafen. Unter anderem wur-den die zaibatsu aufgelöst und eine Währungsreform durchgeführt. mit Blick auf die ökonomische erholung erklärte das japanische ‘Weißbuch’ die nachkriegszeit 1956 für beendet.

Der wirtschaftliche Aufschwung nahm dann insbesondere in den 1960er Jahren erstaunliche Ausmaße an. 1968 galt Japan als drittstärkste industrienation der Welt, man sprach von einem japanischen Wirt-schaftswunder. Auch in die Haushalte zog Wohlstand ein. Die Bürger empfanden sich zunehmend als mittelstandgesellschaft, symbolisiert durch den Besitz der ‘drei neuen Kronjuwelen’ (sanshu jingi). in den 1950er Jahren waren dies Waschmaschine, Kühlschrank und Fernseher, in den 1960er Jahren Farbfernseher, Auto und Klimaanlage. Der wirt-schaftliche erfolgskurs sollte bis ende der 1980er Jahre anhalten. Wäh-rend dieser Zeit hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung ein behäbiger Glaube an den ewigen erfolg und ein Konsumverhalten verbreitet. Die ja-panische Bevölkerung investiert in marken- und Luxusartikel.

mit dem Platzen der Bubble-Blase im Jahr 1990 nahm der Kurs aller-dings eine Wende. Japan wurde in der Folge mehrmals von rezensionen heimgesucht. Die Folgen sind eine zunehmende Arbeitslosigkeit, schlecht bezahlte Teilzeitarbeit und eine tiefe Verunsicherung der Bevölkerung. man spricht von der ‘verlorenen Dekade’, von einer ‘Abstiegsgesellschaft’ (karyū shakai), vom Aufkommen eines neuen Proletariats bzw. eines Pre-kariats, von ‘working poors’ und von ‘Freetern’, d.h. von Teilzeitarbeitern. Wie Lisette Gebhardt betont, zeigen sich «vor dem Hintergrund der vie-len Anmerkungen zu Verarmung, orientierungslosigkeit, allgemeiner er-schöpfung und Wertekrise […] auch der japanische Fortschrittsoptimis-mus und die Wachstumsideologie der nachkriegsdekaden erheblich geschwächt».19 Damit einhergehend und insbesondere seit den einschnei-denden erlebnissen von Fukushima im Jahr 2011 macht sich in Japan eine Kritik am neoliberalistischen kapitalistischen System und der Verbrau-

19 Lisette Gebhardt: Von «Bubblonia» bis 1Q84. ideale und nicht-ideale orte als Thema der zeitgenössischen japanischen Literatur, in: eduard Klopfenstein, Simone müller (Hg.): Utopien und Dystopien in Japan. Tiere in der japanischen Kultur (Bern 2011) [Asiatische Studien 65.2] 45–477, hier 456.

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chergesellschaft bemerkbar. Gleichzeitig formieren sich auch alternative oder anti-monetäre Gesellschafts- und Tauschmodelle. Als Beispiel sei hier der ‘Zero Yen Shop’ angeführt. es handelt sich um einen dysfunktio-nalen Laden, in dem Second Hand Kleider gratis angeboten werden. eine etwas komplexere Form eines alternativen Gesellschaftsmodells ist Kara-tani Kōjins (geb. 1941) Projekt The New Associationist Movement (nAm). nAm wurde 2000 gegründet. es handelt sich um ein Pilotprojekt, mit dem die Trinität von Kapital, nation und Staat durch ein graduelles Wachstum einer neuen Gesellschaft mit ihrer eigenen alternativen orga-nisation und Wirtschaft überwunden werden soll. Grundprinzip von nAm ist der Verzicht auf direkten Protest, eine dezentrale und nicht-hie-rarchische organisationsform und der direkte Tauschhandel durch eine internetbasierte elektronische Währung. nAm wurde 2003 zwar wieder aufgelöst, viele ihrer ideen wurden aber in den sozialen Bewegungen, die in Japan nach 2003 und insbesondere nach Fukushima aufkamen, wieder aufgenommen.20 im gegenwärtigen Japan zeigt sich somit zusehends ein Diskurs, in dem das kapitalistische und auf monetären Gewinn ausgerich-tete System neu hinterfragt wird.

Soziale Aspekte des Geldes in Japan

Geld beeinflusst nicht nur das ökonomische, sondern auch das soziale Handeln, das sich wiederum in der Literatur widerspiegelt.21 eine der frü-hesten und bis heute umfassendsten soziologischen Untersuchungen des Geldes ist Georg Simmels (1858–1918) Werk Die Philosophie des Geldes (1899).22 Das Werk geht der Frage nach, wie sich das Geld auf den Le-bensstil der menschen und ihre Beziehungen auswirkt. Simmel versteht Geld hierbei nicht lediglich als ökonomisches Tauschmittel, sondern als

20 Zu nAm siehe u.a. Carl Cassegard: From Withdrawal to resistance. The rhetoric of exit in Yoshimoto Takaaki and Karatani Kojin, in: The Asia-Pacific Journal. Japan Focus (4.3.2008). http://www.japanfocus.org/-Carl-Cassegard/2684 (12.1.2012).

21 Vgl. C. Deutschmann: Theorien zur gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes, 11–12.22 Georg Simmel: Philosophie des Geldes, hg. von David P. Frusby u.a. (Frankfurt am main

41996 [1899]) [Gesamtausgabe Georg Simmel 6].

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soziales Kommunikationsmittel, als Ausdruck der Wechselbeziehungen zwischen individuen und Gruppen.

im Zentrum von Simmels Philosophie des Geldes stehen die ideen des «nicht-begrenzte[n] Begehren[s] des menschen nach Gütern und Geld»,23 sowie die ideen von Autonomie und Gottesersatz. Die Geldwirtschaft hat laut Simmel zwar zur Befreiung des individuums geführt. es wirkt auto-nomisierend, gleichzeitig aber zersetzend auf traditionelle Gemeinschaf-ten wie Familie, Gemeinde und nation. Gleichzeitig bringt es das indivi-duum in ein neues netz anonymer sozialer Abhängigkeiten. Und es füllt die Leere aus, die durch den Verlust persönlicher und religiöser Bin-dungen entstanden ist. Das Geld tritt an die Stelle von Gott. es verwan-delt sich von einem mittel zum erreichen äußerer Zwecken zu einem ab-soluten Wert, zu einem Lebens- und Selbstzweck.24

Hilfreich bei der Untersuchung sozialer Dimensionen des Geldes er-weist sich auch das modell von Pierre Bourdieu (1930–2002).25 er unter-scheidet zwischen vier Kapitalsorten: ökonomischem, kulturellem, sozia-lem und symbolischem Kapital. Unter ökonomischem Kapital versteht er den Besitz jeder Art von Ware wie Unternehmen, Produktionsmittel, Grund und Boden sowie Geld, Aktien oder Kunstwerke. mit dem Begriff ‘soziales Kapital’ bezeichnet er die Gesamtheit der aktuellen und po-tentiel len ressourcen, die mit der Teilhabe am netz sozialer Beziehun-gen, gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sein können. Soziales Kapital bietet einen Zugang zu den ressourcen des sozialen Le-bens wie Unterstützung, Hilfeleistung und Verbindungen bis hin zum Finden von Arbeits- und Ausbildungsplätzen. es produziert und repro-duziert sich auch über Tauschbeziehungen wie gegenseitige Geschenke, Besuche und Ähnliches. Das kulturelle Kapital umfasst die Bildung, welche einen nutzen im sozialen Beziehungsgeflecht mit sich bringt. Der Begriff ‘symbolisches Kapital’ schließlich bezeichnet die Chancen,

23 Paschen von Flotow: Geld, Wirtschaft und Gesellschaft. Georg Simmels Philosophie des Geldes (Frankfurt am main 1995) 119.

24 Vgl. C. Deutschmann: Theorien zur gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes, 19.25 Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in:

ders.: Die verborgenen mechanismen der macht, hg. von margareta Steinrücke, übers. von Jürgen Bolder (Hamburg 2005) [Pierre Bourdieu: Schriften zur Politik und Kultur 1] 49–80.

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die zur Gewinnung und erhaltung von sozialer Anerkennung und Pres-tige führen. Dieses kann mittels einsetzen der anderen Kapitalsorten geschehen.

Wie sind nun Simmels und Bourdieus modelle auf Japan übertragbar? Christoph Deutschmann untersucht in seinem Aufsatz «Theorien zur gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes und deren relevanz im Fall Japan» die übertragbarkeit von Simmels Theorie der rolle des Geldes als eines sozialen mediums anhand von Geschenkritualen, der parteipoliti-schen Cliquenwirtschaft sowie anhand der legendären Arbeitsmoral ja-panischer Arbeitnehmer. Trotz gewisser Divergenzen kommt er zum Schluss, dass Geld nicht nur in der japanischen Wirtschaft, sondern auch in der Gesellschaft eine wichtige Bedeutung hat26 und dass in Japan das Geld keineswegs eine geringere rolle spielt als in anderen fortgeschritte-nen industriegesellschaften.27 Auf diese Weise dekonstruiert Deutsch-mann in gewissem Sinne den mythos des ausgeprägten Gemeinschafts-sinns der Japaner, der individuelles Gewinnstreben dem Wohl der Ge-meinschaft nachordnet und auf diese Weise auch das Geld zunächst der Gemeinschaft und erst dann dem individuum dient. Positiv beurteilt Deutschmann insbesondere die übertragbarkeit der Simmel’schen Theo rie des Geldes als Gottesersatz. in Japan, das keinen monotheisti-schen Gottes begriff kennt, ist Deutschmann zufolge «die Transforma-tion des Geldes in eine säkulare ersatzreligion noch einfacher […] als in europa».28

rudolf Wolfgang müller hält dem entgegen, dass in Japan nicht Geld, sondern hierarchische Beziehungen die dominante Struktur sei. Die pri-märe Aufgabe des Geldes sieht er in der Stabilisierung des sozialen Gefü-ges.29 müller stellt sich auf diese Weise tendenziell also eher auf den Stand-punkt des mythos des harmoniebedürftigen Gemeinschaftssinns der Ja-

26 Vgl. hierzu auch Angelika ernst: nachwort: Geld und reziprozität – ein Beitrag der Ja-panforschung zur Gelddiskussion in den Sozialwissenschaften, in: A. ernst, P. Pörtner (Hg.): Die rolle des Geldes in Japans Gesellschaft, 217–231, hier 224.

27 C. Deutschmann: Theorien zur gesellschaftlichen Bedeutung des Geldes, 14.28 ebd., 19. 29 Vgl. rudolf Wolfgang müller: Kommentar zum Beitrag von Christoph Deutschmann,

in: A. ernst, P. Pörtner (Hg.): Die rolle des Geldes in Japans Gesellschaft, 25–30.

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paner, der individuelles Gewinnstreben dem Wohl der Gemeinschaft nach-ordnet.30

Hier treten sich also zwei unterschiedliche Standpunkte gegenüber: Während Deutschmann das moderne Japan als Kultur des ‘Habens’ de-klariert, in der das Leben in erster Linie auf Besitz und Kalkül ausgerich-tet ist, sieht müller Japan tendenziell als Kultur des ‘Seins’ an, in der nicht Besitz, sondern Harmonie in den sozialen Beziehungen im Vordergrund steht. im Hauptteil der vorliegenden Untersuchung soll nun der Frage nachgegangen werden, ob die Literatur, die maßgeblich die Gesellschaft ihrer jeweiligen Verfasserzeit widerspiegelt, eine Antwort darauf zu geben vermag, welche rolle das Geld in Japan spielt. Hierbei werde ich chrono-logisch vorgehen und versuchen, Aspekte von ‘Haben’ und ‘Sein’ heraus-zuarbeiten.

Literarische Aspekte des Geldes in Japan

Heian-Zeit (794–1185): Literatur als symbolisches Kapital

in der klassischen japanischen Literatur wird Geld so gut wie nicht the-matisiert. Die Dichtung der Heian-Zeit (794–1185) war getragen von einem Hofadel, dessen interessen schöngeistigen Dingen galten. Der Lite-ratur scheint aber ein wichtiger sozialer Wert zugekommen zu sein. Öf-fentlich ausgetragene Gedichtwettbewerbe sowie auf kaiserlichen Befehl herausgegebene Gedichtanthologien bildeten Bühnen, auf denen Hofaristo-kraten ihre Bildung und Kultiviertheit, d.h. ihr kulturelles Kapital zur Schau tragen und soziales sowie symbolisches Kapital in Form von Pres-tige erwerben konnten. Auch der erfolg beim anderen Geschlecht hing maßgeblich von dichterischen Fähigkeiten ab. Bildung und ästhetisches Gespür bildeten deshalb ein wichtiges Kapital im sozialen Beziehungs-geflecht.

30 Vgl. hierzu auch Sebastian Frobenius, masao Suzuki: Geld mit Geruch und Farbe, in: A. ernst u.a. (Hg.): Geld in Japan, 139–152, hier 139.

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Kamakura-Zeit (1185–1333): Literatur des Rückzugs und der Askese

Die buddhistisch geprägte Literatur der nachfolgenden Kamakura-Zeit, etwa Kamo no Chōmeis (1155–1216) Hōjōki (Aufzeichnungen aus meiner Hütte, 1212)31 oder Yoshida Kenkōs (1283–1350) Tsurezuregusa (Draußen in der Stille, ca. 1330–1331)32 bezeugen, dass das ideal eines erfüllten Lebens in der Askese gesehen wurde, während reichtum und Besitz als Bürde galt.33 in der meist von mönchen verfassten essay-Literatur der Ka-makura-Zeit manifestiert sich der Topos des rückzugsintellektuellen, der sich von weltlichen Dingen abwendet, um in der Abgeschiedenheit über das Dasein nachzudenken, zu schreiben und sich durch ruhende Be-schauung zu läutern. Hier finden wir eine Suche nach einer existenzweise des Seins, wie sie von erich Fromm idealisiert wird.

Edo-Zeit (1603–1868): Händlerliteratur (chōninmono) und Geldkritik

Konkret thematisiert wird das Geld erst in der Literatur der edo-Zeit. Hier tauchen erstmals Werke auf, die nicht nur an eine kleine Bildungs-schicht, sondern an ein breiteres Bildungsbürgertum gerichtet sind. Dies manifestiert sich in einem spezifischen Literaturgenre, den Kaufmanns-erzählungen (chōninmono), die eine existenzweise des Habens themati-sieren. in ihnen wurden unter anderem Anleitungen zum reichwerden verbreitet. ein repräsentatives Werk diese Genres ist ihara Saikakus (1642–1693) roman Nippon eitaikura (Der ewige Speicher Japans, 1688).34 Darin formuliert ihara die Lebensphilosophie der Kaufleute und regeln fürs

31 Kamo no Chōmei: Hōjōki, mit Anm. von Satake Akihiro u.a. (Tōkyō 1989) [Shin nihon koten bungaku taikei 39]; Kamo no Chōmei: Aufzeichnungen aus meiner Hütte, übers. von nicola Liscutin (Frankfurt am main 1997).

32 Yoshida Kenkō: Tsurezuregusa, mit Anm. von Satake Akihiro (Tōkyō 1989) [Shin nihon koten bungaku taikei 39]; Yoshida Kenkō: Draußen in der Stille. Klassische erzählun-gen, Anekdoten und Aphorismen, übers. von Jürgen Berndt (Berlin 1993).

33 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 38.34 ihara Saikaku: nippon eitaigura, komm. u. übers. (aus dem Altjapanischen) von Tani-

waki masachika [ihara Sakiaku shū 3] (Tōkyō 1996) [Shinpen nihon koten bungaku zenshū 68].

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reichwerden. Die Betonung liegt auf Arbeit und Fleiß sowie einer Ableh-nung von Verschwendung. Geld sollte nicht dem Vergnügen dienen.35 Dieses ideal sieht er in seiner Zeit allerdings nicht mehr als gegeben. Statt-dessen, so die kritische Bestandsaufnahme, wird das von den eltern durch Fleiß und Sparsamkeit erwirtschaftete Geld durch die nachfolgende Ge-neration in den damals aufkommenden städtischen Vergnügungsvierteln verprasst.

ihara Saikaku thematisiert diesen müßiggängerischen Verschwender, der sein erbe in den Freudenvierteln in Wein und Frauen investiert, in der Figur des Yōnosuke im roman Kōshoku ichidai otoko (Yōnosuke, der dreitausendfache Liebhaber, 1682).36 in ihm verbindet sich muße mit der Beherrschung der Liebe und der Kunst des Sich-Amüsierens im Be-wusstseins der unwiederbringlichen Vergänglichkeit der Welt, ausge-drückt durch die Begriffe ukiyo (fließende Welt) und iki (Geschmack). Yōnosuke repräsentiert den Typus eines müßiggängers, der nicht auf er-werb von Geld und Prestige aus ist. Bei ihm wird das Verschwenden zum Selbstzweck. Dennoch ist sein Leben auf Geld ausgerichtet, das er zur erfüllung seines Vergnügens und seiner Verschwendungssucht braucht. er repräsentiert in dieser Hinsicht ebenfalls eine existenzweise des Ha-bens. Yōnosuke verkörpert treffend das ideal des edo-Bürgers, charakte-risiert durch das Sprichwort edokko wa yoigoshi no kane wa tsukawanai – ein Bürger von edo hat das heute verdiente Geld schon morgen ausge-geben.37

eine kritische Haltung gegenüber der in der edo-Zeit aufkommenden Geldkultur zeigt sich insbesondere unter den konfuzianischen Gelehrten. Kumazawa Banzan (1619–1691) und ogyū Sorai (1666–1728) plädierten für den reis als einziges Tauschmittel, um so den reichtum der Kaufleute einzudämmen. Geld, so monieren sie, mache die reichen reicher und die Armen ärmer.38 Auch motoori norinaga (1730–1801), Vertreter der koku-

35 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 41. 36 ihara Saikaku: Kōshoku ichidai otoko, komm. u. übers. (aus dem Altjapanischen) von

Teruoka Yasutaka, Higashi Akimasa [ihara Saikaku shū 1] (Tōkyō 1996) [Shinpen nihon koten bungaku zenshū 66]; ihara Saikaku: Yōnosuke der dreitausendfache Lieb-haber, übers. von Kazuo Kani, einf. von oscar Benl (Herrenalb 1965).

37 Zit. nach S. Frobenius, m. Suzuki: Geld mit Geruch und Farbe, 144.38 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 44.

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gaku-Schule (nationale Schule),39 betont in seinem Werk Hihon tamaku-shige (Das geheime Schatzkästlein, 1787)40 die demoralisierende Wirkung von reichtum, der lediglich zu Verschwendungssucht führe. er appel-lierte an die Kaufleute, freiwillig einen Teil des akkumulierten Vermögens der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen, was allerdings wenig resonanz fand.41

einer der heftigsten Kritiker der edo-Zeit war Andō Shōeki (1703–1762). in seinem Werk Shizen no yo no ron (Abhandlung über die aus-sich-alleine-machende Welt)42 fordert er die rückkehr zu einer selbst-genügsamen, selbstversorgenden und herrschaftsfreien Agrargesellschaft. ihm zufolge befand man sich zu seiner Zeit in der hōsei, der ‘Gesetzes-welt’. es ist die Welt der von menschen geschaffenen Gesetze und institu-tionen; sie ist gekennzeichnet durch machtkämpfe, Krieg und Ausbeu-tung. Andō Shōekis ‘aus-sich-alleine-machende’, natürliche Welt ergibt sich grundsätzlich aus der negation des von ihm kritisierten Tokugawa-regimes. in seiner rückwärtsgerichteten Utopie gibt es keinen Unter-schied zwischen mensch und natur, keine machthaber und Untergebe-nen, kein Feudalsystem, keine Stände, keinen Privatbesitz, keine Steuern, kein Geld, keinen Handel, keine Händler, keinen Unterschied zwischen mann und Frau, keine religion, keine Kriege, keine Gelehrsamkeit, kei-nen müßiggang, keinen Luxus und selbst keine Krankheiten. in seiner idealgesellschaft gibt es auch kein Geld. Der Güterumlauf erfolgt über

39 es handelt sich um eine im 18. Jahrhundert entstandene national orientierte Bewegung, die sich dem Studium der klassischen japanischen Literatur widmete.

40 motoori norinaga: Hihon tamakishige, in: Ōno Susumu, Ōkubo Tadashi (Hg.): motoori norinaga zenshu 8 (Tōkyō 1971) 327–373.

41 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 44–45.42 Andō Shōeki: Shizen no yo no ron, in: Andō Shōeki kenkyūkai henshū (Hg.): Andō

Shōeki zenshū 2 (Tōkyō 2004) 99–105; Claus Weidner: Abhandlung über die aus-sich-alleine-machende Welt, in: einheit und Zweiteilung. Die sozialen ideen Arztes Andō Shōeki (1703–1762) (münchen 1999) 136–149. Zu Andō Shōekis Utopiewelt siehe auch Simone müller: Andō Shōeki und Thomas morus: zwei Utopisten der frühen neuzeit, in: Stephan Köhn, martina Schönbein (Hg.): Wayō. europa und Japan im Zeitalter der isolation – kulturelle Genuität zwischen Projektion und Wirklichkeit (Hamburg 2005) [moAG 142] 35–75; Simone müller: intellektuellenkritik und Utopie – Die Wiederent-deckung von Andō Shōeki, und Takeuchi Yoshimis Lektüre von Shōekis Kritik der ‘Wei-sen’, in: e. Klopfenstein, S. müller (Hg.): Utopien und Dystopien in Japan, 393–441.

Das Geld in der japanischen Literatur 75

den direkten Tauschhandel. Andō Shōeki lehnt den Gebrauch von Gold und Silber als Ursache von Habgier und neid dezidiert ab. nur eine geld-lose Gesellschaft gewähre soziale Harmonie:

Da weder Gold oder Silber noch Kupfermünzen in Gebrauch sind, begehrt kei-ner, oben zu stehen, um reich und angesehen [ein Leben] in Pracht und Prunk zu führen, noch hat einer das Leid zu ertragen, hinabgefallen, verachtet und arm zu sein.43

Bei den edo-Gelehrten zeigt sich auf diese Weise eine radikale Kritik an der von den Kaufleuten verkörperten existenzform des Habens. Sie re-präsentieren in diese Hinsicht einen Gegendiskurs.

Meiji-Zeit: Der ‘überflüssige Mensch’und der Müßiggänger

Die grundlegenden reformen nach westlichem Vorbild in der meiji-Zeit ende des 19. Jahrhunderts wirken sich auch nachhaltig auf die Literatur aus. Durch das Aufkommen eines Verlagswesens und von Zeitschriften, in denen romane als Serien publiziert wurden, bekam die Literatur zuse-hends einen monetären Wert. Schriftsteller konnten sich durch Schreiben erstmals ihr Leben finanzieren. Sie erwarben sich somit nicht nur symbo-lisches, kulturelles oder soziales, sondern auch ökonomisches Kapital. Das einkommen war zunächst aber noch bescheiden, die meisten Schrift-steller hielten sich mit ihrem Lohn knapp über Wasser und kamen entwe-der aus bürgerlichem Hause oder lebten am rand des existenzminimums. Gut verdienende Autoren kamen erst nach dem Zweiten Weltkrieg auf, insbesondere seit den 1980er Jahren.

im Zuge der meiji-restauration bekommt Japan die Widersprüche der industrialisierung und Kapitalwirtschaft heftig zu spüren. man zeigte sich zunächst bezüglich der neuen, aus dem Westen kommenden ideen, auch der Geldwirtschaft allerdings weitgehend positiv. Der Denker Fukuzawa Yukichi (1835–1901) etwa, der die 10 000-Yen-note ziert, soll, ganz ähnlich wie Georg Simmel, vom Geld als der Basis von Unabhängig-keit und Freiheit gesprochen und die Akquisition von Geld und das

43 Zit. nach: C. Weidner: einheit und Zweiteilung, 142.

76 Simone müller

Beherrschen des Umgangs und Handelns mit Geld proklamiert ha-ben.44

Die Belletristik war allerdings kritischer gegenüber dem neu aufgekom-menen Profitdenken in Geldmaßstäben. Hier zeigt sich schon früh eine dezidierte modernekritik, die sich explizit gegen die von der regierung vorangetriebene Aufholjagd mit Blick auf den Westen und gegen die damit einhergehende instrumentalisierung des geistigen Kapitals und des individuums richtete. Geld, Kapitalismus und Profitdenken werden zu wichtigen literarischen Topoi.

Das Thema wird beispielsweise in ozaki Kōyōs (1868–1903) populä-ren roman Konjiki Yasha (Der Wucherer, 1897–1902)45 thematisiert. Das Werk gilt als eines der ersten kritischen Zeitzeugnisse des wider-sprüchlichen Gefühls der menschen gegenüber der Allmacht des Geldes. es handelt von einem Studenten, der die junge Frau, die er liebt, an den Sohn eines reichen Bankiers verliert und aus Verzweiflung zu einem hartherzigen Geldwucherer wird. Aus Zufall rettet er ein Paar, das im Be-griff ist, Liebesselbstmord zu begehen und erkennt nun, dass Gefühle wichtiger sind als Geld. Seinen Gesinnungswandel beweist er unter an-derem dadurch, dass er den beiden Liebenden einen Teil seines Geldes schenkt.

Kritik an der durch Profitorientierung geprägten modernisierung ma-nifestiert sich auch im Aufkommen eines von der russischen Literatur in-spirierten Topos des ‘überflüssigen menschen’ (yokeimono). es handelt sich hierbei um ‘Verweigerer’, die sich einer indienstnahme ihrer Freiheit, ihrer Werte und ihrer individualität zugunsten eines auf Geldprofit, Fort-schritt und Haben ausgerichteten Systems entziehen. Das früheste Bei-spiel ist die Figur Bunzō in Futabatei Shimeis (1864–1909) roman Uki-gumo (Schwebende Wolken, 1887–1889),46 der als erster moderner roman Japans gilt. Aufgrund seiner Verweigerung, sich bei seinem Chef einzu-schmeicheln, verliert Bunzō seine Anstellung als Beamter, gerät dadurch ins soziale Abseits und verliert seine Geliebte an einen karrieristischen nebenbuhler.

44 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 45–46.45 ozaki Kōyō: Konjiki yasha (Tōkyō 1991) [Shinchō bunko o 5.1].46 Futabatei Shimei: Ukigumo (Tokyō 1990) [Shinchō bunko fu 3.2].

Das Geld in der japanischen Literatur 77

Sowohl Futabatei Shimei als auch seine Figur Bunzō gelten als Grund-typus des Dilemmas des modernen japanischen intellektuellen.47 Bunzō verkörpert den melancholischen intellektuellentypus, welcher bereits eine Desillusionierung gegenüber dem einseitigen, wirtschaftlichen Fortschritts-glauben der moderne zum Ausdruck bringt. Futabatei Shimei begründete mit der Zeichnung des überflüssigen, den Anforderungen der moderne nicht nachkommenden intellektuellen eine literarische Tradition, die in der Folge verschiedene Weiterentwicklungen und Transformationen erfuhr.

ein solches Beispiel ist der kōtō yūmin, der ‘gebildete müßiggänger’, in der Literatur von natsume Sōseki (1867–1916), der auf der früheren japa-nischen 1000-Yen-note abgebildet ist. Der Begriff bezeichnet eine ende des 19. Jahr hunderts aufkommende, entweder freiwillig oder unfreiwillig arbeitslose Bildungsschicht. in der Literatur natsume Sōsekis, zum Beispiel in seinem Werk Higansugi made (Bis zur Tag- und nachtgleiche, 1912),48 verweist der kōtō yūmin auf einen müßiggänger des meiji-zeitlichen Bildungs bürgertums, der es ablehnt, sich für die wirtschaftliche Aufhol-jagd instrumentalisieren zu lassen und sich deshalb der Arbeit verweigert und seine Zeit stattdessen schöngeistigen Dingen wie der Literatur und der Kunst widmet. Auf diese Weise ästhetisiert natsume Sōseki den Begriff kōtō yūmin zu einer zweckfreien Lebensführung.

Um den Kreis um natsume Sōseki entstand die Literaturströmung der Yoyūha, deren Vertreter im künstlerischen Schaffensprozess eine mit der realität in eine bestimmte Distanz tretende Gelassenheit (yoyū) des Herzens und eine erhabene Sichtweise der Welt postulierten. es handelt sich hierbei um eine nichthaftung in Bezug auf weltliche Dinge im zen-buddhistischen Sinn. Dieses ästhetische ideal fand unter anderem in der in natsume Sōsekis Kusamakura (Das Graskissenbuch, 1906)49 formulierten Kunst-theorie seinen literarischen niederschlag. in dem Werk experimentiert er in kritischer Absetzung zum europäischen Bildungsroman mit der idee

47 Vgl. Sasaki Kiichi: Chishikijin shōsetsu no genkei – Futabatei Shimei ni tsuite, in: Shinchō 40.11 (nov. 1943) 24–27; odagiri Hideo: nihon bungaku to interigencha, in: Hyōron 1.3 (mai 1946) 51–61; Ara masahito: Chishikijin no futatsu no kata, in: rekishi hyōron 1.1 (okt. 1946) 40–50.

48 natsume Sōseki: Higan sugi made (Tōkyō 1991) [Shinchō bunko na 1.11].49 natsume Sōseki: Kusamakura (Tōkyō 2010) [Shinchō bunko na 1.9]; natsume Sōseki:

Das Graskissenbuch, übers. von Christoph Langemann (Berlin 1996).

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eines plotlosen, entzeitlichten romans, in dem der Protagonist keine ent-wicklung durchmacht, und untergräbt auf diese Weise westliche Vorstel-lungen von Fortschritt. Ausgehend von Lessing, der Literatur als zeitliche und die darstellende Kunst als räumliche Kunstform definiert, entdeckt natsume Sōseki im Haiku Vorbilder für eine räumliche, entzeitlichte Lite-ratur, welche den temporalen Prozess und den auf entwicklung ausge-richteten Plot der westlichen naturalistischen Literatur aufzubrechen ver-sucht. in diesem Sinne postuliert er einen Haiku-roman.

eine weitere Ausprägung des ‘Verweigerers’ zeigt sich auch im Shishō-setsu (ich-roman), der ende der meiji-Zeit aufkam und zu einer führen-den Strömung der Taishō-Zeit, d.h. der 1910er und 1920er Jahre wurde. Die Shishōsetsu sind charakterisiert durch eine innenperspektivische Be-schreibung der unmittelbaren, privaten Lebensumstände und emotiona-len Schwankungen eines mit den Attributen des Autors ausgestatteten Prot-agonisten in einem gesellschaftspolitischen Vakuum. Hier zeigt sich klar ein rückzugsverhalten in eine soziale isolation. Der Literaturkritiker itō Sei bezeichnet die Protagonisten des Shishōsetsu deshalb als ‘Fluchtskla-ven’ (tōbō dorei).50 Sie zeigen eine dezidierte Verachtung des Geldes. nur der zweckfreien Kunst wird eine existenzberechtigung zugesprochen. Dementsprechend leben viele Protagonisten, gleich wie ihre Autoren, auf einem existenzminimum.

Anders als Yōnosuke in der edo-zeitlichen Literatur von ihara Saikaku zielt das Leben der meiji- und taishō-zeitlichen müßiggänger und Verwei-gerer nicht auf Vergnügen und Verschwendung, sondern auf die Selbst kul-tivierung durch schöngeistige Dinge und auf ein authentisches Leben. Sie repräsentieren meines erachtens deshalb das Streben nach einer existenz-weise des Seins. Die müßiggänger, die ‘überflüssigen’ menschen und die rückzugsintellektuellen in der Literatur der meji- und frühen Taishō-Zeit, stellen auf diese Weise eine Kritik der moderne und des Fortschrittsglaubens dar und sind in diesem Sinne der Antipode des nützlichen und dem Staat dienenden intellektuellen. Arbeitsverweigerung und muße stehen hier für Gegenwelten und für einen Gegendiskurs zur profit orientierten, auf nutzen-maximierung ausgerichteten kapitalistischen Gesell schaft.

50 Vgl. u.a. itō Sei: Tōbō dorei to kamen shinshi, in: Gendai bungei hyōronshū 2 (Tōkyō 1967 [1948]) [Gendai nihon bungaku zenshū 95] 113–116.

Das Geld in der japanischen Literatur 79

Zwischenkriegszeit: Neureiche und Kapitalismuskritik

mit dem für die japanische Wirtschaft lukrativen ersten Weltkrieg kam eine breite Schicht von neureichen auf. Gleichzeitig erschienen auch zahl-reiche Bücher über das reichwerden, meist Anleitungen zu Börsenspeku-lationen. 1922 publizierte Takayanagi Junnosuke, mitglied des Unterhau-ses, ein Buch mit dem Titel Gekkyū go en no shōgakkō kyōjin kara hyaku-man no tomi o tsukutta watakushi no keiken (Aus eigener erfahrung: Wie ich als Grundschullehrer mit fünf Yen monatsgehalt eine million reich-tum schuf).51 Anfang der 1930er Jahre, möglicherweise als Folge der Wirt-schaftskrise, wurden zahlreiche Serienromane zum Thema Geldmachen veröffentlicht. Tani magoroku etwa publizierte 1931 die beiden romane Ichi man en monogatari (Die eine-million-Yen-Geschichte)52 und Mōketa hitobito (menschen, die verdient haben).53

Gleichzeitig kommt auch Kritik an der Geldwirtschaft und den kapita-listisch gesinnten neureichen auf. nach dem ersten Weltkrieg treten, in-spiriert durch humanistisches und sozialistisches Denken, Schriftsteller auf die Bühne, die ihr Geld bewusst dazu verwenden, ihre Gesellschafts-ideale umzusetzen. mushanokōji Saneatsu (1885–1976), mitglied der Shi-rakabaha (Birkengruppe), investierte sein Vermögen in die 1918 gegrün-dete Alternativgesellschaft Atarashiki mura (Das neue Dorf), eine en-klave für humanistisch und sozialreformerisch gesinnte menschen.54 idea-listisch zeigte sich auch der sozialistische Schriftsteller Arishima Takeo (1878–1923). er verschenkte seinen ganzen Besitz in Hokkaidō seinen Pächtern.

Kritik an der kapitalistischen Geldwirtschaft und der Schere zwischen Arm und reich äußert sich, insbesondere nach der oktoberrevolution, auch in der Literatur. Von der japanischen intelligenzija wurde eine frei-

51 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 48.52 Tani magoroku: ichimanen monogatari, in: ders.: Gendai kashoku zenshū 2 (Tōkyō

1931).53 Tani magoroku: mōketa hitobito, in: ders.: Gendai kashoku zenshū 3 (Tōkyō 1931).54 Vgl. S. Frobenius, m. Suzuki: Geld mit Geruch und Farbe, 147. Zu mushanokōjis Kom-

mune siehe auch eduard Klopfenstein: mushanokōji Saneatsu: Atarashiki mura – Das neue Dorf, in: e. Klopfenstein, S. müller (Hg.): Utopien und Dystopien in Japan, 371–387.

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willige Aufgabe ihrer Privilegien und eine Teilnahme am Klassenkampf in Form des ‘revolutionären intellektuellen’ gefordert. Der marxistische Öko-n om Kawakami Hajime (1879–1946) etwa gibt in seiner kritischen Schrift Binbō monogatari (Aufzeichnungen der Armut, 1916)55 bereits Anre-gungen, wie man die Kluft zwischen Arm und reich schließen kann. er fordert von den reichen, sich einer Luxusbeschränkung zu unterwerfen und einen Teil ihres Gewinnes den Armen zu geben. Außerdem plädiert er für ein neues Wirtschaftssystem, in welchem nur Güter erzeugt wer-den, die von allgemeinem nutzen sind.56 Die entschiedensten Kritiker des kapitalistischen Systems waren die Vertreter der proletarischen Literatur-bewegung, die das literarische Feld der 1920er Jahre dominierten. Be-rühmt ist Kobayashi Takijis roman Kani kōsen (Das Krabbenschiff, 1929). Das Werk schildert den Kampf finanziell ausgebeuteter Fischer um menschenwürdige Lebensbedingungen.

Kritisch mit dem Thema des monetär privilegierten intellektuellen und der Thematik der Bourgeoisie setzte sich auch der sozialistische Schrift-steller Hirotsu Kazuo (1891–1968) auseinander. in dem roman Fūu tsuyo-karu beshi (Wind und regen müssen stark sein, 1934)57 beschreibt er das Leiden, die Passivität und Unentschlossenheit der japanischen intelligen-zija nach der Unterdrückung der linken Bewegungen. im Zentrum der erzählung steht das Leben und Leiden des mit dem Sozialismus sympa-thisierenden Protagonisten Sanuki Shun’ichi vor dem gesellschaftspoliti-schen Hintergrund im Jahr 1933. Der Protagonist, Student und Sohn eines wohlhabenden Unternehmers, führt ein müßiges und weitgehend zielloses Leben, macht sich dabei aber Selbstvorwürfe über seinen mangel an Tatkraft und das Unvermögen, seine ideale in die Tat umzusetzen, und verliert sich in selbstsezierenden Gedanken über die Passivität der bour-geoisen intellektuellen. nach dem Bankrott der Bank seines Ziehvaters verspürt Sanuki gegenüber dem bourgeoisen Leben zusehends ein Unbe-hagen und strebt daher wirtschaftliche Unabhängigkeit an. Am ende des

55 Kawakami Hajime: Binbō monogatari, in: Uchida Yoshihiko (Hg.): Kawakami Hajime shū (Tōkyō 1977) [Kindai nihon shisō taikei 18].

56 Vgl. e. Pauer: Zur Geschichte des Geldes sowie des reichtums in Japan, 49.57 Hirotsu Kazuo: Fūu tsuyokaru beshi, 2 Bde. (Tōkyō 1954).

Das Geld in der japanischen Literatur 81

Werkes entscheidet er sich, einen Teil seines Vermögens der Gesellschaft zur Verfügung zu stellen und einer erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die in dem Werk zum Tragen kommende, durch Sanuki beispielhaft verkörperte intellektuellenkritik, widerspiegelt klar den marxistischen so-ziostrukturellen intelligenzbegriff, der Anfang der 1930er Jahre den Dis-kurs im intellektuellen Feld beherrschte. Der marxistische, kritisch ver-wendete Begriff ‘intelligenz’ bezeichnet eine gebildete mittelschicht, die durch ihr Wissen der Bourgeoisie zu ihrem reichtum verhilft und des-halb von dieser mit Privilegien ausgestattet wird. Diese intellektuellen schwanken zwischen der Bourgeoise und dem Proletariat hin und her, versäumen es aber, durch ihr ständiges Abwägen aktiv zur Tat zu schrei-ten und können sich nicht recht dazu entschließen, auf ihre Privilegien zugunsten des Klassenkampfes zu verzichten.

in der Zwischenkriegszeit finden wir in der Literatur somit zwei kon-träre Haltungen gegenüber dem Geld: eine bürgerliche, befürwortende, sowie eine linke, kapitalismuskritische. Sie repräsentieren je eine existenz-form des Habens bzw. des Seins.

Nachkriegszeit: Exzess, Kritik und Konsum

nach dem Zweiten Weltkrieg war das dringlichste Thema die unmittel-bare Sicherung der existenz. Zahlreiche romane beschreiben mittellose Protagonisten, die ums tägliche überleben kämpfen und sich mit Handel auf dem Schwarzmarkt über Wasser halten. in der unmittelbaren nach-kriegszeit, die geprägt von existentieller Angst und einem Zurückgeworfen-sein auf den eigenen Körper als letzten existenzgrund, zeigt sich gleich-zeitig ein Hunger nach dem Auskosten des Augenblicks und der Sexuali-tät, was in einer nihilistisch-dekadenten und ausschweifenden Lebens-führung zum Ausdruck kommt, literarisch repräsentiert durch die Werke der Nikutai bungaku (Körperliteratur) und der Buraiha (‘Halunken-Gruppe’). ein typischer Vertreter der Letzteren ist Dazai osamu (1909–1948). Selbst aus wohlhabendem Haus stammend, beschreibt er in seinen Werken meist Schriftsteller, die keiner ordentlichen Arbeit nachgehen, ihr Geld mit Faulenzerei, Alkohol, Frauen und Glücksspiel verprassen und sich finanziell ruinieren. Bekannte Beispiele sind Shayō (Die sin-

82 Simone müller

kende Sonne, 1947)58 und Viyon no tsuma (Die Frau Villons, 1947).59 Hier zeigt sich in extremform die Suche nach einer existenzform des Seins, die jedoch im modus des Habens verhaftet und die existenzielle Leere durch Vergnügen zu füllen sucht.

Seit den 1950er Jahren, mit der wirtschaftlichen Stabilisierung zeigt sich zusehends ein Vergnügungs- und Konsumverhalten, das sich auch in der Literatur widerspiegelt. Die Jugend des sich anbahnenden Wirtschafts-booms ist in ishihara Shintarōs berühmtem roman Taiyō no kisetsu (Jah-reszeit der Sonne, 1955)60 prototypisch dargestellt. Das Werk handelt von jungen, rebellischen und wohlsituierten Jugendlichen, die sich gegen das bürgerliche Leben ihrer eltern auflehnen. ishiharas roman löste in der Folge eine Subkultur aus, die unter dem namen taiyō zoku (Sonnen-bande) bekannt ist.

Die um sich greifende Konsumkultur wird in der Literatur der 1960er und 1970er Jahren kritisch hinterfragt, macht in den 1980er Jahren aber einer selbstgefälligen Behäbigkeit Platz. in der Kurzgeschichte Hyaku-man’en senbei (Drei millionen Yen, 1960)61 beschreibt mishima Yu kio ein junges, sparsames ehepaar aus bescheidenen Verhältnissen, das sich einen genauen Lebensplan ausgelegt hat, der aus konkreten Anschaffungswün-schen besteht und an dessen ende ein Kind geplant ist. Die materiellen Wünsche entsprechen den drei Wohlstandssymbolen der 1950er Jahre: Waschmaschine, Kühlschrank und Fernseher. Um ihre Pläne zu rea lisieren, verkaufen sie ihre Körper in Form einer Live-Sexshow an wohlhabende Hausfrauen. Zurück bleibt ein Gefühl der Scham und der Leere. Die Ge-schichte thematisiert kritisch den Verkauf der Seele oder hier des Körpers für Geld und Wohlstand. eine buddhistische Pagode vor dem Kaufhaus, die das Paar am Anfang der Geschichte gedankenverloren betrachtet,

58 Dazai osamu: Shayō (Tōkyō 1990) [Shinchō bunko ta 2.2]; Dazai osamu: Die Sinkende Sonne, übers. von oscar Benl (münchen 1958).

59 Dazai osamu: Viyon no tsuma, in: Dazai osamu zenshū 8 (Tōkyō 1998) 301–334; Dazai osamu: Die Frau Villons, übers. von Jürgen Berndt, in: eduard Klopfenstein (Hg.): Träume aus zehn nächten (Zürich 1992) 227–250.

60 ishihara Sintarō: Taiyō no kisetsu (Tōkyō 2011) [Shinchō bunko i 11.1].61 mishima Yukio: Hyakuman’en senbei, in: mishima Yukio zenshū 10 (Tōkyō 1973) 543–

564; mishima Yukio: Drei millionen Yen, in: ders.: Gesammelte erzählungen, übers. von Ulla Hengst (Hamburg 1971) 37–49.

Das Geld in der japanischen Literatur 83

symbolisiert hierbei ein edles und unerreichbares Lebensziel, fern von Geld und Konsum. Bei der rückkehr nach dem verrichteten Dienst bleibt die Pagode dunkel.

Das Thema Geld und Konsum wird insbesondere in den 1980er Jahren zu einem immer wiederkehrenden Thema der japanischen Literatur. im mittelpunkt stehen Kauflust und materieller Besitz. Die Konsumkultur der 1980er Jahre wird prototypisch repräsentiert durch Tanaka Yasuos (geb. 1956) roman Nantonaku kurisutaru (Kristall Kids, 1980),62 der sich in millionenauflage verkaufte. Das Werk beschreibt das Leben einer Stu-dentin vor dem Hintergrund von modetrends der 1980er Jahre und be-steht im Grund genommen in einer Aufzählung trendiger restaurants und markennamen, Zigaretten, essmanieren, Kleidungsstile oder musik-stücke inklusive deren Preisangabe.63 Das als ‘Brand-roman’ bezeichnete Werk wurde insbesondere von jungen Frauen gelesen und diente diesen als Anleitung zur Lebensgestaltung. Seine Anhänger wurden als Kristall-Bande (kurisutaru zoku) bezeichnet. Nantonaku kurisutaru gilt als Pio-nierwerk des Brand-Booms in der darauf folgenden Bubble-Zeit, d.h. der 1980er Jahre, die charakterisiert waren durch eine ungezähmte Konsum-lust und den erwerb von prestigevollen markenartikeln als Statussym-bolen.

in den 1980er Jahren kam auch das spezifische Literaturgenre der Mo-ratoriamu bungaku, der ‘moratoriumsliteratur’, auf. in ihr werden Prot-agonisten thematisiert, die ihr erwachsenwerden hinauszögern und ihr Leben in einem Zustand des Wartens, der Leere und des überdrusses ohne Sinn und Ziel an sich vorbeiziehen lassen. Hier zeigt sich zuneh-mend eine wenn auch indirekte Kritik an der profitorientierten, kapita-listischen Gesellschaft. Die moratoriumsliteratur bildet den übergang zur Post-Bubble-Literatur.

62 Tanaka Yasuo: nantonaku kurisutaru (Tōkyō 1985) [Shinchō bunko ta 33.1]; Tanaka Yasuo: Kristall Kids, übers. von Bochumer-Studentinnen unter der Leitung von Jürgen Stalph (Frankfurt am main 1987).

63 Die japanische Ausgabe ist so strukturiert, dass die Handlung auf den rechten Buchsei-ten erzählt wird und auf den linken Seiten praktische Hinweise in Zusammenhang mit den Handlungen der Protagonistin stehen, wie Adressen von Kleidergeschäften oder res-taurants oder der Preis einer Zigarettenmarke, welche die Protagonistin gerade raucht. Das Werk ist in diese Hinsicht ein Trendführer.

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Post-Bubble-Zeit: Prekariat und Geld als Kompensation

mit dem Zusammenbruch der Bubble-Blase Anfang der 1990er Jahre macht sich in der japanischen Gesellschaft zunehmend eine Verunsiche-rung breit. Das Aufkommen von Arbeitslosigkeit, Freetern und das Phä-nomen der ‘working poors’ äußert sich in der Literatur durch die Thema-tisierung eines niedergangs- und Verarmungsdiskurses, der sogenannten ‘Prekariatsliteratur’ (purekariāto bungaku).64 ihr werden verschiedene Un-terströmungen zugeordnet, wie die ‘neue proletarische Literatur’ (atara shii puroretaria bungaku), der ‘Freeter-roman’ (furītā shōsetsu), der ‘Armuts-roman’, die ‘neeT-Literatur’ (in der das Schicksal junger menschen the-matisiert wird, die ‘not in education, employment or Training’ sind) oder die Literatur der ‘Soziophoben’.65 in den Werken dieses Genres wird entwe-der über Geldprobleme geklagt oder das auf Ausbeutung und Profitmaxi-mierung ausgerichtete kapitalistische regime kritisiert, ohne konstruktive Alternativlösungen zu bieten. Viele Protagonisten der romane nach 1990 verweigern sich aber auch bewusst einer ordentlichen Arbeit und dem einspannen in einen Beruf, der lediglich dem Geld erwerb dient und kei-nerlei erfüllung bringt. in einem Artikel aus dem Jahr 1999 in der Zeit-schrift Aera wird die japanische Jugend der Gegenwart denn auch mit na-tsume Sōsekis Figur des kōtō yūmin verglichen, mit menschen ohne Be-rufsperspektiven und Lebensentwürfe, die ziellos in den Tag hinein leben.66 Die Literatur nach 1989, die sogenannte Heisei bungaku, ist somit charak-terisiert durch eine ‘soziologische Wende’, einem neuen interesse an er-scheinungen des Prekären, und hat insgesamt eine dystopische note.67

Bei Kirino natsuo (geb. 1951) heißt die Dystopie ‘Bubblonia’, reich der geplatzten Seifenblasen.68 Die Autorin nimmt das japanische System in zahlreichen ihrer Werke auf zuweilen morbide Weise unter Beschuss, ein

64 Vgl. Lisette Gebhardt: «nach einbruch der Dunkelheit» – zeitgenössische japanische Li-teratur im Zeichen des Prekären (Berlin 2010) [reihe zur japanischen Literatur und Kul-tur – Japanologie Frankfurt 1] 274.

65 Vgl. ebd.66 n.n.: Jinsei heisei no kōtō yūmin – ‘teishoku nashi’ demo komaranai junbungakuteki

na ikikata, in: Aera 12.36 (666) (Sept. 1999) 6–9. 67 Vgl. L. Gebhardt: Von «Bubblonia» bis 1Q84, 456–457.68 Vgl. ebd., 458.

Das Geld in der japanischen Literatur 85

literarisches motiv, das Lisette Gebhardt als ‘Bubblonia-Bashing’69 be-zeichnet hat. Kritisch hinterfragt wird das kapitalistische System bei-spielsweise in ihrem roman oUT (Die Umarmung des Todes, 1997),70 der unter anderem die Ausbeutung von Fabrikarbeitern thematisiert.

Das Thema Geld wird konkret in Kakuta mitsuyos (geb. 1967) roman economikaru paresu (Wirtschaftspalast, 2002)71 thematisiert. Kakuta mi-zuyo, die als prototypische Freeter-Autorin gilt, beschreibt darin eine 34-jährige Universitätsabsolventin, die sich durch Teilzeitarbeit über Wasser hält, was aber bald zu Spannungen mit ihrem Partner führt. Ver-suche, ihrem Leben einen Sinn zu geben, scheitern. Am ende kreist die Welt der Protagonistin, die «den Verlockungen des Konsums nicht wider-stehen kann, einzig um Geld».72 Gleichzeitig sieht sie sich aber als aus dem ökonomischen Palast Ausgestoßene.

Zahlreiche weitere Werke nach 1990 handeln davon, wie versucht wird, existentielle Leere, soziale isolation und zerrüttete Familienbeziehungen durch Geld und Konsum auszufüllen. Auch Yokomori rikas (geb. 1963) roman Bogichin. Baburu junai monogatari (Tokyo Girl, 1994)73 kreist um Gier nach Geld und materiellem Besitz, die den einzigen inhalt der Be-strebungen der Protagonistin bilden. ihre Versuche, existentielle Leere durch Geld und Konsum zu kompensieren, sind zum Scheitern verurteilt.

Shimada masahikos (geb. 1961) Kurzprosa Niira ni naru made (Bis ich zur mumie werde, 1990),74 in dem sich der Protagonist aus dem großstäd-tischen Leben zurückzieht, um in der natur zu verhungern, ist eine dezi-dierte Absage an Japans Konsumgesellschaft. Vor seinem rückzug ver-spielt die Hauptfigur sein ganzes Vermögen beim Pachinko-Spiel und de-monstriert auf diese Weise seine Verachtung des Geldes.75

69 Lisette Gebhardt: «Bubblonia-Bashing: Kirino natsuos Bedeutung für die zeitgenös-sische japanische Literatur», in: eduard Klopfenstein (Hg.): Japanische Schriftstelle-rinnen 1890–2006 (Bern 2007) [Asiatische Studien LXi.2] 447–469.

70 Kirino natsuo: oUT, 2 Bde. (Tōkyō 2002–2004) [Kōdansha bunko]; Kirino natsuo: Die Umarmung des Todes, übers. von Annelie ortmanns (münchen 32003).

71 Kakuta mitsuyo: ekonomikaru paresu (Tōkyō 2005).72 Vgl. L. Gebhardt: «nach einbruch der Dunkelheit», 105.73 Yokomori rika: Bogichin. Baburu junai monogatari (Tōkyō 2005) [Shūeisha bunko];

Yokomori rika: Tokyo Girl, übers. von nora Bierich (münchen 2009).74 Shimada masahiko: miira ni naru made, in: ders.: Arumajirō o (Tōkyō 1991).75 Vgl. L. Gebhardt: «nach einbruch der Dunkelheit», 215.

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eine ironische Thematisierung findet sich in machida Kōs (geb. 1962) erzählung Meoto chawan (Teetassenset für sie und ihn, 1997).76 Der ar-beitsscheue Protagonist Yamauchi beschließt darin, seiner Frau zuliebe eine Arbeit zu suchen und macht sich hierbei spekulative Gedanken zum Geldverdienen. er erdenkt sich den Berufsstand eines Teetassenwäschers und rechnet sich akribisch aus, was er dabei verdienen würde.

Das Thema Geld findet auch in einer Filmkomödie von Yaguchi Shinobu (geb. 1967) mit dem Titel Himitsu no hanazono (Sakikos geheimer Schatz, 1997) eine parodistische Verarbeitung. Die Protagonistin Sakiko verspürt schon seit ihrer Kindheit eine tiefe Faszination für Geld. Sie wird deshalb Kassiererin in einer Bank. Als die Bank überfallen wird, fliehen die räuber mit Sakiko als Geisel zum Berg Fuji, wo sie zusammen mit dem Geld in eine Schlucht stürzen. Um das Geld zu bergen, beginnt Sakiko ein Geologie-studium und tut alles, um an den Schatz zu gelangen. Später stellt sich dann heraus, dass Geld doch nicht ihr größtes Ziel im Leben ist.

Konsum und Geld bleiben also auch nach den 1980er Jahren noch Leit-thema der japanischen Literatur, werden aber nach 1990 zusehends kritisch beurteilt. Alternativen werden allerdings kaum formuliert, die Figuren sind orientierungslos und verharren in einem passiven, unerfüllten und muße-entfremdeten Gefühl des Wartens auf ein besseres Leben, ähnlich wie es Luc Boltanski in seinem Buch Die Vorhölle für Frankreich ausführt.77

es stellt sich hier die Frage, ob in der Prekariats-Literatur nicht ein op-ferbewusstsein (higaisha ishiki) kultiviert wird, das der Politikwissenschaft-ler maruyama masao bereits in der nachkriegszeit an der japani schen Ge-sellschaft kritisiert hatte.78 Die Post-Bubble-Literatur scheint ähnlich wie diejenige der Buraiha der unmittelbaren nachkriegszeit eine existenz-weise des Habens zu verkörpern, die sich danach sehnt, eine existenzweise des Seins zu sein, aber aufgrund mangelnder Tatkraft und des Fehlens von Gegenentwürfen orientierungslos im des Habens verharrt.

eine der wenigen alternativen Gesellschaftsmodelle formuliert mura-kami ryū (geb. 1952) in seinem roman Kibō no kuni no ekusodasu (exo-

76 machida Kō: meoto chawan (Tōkyō 1997).77 Luc Boltanski: Die Vorhölle (Berlin 2011). 78 maruyama masao: Denken in Japan, in: ders.; Wolfgang Schamoni, Wolfgang Seifert

(Hg./übers): Denken in Japan (Frankfurt am main 1988) 21–88, hier 23.

Das Geld in der japanischen Literatur 87

dus ins gelobte Land, 2000).79 Das Werk beschreibt eine Gruppe von Schulverweigerern, die in Hokkaido einen mini-Staat außerhalb der Ge-sellschaft mit seiner eigenen Gesetzgebung gründen. Als Folge ihres miss-trauens gegenüber dem globalen Wirtschaftssystem geben die Jugend-lichen eine alternative Währung aus. Zugleich übernehmen sie die politi-sche Leitung der region und fördern umweltfreundliche Technologien. Das Buch zierte im Sommer 2000 sämtliche Bestsellerlisten in Japan und gab Anlass zu heftigen Diskussionen über die aktuellen Probleme der ja-panischen Gesellschaft.80

Post-Fukushima-Literatur81

Zur Literatur nach Fukushima liegen noch nicht so viele Studien vor. es scheint allerdings, dass die einschneidenden ereignisse die Lethargie, in der sich Japan seit längerem befindet und die noch in der Post-Bubble-Literatur deutlich zum Vorschein kommt, gründlich aufgerüttelt haben. Luxusleben und Konsumverhalten werden nun in verstärktem maß Ziel-scheibe der Kritik, was sich besonders im Genre des essays widerspiegelt, der nach 2011 zum beliebten Ausdrucksmittel wird. Gefordert werden nun konkret ein Umdenken und eine nachhaltige Lebensweise. Der kon-trovers diskutierte Schriftsteller und Gouverneur von Tōkyō, ishihara Shintarō (geb. 1932), bezeichnete die Dreifachkatastrophe bekanntlich als Strafe des Himmels (tenbatsu) für die Selbstsucht (gayoku) und Geldgier (kinsenyoku), die gleichsam zur identität der Japaner geworden sei.82 Auch die Schriftstellerin Yoshimoto Banana (geb. 1964) diagnostiziert bei den Japanern Unterwerfung unter die macht des Geldes unter Vernachlässi-gung der anstehenden Probleme. Deren eigentliches Wesen lokalisiert sie aber im Willen, dem Gemeinwohl zu dienen, wobei sie hier in gewisser

79 murakami ryū: Kibō no kuni no ekusodasu (Tōkyō 2000).80 Vgl. isa Ducke (rezension): murakami ryū: Kibō no kuni no ekusodasu, in: Japanstu-

dien 16 (2004) 329–332.81 Die informationen und Buchtipps zur Post-Fukushima-Literatur erhielt ich im Wesent-

lichen von Professor Lisette Gebhardt (e-mails vom 16.1.2013 und 17.1.2013). 82 Vgl. Asahi.com. (14.3.2011) http://www.asahi.com/special/tokyo/TKY201103140356.

html. (17.1.2012).

88 Simone müller

Hinsicht in den im nihonjinron (Japandiskurs) – der übrigens nach Fuku-shima wieder Konjunktur hat83 – gepflegten mythos des Gemeinschafts-sinns der Japaner, der individuelles Gewinnstreben dem Wohl der Ge-meinschaft nachordnet, zurückfällt.84 nach Fukushima zeigt sich somit nicht nur ein Bedürfnis, das den Profit in den Vordergrund stellende Sys-tem kritisch zu hinterfragen, sondern auch der impuls, den Bedingungen nachzuspüren, die ein solches System ermöglicht hatten.

Auch murakami Haruki (geb. 1949) reflektiert seit Fukushima seine Verantwortung mit neuer Vehemenz. Bei der Preisvergabe des Premi in-ternacional Catalunya 2010 in Barcelona appellierte er dezidiert an die Verantwortung der Bürger, die jahrelang ein auf Profitdenken und nut-zenmaximierung basierendes System befürwortet oder schweigend ak-zeptiert hatten und sich von Staat und Wirtschaft manipulieren ließen. Die japanische Gesellschaft sei deshalb maßgeblich mitverantwortlich an den missständen, die nun durch Fuku shima auf tragische Weise zum Vor-schein kamen.85

in der Belletristik kommt der Kapitalismus nun direkt unter Beschuss. Zu nennen ist hier ikezawa natsuki (geb. 1945), der sich bereits seit län-gerem als kritisch-engagierter Schriftsteller positioniert. in dem Werk Haru o urandari wa shinai: Shinsai o megutte kangaeta koto (Dem Früh-ling will ich nicht grollen: Gedanken anlässlich der erdbebenkatastrophe),86 das sich kritisch mit der Dreifachkatastrophe und deren nachwirkungen befasst und zukünftige Aufgaben der Politik formuliert, gibt ikezawa sei-ner Hoffnung Ausdruck, dass man «den kapitalistischen Glauben an den mythos vom Wachstum aufgeben und eine neue Zivilisation anstreben»87

83 Vgl. hierzu Steffi richter: Das ende des «endlosen Alltags»? Post-Fukushima als Japan-Diskurs, in: Steffi richter, Lisette Gebhardt (Hg.): Japan nach «Fukushima». ein System in der Krise (Leipzig 2012) 91–133.

84 Yoshimoto Banana: ein weiter Weg, in: greenpeace magazin 4 (11.4.2011) (http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=6457) (17.1.2012).

85

murakami Haruki: As an Unrealistic Dreamer: Catalunya international Prize Speech (10.6.2010) http://www.senrinomichi.com/?p=2913 (17.1.2012).

86

ikezawa natsuki: Haru o urandari wa shinai: shinsai o megutte kangaeta koto (Tōkyō 2011).

87 Vgl. Lisette Gebhardt: «ich habe die ganze Zeit darauf gewartet, dass dieser Tag kom-men möge». Positionen japanischer Autoren nach «Fukushima», in: S. richter, L. Geb-hardt (Hg.): Japan nach «Fukushima», 171–205, hier 186.

Das Geld in der japanischen Literatur 89

müsse, und auch murakami ryū gibt in einem Artikel in der New York Times der Hoffnung auf ein Umdenken in der japanischen Gesellschaft Ausdruck.88 Takahashi Gen’ichiros (geb. 1951) erzählung Koi suru gen-patsu (Das verliebte Atomkraftwerk)89 schließlich ist eine Parodie auf die Kommerzialisierung des gesamten japanischen Lebens. es zeigt sich somit sowohl in der gegenwärtigen japanischen Gesellschaft als auch in der Literatur ein wachsendes Bedürfnis oder zumindest der Appell, Selbstverantwortung zu übernehmen und an der zukünftigen Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse mitzuwirken.

Schlussbemerkungen

in den obigen Ausführungen habe ich zu zeigen versucht, dass durch eine motivgeschichtliche Untersuchung des Geldes in der japanischen Litera-tur ein Psycho- und Soziogramm über Welt- und Wertvorstellungen der japanischen Gesellschaft gezeichnet werden kann. Allerdings greift der Anspruch einer sich durchhaltenden Zuordnung Japans zu einer Seins- oder Habenkultur – wie etwa von erich Fromm postuliert oder von Chris-toph Deutschmann und rudolf Wolfgang müller kontrovers diskutiert –, zumindest was die Literatur anbelangt, zu kurz. Vielmehr gibt es Perio-den, in denen mehr Haben-Literatur und Perioden, in denen mehr Seins-Literatur geschrieben wird. in Zeiten finanziellen Wohlstands neigt auch die Literatur zu einem Haben-modus, wobei sich gleichzeitig Gegendis-kurse formieren. in politischen übergangszeiten kommt mehr eine Seins-Literatur zum Tragen. in stark einschneidenden Perioden, die geprägt sind von ökonomischer Verunsicherung, zeigt sich tendenziell eine mischform zwischen einem Haben- und einem Seins-modus. Das Bild ist natürlich noch vage und müsste durch weitere Quellenuntersuchungen geschärft und ausgearbeitet werden.

Die skizzierte motivgeschichte des Geldes in der japanischen Literatur zeigt außerdem auf, dass Georg Simmels Philosophie des Geldes auch auf

88 murakami Haruki: Amid Shortages, a Surplus of Hope, in: The new York Times (16.3.2011).

89 Takahashi Gen’ichirō: Koi suru genpatsu (Tōkyō 2011).

90 Simone müller

Japan zu greifen scheint. Gerade in der Literatur der Post-Bubble-Ära manifestieren sich zunehmend vereinsamte, entwurzelte, sozial isolierte und aus Familiennetzwerken herausgerissene Protagonisten, die zwar das profitorientierte System in Frage stellen, gleichzeitig aber ersatzgebor-genheit im Konsum, in materiellem Besitz und im Geld suchen, letztlich aber in einem unbefriedigten Gefühl der Leere und des perspektivelosen Wartens verharren.

Kritik an profitorientierten Strukturen werden bereits in der edo-Zeit und insbesondere dann in der meiji-Zeit sichtbar, unter anderem in Form des ‘zeitlosen romans’ von natsume Sōseki oder der Ästhetisierung des eine instrumentalisierung für die interessen des profitorientierten Staates verweigernden kōtō yūmin. Hier werden Gegenwelten formuliert, die sich dezidiert kritisch gegen existenzformen des Habens absetzen und existenz-formen des Seins formulieren. es handelt sich hierbei jedoch um indivi-duelle und nicht um gesellschaftliche Alternativmodelle, die außerdem einen gewissen Wohlstand voraussetzen.

eine Ausnahme bildet murakami ryūs roman Exodus ins Land der Hoffnung, der ein konkretes, literarisch formuliertes alternatives Gesell-schaftsmodell bereit stellt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass das Werk zur inspiration und zur Vorlage für Karatani Kōjins oben erwähntes Projekt The New Associationist Movement (nAm) wurde. Hier zeigt sich, dass Literatur das Vermögen hat, alternative modelle und Ge-gendiskurse zu formulieren, die Vorbildcharakter für eine realisierung in der Praxis haben. Literatur eignet somit die Kraft, existenzformen des Seins zu formulieren und den Leser zur reflexion oder gar zum Handeln zu veranlassen. Hierin liegen unter anderem die Funktion der Literatur und der Wert, sich mit ihr zu beschäftigen. nicht ganz zufällig werden auf dem japanischen, und ja auch auf dem Schweizer Geld überwiegend Den-ker, Literaten und Künstler abgebildet. Literatur und Kunst vermitteln geistige Werte und sind deshalb ein wichtiges und anerkanntes kulturelles Kapital einer Gesellschaft.