„creating a spontaneous bop prosody“: US-Import und literarische Rhythmik im Werk Rolf-Dieter...
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Burkhard Meyer-Sickendiek:
„creating a spontaneous bop prosody“:
US-Import und literarische Rhythmik
im Werk Rolf-Dieter Brinkmanns
Während die Literaturprodukte der BRD gegen Ende der fünfziger Jahre nicht einmal Verweise auf aktuelle Gegenstände enthalten, die genormtes Verhalten löcherig machten – die Stirnlocke Bill Haleys, das wunderbare, wirre, aufregend schöne Geschrei Little Richards, Buddy Hollies Balladen oder den Rock Elvis Presleys […], sondern sich mit dem Bekannten weiterhin aufblähten wie fränkische Kirschbäume, nordische Flechten, die Heiterkeit eines Sommernachmittags (unter hohen Bäumen) etc., ließ sich die Beat-Generation wenigstens von den Stars der Jazz-Szene anregen: Miles Davis, mit dem Rücken zum Publikum, Thelonius Monk, leicht irr und wie weggetreten … Kerouac schrieb Bob-Prosodien, eine Prosa, die das starre grammatikalische Gerüst wegschwemmte, den Mexiko-City Blues, Lyrik, die nach Jazz-Arrangements strukturiert war, oder nehmen Sie die rhapsodischen Ausschweifungen des frühen Allen Ginsbergs, die im Kühlschrank gefrorenen Bilder bei Burroughs … eine sich andeutende Erweiterung der Kunst, deren Form sich nach dem vorgefundenen Material richtete. Gleichzeitig wurde der aus Europa importierte, künstlich am Leben gehaltene Werkbegriff aufgegeben.1
Dieses Zitat stammt aus dem sicher wichtigsten Essay Rolf Dieter Brinkmanns, aus Der Film in
Worten von 1969. Es erstaunt vor allem angesichts der Kombination zweier eher selten
miteinander verknüpfter Themenfelder: Der US-amerikanischen Avantgarde der 1950er und
1960er Jahre einerseits, der vor allem aus den Verslehren des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts
bekannten Kategorie der „Prosodie“ andererseits. Brinkmanns Zitat ist eine Paraphrase aus einer
Widmung Allen Ginsbergs, die sich in dessen 1956 erschienenem Gedichtband Howl and Other
Poems findet und dem Werk Jack Kerouacs gilt. Nach Ginsberg sei Kerouac der „new Buddha of
American prose“ und Verfasser von „eleven books […] creating a spontaneous bop prosody and
original classic literature.“2 Offenkundig also hat die Kategorie der Prosodie im Sinne einer
spezifischen literarischen Rhythmik in den 1950er Jahren eine Aktualisierung erfahren, die sie zur
Beschreibung der seinerzeit aktuellen Beatliteratur kompatibel machte. Denn zweifellos wären
jene Verslehren, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in den Klassikern dieser
Wissenschaft wie etwa Fritz Sarans Deutscher Verslehre von 1907, Andreas Heuslers Deutscher
Versgeschichte von 1925, Wolfgang Kaysers kleiner deutscher Versschule von 1946 oder Felix Trojans
Prolegomena zu einer Metrik von 1952 entwickelt wurden, für eine Beschreibung von Kerouacs
Debütroman On the Road oder Allen Ginsbergs Howl nur unzureichend geeignet.
1 Brinkmann: Der Film in Worten, in: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos,
Collagen 1965-1974, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 229f. 2 Allen Ginsberg; Howl and other Poems, San Francisco 1956, S. 3.
2
Worin aber, dies ist die in diesem Beitrag zu beantwortende Frage, liegt diese Erneuerung der
Prosodie? Ich möchte die Antwort schon jetzt geben, um sie dann im Folgenden ausführlich zu
erläutern. Drei wesentliche Dinge ändern sich im Konzept der Prosodie, wenn wir diesbezüglich
die US-amerikanische Nachkriegs- und Beatliteratur in den Blick nehmen. Erstens wird der
Begriff der Rhythmik im Konzept einer lebensweltlichen Phänomenologie verankert und so von
seiner ausschließlichen Fixierung auf die Metrik gelöst; zweitens wird die prosodische Rhythmik
zunehmend an der US-amerikanischen Alltagssprache als einer sogenannten „stress-timed-
language“3 orientiert; und drittens entwickelt sich in der Nachkriegs- und Beatlyrik ein sehr klares
graphisches Gestaltungsprinzip, um die je spezifische rhythmische Beschaffenheit eines
Gedichtes, aber auch eines Prosatextes zu illustrieren. Diese US-amerikanischen Überlegungen
zur Prosodie können als elementare Lösung zentraler Fragen verstanden werden, die sich in den
genannten Verslehren der ersten Jahrhunderthälfte, also in den bis dato bekannten Überlegungen
zur Prosodie entwickelten.
Vor diesem Hintergrund erklärt sich die neue Aktualität dieser Disziplin, auch und gerade in
einem so avancierten Essay wie Brinkmanns Der Film in Worten. Denn dessen Grundlage ist
zweifellos der Import US-amerikanischer Lyrik und Beatliteratur, die Brinkmann von allen
deutschsprachigen Schriftstellern der Nachkriegszeit sicher am intensivsten zur Kenntnis
genommen hat. Unter dem Stichwort spontaner „Bop-Prosodien“ verbirgt sich also ein
ausgesprochen komplexer Diskurs über Metrik, Rhythmik, Atmung, Verszeilengestaltung und
Intonation, die Brinkmann in seinem Werk ausgiebig rezipierte. Allerdings ist Brinkmanns US-
Import kein heroischer Einzelfall: Als weitere Beispiele für die an Beat- und Jazzliteratur
orientierte Lyrik der 1960er und 1970er Jahre wäre etwa die Lyrik Ernst Jandls, Jürgen
Theobaldys, Nicolas Borns oder Günter Herburgers zu nennen. Vor allem aber sind die in den
1960er Jahren entstandenen Reflexionen zur neuen literarischen Prosodie von den Arbeiten
Walter Höllerers rezipiert und durchdacht worden, wie noch zu zeigen ist. Für eine
weiterreichende Untersuchung dieser Zusammenhänge wäre eine ganze Reihe von Texten zu
bearbeiten, ich möchte in chronologischer Reihenfolge nur die wohl wichtigsten nennen:
a) Höllerers 1959 verfasstes, kurzes Nachwort zu der deutschsprachigen Ausgabe von
Ginsbergs Howl unter dem Titel Das Geheul und andere Gedichte,
b) Die gemeinsam von Walter Höllerer und Gregory Corso herausgegebene Anthologie
Junge amerikanische Lyrik von 1959,
3 Vgl. zu dieser in der Linguistik freilich umstrittenen Kategorie vor allem: Kenneth L. Pike: The intonation of
American English, in: D. Bolinger (ed.): Intonation. Harmondsworth 1972, S. 53-83; David Abercrombie: Elements
of General Phonetics, Edinburgh 1967.
3
c) Das Nachwort Hans Magnus Enzensbergers zu seiner 1962 veröffentlichten Übersetzung
und Edition der Gedichte von William Carlos Williams,
d) Die Nachworte Klaus Reicherts sowohl zu seiner Übersetzung der Gedichte Robert
Creeleys als auch Charles Olsons, beide 1965 im Suhrkamp-Verlag erschienen,
e) Das Nachwort Walter Höllerers zu seiner Edition Theorie der modernen Lyrik von 1965,
f) Das Vorwort Rolf-Dieter Brinkmanns zu der von ihm zusammengestellten Sammlung
mit dem Titel Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte von 1969,
g) Rolf Dieter Brinkmanns Vorwort mit dem Titel Notizen aus seiner gleichfalls 1969
veröffentlichten Anthologie Neuer amerikanischer Lyrik mit dem Titel Silver Screen,
h) das Nachwort Rolf-Dieter Brinkmanns zu dem von ihm und Ralf-Rainer Rygulla 1969
edierten Band ACID. Neue amerikanische Szene.
i) Die Übersetzungen der Werke William S. Burroughs durch Katharina und Peter Behrens,
von The Naked Lunch (1959, dt. 1962), The Soft Machine (1961, dt. 1971), The Yage Letters
(1963, dt. 1964) bis zu Nova Express (1964, dt. 1970)
Wenn man die Frage stellt, welche amerikanischen Autoren für die neue Prosodie von Relevanz
waren, dann ergibt sich dies aus der Liste eben dieser Übersetzungen sowie deren Vor- und
Nachworte. Es ist vor allem William Carlos Williams und dessen Theorie des variable foot, die in
Deutschland wohl erstmals durch Hans Magnus Enzensberger populär geworden ist , aber auch
eine entscheidende Rolle in Höllerers Theorie der modernen Lyrik spielt. Zweitens wäre Ginsbergs
Howl sowie Kerouacs On the Road zu nennen, insofern diese die Erfinder der „Bop-Prosodie“
sind, welche im Falle Ginsbergs jedoch auch aus der für Howl sehr einflussreichen Lyrik von
Williams hervorging. Drittens ist der entscheidende theoretische Beitrag zu dieser Thematik
Charles Olsons sehr zentraler Aufsatz über den projective verse, der in Zusammenarbeit mit einem
weiteren wichtigen Autor der sogenannten Black Mountain Group, Robert Creeley, entstand und in
Deutschland ebenfalls durch Höllerers Theorie der modernen Lyrik bekannt wurde. Viertens wichtig
sind Frank O’Hara und dessen Gelegenheitsgedichte, im Amerikanischen als „I do this, I do that
poems“ bezeichnet, die ihre Bekanntheit in Deutschland insbesondere den
Vermittlungsbemühungen Rolf Dieter Brinkmanns verdanken.4 Und schließlich spielt auch in der
cut-up Technik der von Peter Behrens übersetzten Romane William S. Burroughs die Rhythmik
eine besondere Rolle, wie noch zu zeigen ist.
4 Vgl.: Agnes C. Mueller: Blicke, westwärts: Rolf Dieter Brinkmann und die Vermittlung „amerikanischer“ Lyrik, in:
Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts-westwärts ; Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk
Rolf Dieter Brinkmanns, hg. v. Gudrun Schulz, Vechta 2001, S. 190-206.
4
In der Forschung zum Werk Rolf Dieter Brinkmanns wurde in der Liste dieser Importe der
Schwerpunkt bisher auf den Einfluss der Lyrik Frank O’Haras gelegt5, vor allem in einer von
Dieter Lamping betreuten Dissertation Agnes C. Müllers über die Rezeption US-amerikanischer
Lyrik seit Beginn der 1960er Jahre.6 Auch wurden die Bezüge zur Beatliteratur untersucht, was
vor allem für Kerouacs On the Road7 sowie für die cut up-Technik gilt, wie sie Burroughs in den
1960er Jahren in Zusammenarbeit mit Brion Gysin entwickelte. Deren Einfluss auf Brinkmanns
posthum veröffentlichten Materialbände Rom, Blicke, Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung
des Gefühls für einen Aufstand sind bekannt.8 Dagegen aber fehlen Untersuchungen zum Einfluss
von W. C. Williams, vor allem angesichts der Aussage Brinkmanns aus seinem 1974 verfassten
Lebenslauf: „Nach wie vor“, so schreibt er an Hartmut Schnell, „würde ich sagen, daß beide
Autoren, Williams und O‘Hara, mir etwas über Gedichte gezeigt haben, wobei WCW vermut lich
der stärkere Einfluss gewesen ist.“9 Dieser Einfluss ist nicht zu trennen von der Brinkmann
zweifellos bekannten Theorie des projektiven Verses Charles Olsons, die ihrerseits sehr enge
Bezüge zur Lyrik W. C. Williams‘ aufweist, also aus der von Williams entwickelten triadischen
„step-down-line“ und der damit zusammenhängenden Prosodie des variablen Versfusses
hervorging. Insofern diese Überlegungen mit der enormen Popularität der Black Mountain Group
zusammenhingen, die in Deutschland spätestens seit Höllerers Theorie der modernen Lyrik
Bekanntheit erlangte, ist auch von Brinkmanns Kenntnis dieser Poetiken unbedingt auszugehen.
Ich werde im Folgenden in fünf Schritten diese Zusammenhänge darzustellen versuchen.
Zunächst soll die Erneuerung der Prosodie in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund der
Verslehren der ersten Jahrhunderthälfte knapp markiert und in einem zweiten Schritt am Beispiel
der Poetik Walter Höllerers illustriert werden. Ein folgendes Kapitel wird dann den Begriff der
„Bop-Prosodie“ erläutern, also den Einfluss von Kerouacs On the Road und Ginsbergs Howl auf
Brinkmanns Debütroman Keiner weiß mehr von 1968 skizzieren. Ein vierter Abschnitt untersucht
dann die Prosodie des projektiven Verses, also den Einfluss des von Williams entwickelten variable
foot auf Charles Olsons sogenannte Feldkomposition sowie auf einige Gedichte Brinkmanns aus
5 Johannes G. Pankau: Angriffe aufs Monopol: Literatur und Medien. Brinkmanns Aufnahme der US-Kultur, in: Rolf
Dieter Brinkmann, neue Perspektiven: Orte - Helden – Körper, hg. v. Thomas Boyken, Paderborn 2010, S. 161-177.
Jan Volker Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder: Lyrik im Zeitalter der Kinematographie: Blaise
Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann, Göttingen 2007. 6 Agnes C. Müller: Lyrik ‚made in USA‘. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik, Amsterdam, Atlanta
1999, S. 102-152, vor allem S. 113ff. 7 Gerhard Hurm: Rolf Dieter Brinkmann und Jack Kerouac: die leere Utopie des „Einfach -Nur-Da“-Seins, in:
Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne, hg. v. Markus Fauser, Bielefeld 2011, S. 83 -101. 8 Karsten Herrmann: Breakthrough in the Grey Room: Rolf Dieter Brinkmann und William S. Borroughs , in: Prag -
Berlin: Libuše Moníková, hg. v. Delf Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 26-31; Sibylle Schönborn: Bilder einer
Neuropoetik: Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der Schnitte und Erkundungen für die
Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch), in: Medialität der Kunst, a.a.O., S. 213-
228; Sigrid Fahrer: Cut-up: eine literarische Mediendueril la, Würzburg 2005. 9 Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut 19 -19 , hg. v. Hartmut Schnell, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 124.
5
dem Band Westwärts 1&2. Und schließlich thematisiert ein letzter Abschnitt die bisher kaum
untersuchte Prosodie des cut up and fold in. Denn auch diese von William S. Burroughs entwickelte
Collagetechnik kennt grundlegende Rhythmisierungsstrategien, die ihrerseits eine wesentliche
Rolle in Brinkmanns spätem Materialband Rom, Blicke gespielt haben.10
I.
Bekanntlich forderte schon der Phantasus von Arno Holz eine radikale Formerneuerung der Lyrik,
die Holz in seiner Schrift Revolution der Lyrik von 1899 theoretisch formulierte. Zentrum seiner
Lyriktheorie ist der Begriff des Rhythmus, der als lyrisches Formelement absolut gesetzt wird und
an die Stelle der älteren konventionellen Mittel wie Metrum, Reim und Strophenform tritt. Holz
forderte also die Abkehr vom „geheimen Leierkasten“11 der herkömmlichen Metrik im Namen
der Rhythmik, was jedoch nicht gleichbedeutend ist mit einem Plädoyer für eine „freie
Rhythmik“ im Sinne der Goetheschen Hymnen, dieser sei Zeichen einer „Bequemlichkeit“, für
ein „mangelndes Unterscheidungsvermögen“: „Der notwendige Rhythmus, den ich will, darf sich
solche, oder auch nur ähnliche Scherze nicht mehr erlauben.“12 Holzens formale Konsequenz
hinsichtlich dieser Suche ist die berühmte Anordnung der Gedichtzeilen um eine imaginäre
Mittelachse: die Zeilen sind so gedruckt, dass ihre räumliche Mitte mit der Mitte der Seite
übereinstimmt. Im zweiten Artikel für die Zeitschrift für Bücherfreunde schrieb Holz über dieses
Prinzip: „Die letzte ‚Einheit‘ der bisherigen Metrik war der Versfuß. Die letzte Einheit meiner
Rhythmik ist eine ungleich differenziertere: die Zeile.“13
Ohne dass die Überlegungen von Holz diesbezüglich immer bekannt gewesen wären, ist dennoch
davon auszugehen, dass die von Holz geforderte Lösung vom Metrum im Namen der Rhythmik
die wohl wichtigste theoretische Herausforderung der Verslehren der ersten Jahrhunderthälfte
gewesen ist. In seiner Studie Der Rhythmus in der Rede hatte Hans Lösener in diesen Verslehren
nämlich eine sehr vergleichbare „Rhythmusfrage in der deutschen Metrik“ ausgemacht und
folgendermaßen charakterisiert. Fritz Sarans Deutsche Verslehre von 1907 sei demnach ein Beispiel
für die Entschärfung dieser „Rhythmusfrage“, also eine Re-Etablierung der Metrik zuungunsten
einer Autonomisierung der Rhythmik. Nach Saran sei die Vorstellung einer spezifischen
Rhythmik der Sprache sinnlos, komme der Begriff des Rhythmus‘ doch aus dem Tanz und sei
ursprünglich „orchestrisch“. Bei Saran also werde „die Metrik wieder in ihre alten Rechte
10 Vgl. dazu: John Vernon: William S. Burroughs, in: The Iowa Review, Vol. 3, No. 2 (1972), S. 107-123. 11 Arno Holz: Werke: Das Buch der Zeit. Dafnis. Kunsttheoretische Schriften, in: Werke. Bd. 5, hg. v. Wilhelm
Emrich und Anita Holz, Neuwied/Spandau 1962, S. 70. 12 Arno Holz: Revolution der Lyrik. Berlin 1899, S. 45. 13 Arno Holz: Werke. Bd. 5, a.a.O., S. 125.
6
eingesetzt“14. Dagegen forderte Andreas Heusler in seiner zwischen 1925 und 1929 entstandenen
und sehr einschlägigen Deutschen Versgeschichte eine Lösung von der traditionellen Versfußlehre
und gründete seine gesamte Metrik auf einem den Musikwissenschaften entlehnten Taktprinzip.
Nach Lösener basierte diese Überlegung Heuslers auf einer impliziten „Gleichsetzung von
Rhythmus und Takt“, wie umgekehrt Heuslers Rhythmusbegriff musikalische Strukturprinzipien
zugrunde liegen, d. h. begriffe wie etwa „Kadenzen, Takte, Viertelpausen.“15
Wolfgang Kaysers „rhythmische Typenlehre“ aus dessen Klassiker Kleine deutsche Versschule von
1946 wurde aus eben diesem Grunde in der Geschichte der Metrik „zum Antipoden Heuslers“
erhoben, wie Lösener betont. Bei Kayser dient die in der kleinen deutschen Versschule entwickelte
Rhythmiktheorie nämlich nicht als Ersetzung, sondern als eine Ergänzung der umfangreich
dargelegten Metrik. Zudem werden keine – durchaus fragwürdigen – Kategorien der Musiklehre
bemüht, vielmehr zieht Kayser zur Strukturierung seiner Rhythmiktheorie den Begriff des
„Kolons“ heran. Ein Kolon fungiert dabei als Äquivalent zur metrischen Kategorie des
Versfußes, stellt es doch eine Maßeinheit von Betonungsbögen dar, durch die wiederum vier
spezifische rhythmische Typen unterscheidbar werden: der fließende Rhythmus Brentanos, der
strömende Rhythmus Hölderlins, der bauende Rhythmus aus Goethes Spätwerk sowie der
gestaute Rhythmus der Droste-Hülshoff.16
Man kann über die Beispiele Kaysers geteilter Meinung sein: Gerhard Kurz etwa hatte in seinen
„Notizen zum Rhythmus“ durch eine Verschlimmbesserung des Brentanoschen Wiegenliedes –
„Singet lauter, lauter, lauter,/Singt ein kräftig Morgenlied,/Von der Sonne lernt die Weise,/Die
so froh am Himmel zieht“17 – der Kategorie des fließenden Rhythmus‘ eine unverkennbare
Abhängigkeit von der Semantik des Brentanoschen Gedichtes nachgewiesen und so ad absurdum
geführt. Ungeachtet dessen aber bleibt die auch bei Kayser wichtige Frage nach der autonomen
Beschaffenheit der Rhythmik gegenüber Semantik und Metrum bis heute fundamental, wenn
man etwa das in der Forschung mehrfach bemühte Beispiel aus Goethes Erlkönig hinzuzieht:
„Wer réitet so spáet durch Nácht und Wind?/Es ist der Váter mit séinem Kind.“ Christine
Lubkoll betonte bzgl. dieser bekannten Zeilen, dass ihnen ein daktylisches Metrum zugrunde
liege. Man dürfe jedoch in der zweiten Zeile trotz des daktylischen Metrums das Wort „ist“ nicht
betonen, da dies zu Missverständnissen führt: es ißt der Vater mit seinem Kind.18 Um dieses
Missverständnis der Nahrungsaufnahme zu vermeiden, braucht es eine Betonung, die nicht
14 Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede: Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des
Sprachrhythmus, Tübingen 1999, S. 52. 15 Ebd., S. 56. 16 Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule, Bern 1951, S. 100-121. 17 Gerhard Kurz: Notizen zum Rhythmus, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 70 (1992), S.
44f. 18 Christine Lubkoll: Rhythmus und Metrum, in: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, hg. v.
Heinrich Bosse & Ursula Renner, Freiburg 1999, S.103-121, hier S. 109.
7
metrisch, sondern eben rhythmisch ist: Eines der sicher wichtigsten Beispiele für die Autonomie
der Rhythmik.19
II.
Wie klar und deutlich sich die von Rösener sogenannte „Rhythmusfrage in der deutschen Metrik“
nach dem skizzierten US-Import der 1950er und 1960er Jahre beantworten lässt, zeigt die Poetik
Walter Höllerers. Im Grunde sind schon seine berühmten Thesen zum langen Gedicht, 1965 in der
Zeitschrift Akzente formuliert, ein wichtiger Anhaltspunkt. Die Thesen dürften bekannt sein: Der
Dichter solle „alle Feiertäglichkeit weglassen“ und stattdessen „subtile und triviale, literarische
und alltägliche Ausdrücke“ „im langen Gedicht zusammen(fügen)“. Das lange Gedicht sei „im
gegenwärtigen Moment, schon seiner Form nach politisch“, insofern es Möglichkeiten schaffe
„zwischen dem Plakat der Nähe und dem Kalkül der Ferne.“ Und schließlich führe es so „aus der
starrgewordenen Metaphorik, der knarrenden Rhythmik, der bemühten Schriftbildschematik.“20
Diese Thesen sind nicht zu trennen von Höllerers Theorie der modernen Lyrik aus dem gleichen
Jahr, die wiederum ganz vom Import US-amerikanischer Lyriktheorie geprägt ist. Höllerer
bezieht sich in seinem theoretischen Nachwort vor allem auf drei Autoren seiner umfangreichen
Anthologie: „Die Überlegungen von William Carlos Williams über veränderliches Metrum, von
Charles Olson über den projektiven Vers und von Tadeusz Rozewicz gegen die Bildersucht“21.
Ein weiterer wesentlicher Anstoß für die Thesen zum langen Gedicht ist zudem sicherlich die long
line poetry aus Ginsbergs Gedichtband Howl gewesen, dessen Nachwort Höllerer 1959 verfasste.
Ginsberg entwickelte die long-line-poetry aus der triadischen step down line von William Carlos
Williams22, überführte diese jedoch in eine eigene Form, der als entscheidende Maßeinheit eine
Atemlänge im Lesevorgang zugrunde liegt, wie noch zu zeigen ist. Der zweite Impuls der
Höllererschen Thesen ist zudem Williams‘ voluminöses Versepos Paterson, ein in fünf Bänden
veröffentlichtes Gedicht über die 150000 Einwohner große Stadt Paterson in New Jersey, die
schon Hans Magnus Enzensberger mit den Cantos Ezra Pounds oder Pablo Nerudas großem
Gesang verglich. Was Höllerer an diesem Gedicht faszinierte, waren die ab dem zweiten Band
von Paterson einsetzenden und vor allem den fünften Band vollständig prägenden Konzepte
eines „veränderlichen Metrums“, welches Williams in seinem Band I wanted to write a poem als
Entdeckung des variablen Versfußes beschrieb.
19 Vgl. dazu auch:Burkhard Moenninghoff: Rhythmus und Reim als poetogene Struktur, in: Anthropologie und
Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, hg. v. Rüdiger Zymner, Paderborn 2004, S.
242-251. 20 Vgl.: Was alles hat Platz in einem Gedicht?, hg. v. Hans Bender und Michael Krüger, München 1977, S. 8ff. 21 Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 8. 22 Vgl. dazu: Allen Ginsberg: Journals Mid-Fifties: 1954-1958, ed. Gordon Ball. HarperCollins 1995, S. 360f.
8
Höllerer hatte sich mit seinen „Thesen zum langen Gedicht“ von 1965 also nicht nur gegen die
als hermetisch geltende deutsche Nachkriegsgedicht gewendet, sondern vielmehr den Grundriss
einer offenen Poetik entfaltet, die zum einen an den Experimenten Allen Ginsbergs und William
Carlos Williams mit der Lyrik der long line, zum anderen an der Poetik Charles Olsons orientiert
war. Olson bestimmte in seiner 1950 verfassten Theorie des projektiven Verses in Anlehnung an
Maximen der Kinetik, begriff also das Gedicht als Energiefeld bzw. als Medium der
Energieübertragung vom Dichter zum Leser. Er legte dem projektiven bzw. „offenen Vers“ drei
Prinzipien zugrunde: Erstens solle die Dichtung vom Atem und vom Ohr sowohl des Dichters
als auch des Lesers bestimmt sein, zweitens solle sich der Dichter nicht an vorgefügten Formen,
sondern an den Eigengesetzlichkeiten eines jeden Gedichts orientieren. Dies entspricht einer
schon von dem US-Lyriker Robert Creeley formulierten Maxime, nach welcher Form nie mehr
als eine Ausdehnung von Inhalt sein dürfe: „Form is never more than an extension of content“23,
was letztlich einem Verzicht auf überbordende Bildlichkeit und Metaphorik gleichkommt. Beide
Forderungen führen zu einem dritten Prinzip, das ihre poetische Verknüpfung darstellt: „One
perception must immediately and directly lead to a further perception“24: Der Rhythmisierung des
Atems liegt also eine rhythmisierte bzw. rhythmisch fortschreitende Wahrnehmung zugrunde.
Einzelne Zeilen eines Gedichtes richten sich gemäß dieser Poetik also zum einen nach der
Erkenntnisabfolge, zum anderen nach der vom Dichter festgelegten Atemlänge, können also
z. B. mitten im Satz aufhören. Solche Brüche lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf
bestimmte Stellen im Gedicht entsprechend eines prosodischen Atembogens, wie er vor allem in
der gesprochenen Sprache zur Sinnstiftung und zur Zäsur eingesetzt wird. Im Zentrum des
progressiven Verses steht also zum einen die Silbe als kleinstes Element eines Verses, die nach
Olson aus der Verbindung von Ohr und Geist hervorgeht, zum anderen die Zeile, die aus der
Verbindung von Herz und Atem entsteht. Olson bringt diesen Sachverhalt auf die folgende
Formel: “The Head, by way of the Ear, to the Syllable/ the Heart, by way of the Breath, to the
Line”25. Voraussetzung für eine Vollendung des projektiven Verses ist das stimmige Verhältnis
von Zeile und Silbe, den beiden Hauptelementen eines jeden Gedichts, zu Atem und Ohr des
Dichters als ihrem Regulativ.
Höllerer fand für diese Theorie des projektiven Verses eine sehr konzise Umschreibung:
Der physiologische Bewegungsrhythmus (Atmen, Hören, Sprechen) soll sich in den Versen ausdrücken. Die typographische Anordnung der Langzeilen ist dabei wichtig.26
23 Selected Writings of Charles Olson, ed. Robert Creeley, New York 1966, S. 16. 24 Ebd., S. 17. 25 Ebd., S. 19. 26 Höllerer: Theorie der modernen Lyrik, a.a.O., S. 395.
9
Diese Formel umfasst im Grunde drei elementare Beiträge zum Thema, und zwar zum einen die
„long-line-poetics“ aus Ginsbergs Howl, zum zweiten die Rhythmiktheorie von Olson, und zum
dritten die graphische Gestaltung der „step-down-line“, wie sie Williams insbesondere im fünften
Band von Paterson entwickelte. In einer Präzisierung dieser Formel schreibt Höllerer in seinem
Nachwort:
Das Reden (im Unterschied zum Celanschen Schweigen) [...] zielt darauf hin, viele Zeichen, unangreifbare, in den Bewegungsvorgang eines langen Gedichts zu versetzen, die anonyme Beiläufigkeit und die magische Überraschung ohne Aufwand und Verschlüsselung auszusprechen, von ‚Gehör’ und ‚Atem’ auszugehen und so die Richtlinien einer rhythmisch artikulierten, beweglichen Schreibweise zu entwickeln, bei der eine Erkenntnis sofort und unmittelbar in eine weitere Erkenntnis münden kann.27
In diesem Passus sind die drei skizzierten Prinzipien Olsons von Höllerer als Grundlage seiner
Theorie der modernen Lyrik übernommen: Erstens der Aspekt der Offenheit im Sinne einer Lösung
von vorgegebener Metrik, zweitens die Ersetzung der Metrik durch eine Rhythmik, die nicht an
Versfüßen, sondern an Akustik und Aspiration orientiert ist, also am Hören auf die Silbe und am
Atmen innerhalb der Zeile; und drittens eine Rhythmisierung der Wahrnehmung im Sinne einer
Prozesshaftigkeit, die die unmittelbare Abfolge einzelner Erkenntnisschritte zum Prinzip erhebt.
Alle drei Aspekte – Offenheit, textimmanente Rhythmik und prozessualisierte bzw. rhythmisierte
Wahrnehmung – sind Merkmale der von Olson sogenannten „Feld-Komposition“, sie finden
ihren Niederschlag in der folgenden Ausführung aus Höllerers Nachwort:
Die Wörter sind in Bewegung zueinander, nacheinander, aufeinander. Das erfordert den absoluten Rhythmus, den Rhythmus, der sich mit dem Gefühl deckt. Rhythmische Vorfabrikationen, die man im Alltag, auch in der Literatur vorfindet, können dazu verhelfen, eine stimmende, rhythmische Verbindung zu schaffen. Was soll hier der Versfuß nützen? […] Was soll der expressive freie Rhythmus in einer Dichtung, die sich nicht der Gefühle, sondern der durchreflektierten Konstellationen annimmt? Nicht vom freien Rhythmus, sondern vom notwendigen Rhythmus soll die Rede sein. 28
Diese präzise Unterscheidung Höllerers zwischen dem freien und dem notwendigen Rhythmus
muss vor dem Hintergrund der Überlegungen Olsons gelesen, also als Neudeutung der Kategorie
der Rhythmik verstanden werden. Die entscheidende Neuerung der Definition Höllerers
gegenüber den Verslehren Fritz Sarans, Andreas Heuslers, Wolfgang Kaysers oder Felix Trojans
liegt auf der Hand: Während die in diesen Verslehren vollzogene Autonomisierung des Rhythmus
gegenüber der Metrik den Focus auf die gedichtimmanente Rhythmik legte, verbindet Höllerer
die Prosodie mit einer lebensweltlich gegebenen Rhythmik im Sinne einer kontinuierlichen, von
27 Ebd., S. 436. 28 Ebd., S. 425.
10
Prozessen und Wandlungen gekennzeichneten Welt, dies betont der Hinweis: „Rhythmische
Vorfabrikationen, die man im Alltag vorfindet, können dazu verhelfen, eine stimmende,
rhythmische Verbindung zu schaffen.“ Zweitens ist diese Rhythmik am „Sprechen“ orientiert, d.
h. am „Bewegungsrhythmus“ der Alltagssprache. Und drittens legt Höllerer dieser Rhythmik ein
klares graphisches Gestaltungsprinzip zugrunde: die „typographische Anordnung der
Langzeilen“. Was genau dies meint, dürfte aus den nächsten Kapiteln deutlich werden.
III.
Die „typographische Anordnung der Langzeilen“ als Ausdrucksform für den „physiologischen
Bewegungsrhythmus“ des Atmens: Diese knappe Formel aus Höllerers Lyriktheorie ist die wohl
konziseste Umschreibung der „Bop-Prosodie“, wie sie Allen Ginsberg in Howl entwickelte und
auch in On the Road umgesetzt sah. Bei Ginsberg stellt das an den Zeilenanfängen seines 1957
erschienenen Langgedichts Howl leitmotivisch wiederkehrende Relativpronomen „who“ diesen
rhythmischen bzw. typographischen Angelpunkt der „Langzeilen“ dar. Deren entsprechende
Intonation beschrieb Ginsberg folgendermaßen: „Ideally each line of 'Howl' is a single breath
unit. My breath is long — that's the measure, one physical-mental inspiration of thought
contained in the elastic of a breath.”29 Diese auf Atmungsbögen zugeschnittene Langzeilenpoetik
wird in Howl schon in den ersten Zeilen erkennbar:
I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked, dragging themselves through the negro streets at dawn looking for an angry fix, angelheaded hipsters burning for the ancient heavenly connection to the starry dynamo in the machinery of night, who poverty and tatters and hollow-eyed and high sat up smoking in the supernatural darkness of cold-water flats floating across the tops of cities contemplating jazz, who bared their brains to Heaven under the El and saw Mohammedan angels staggering on tenement roofs illuminated, […]30
Wer sich die Intonation dieser einzelnen Langzeilen innerhalb eines Atemzuges nicht
vorzustellen vermag, dem sei Ginsbergs eigene Lesung auf YouTube unter dem link
http://www.youtube.com/watch?v=MVGoY9gom50 empfohlen: In der Tat reicht jeweils eine
Atemlänge für eine einzige Langzeile. Dass diese auffallende Fokussierung der Atmung als
29 Allen Ginsberg: Notes Written on Finally Recording 'Howl.', in: Deliberate Prose: Selected Essays 1952-1995, ed.
Bill Morgan, New York 2000. 30 Allen Ginsberg Howl and Other Poems: Pocket Poets Number 4, S. 9.
11
Prinzip einer neuartigen Prosodie nicht nur in der Lyrik, sondern auch in der Prosaliteratur der
Beatgeneration umzusetzen versucht wurde, zeigt wiederum das folgende Zitat aus einem
Interview mit Kack Kerouac:
Yes, jazz and bop, in the sense of a, say, a tenor man drawing a breath and blowing a phrase on his saxophone, till he runs out of breath, and when he does, his sentence, his statement's been made . . . That's how I therefore separate my sentences, as breath separations of the mind . . . I formulated the theory of breath as measure, in prose and verse, never mind what Olson, Charles Olson says, I formulated that theory in 1953 at the request of Burroughs and Ginsberg. Then there's the raciness and freedom and humor of jazz instead of all that dreary analysis and things like “James entered the room, and lit a cigarette. He thought Jane might have thought this too vague a gesture . . .” You know the stuff.31
Was Kerouac an dieser Stelle über den Einfluss von Jazzmusik auf seine literarischen Verfahren
ausführt, ließe sich folgendermaßen zusammenfassen. Es geht offenkundig darum, die Geste des
Erzählens – „James entered the room, and lit a cigarette“ – durch eine bestimmte, wie das
Saxophonspiel atemlos machende Form der Assoziation zu ersetzen, also statt auf eine
bestimmte Geschehensabfolge vielmehr auf den eigenen Atem zu hören. On the Road enthält also
nicht nur zahlreiche Beschreibungen historischer Bebop-Konzerte in Jazz- und Nachtclubs der
späten 1940er Jahre, wenngleich diese lebendigen Bilder früher Bebop-Sessions einen wichtigen
Aspekt der Popart dieses Romans ausmachen:
The behatted tenorman was blowing at the peak of a wonderfully satisfactory free idea, a rising and falling riff that went from “EE-yah!” to a crazier “EE-de-leeyah!”and blasted along to the rolling crash of buttscarred drums hammered by a big brutal Negro with a bullneck who didn’t give a damn about anything but punishing his busted tubs, crash, rattle-ti-boom, crash. […] A six-foot skinny Negro woman was rolling her bones at the man’s hornbell, and he just jabbed it at her, “Ee! Ee! Ee!32
Ähnlich wie in Ginsbergs Howl geht es in On the road von 1957 jedoch nicht nur um die
Beschreibung von Jazz und Bebop als Kulturprodukt, sondern um die Übertragung musikalischer
Verfahren auf den eigenen Schreibprozess. Dieser Schreibprozess forciert einen Eindruck der
Rast- und Atemlosigkeit, wie er schon Ginsbergs Langzeilen-Poetik prägt. Das zeigt einer der
wohl meist zitiertesten Sätze aus Kerouacs Roman:
The most fantastic parking-lot attendant in the world, [Dean Moriarty] can back a car forty miles an hour into a tight squeeze and stop at the wall, jump out, race among fenders, leap into another car, circle it fifty miles an hour in a narrow space, back swiftly into tight spot, hump, snap the car with the emergency so that you see it bounce as he flies out; then clear to the ticket shack, sprinting like a track star, hand a ticket, leap into a newly arrived car before
31 Safe in Heaven Dead: Interviews with Jack Kerouac, ed . Michael White, S. 81. 32 On the Road: The Original Scroll, by Jack Kerouac, ed. Howard Cunnell, New York 2007, S. 197.
12
the owner’s half out, leap literally under him as he steps out, start the car with the door flapping, and roar off to the next available spot, arc, pop in, brake, out, run; working like that without pause eight hours a night, evening rush hours and after-theater rush hours, in greasy wino pants with a frayed fur-lined jacket and beat shoes that flap.33
Die parataktischen Satzgefüge lassen eine Rastlosigkeit erahnen, die einerseits der inhaltlichen
Hektik des Tagesgeschehens im Leben des Protagonisten Dean Moriarty entspricht, andererseits
jedoch dem “tenor man drawing a breath and blowing a phrase on his saxophone, till he runs out of
breath“. Was Brinkmann im einleitenden Zitat aus seinem Essay Der Film in Worten also als Bob-
Prosodien beschrieb, ist eine solche in Ginsbergs Howl wie auch in On the Road mehrfach
nachzulesende Fokussierung der Atmung bzw. der Atemlosigkeit im Schreibprozess: Ein
Verfahren, dass Brinkmann in seinem Debutroman Keiner weiß mehr von 1968 durch die
leitmotivische Verwebung von immergleichen Bildern, Zitaten und Stereotypen im gepreßten
Atem syntaktischer Perioden in einer nahezu epigonalen Art und Weise mehrfach nachbildete.
Dabei liegt der Unterschied freilich darin, dass der Roman Brinkmanns hauptsächlich in einer
engen Kölner Wohnung aus Vorderzimmer und Hinterzimmer spielt, die Rastlosigkeit also nicht
wie bei Kerouac in den Weiten Nordamerikas, sondern eher im Kopf der Hauptfigur stattfindet.
Deren Phantasie- und Bewusstseinsströme nach den auszehrenden Ausflügen ins Kölner
Nachtleben folgen jedoch einer äußerst ähnlichen non-stop-Prosodie:
Alles war vorher doch zu viel gewesen, das Ausgehen abends, das ständige Weggehen zusammen mit den anderen in den Keller am Ring, die vielen Möglichkeiten, die er sah und die immer außerhalb von ihm persönlich geblieben waren, obwohl er mittendrin saß, am Tisch seitlich der Tanzfläche sitzend und der Musik zuhörend, In The Midnight Hour, von einer Bläsergruppe gespielt, Saxophon und Trompete zu den Gitarren am anderen Mikrophon, anschließend ohne Übergang eine Otis-Redding-Nummer, härter, genauer, der Text vereinzelt dazwischen und zusammen eine Maschine, die weiterrollte, Töne, Musik, ein Schlagen, dicht zusammengedrängt in einem Augenblick das Singen, die Stimme, dazu wieder eine Bläsergruppe von unten hochziehend, laut im Raum um die Bewegungen der Tanzenden herum, aus der er hin und wieder auch sie, seine Frau, auftauchen sah, für ihn deutlich herausgehoben unter den anderen Mädchen ihr Haar, Ihr Gesicht, eine Bewegung, die gerade aufrechte Haltung.34
IV.
Dass Rhythmik ein Leitmotiv in Brinkmanns Ästhetik darstellt, wird deutlich, wenn wir nun auch
den Gedichtband Westwärts 1&2 von 1975 hinzuziehen, der bekanntlich schon im Titel auf
Kerouacs On the Road anspielt. Speziell in den ersten Gedichten dieses Bandes ist eine zweite
zentrale Rhythmustheorie der Beatgeneration umgesetzt, und zwar die im Zitat Jack Kerouacs
33 Ebd., S. 6. 34 Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr: Roman, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 57.
13
schon angedeutete Theorie Charles Olsons über den projektiven Vers. Zweifellos war Brinkmann
diese Theorie durch Höllerers Nachwort aus der Theorie der modernen Lyrik vertraut. Höllerer
dürfte auch für den exzentrischen, den „Betrieb“ verachtenden Brinkmann seit seinem 1959
verfassten Nachwort zu Ginsbergs Howl bzw. seiner 1961 mit Gregory Corso edierten
Anthologie Junge Amerikanische Lyrik neben dem Anglisten Klaus Reichert als wichtigster
Vermittler der für Brinkmann so wichtigen Beatlyrik gegolten haben. Olsons Essay hatte
wiederum seinen wichtigsten Referenten in William Carlos Williams, dessen Gedichte schon 1962
von Enzensberger übersetzt waren; Brinkmann nahm diese Übersetzung nach eigener Aussage
„so um 63, 6 “35 zur Kenntnis und besorgte sich 1965 in London Originalausgaben, u. a.
sicherlich die 1962 erschienenen Sammlung Pictures from Brueghel and Other Poems, wohl aber auch
Spring and All von 1923. Dessen Wirkung lassen zumindest die berühmten, von Brinkmann
imitierten Glimpses-Gedichte erkennen, jene lyrischen Epiphanien der Dinge, bekannt aus dem
wohl berühmtesten Gedicht von William Carlos Williams, The red wheelbarrow:
so much depends upon a red wheel barrow glazed with rain water beside the white chickens.36
Diverse der Gedichte aus Brinkmanns Westwärts 1&2 sind lesbar als eine Lyrik der glimpses im
Sinne von Williams, also als Einfangen flüchtiger Wahrnehmungen wie etwa in Die
Orangensaftmaschine.37 In Westwärts finden sich aber auch sehr vergleichbare Epiphanien der Dinge,
wie insbesondere das Gedicht mit dem Titel Trauer auf dem Wäschedraht im Januar zeigt:
Ein Stück Draht, krumm ausgespannt, zwischen zwei kahlen Bäumen, die bald wieder Blätter treiben, früh am Morgen hängt daran eine
35 Brinkmann: Briefe an Hartmut, a.a.O., S. 39. 36 The Collected Poems of William Carlos Williams, Volume 1: 1909-1939, ed. A. Walton Litz and Christopher
MacGowan, London 1987, S. 224. 37 Pawel Zimniak: Piloten - Orangensaftmaschinen - (Augen)Blicke. Zu Rolf Dieter Brinkmanns
Raumkonstellationen, in: Medialität der Kunst, a.a.O., S. 229-242.
14
frisch gewaschene schwarze Strumpfhose aus den verwickelten langen Beinen tropft das Wasser in dem hellen frühen Licht auf die Steine.38
Vor dem Hintergrund dieser sehr evidenten Bezüge sind nun die weitreichenden Überlegungen
Williams zum „Measure“, d. h. zu dem Zusammenspiel von triadischer step down line und
variablem Versfuß zu prüfen. Sie dominieren einen relativ kleinen Teil seiner poetischen Arbeit,
und zwar zwei Bücher der fünfziger Jahre – The Desert Music und Journey to Love –, sowie Teile von
Paterson V. Dennoch begriff Williams diese Theorie des „Measure“ als „Lösung des Problems der
modernen Vers“, als den „Höhepunkt“ einer zeitlebens andauernden Suche nach einer neuen
Form der Prosodie. Deren Grundfrage ist wie bei Arno Holz: Wie kann man den „Leierkasten“
der Metrik überwinden, ohne in der freien Rhythmik zu landen? Die triadische Anordnung der
jeweils etwas stärker eingerückten Dreizeiler liefert darauf die Antwort, denn ungeachtet der
unterschiedlichen Silbenhäufung in den einzelnen Zeilen geht Williams von deren Isochronie aus:
Sie sind rhythmisch gleichförmig, da sie entweder in der Lesung die gleiche Dauer haben oder
aber über jeweils nur eine Hebung bzw. Betonung verfügen. Der folgende Auszug aus dem
Gedicht Asphodel, that Greeny Flower zeigt dies. Die Sprache ist an der amerikanischen
Alltagssprache orientiert, die graphische Anordnung der einzelnen Zeilen korreliert vollständig
mit einer ziemlich dichten Aufteilung des Textes in Intonationseinheiten:
I have learned much in my life from books
and out of them about love.
Death is not the end of it.
There is a hierarchy which can be attained,
I think, in its service.
Its guerdon is a fairy flower;
a cat of twenty lives. If no one came to try it
the world would be the loser.39
38 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Auflage,
Reinbek bei Hamburg 2005, S. 37. 39 William Carlos Williams: Pictures from Brueghel and Other Poems: Collected Poems 1950-1962, New York 1962,
S. 157.
15
Es ist ganz offenkundig, dass sich Brinkmann in der graphischen Gestaltung seiner Gedichte aus
Westwärts 1&2 an dieser step down line orientierte. Die zeigt etwa sein Gedicht mit dem Titel D-
Zug:
: aus dem heruntergezogenen Fenster das Zeitungspapier wehen lassen, eine Kinderhand, mit dem Papierfetzen daran, das Elend (Ausland), das in diesem Land investiert, sitzt an jeder flüchtig erblickten Straßenecke, traurige, müde Gesichter, ohne Ausdruck, Tränensäcke, Falten um den eingezogenen Mund, eine junge Frau weint vor Erschöpfung in einer zweieinhalb Zimmerwohnung, in der aufgefalteten Architektur der Geometrie, es ist nachts und die Heizungsröhre knacken, Zitat: „das gefährlichste Tier, das existiert, ist der Architekt. Er hat mehr verwüstet als der Krieg.“40
Erkennbar wird der Einfluss Williams‘ durch die graphische Gestaltung, wenngleich Brinkmanns
Textgliederung in mehreren Spalten aufgrund der ineinandergleitenden Textfetzen freilich weit
dynamischer als bei Williams ist. Dass es hier jedoch um ein neues Gestaltungsprinzip geht, zeigt
neben D-Zug auch etwa das Gedicht Westwärts, aber auch das sehr frühe Gedicht Vanille von
1969. Freilich bleibt die entscheidende Frage, ob und inwiefern Brinkmanns Lyrik nicht nur der
graphischen Gestaltung, sondern auch der prosodischen Logik von Williams folgt. Man kann
diese Wirkung nachweisen, muss dazu jedoch einen kleinen Umweg in Kauf nehmen. Der
Einfluss zeigt sich in dem Zusammenspiel von prosodischer Atmung und semantischem
Sinngehalt, wie es dem folgenden Zitat aus Olsons bereits erörtertem Essay über den projective
verse zu entnehmen ist. Olson diskutiert an dieser Stelle eine Passage aus seinem Gedicht The
Praises, das ganz erkennbar eine Variation von Williams step-down line darstellt.41 Er illustriert an
diesem Beispiel den Zusammenhang von Aufstauen und Fortschreiten des Sinnes, der – gemäß
den „margins“ einer Schreibmaschine – aus dem Zusammenspiel von step-down-line (Zeile 1-4)
und long-line (Zeile 5 & 6) entspräche:
40 Brinkmann: Westwärts, a.a.O., S. 182. 41 Das Gedicht findet sich im Original in: The Collected Poems of Charles Olson: Excluding the Maximus Poems, S.
98.
16
„Sd he: to dream takes no effort to think is easy to act is more difficult but for a man to act after he has taken thought, this! is the most difficult thing of all“ Jede dieser Zeilen ist sowohl ein Fortschreiten des Sinnes wie des Atmens, und dann ein Aufstauen, ohne einen Fortschritt oder irgendeine Art von Bewegung außerhalb der Zeiteinheit, die mit der Idee zusammenfällt.42
Der in den sechs Zeilen zunehmende Schwierigkeitsgrad findet demnach seine Entsprechung in
einem erst „fortschreitenden“, dann „aufstauenden“ Atem. Wie wichtig diese Logik der Atmung
wiederum für Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik gewesen ist, zeigt dass mit Abstand bekannteste
Gedicht aus Westwärts 1&2, nämlich das berühmte Einen jener klassischen, ein regelrechtes
Musterbeispiel für eine Feldkomposition im Sinne Charles Olsons:
Einen jener klassischen schwarzen Tangos in Köln, Ende des Monats August, da der Sommer schon ganz verstaubt ist, kurz nach Laden Schluss aus der offenen Tür einer dunklen Wirtschaft, die einem Griechen gehört, hören, ist beinahe ein Wunder: für einen Moment eine Überraschung, für einen Moment Aufatmen, für einen Moment eine Pause in dieser Strasse, die niemand liebt und atemlos macht, beim Hindurchgehen. Ich schrieb das schnell auf, bevor der Moment in der verfluchten dunstigen Abgestorbenheit Kölns wieder erlosch.43
Brinkmanns Gedicht hält einen Moment fest, der zwar ein alltäglicher ist, sich aber weder visuell
noch rein akustisch erfassen lässt. Vielmehr handelt es sich um eine plötzliche, augenblickshafte
Überraschung, die bezeichnenderweise als „Pause“ beschrieben wird, also als ein „die dunstige
42 Charles Olson: Gedichte. Aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Klaus
Reichert, Frankfurt am Main 1965, S. 115f. 43 Brinkmann: Westwärts, a.a.O., S. 35.
17
Abgestorbenheit“ der Stadt Köln kontrastierender Reiz. Wir haben es mit einem mehrfach
variierten Motiv Brinkmanns zu tun: Ein exotischer Moment, der angesichts einer dominant
monotonen Rhythmik des Alltäglichen diskrepant heraussticht, und daher emphatisch registriert
wird. Wie in den Überlegungen Olsons zum „projektiven Vers“, so ist auch die in diesem
Gedicht vorliegende Rhythmik lebensweltlich verankert. Dies zeigt das Motiv der
„abgestorbenen“, also monotonen Großstadt; was darunter genauer zu verstehen ist, zeigt das
den Band Westwärts 1&2 eröffnende Vorwort Brinkmanns, das mit den Worten einsetzt:
Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf [...] die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt macht weiter, die Vorstädte machen weiter.44
Brinkmann beschriebt hier einen die gesamte Lebenswelt des lyrischen Ichs vereinheitlichenden
monotonen Trott, einen unaufhörlich fortschreitenden Rhythmus, den Brinkmann im weiteren
Verlauf des Vorworts folgendermaßen beschreibt: „Es ist Samstagnachmittag, es ist Sonntag, es
ist Montag, es ist Dienstagmorgen, es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es
ist Samstag und Sonntag. Es ist ein erstaunliches Gefühl meine ich, das den Verstand erstaunt.“ 45
Im Gedicht Einen jener klassischen wird diese atemlos machende Abfolge des Immergleichen durch
einen ekstatischen Moment einer ästhetischen Erfahrung kontrastiert , der ein Aufatmen erlaubt.
Dem entspricht die prosodische Struktur: Bildet der auffallend hypotaktische Bau der ersten vier
Strophen, also die Unterordnung von Nebensätzen unter den in der ersten Strophe einsetzenden
Hauptsatz – einen Tango in Köln hören, ist beinahe ein Wunder – die atemlos machende
Stereotypie der Lebenswelt nach, so entspricht der Moment des Atemholens jenem
herausstechenden Moment, der fast an ein Wunder grenzt, und im Gedicht durch die
anaphorische Häufung „Für einen Moment“ suggestiv beschworen wird. Mit dem Doppelpunkt
in der vierten Strophe beginnt somit ein durch die Anapher ausgelöster rhythmischer Bruch, der
punktgenau mit dem inhaltlichen Wandel des Atmosphärischen von Monotonie zu plötzlicher
Exotik übereinstimmt. Er reicht bis zum Ende der fünften Strophe, sodass das Gedicht in den
letzten drei Strophen wieder in den prosaischen Klang seines Anfangs zurückfällt. Ganz wie in
Olsons Deutung seines Gedichtes The Praises geht es in Einen jener klassischen also um das
Zusammenspiel von aufstauendem und fortschreitendem Atem, ums Aufatmen im Moment der
Sinnerfahrung, um einen Moment des Atemholens, des Atemholenkönnens.
44 Ebd., S. 7. 45 Ebd.
18
V.
Ich gehe nun davon aus, dass es neben diesem Einfluss Kerouacs auf die rhythmischen
Verfahren aus Keiner weiß mehr und demjenigen Olsons und Williams‘ auf die Gedichte aus
Westwärts 1&2 noch einen dritten Impuls für Brinkmanns Neudeutung der literarischen
Rhythmik gibt. Bekanntlich bezog sich Brinkmann bei seiner im einleitenden Zitat schon
angeklungenen „Auflösung bislang geltender starrer Gattungseinteilungen“ wie etwa Roman,
Lyrik, Essay oder Theaterstück auch und vor allem auf die cut-up-and-fold-in Methode William S.
Burroughs, die insbesondere seiner von Brinkmann umfangreich rezensierten Nova-Trilogie
zugrunde lag. Entsprechend der Bedeutung von „cut-up“ als „Schnipsel“ bzw. „Notizzettel“
wurden in der Nova-Trilogie ganze Manuskriptseiten in kleine Zettel zerschnitten und ohne
genauen Plan neu angeordnet. Daraus entstand eine assoziative Erzählstruktur, die es dem Leser
erlaubt, in einen beliebigen Teil des Buchs einzusteigen, und sich von dort den Text entwickeln
zu lassen. Durch die cut-up-Technik und den beliebigen Einstieg in das Werk konnte also jeder
Leser seine eigene Perspektive auf den erzählerischen Fortgang entwickeln.
Cut-up and fold-in ist jedoch nicht allein eine Montage und Collage von Materialien im Sinne
etwa der dadaistischen Collagetechnik oder den Decollagen von Fluxus-Künstlern wie etwa Wolf
Vostell. Bei Burroughs fokussiert das cut-up-Verfahren vielmehr menschliche Kommunikation.
Es beschreibt ein auf die kontaminierte menschliche Sprache bezogenes, subversives Verhalten,
eine Form der Dekonstruktion des gesprochenen Wortes. Burroughs cut-up-Verfahren basiert
also nicht nur im Zusammenfügen, sondern im gleichzeitigen Aufbrechen vorgegebener Abläufe.
In The invisible Generation wird dieses Verfahren als eine regelrechte Befreiung beschrieben:
the use of irrelevant response will be found effective in breaking obsessional association tracks all association tracks are obsessional get it out of your head and into the machines stop arguing stop complaining stop talking let the machines argue complain and talk a tape recorder is an externalized section of the human nervous system you can find out more about the nervous system and gain more control over your reactions by using the tape recorder than you could find out sitting twenty years in the lotus posture or wasting your time on the analytic couch listen to your present time tapes and you will begin to see who you are and what you are doing here mix yesterday in with today and hear tomorrow your future rising out of old recordings you are a programmed tape recorder set to record and play back who programs you who decides what tapes play back in present time 46
46 William S. Burroughs: The invisible Generation, in: Word Virus: The William S. Burroughs Reader, ed. James
Grauerholz and Ira Silverberg, New York 1998, S. 222.
19
Wie dies konkret funktioniert, zeigt der Kurzfilm The Cut-Ups, den Burroughs gemeinsam mit
britischen Filmregisseur Antony Balch zusammenschnitt. Diese Montage trug anfangs den
signifikanten Titel Guerilla Condition, sie kombiniert das filmische Material von Szenen und
Personen aus der Beat-Kultur, das zwischen 1961-65 in Paris, Tanger und New York gefilmt
wurde, mit einem ausgesprochen enervierenden Soundtrack. Dieser besteht vor allem aus den
beiden in Endlosschleifen sich wiederholenden Worten „yes“ und „hello?“, die als Bestandteile
einer gängigen Kommunikation einen regelrechten Kurzschluss erzeugen, also durch
rhythmisiertes looping in ihrer kommunikativen Funktion vollkommen ad absurdum geführt
werden: Mit der erkennbaren Absicht, den Zuhörer von gängigen Floskeln zu entfremden und
herauszufordern. Auch diesbezüglich verweise ich auf einen Mitschnitt auf YouTube unter
http://www.youtube.com/watch?v=Uq_hztHJCM4. Deutlich wird die Strategie des cut up als
subversiv rhythmisierte Montage zudem im folgenden Zitat aus dem in ACID abgedruckten und
in Brinkmanns Essay Der Film in Worten paraphrasierten Text Die unsichtbare Generation:
nehmen sie ihren chef und ihre kollegen auf analysieren sie assoziationsmuster lernen sie ihre stimmen zu imitieren oh sie werden in der ganzen firma geschätzt und nicht leicht zu übertreffen sein nehmen sie die körpergeräusche der anderen auf mit versteckten mikrophonen den atemrhythmus die bewegungen der gedärme nach dem essen das pulsieren der herzen schalten sie dann ihre eigenen körpergeräusche ein und werden sie das atmende wort und das pulsierende herz dieser organisation werden sie zu dieser organisation die unsichtbaren brüder fallen in die gegenwart ein je mehr leute wir dazu bekommen können mit tonbandgeräten zu arbeiten desto brauchbarer werden experimente und erweiterungen47
Es ist wohl leicht einsehbar, dass zwischen der von Ginsberg so bezeichneten „spontaneous bob
prosody“ Jack Kerouacs und der hier von Burroughs beschriebenen subversiven Praktik des cut
up eine Weiterentwicklung stattgefunden hat. Kerouac beschrieb eine Form des „Action Writing“
als Form der freien Assoziation, welches z.B. auf die Interpunktion verzichtet und statdessen
etwa durch Gedankenstriche Atempausen anzeigt, so, wie ein Saxophonist zwischen Sätzen Luft
holt, wobei dieses freie Assoziieren im „endlosen Meer der Gedankenwelt“ stattfindet. Über
Burroughs hingegen schreibt Brinkmann 1970, dass dessen cut up and fold in Methode das Ziel
habe, „das zwanghafte Muster bloßen Reagierens auf Wörter zu durchbrechen. Die bekannte Art
der Assoziation ist ersetzt worden durch ein Erzählen in Wortblöcken und Vorstellungsfeldern“,
die Handlung bestehe nur mehr „aus nebeneinandergestellten sowie ineinandergleitenden und
wieder zerschnittenen Stimmen“, aus „den Bewegungen der Stimmen, Mobiles, die sich in dem
aufgeweichten Augenblick jetzt, hier drehen.“ Clou der cut up Technik Burroughs sei die
Befreiung des „Stille-Virus“, die Suche nach dem plötzlichen Moment der Stille gemäß einer in
Der Film in Worten von Burroughs zitierten Wendung: „ein Loch in der Zeit finden“.
47 William S. Burroughs: Die unsichtbare Generation, in: ACID. S. 169.
20
Cut-up and fold-in ist keine bloße Montage, sondern eine subversive Strategie des samplings, das
bei Burroughs die kontaminierte Kommunikation zu befreien versucht: „a dynamic rhythm of
cohesion and fragmentation“, wie John Vernon betonte.48 Bei Brinkmann dagegen richtet sich
eben dieser Impuls der Befreiung eines kontaminierten Vermögens auf die menschliche
Wahrnehmung. Cut up bezeichnet bei ihm eine bestimmte Taktierung der Blicke, eine
Schnitttechnik des Sehens, wie das folgende Zitat aus Rom, Blicke verdeutlicht: „Denn die Blicke
machen ja ständig cut ups! Also hat der Burroughs gar nichts Neues erfunden!“49 Brinkmanns
Fokus liegt also auf der Dekonstruktion der kontaminierten Wahrnehmung, wie auch ein Zitat
Gottfried Benns verdeutlicht, das Brinkmann in Rom, Blicke ganz im Geiste der cut up-Methode
erläutert:
Ich erinnere mich an den Satz bei G. Benn, den ich mehr und mehr begreife, je mehr ich aus der Umwelt sehe: „Entweder ist Leben unbewußt, oder gar nicht“ – das kann doch nur heißen, daß alle Lebensvorgänge, überhaupt alle Lebensimpulse und die verschiedenen Ausprägungen dieses einen einzigen Lebensimpulses gar nicht gewußt sind – und daß es darauf ankommt, Stückchen für Stückchen dem zugänglich zu machen – mit Anstrengung, Beobachtung, Kombination: beobachten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen.50
Wenn Brinkmann in Rom, Blicke seine in ihrer Länge regelrecht exzessiven Briefe an seine Frau
Maleen oder seinen Studienfreund Rainer schreibt, dann geht es ihm offenkundig darum, „mit
Anstrengung, Beobachtung, Kombination“ die ihm in Rom oder den Überlandfahrten
begegnende Lebenswelt bewusst zu machen, und zwar durch eine auf die Wahrnehmung – nicht
wie bei Burroughs auf die Sprache – fokussierte Methode des cut up. Dies genau meint die
Formel „beobachten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen.“ Auf diese Weise macht sich
Brinkmann in Rom, Blicke mit Burroughs auf die Suche nach den „Löchern in der Zeit“. Er sucht
Momente, in denen jene römischen „Straßenszenen“, die er bekanntlich als einen
„durchgehenden Non-Stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen“ 51 empfand, aufbrechen.
Gegen diesen Non-Stop-Horror-Film setzt Brinkmann die Suche nach den „Löchern in der Zeit,
und aus eben dieser Mischung entsteht jener „Rhythmus zwischen Anspannung und
Entspannung – für mich ist er immer wichtig gewesen.“ An anderer Stelle wird dieser Rhythmus
gegenüber Maleen präzise, ja nahezu suggestiv erläutert:
48 „In The Soft Machine Burroughs makes his best use of cutups by establishing with them a dynamic rhythm of
cohesion and fragmentation which becomes the experience of the novel. In the later novels, however, cutups come
to seize their own space, to have less to do with other sections of the novels, except as waste bins to catch those
sections when they d rop. They become stagnant pools of amputated language and space through which the reader
has to wade.“, vgl.: Vernon: Burroughs, a.a.O., S. 122. 49 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 93. 50 Ebd., S. 162. 51 Ebd., S. 34.
21
Atmen, einatmen, ausatmen:dasein:sehen, riechen, fühlen, begreifen: ins Dunkle tasten:denken – ich erzähle dir, Maleen, alle Geheimnisse, die ich weiß. Und Du vielleicht längst weißt? Atmen:ausatmen:sehen:mit dem Zug fahren, noch einmal!:(schaukelndes Eisen, schaukelnder Stahl, innen mit Polstern ausgeschlagen)/: Lust:( „in the swamps“?/:(/:lust englisch:last?)/:eine heulende Sirene der Verkehrpolizei?/:Platzbehauptung? Primatenverhalten physiologisch elendig verankert – dann sind enorme Zeiträume auszuarbeiten! Wozu? Anspannung, Entspannung:ganz einfaches Prinzip!/:Raussehen, nichts denken, träumen!/:(Kann man überhaupt tiefe Träume in Wörtern ausdrücken? Bezweifle ich aber stark! Ist eine Aufgabe. Sehr menschlich).52
Derlei Instruktionen und Anweisungen haben in Rom, Blicke einen kaum zu unterschätzenden
Stellenwert. Wie wichtig bei der Suche nach den „Löchern in der Zeit“ diese instruktiven
Anweisungen der Briefpartner ist, verdeutlicht auch das folgende Briefzitat, in welchem
Brinkmann sich im Zuge der Beschreibung seiner Romempfindungen wiederum an Maleen
richtet:
Ja, Du musst mit mir jetzt hier durchgehen, ich erzähle das alles, um Dir einen Eindruck zu vermitteln, wie einer, ich, eben dadurch geht. Und Du gehst dann, nach einiger Zeit, wenn Du hier bist, selber dadurch. Ist das noch ein Brief? Ich schreibe immerzu an Dich. Hast du das zwischendurch vergessen? (:Diese Unterbrechung ist eigentlich wie eine Zuwendung des Kopfes beim Zusammengehen durch diese Straße runter den Fluß, wie eben zwei Leute, nach einiger Zeit, in einer Unterhaltung, sich einander zuwenden.) (Wie wäre es, wenn Du mir einen Gang an irgendeinem Nachmittag durch Köln erzähltest, wie ein Gang durch den Park […]) Und wir gehen weiter, ich gehe weiter, und jetzt, als ein unsichtbarer Geist, sehr aufmerksam, hellwach, gehst du mit mir weiter. Da gehen wir, ich konkret, und du nebenher als ein unsichtbarer Geist, der, wenn er konkret da wäre, ganz andere Einzelheiten entdeckte, die ich wohl begierig bin zu hören, um sie auch sehen zu können, eine Straße runter in Richtung Tiber. Was würdest Du jetzt sehen? (Anderes! – Ja. Was anderes?)/:Jeder macht Cut-Ups mit seinen Augen, die durch Gedanken und Wertmuster in der Abfolge bestimmt sind. (Das Dritte ist der Gedanke, der die Wahrnehmung steuert, worauf sie fällt.)53
Brinkmanns Briefe an Maleen und Hartmut, die die Grundlage des Textes von Rom, Blicke
darstellen, bringen diese beiden Briefpartner auf Augenhöhe des aktuellen Erlebnisstromes,
sodass sie gleichsam „Schritt halten“ mit dem Romflaneur Brinkmann. Es geht um
Taktgleichheit, um eine imaginiere Synthese zweier Wahrnehmungen im Akt des Schreibens, ein
Verfahren, welches Brinkmann auch im obigen Zitat als „Cut-up“ bezeichnet: „Jeder macht Cut-
Ups mit seinen Augen, die durch Gedanken und Wertmuster in der Abfolge bestimmt sind.“
Diese Schnitte und ihre Abfolge werden in Rom, Blicke aus der dialogischen Perspektive der
voluminösen Briefe realisiert, also durch eine Disziplinierung der Briefpartner, durch deren
52 Ebd., S. 166. 53 Ebd., S. 135.
22
Angleichung an das Lesetempo und den Lauf- und Wahrnehmungsrhythmus des Schreibers
Brinkmann. Es ist eine Synchronisierung der Wahrnehmung von Sender und Empfänger des
Briefes, und zwar im filmischen Sinne, also bzgl. der jeweiligen Einstellungsdauer des Blickes, der
Einzelbildgeschwindigkeit. Das suggestive „wir gehen weiter“ unterstreicht diese Verklammerung
von Blick- und Schriftraum, diese taktgleiche Rhythmisierung von Wanderungs- und
Schreibtempo, der die Briefpartner sich zu fügen haben. Eine identische Funktion haben die
diversen Reise- und Stadtpläne bzw. die Romkarten, in denen Brinkmann seine Passagen, Gänge
und Fahrten durch die Stadt einzeichnet, inclusive signifikanter Haltepunkte, die zu Fundorten
erster Eindrücke und Notizen werden. Es ist also keine Briefkommunikation im herkömmlichen
Sinne, sondern ein Cut-Up und Fold-in im Sinne der zuvor zitierten Anweisungen aus Burroughs
Nova Express: Brinkmann wird das Herz und der Wahrnehmungsrhythmus seines Briefpartners,
gemäß des zitierten Mottos: „werden sie das atmende wort und das pulsierende herz dieser
organisation“. Erst vor diesem Hintergrund erklären sich jene eigentümliche, dem Materialband
beigefügte Straßen- und Landkarten, in denen Brinkmann seine Reiserouten nachzeichnete, und
zugleich in einem bisweilen 15-Minuten-Takt seine Wahrnehmungsereignisse umschreibt:
„ nach Halb : Die Sonne sackt ab“, „Viertel nach der Himmel ein geschmolzenes Gold“,
„Friesach Zehn vor “, „ Uhr: jetzt schon in einem blinden Abendgrau“: Diese Taktierung der
23
Wahrnehmung lässt sich in mehrfacher Hinsicht deuten. Klar dürfte sein, dass sie nicht zum
Wohle, sondern wohl eher zum Leidwesen des Briefpartners formuliert wird, insofern eine
herkömmliche Briefkommunikation sicher etwas anders funktionieren dürfte. Entweder folgen
diese Montagen der Blicke als cut ups also wie bei Burroughs einer gezielt enervierenden bzw.
provokativen Strategie, oder aber es geht in diesem phänomenologischen Stenogramm um die
Suche nach einem Moment der Stille, einem „Loch in der Zeit“. Wie immer dem sei, klar dürfte
sein, dass sich mindestens drei große Schwerpunkte prosodischer Verfahren im Werk
Brinkmanns beobachten bzw. neu entdecken lassen: Zum einen die auf Atemlosigkeit
abzielenden Bop-Prosodien im Sinne Kerouacs und Ginsbergs, wie sie für den Debütroman
Keiner weiß mehr kennzeichnend sind. Zweitens die hochkomplexe rhythmische Lyrik im Sinne der
Feldkomposition Charles Olsons, die diverse Gedichte aus Westwärts 1&2 kennzeichnet;
diesbezüglich muss man Brinkmanns auffallende Verwendung mehrerer Spalten des Textfeldes
auch als Variation der triadischen step-down-line von W.C. Williams verstehen, die ebenfalls eine
Lösung metrischer Monotonie zum Ziel hatte. Und schließlich die subversive, auf der Idee des
Stille-Virus im Sinne Burroughs abzielende Rhythmik des cut-up, wie Brinkmann sie in Rom,
Blicke, aber auch in den Materialbänden Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für
einen Aufstand experimentell erprobte.