„creating a spontaneous bop prosody“: US-Import und literarische Rhythmik im Werk Rolf-Dieter...

23
1 Burkhard Meyer-Sickendiek: „creating a spontaneous bop prosody“: US-Import und literarische Rhythmik im Werk Rolf-Dieter Brinkmanns Während die Literaturprodukte der BRD gegen Ende der fünfziger Jahre nicht einmal Verweise auf aktuelle Gegenstände enthalten, die genormtes Verhalten löcherig machten die Stirnlocke Bill Haleys, das wunderbare, wirre, aufregend schöne Geschrei Little Richards, Buddy Hollies Balladen oder den Rock Elvis Presleys […], sondern sich mit dem Bekannten weiterhin aufblähten wie fränkische Kirschbäume, nordische Flechten, die Heiterkeit eines Sommernachmittags (unter hohen Bäumen) etc., ließ sich die Beat-Generation wenigstens von den Stars der Jazz-Szene anregen: Miles Davis, mit dem Rücken zum Publikum, Thelonius Monk, leicht irr und wie weggetreten … Kerouac schrieb Bob-Prosodien, eine Prosa, die das starre grammatikalische Gerüst wegschwemmte, den Mexiko-City Blues, Lyrik, die nach Jazz-Arrangements strukturiert war, oder nehmen Sie die rhapsodischen Ausschweifungen des frühen Allen Ginsbergs, die im Kühlschrank gefrorenen Bilder bei Burroughs … eine sich andeutende Erweiterung der Kunst, deren Form sich nach dem vorgefundenen Material richtete. Gleichzeitig wurde der aus Europa importierte, künstlich am Leben gehaltene Werkbegriff aufgegeben. 1 Dieses Zitat stammt aus dem sicher wichtigsten Essay Rolf Dieter Brinkmanns, aus Der Film in Worten von 1969. Es erstaunt vor allem angesichts der Kombination zweier eher selten miteinander verknüpfter Themenfelder: Der US-amerikanischen Avantgarde der 1950er und 1960er Jahre einerseits, der vor allem aus den Verslehren des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts bekannten Kategorie der „Prosodie“ andererseits . Brinkmanns Zitat ist eine Paraphrase aus einer Widmung Allen Ginsbergs, die sich in dessen 1956 erschienenem Gedichtband Howl and Other Poems findet und dem Werk Jack Kerouacs gilt. Nach Ginsberg sei Kerouac der „new Buddha of American prose“ und Verfasser von „eleven books […] creating a spontaneous bop prosody and original classic literature.“ 2 Offenkundig also hat die Kategorie der Prosodie im Sinne einer spezifischen literarischen Rhythmik in den 1950er Jahren eine Aktualisierung erfahren, die sie zur Beschreibung der seinerzeit aktuellen Beatliteratur kompatibel machte. Denn zweifellos wären jene Verslehren, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in den Klassikern dieser Wissenschaft wie etwa Fritz Sarans Deutscher Verslehre von 1907, Andreas Heuslers Deutscher Versgeschichte von 1925, Wolfgang Kaysers kleiner deutscher Versschule von 1946 oder Felix Trojans Prolegomena zu einer Metrik von 1952 entwickelt wurden, für eine Beschreibung von Kerouacs Debütroman On the Road oder Allen Ginsbergs Howl nur unzureichend geeignet. 1 Brinkmann: Der Film in Worten, in: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos, Collagen 1965-1974, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 229f. 2 Allen Ginsberg; Howl and other Poems, San Francisco 1956, S. 3.

Transcript of „creating a spontaneous bop prosody“: US-Import und literarische Rhythmik im Werk Rolf-Dieter...

1

Burkhard Meyer-Sickendiek:

„creating a spontaneous bop prosody“:

US-Import und literarische Rhythmik

im Werk Rolf-Dieter Brinkmanns

Während die Literaturprodukte der BRD gegen Ende der fünfziger Jahre nicht einmal Verweise auf aktuelle Gegenstände enthalten, die genormtes Verhalten löcherig machten – die Stirnlocke Bill Haleys, das wunderbare, wirre, aufregend schöne Geschrei Little Richards, Buddy Hollies Balladen oder den Rock Elvis Presleys […], sondern sich mit dem Bekannten weiterhin aufblähten wie fränkische Kirschbäume, nordische Flechten, die Heiterkeit eines Sommernachmittags (unter hohen Bäumen) etc., ließ sich die Beat-Generation wenigstens von den Stars der Jazz-Szene anregen: Miles Davis, mit dem Rücken zum Publikum, Thelonius Monk, leicht irr und wie weggetreten … Kerouac schrieb Bob-Prosodien, eine Prosa, die das starre grammatikalische Gerüst wegschwemmte, den Mexiko-City Blues, Lyrik, die nach Jazz-Arrangements strukturiert war, oder nehmen Sie die rhapsodischen Ausschweifungen des frühen Allen Ginsbergs, die im Kühlschrank gefrorenen Bilder bei Burroughs … eine sich andeutende Erweiterung der Kunst, deren Form sich nach dem vorgefundenen Material richtete. Gleichzeitig wurde der aus Europa importierte, künstlich am Leben gehaltene Werkbegriff aufgegeben.1

Dieses Zitat stammt aus dem sicher wichtigsten Essay Rolf Dieter Brinkmanns, aus Der Film in

Worten von 1969. Es erstaunt vor allem angesichts der Kombination zweier eher selten

miteinander verknüpfter Themenfelder: Der US-amerikanischen Avantgarde der 1950er und

1960er Jahre einerseits, der vor allem aus den Verslehren des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts

bekannten Kategorie der „Prosodie“ andererseits. Brinkmanns Zitat ist eine Paraphrase aus einer

Widmung Allen Ginsbergs, die sich in dessen 1956 erschienenem Gedichtband Howl and Other

Poems findet und dem Werk Jack Kerouacs gilt. Nach Ginsberg sei Kerouac der „new Buddha of

American prose“ und Verfasser von „eleven books […] creating a spontaneous bop prosody and

original classic literature.“2 Offenkundig also hat die Kategorie der Prosodie im Sinne einer

spezifischen literarischen Rhythmik in den 1950er Jahren eine Aktualisierung erfahren, die sie zur

Beschreibung der seinerzeit aktuellen Beatliteratur kompatibel machte. Denn zweifellos wären

jene Verslehren, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also in den Klassikern dieser

Wissenschaft wie etwa Fritz Sarans Deutscher Verslehre von 1907, Andreas Heuslers Deutscher

Versgeschichte von 1925, Wolfgang Kaysers kleiner deutscher Versschule von 1946 oder Felix Trojans

Prolegomena zu einer Metrik von 1952 entwickelt wurden, für eine Beschreibung von Kerouacs

Debütroman On the Road oder Allen Ginsbergs Howl nur unzureichend geeignet.

1 Brinkmann: Der Film in Worten, in: Ders.: Der Film in Worten. Prosa, Erzählungen, Essays, Hörspiele, Fotos,

Collagen 1965-1974, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 229f. 2 Allen Ginsberg; Howl and other Poems, San Francisco 1956, S. 3.

2

Worin aber, dies ist die in diesem Beitrag zu beantwortende Frage, liegt diese Erneuerung der

Prosodie? Ich möchte die Antwort schon jetzt geben, um sie dann im Folgenden ausführlich zu

erläutern. Drei wesentliche Dinge ändern sich im Konzept der Prosodie, wenn wir diesbezüglich

die US-amerikanische Nachkriegs- und Beatliteratur in den Blick nehmen. Erstens wird der

Begriff der Rhythmik im Konzept einer lebensweltlichen Phänomenologie verankert und so von

seiner ausschließlichen Fixierung auf die Metrik gelöst; zweitens wird die prosodische Rhythmik

zunehmend an der US-amerikanischen Alltagssprache als einer sogenannten „stress-timed-

language“3 orientiert; und drittens entwickelt sich in der Nachkriegs- und Beatlyrik ein sehr klares

graphisches Gestaltungsprinzip, um die je spezifische rhythmische Beschaffenheit eines

Gedichtes, aber auch eines Prosatextes zu illustrieren. Diese US-amerikanischen Überlegungen

zur Prosodie können als elementare Lösung zentraler Fragen verstanden werden, die sich in den

genannten Verslehren der ersten Jahrhunderthälfte, also in den bis dato bekannten Überlegungen

zur Prosodie entwickelten.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich die neue Aktualität dieser Disziplin, auch und gerade in

einem so avancierten Essay wie Brinkmanns Der Film in Worten. Denn dessen Grundlage ist

zweifellos der Import US-amerikanischer Lyrik und Beatliteratur, die Brinkmann von allen

deutschsprachigen Schriftstellern der Nachkriegszeit sicher am intensivsten zur Kenntnis

genommen hat. Unter dem Stichwort spontaner „Bop-Prosodien“ verbirgt sich also ein

ausgesprochen komplexer Diskurs über Metrik, Rhythmik, Atmung, Verszeilengestaltung und

Intonation, die Brinkmann in seinem Werk ausgiebig rezipierte. Allerdings ist Brinkmanns US-

Import kein heroischer Einzelfall: Als weitere Beispiele für die an Beat- und Jazzliteratur

orientierte Lyrik der 1960er und 1970er Jahre wäre etwa die Lyrik Ernst Jandls, Jürgen

Theobaldys, Nicolas Borns oder Günter Herburgers zu nennen. Vor allem aber sind die in den

1960er Jahren entstandenen Reflexionen zur neuen literarischen Prosodie von den Arbeiten

Walter Höllerers rezipiert und durchdacht worden, wie noch zu zeigen ist. Für eine

weiterreichende Untersuchung dieser Zusammenhänge wäre eine ganze Reihe von Texten zu

bearbeiten, ich möchte in chronologischer Reihenfolge nur die wohl wichtigsten nennen:

a) Höllerers 1959 verfasstes, kurzes Nachwort zu der deutschsprachigen Ausgabe von

Ginsbergs Howl unter dem Titel Das Geheul und andere Gedichte,

b) Die gemeinsam von Walter Höllerer und Gregory Corso herausgegebene Anthologie

Junge amerikanische Lyrik von 1959,

3 Vgl. zu dieser in der Linguistik freilich umstrittenen Kategorie vor allem: Kenneth L. Pike: The intonation of

American English, in: D. Bolinger (ed.): Intonation. Harmondsworth 1972, S. 53-83; David Abercrombie: Elements

of General Phonetics, Edinburgh 1967.

3

c) Das Nachwort Hans Magnus Enzensbergers zu seiner 1962 veröffentlichten Übersetzung

und Edition der Gedichte von William Carlos Williams,

d) Die Nachworte Klaus Reicherts sowohl zu seiner Übersetzung der Gedichte Robert

Creeleys als auch Charles Olsons, beide 1965 im Suhrkamp-Verlag erschienen,

e) Das Nachwort Walter Höllerers zu seiner Edition Theorie der modernen Lyrik von 1965,

f) Das Vorwort Rolf-Dieter Brinkmanns zu der von ihm zusammengestellten Sammlung

mit dem Titel Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte von 1969,

g) Rolf Dieter Brinkmanns Vorwort mit dem Titel Notizen aus seiner gleichfalls 1969

veröffentlichten Anthologie Neuer amerikanischer Lyrik mit dem Titel Silver Screen,

h) das Nachwort Rolf-Dieter Brinkmanns zu dem von ihm und Ralf-Rainer Rygulla 1969

edierten Band ACID. Neue amerikanische Szene.

i) Die Übersetzungen der Werke William S. Burroughs durch Katharina und Peter Behrens,

von The Naked Lunch (1959, dt. 1962), The Soft Machine (1961, dt. 1971), The Yage Letters

(1963, dt. 1964) bis zu Nova Express (1964, dt. 1970)

Wenn man die Frage stellt, welche amerikanischen Autoren für die neue Prosodie von Relevanz

waren, dann ergibt sich dies aus der Liste eben dieser Übersetzungen sowie deren Vor- und

Nachworte. Es ist vor allem William Carlos Williams und dessen Theorie des variable foot, die in

Deutschland wohl erstmals durch Hans Magnus Enzensberger populär geworden ist , aber auch

eine entscheidende Rolle in Höllerers Theorie der modernen Lyrik spielt. Zweitens wäre Ginsbergs

Howl sowie Kerouacs On the Road zu nennen, insofern diese die Erfinder der „Bop-Prosodie“

sind, welche im Falle Ginsbergs jedoch auch aus der für Howl sehr einflussreichen Lyrik von

Williams hervorging. Drittens ist der entscheidende theoretische Beitrag zu dieser Thematik

Charles Olsons sehr zentraler Aufsatz über den projective verse, der in Zusammenarbeit mit einem

weiteren wichtigen Autor der sogenannten Black Mountain Group, Robert Creeley, entstand und in

Deutschland ebenfalls durch Höllerers Theorie der modernen Lyrik bekannt wurde. Viertens wichtig

sind Frank O’Hara und dessen Gelegenheitsgedichte, im Amerikanischen als „I do this, I do that

poems“ bezeichnet, die ihre Bekanntheit in Deutschland insbesondere den

Vermittlungsbemühungen Rolf Dieter Brinkmanns verdanken.4 Und schließlich spielt auch in der

cut-up Technik der von Peter Behrens übersetzten Romane William S. Burroughs die Rhythmik

eine besondere Rolle, wie noch zu zeigen ist.

4 Vgl.: Agnes C. Mueller: Blicke, westwärts: Rolf Dieter Brinkmann und die Vermittlung „amerikanischer“ Lyrik, in:

Rolf Dieter Brinkmann: Blicke ostwärts-westwärts ; Beiträge des 1. Internationalen Symposions zu Leben und Werk

Rolf Dieter Brinkmanns, hg. v. Gudrun Schulz, Vechta 2001, S. 190-206.

4

In der Forschung zum Werk Rolf Dieter Brinkmanns wurde in der Liste dieser Importe der

Schwerpunkt bisher auf den Einfluss der Lyrik Frank O’Haras gelegt5, vor allem in einer von

Dieter Lamping betreuten Dissertation Agnes C. Müllers über die Rezeption US-amerikanischer

Lyrik seit Beginn der 1960er Jahre.6 Auch wurden die Bezüge zur Beatliteratur untersucht, was

vor allem für Kerouacs On the Road7 sowie für die cut up-Technik gilt, wie sie Burroughs in den

1960er Jahren in Zusammenarbeit mit Brion Gysin entwickelte. Deren Einfluss auf Brinkmanns

posthum veröffentlichten Materialbände Rom, Blicke, Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung

des Gefühls für einen Aufstand sind bekannt.8 Dagegen aber fehlen Untersuchungen zum Einfluss

von W. C. Williams, vor allem angesichts der Aussage Brinkmanns aus seinem 1974 verfassten

Lebenslauf: „Nach wie vor“, so schreibt er an Hartmut Schnell, „würde ich sagen, daß beide

Autoren, Williams und O‘Hara, mir etwas über Gedichte gezeigt haben, wobei WCW vermut lich

der stärkere Einfluss gewesen ist.“9 Dieser Einfluss ist nicht zu trennen von der Brinkmann

zweifellos bekannten Theorie des projektiven Verses Charles Olsons, die ihrerseits sehr enge

Bezüge zur Lyrik W. C. Williams‘ aufweist, also aus der von Williams entwickelten triadischen

„step-down-line“ und der damit zusammenhängenden Prosodie des variablen Versfusses

hervorging. Insofern diese Überlegungen mit der enormen Popularität der Black Mountain Group

zusammenhingen, die in Deutschland spätestens seit Höllerers Theorie der modernen Lyrik

Bekanntheit erlangte, ist auch von Brinkmanns Kenntnis dieser Poetiken unbedingt auszugehen.

Ich werde im Folgenden in fünf Schritten diese Zusammenhänge darzustellen versuchen.

Zunächst soll die Erneuerung der Prosodie in den 1960er Jahren vor dem Hintergrund der

Verslehren der ersten Jahrhunderthälfte knapp markiert und in einem zweiten Schritt am Beispiel

der Poetik Walter Höllerers illustriert werden. Ein folgendes Kapitel wird dann den Begriff der

„Bop-Prosodie“ erläutern, also den Einfluss von Kerouacs On the Road und Ginsbergs Howl auf

Brinkmanns Debütroman Keiner weiß mehr von 1968 skizzieren. Ein vierter Abschnitt untersucht

dann die Prosodie des projektiven Verses, also den Einfluss des von Williams entwickelten variable

foot auf Charles Olsons sogenannte Feldkomposition sowie auf einige Gedichte Brinkmanns aus

5 Johannes G. Pankau: Angriffe aufs Monopol: Literatur und Medien. Brinkmanns Aufnahme der US-Kultur, in: Rolf

Dieter Brinkmann, neue Perspektiven: Orte - Helden – Körper, hg. v. Thomas Boyken, Paderborn 2010, S. 161-177.

Jan Volker Röhnert: Springende Gedanken und flackernde Bilder: Lyrik im Zeitalter der Kinematographie: Blaise

Cendrars, John Ashbery, Rolf Dieter Brinkmann, Göttingen 2007. 6 Agnes C. Müller: Lyrik ‚made in USA‘. Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik, Amsterdam, Atlanta

1999, S. 102-152, vor allem S. 113ff. 7 Gerhard Hurm: Rolf Dieter Brinkmann und Jack Kerouac: die leere Utopie des „Einfach -Nur-Da“-Seins, in:

Medialität der Kunst. Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne, hg. v. Markus Fauser, Bielefeld 2011, S. 83 -101. 8 Karsten Herrmann: Breakthrough in the Grey Room: Rolf Dieter Brinkmann und William S. Borroughs , in: Prag -

Berlin: Libuše Moníková, hg. v. Delf Schmidt, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 26-31; Sibylle Schönborn: Bilder einer

Neuropoetik: Brinkmanns späte Text-Bild-Collagen und Notizbücher der Schnitte und Erkundungen für die

Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Reise Zeit Magazin (Tagebuch), in: Medialität der Kunst, a.a.O., S. 213-

228; Sigrid Fahrer: Cut-up: eine literarische Mediendueril la, Würzburg 2005. 9 Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut 19 -19 , hg. v. Hartmut Schnell, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 124.

5

dem Band Westwärts 1&2. Und schließlich thematisiert ein letzter Abschnitt die bisher kaum

untersuchte Prosodie des cut up and fold in. Denn auch diese von William S. Burroughs entwickelte

Collagetechnik kennt grundlegende Rhythmisierungsstrategien, die ihrerseits eine wesentliche

Rolle in Brinkmanns spätem Materialband Rom, Blicke gespielt haben.10

I.

Bekanntlich forderte schon der Phantasus von Arno Holz eine radikale Formerneuerung der Lyrik,

die Holz in seiner Schrift Revolution der Lyrik von 1899 theoretisch formulierte. Zentrum seiner

Lyriktheorie ist der Begriff des Rhythmus, der als lyrisches Formelement absolut gesetzt wird und

an die Stelle der älteren konventionellen Mittel wie Metrum, Reim und Strophenform tritt. Holz

forderte also die Abkehr vom „geheimen Leierkasten“11 der herkömmlichen Metrik im Namen

der Rhythmik, was jedoch nicht gleichbedeutend ist mit einem Plädoyer für eine „freie

Rhythmik“ im Sinne der Goetheschen Hymnen, dieser sei Zeichen einer „Bequemlichkeit“, für

ein „mangelndes Unterscheidungsvermögen“: „Der notwendige Rhythmus, den ich will, darf sich

solche, oder auch nur ähnliche Scherze nicht mehr erlauben.“12 Holzens formale Konsequenz

hinsichtlich dieser Suche ist die berühmte Anordnung der Gedichtzeilen um eine imaginäre

Mittelachse: die Zeilen sind so gedruckt, dass ihre räumliche Mitte mit der Mitte der Seite

übereinstimmt. Im zweiten Artikel für die Zeitschrift für Bücherfreunde schrieb Holz über dieses

Prinzip: „Die letzte ‚Einheit‘ der bisherigen Metrik war der Versfuß. Die letzte Einheit meiner

Rhythmik ist eine ungleich differenziertere: die Zeile.“13

Ohne dass die Überlegungen von Holz diesbezüglich immer bekannt gewesen wären, ist dennoch

davon auszugehen, dass die von Holz geforderte Lösung vom Metrum im Namen der Rhythmik

die wohl wichtigste theoretische Herausforderung der Verslehren der ersten Jahrhunderthälfte

gewesen ist. In seiner Studie Der Rhythmus in der Rede hatte Hans Lösener in diesen Verslehren

nämlich eine sehr vergleichbare „Rhythmusfrage in der deutschen Metrik“ ausgemacht und

folgendermaßen charakterisiert. Fritz Sarans Deutsche Verslehre von 1907 sei demnach ein Beispiel

für die Entschärfung dieser „Rhythmusfrage“, also eine Re-Etablierung der Metrik zuungunsten

einer Autonomisierung der Rhythmik. Nach Saran sei die Vorstellung einer spezifischen

Rhythmik der Sprache sinnlos, komme der Begriff des Rhythmus‘ doch aus dem Tanz und sei

ursprünglich „orchestrisch“. Bei Saran also werde „die Metrik wieder in ihre alten Rechte

10 Vgl. dazu: John Vernon: William S. Burroughs, in: The Iowa Review, Vol. 3, No. 2 (1972), S. 107-123. 11 Arno Holz: Werke: Das Buch der Zeit. Dafnis. Kunsttheoretische Schriften, in: Werke. Bd. 5, hg. v. Wilhelm

Emrich und Anita Holz, Neuwied/Spandau 1962, S. 70. 12 Arno Holz: Revolution der Lyrik. Berlin 1899, S. 45. 13 Arno Holz: Werke. Bd. 5, a.a.O., S. 125.

6

eingesetzt“14. Dagegen forderte Andreas Heusler in seiner zwischen 1925 und 1929 entstandenen

und sehr einschlägigen Deutschen Versgeschichte eine Lösung von der traditionellen Versfußlehre

und gründete seine gesamte Metrik auf einem den Musikwissenschaften entlehnten Taktprinzip.

Nach Lösener basierte diese Überlegung Heuslers auf einer impliziten „Gleichsetzung von

Rhythmus und Takt“, wie umgekehrt Heuslers Rhythmusbegriff musikalische Strukturprinzipien

zugrunde liegen, d. h. begriffe wie etwa „Kadenzen, Takte, Viertelpausen.“15

Wolfgang Kaysers „rhythmische Typenlehre“ aus dessen Klassiker Kleine deutsche Versschule von

1946 wurde aus eben diesem Grunde in der Geschichte der Metrik „zum Antipoden Heuslers“

erhoben, wie Lösener betont. Bei Kayser dient die in der kleinen deutschen Versschule entwickelte

Rhythmiktheorie nämlich nicht als Ersetzung, sondern als eine Ergänzung der umfangreich

dargelegten Metrik. Zudem werden keine – durchaus fragwürdigen – Kategorien der Musiklehre

bemüht, vielmehr zieht Kayser zur Strukturierung seiner Rhythmiktheorie den Begriff des

„Kolons“ heran. Ein Kolon fungiert dabei als Äquivalent zur metrischen Kategorie des

Versfußes, stellt es doch eine Maßeinheit von Betonungsbögen dar, durch die wiederum vier

spezifische rhythmische Typen unterscheidbar werden: der fließende Rhythmus Brentanos, der

strömende Rhythmus Hölderlins, der bauende Rhythmus aus Goethes Spätwerk sowie der

gestaute Rhythmus der Droste-Hülshoff.16

Man kann über die Beispiele Kaysers geteilter Meinung sein: Gerhard Kurz etwa hatte in seinen

„Notizen zum Rhythmus“ durch eine Verschlimmbesserung des Brentanoschen Wiegenliedes –

„Singet lauter, lauter, lauter,/Singt ein kräftig Morgenlied,/Von der Sonne lernt die Weise,/Die

so froh am Himmel zieht“17 – der Kategorie des fließenden Rhythmus‘ eine unverkennbare

Abhängigkeit von der Semantik des Brentanoschen Gedichtes nachgewiesen und so ad absurdum

geführt. Ungeachtet dessen aber bleibt die auch bei Kayser wichtige Frage nach der autonomen

Beschaffenheit der Rhythmik gegenüber Semantik und Metrum bis heute fundamental, wenn

man etwa das in der Forschung mehrfach bemühte Beispiel aus Goethes Erlkönig hinzuzieht:

„Wer réitet so spáet durch Nácht und Wind?/Es ist der Váter mit séinem Kind.“ Christine

Lubkoll betonte bzgl. dieser bekannten Zeilen, dass ihnen ein daktylisches Metrum zugrunde

liege. Man dürfe jedoch in der zweiten Zeile trotz des daktylischen Metrums das Wort „ist“ nicht

betonen, da dies zu Missverständnissen führt: es ißt der Vater mit seinem Kind.18 Um dieses

Missverständnis der Nahrungsaufnahme zu vermeiden, braucht es eine Betonung, die nicht

14 Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede: Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des

Sprachrhythmus, Tübingen 1999, S. 52. 15 Ebd., S. 56. 16 Wolfgang Kayser, Kleine deutsche Versschule, Bern 1951, S. 100-121. 17 Gerhard Kurz: Notizen zum Rhythmus, in: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 70 (1992), S.

44f. 18 Christine Lubkoll: Rhythmus und Metrum, in: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel, hg. v.

Heinrich Bosse & Ursula Renner, Freiburg 1999, S.103-121, hier S. 109.

7

metrisch, sondern eben rhythmisch ist: Eines der sicher wichtigsten Beispiele für die Autonomie

der Rhythmik.19

II.

Wie klar und deutlich sich die von Rösener sogenannte „Rhythmusfrage in der deutschen Metrik“

nach dem skizzierten US-Import der 1950er und 1960er Jahre beantworten lässt, zeigt die Poetik

Walter Höllerers. Im Grunde sind schon seine berühmten Thesen zum langen Gedicht, 1965 in der

Zeitschrift Akzente formuliert, ein wichtiger Anhaltspunkt. Die Thesen dürften bekannt sein: Der

Dichter solle „alle Feiertäglichkeit weglassen“ und stattdessen „subtile und triviale, literarische

und alltägliche Ausdrücke“ „im langen Gedicht zusammen(fügen)“. Das lange Gedicht sei „im

gegenwärtigen Moment, schon seiner Form nach politisch“, insofern es Möglichkeiten schaffe

„zwischen dem Plakat der Nähe und dem Kalkül der Ferne.“ Und schließlich führe es so „aus der

starrgewordenen Metaphorik, der knarrenden Rhythmik, der bemühten Schriftbildschematik.“20

Diese Thesen sind nicht zu trennen von Höllerers Theorie der modernen Lyrik aus dem gleichen

Jahr, die wiederum ganz vom Import US-amerikanischer Lyriktheorie geprägt ist. Höllerer

bezieht sich in seinem theoretischen Nachwort vor allem auf drei Autoren seiner umfangreichen

Anthologie: „Die Überlegungen von William Carlos Williams über veränderliches Metrum, von

Charles Olson über den projektiven Vers und von Tadeusz Rozewicz gegen die Bildersucht“21.

Ein weiterer wesentlicher Anstoß für die Thesen zum langen Gedicht ist zudem sicherlich die long

line poetry aus Ginsbergs Gedichtband Howl gewesen, dessen Nachwort Höllerer 1959 verfasste.

Ginsberg entwickelte die long-line-poetry aus der triadischen step down line von William Carlos

Williams22, überführte diese jedoch in eine eigene Form, der als entscheidende Maßeinheit eine

Atemlänge im Lesevorgang zugrunde liegt, wie noch zu zeigen ist. Der zweite Impuls der

Höllererschen Thesen ist zudem Williams‘ voluminöses Versepos Paterson, ein in fünf Bänden

veröffentlichtes Gedicht über die 150000 Einwohner große Stadt Paterson in New Jersey, die

schon Hans Magnus Enzensberger mit den Cantos Ezra Pounds oder Pablo Nerudas großem

Gesang verglich. Was Höllerer an diesem Gedicht faszinierte, waren die ab dem zweiten Band

von Paterson einsetzenden und vor allem den fünften Band vollständig prägenden Konzepte

eines „veränderlichen Metrums“, welches Williams in seinem Band I wanted to write a poem als

Entdeckung des variablen Versfußes beschrieb.

19 Vgl. dazu auch:Burkhard Moenninghoff: Rhythmus und Reim als poetogene Struktur, in: Anthropologie und

Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder, hg. v. Rüdiger Zymner, Paderborn 2004, S.

242-251. 20 Vgl.: Was alles hat Platz in einem Gedicht?, hg. v. Hans Bender und Michael Krüger, München 1977, S. 8ff. 21 Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 8. 22 Vgl. dazu: Allen Ginsberg: Journals Mid-Fifties: 1954-1958, ed. Gordon Ball. HarperCollins 1995, S. 360f.

8

Höllerer hatte sich mit seinen „Thesen zum langen Gedicht“ von 1965 also nicht nur gegen die

als hermetisch geltende deutsche Nachkriegsgedicht gewendet, sondern vielmehr den Grundriss

einer offenen Poetik entfaltet, die zum einen an den Experimenten Allen Ginsbergs und William

Carlos Williams mit der Lyrik der long line, zum anderen an der Poetik Charles Olsons orientiert

war. Olson bestimmte in seiner 1950 verfassten Theorie des projektiven Verses in Anlehnung an

Maximen der Kinetik, begriff also das Gedicht als Energiefeld bzw. als Medium der

Energieübertragung vom Dichter zum Leser. Er legte dem projektiven bzw. „offenen Vers“ drei

Prinzipien zugrunde: Erstens solle die Dichtung vom Atem und vom Ohr sowohl des Dichters

als auch des Lesers bestimmt sein, zweitens solle sich der Dichter nicht an vorgefügten Formen,

sondern an den Eigengesetzlichkeiten eines jeden Gedichts orientieren. Dies entspricht einer

schon von dem US-Lyriker Robert Creeley formulierten Maxime, nach welcher Form nie mehr

als eine Ausdehnung von Inhalt sein dürfe: „Form is never more than an extension of content“23,

was letztlich einem Verzicht auf überbordende Bildlichkeit und Metaphorik gleichkommt. Beide

Forderungen führen zu einem dritten Prinzip, das ihre poetische Verknüpfung darstellt: „One

perception must immediately and directly lead to a further perception“24: Der Rhythmisierung des

Atems liegt also eine rhythmisierte bzw. rhythmisch fortschreitende Wahrnehmung zugrunde.

Einzelne Zeilen eines Gedichtes richten sich gemäß dieser Poetik also zum einen nach der

Erkenntnisabfolge, zum anderen nach der vom Dichter festgelegten Atemlänge, können also

z. B. mitten im Satz aufhören. Solche Brüche lenken die Aufmerksamkeit des Lesers auf

bestimmte Stellen im Gedicht entsprechend eines prosodischen Atembogens, wie er vor allem in

der gesprochenen Sprache zur Sinnstiftung und zur Zäsur eingesetzt wird. Im Zentrum des

progressiven Verses steht also zum einen die Silbe als kleinstes Element eines Verses, die nach

Olson aus der Verbindung von Ohr und Geist hervorgeht, zum anderen die Zeile, die aus der

Verbindung von Herz und Atem entsteht. Olson bringt diesen Sachverhalt auf die folgende

Formel: “The Head, by way of the Ear, to the Syllable/ the Heart, by way of the Breath, to the

Line”25. Voraussetzung für eine Vollendung des projektiven Verses ist das stimmige Verhältnis

von Zeile und Silbe, den beiden Hauptelementen eines jeden Gedichts, zu Atem und Ohr des

Dichters als ihrem Regulativ.

Höllerer fand für diese Theorie des projektiven Verses eine sehr konzise Umschreibung:

Der physiologische Bewegungsrhythmus (Atmen, Hören, Sprechen) soll sich in den Versen ausdrücken. Die typographische Anordnung der Langzeilen ist dabei wichtig.26

23 Selected Writings of Charles Olson, ed. Robert Creeley, New York 1966, S. 16. 24 Ebd., S. 17. 25 Ebd., S. 19. 26 Höllerer: Theorie der modernen Lyrik, a.a.O., S. 395.

9

Diese Formel umfasst im Grunde drei elementare Beiträge zum Thema, und zwar zum einen die

„long-line-poetics“ aus Ginsbergs Howl, zum zweiten die Rhythmiktheorie von Olson, und zum

dritten die graphische Gestaltung der „step-down-line“, wie sie Williams insbesondere im fünften

Band von Paterson entwickelte. In einer Präzisierung dieser Formel schreibt Höllerer in seinem

Nachwort:

Das Reden (im Unterschied zum Celanschen Schweigen) [...] zielt darauf hin, viele Zeichen, unangreifbare, in den Bewegungsvorgang eines langen Gedichts zu versetzen, die anonyme Beiläufigkeit und die magische Überraschung ohne Aufwand und Verschlüsselung auszusprechen, von ‚Gehör’ und ‚Atem’ auszugehen und so die Richtlinien einer rhythmisch artikulierten, beweglichen Schreibweise zu entwickeln, bei der eine Erkenntnis sofort und unmittelbar in eine weitere Erkenntnis münden kann.27

In diesem Passus sind die drei skizzierten Prinzipien Olsons von Höllerer als Grundlage seiner

Theorie der modernen Lyrik übernommen: Erstens der Aspekt der Offenheit im Sinne einer Lösung

von vorgegebener Metrik, zweitens die Ersetzung der Metrik durch eine Rhythmik, die nicht an

Versfüßen, sondern an Akustik und Aspiration orientiert ist, also am Hören auf die Silbe und am

Atmen innerhalb der Zeile; und drittens eine Rhythmisierung der Wahrnehmung im Sinne einer

Prozesshaftigkeit, die die unmittelbare Abfolge einzelner Erkenntnisschritte zum Prinzip erhebt.

Alle drei Aspekte – Offenheit, textimmanente Rhythmik und prozessualisierte bzw. rhythmisierte

Wahrnehmung – sind Merkmale der von Olson sogenannten „Feld-Komposition“, sie finden

ihren Niederschlag in der folgenden Ausführung aus Höllerers Nachwort:

Die Wörter sind in Bewegung zueinander, nacheinander, aufeinander. Das erfordert den absoluten Rhythmus, den Rhythmus, der sich mit dem Gefühl deckt. Rhythmische Vorfabrikationen, die man im Alltag, auch in der Literatur vorfindet, können dazu verhelfen, eine stimmende, rhythmische Verbindung zu schaffen. Was soll hier der Versfuß nützen? […] Was soll der expressive freie Rhythmus in einer Dichtung, die sich nicht der Gefühle, sondern der durchreflektierten Konstellationen annimmt? Nicht vom freien Rhythmus, sondern vom notwendigen Rhythmus soll die Rede sein. 28

Diese präzise Unterscheidung Höllerers zwischen dem freien und dem notwendigen Rhythmus

muss vor dem Hintergrund der Überlegungen Olsons gelesen, also als Neudeutung der Kategorie

der Rhythmik verstanden werden. Die entscheidende Neuerung der Definition Höllerers

gegenüber den Verslehren Fritz Sarans, Andreas Heuslers, Wolfgang Kaysers oder Felix Trojans

liegt auf der Hand: Während die in diesen Verslehren vollzogene Autonomisierung des Rhythmus

gegenüber der Metrik den Focus auf die gedichtimmanente Rhythmik legte, verbindet Höllerer

die Prosodie mit einer lebensweltlich gegebenen Rhythmik im Sinne einer kontinuierlichen, von

27 Ebd., S. 436. 28 Ebd., S. 425.

10

Prozessen und Wandlungen gekennzeichneten Welt, dies betont der Hinweis: „Rhythmische

Vorfabrikationen, die man im Alltag vorfindet, können dazu verhelfen, eine stimmende,

rhythmische Verbindung zu schaffen.“ Zweitens ist diese Rhythmik am „Sprechen“ orientiert, d.

h. am „Bewegungsrhythmus“ der Alltagssprache. Und drittens legt Höllerer dieser Rhythmik ein

klares graphisches Gestaltungsprinzip zugrunde: die „typographische Anordnung der

Langzeilen“. Was genau dies meint, dürfte aus den nächsten Kapiteln deutlich werden.

III.

Die „typographische Anordnung der Langzeilen“ als Ausdrucksform für den „physiologischen

Bewegungsrhythmus“ des Atmens: Diese knappe Formel aus Höllerers Lyriktheorie ist die wohl

konziseste Umschreibung der „Bop-Prosodie“, wie sie Allen Ginsberg in Howl entwickelte und

auch in On the Road umgesetzt sah. Bei Ginsberg stellt das an den Zeilenanfängen seines 1957

erschienenen Langgedichts Howl leitmotivisch wiederkehrende Relativpronomen „who“ diesen

rhythmischen bzw. typographischen Angelpunkt der „Langzeilen“ dar. Deren entsprechende

Intonation beschrieb Ginsberg folgendermaßen: „Ideally each line of 'Howl' is a single breath

unit. My breath is long — that's the measure, one physical-mental inspiration of thought

contained in the elastic of a breath.”29 Diese auf Atmungsbögen zugeschnittene Langzeilenpoetik

wird in Howl schon in den ersten Zeilen erkennbar:

I saw the best minds of my generation destroyed by madness, starving hysterical naked, dragging themselves through the negro streets at dawn looking for an angry fix, angelheaded hipsters burning for the ancient heavenly connection to the starry dynamo in the machinery of night, who poverty and tatters and hollow-eyed and high sat up smoking in the supernatural darkness of cold-water flats floating across the tops of cities contemplating jazz, who bared their brains to Heaven under the El and saw Mohammedan angels staggering on tenement roofs illuminated, […]30

Wer sich die Intonation dieser einzelnen Langzeilen innerhalb eines Atemzuges nicht

vorzustellen vermag, dem sei Ginsbergs eigene Lesung auf YouTube unter dem link

http://www.youtube.com/watch?v=MVGoY9gom50 empfohlen: In der Tat reicht jeweils eine

Atemlänge für eine einzige Langzeile. Dass diese auffallende Fokussierung der Atmung als

29 Allen Ginsberg: Notes Written on Finally Recording 'Howl.', in: Deliberate Prose: Selected Essays 1952-1995, ed.

Bill Morgan, New York 2000. 30 Allen Ginsberg Howl and Other Poems: Pocket Poets Number 4, S. 9.

11

Prinzip einer neuartigen Prosodie nicht nur in der Lyrik, sondern auch in der Prosaliteratur der

Beatgeneration umzusetzen versucht wurde, zeigt wiederum das folgende Zitat aus einem

Interview mit Kack Kerouac:

Yes, jazz and bop, in the sense of a, say, a tenor man drawing a breath and blowing a phrase on his saxophone, till he runs out of breath, and when he does, his sentence, his statement's been made . . . That's how I therefore separate my sentences, as breath separations of the mind . . . I formulated the theory of breath as measure, in prose and verse, never mind what Olson, Charles Olson says, I formulated that theory in 1953 at the request of Burroughs and Ginsberg. Then there's the raciness and freedom and humor of jazz instead of all that dreary analysis and things like “James entered the room, and lit a cigarette. He thought Jane might have thought this too vague a gesture . . .” You know the stuff.31

Was Kerouac an dieser Stelle über den Einfluss von Jazzmusik auf seine literarischen Verfahren

ausführt, ließe sich folgendermaßen zusammenfassen. Es geht offenkundig darum, die Geste des

Erzählens – „James entered the room, and lit a cigarette“ – durch eine bestimmte, wie das

Saxophonspiel atemlos machende Form der Assoziation zu ersetzen, also statt auf eine

bestimmte Geschehensabfolge vielmehr auf den eigenen Atem zu hören. On the Road enthält also

nicht nur zahlreiche Beschreibungen historischer Bebop-Konzerte in Jazz- und Nachtclubs der

späten 1940er Jahre, wenngleich diese lebendigen Bilder früher Bebop-Sessions einen wichtigen

Aspekt der Popart dieses Romans ausmachen:

The behatted tenorman was blowing at the peak of a wonderfully satisfactory free idea, a rising and falling riff that went from “EE-yah!” to a crazier “EE-de-leeyah!”and blasted along to the rolling crash of buttscarred drums hammered by a big brutal Negro with a bullneck who didn’t give a damn about anything but punishing his busted tubs, crash, rattle-ti-boom, crash. […] A six-foot skinny Negro woman was rolling her bones at the man’s hornbell, and he just jabbed it at her, “Ee! Ee! Ee!32

Ähnlich wie in Ginsbergs Howl geht es in On the road von 1957 jedoch nicht nur um die

Beschreibung von Jazz und Bebop als Kulturprodukt, sondern um die Übertragung musikalischer

Verfahren auf den eigenen Schreibprozess. Dieser Schreibprozess forciert einen Eindruck der

Rast- und Atemlosigkeit, wie er schon Ginsbergs Langzeilen-Poetik prägt. Das zeigt einer der

wohl meist zitiertesten Sätze aus Kerouacs Roman:

The most fantastic parking-lot attendant in the world, [Dean Moriarty] can back a car forty miles an hour into a tight squeeze and stop at the wall, jump out, race among fenders, leap into another car, circle it fifty miles an hour in a narrow space, back swiftly into tight spot, hump, snap the car with the emergency so that you see it bounce as he flies out; then clear to the ticket shack, sprinting like a track star, hand a ticket, leap into a newly arrived car before

31 Safe in Heaven Dead: Interviews with Jack Kerouac, ed . Michael White, S. 81. 32 On the Road: The Original Scroll, by Jack Kerouac, ed. Howard Cunnell, New York 2007, S. 197.

12

the owner’s half out, leap literally under him as he steps out, start the car with the door flapping, and roar off to the next available spot, arc, pop in, brake, out, run; working like that without pause eight hours a night, evening rush hours and after-theater rush hours, in greasy wino pants with a frayed fur-lined jacket and beat shoes that flap.33

Die parataktischen Satzgefüge lassen eine Rastlosigkeit erahnen, die einerseits der inhaltlichen

Hektik des Tagesgeschehens im Leben des Protagonisten Dean Moriarty entspricht, andererseits

jedoch dem “tenor man drawing a breath and blowing a phrase on his saxophone, till he runs out of

breath“. Was Brinkmann im einleitenden Zitat aus seinem Essay Der Film in Worten also als Bob-

Prosodien beschrieb, ist eine solche in Ginsbergs Howl wie auch in On the Road mehrfach

nachzulesende Fokussierung der Atmung bzw. der Atemlosigkeit im Schreibprozess: Ein

Verfahren, dass Brinkmann in seinem Debutroman Keiner weiß mehr von 1968 durch die

leitmotivische Verwebung von immergleichen Bildern, Zitaten und Stereotypen im gepreßten

Atem syntaktischer Perioden in einer nahezu epigonalen Art und Weise mehrfach nachbildete.

Dabei liegt der Unterschied freilich darin, dass der Roman Brinkmanns hauptsächlich in einer

engen Kölner Wohnung aus Vorderzimmer und Hinterzimmer spielt, die Rastlosigkeit also nicht

wie bei Kerouac in den Weiten Nordamerikas, sondern eher im Kopf der Hauptfigur stattfindet.

Deren Phantasie- und Bewusstseinsströme nach den auszehrenden Ausflügen ins Kölner

Nachtleben folgen jedoch einer äußerst ähnlichen non-stop-Prosodie:

Alles war vorher doch zu viel gewesen, das Ausgehen abends, das ständige Weggehen zusammen mit den anderen in den Keller am Ring, die vielen Möglichkeiten, die er sah und die immer außerhalb von ihm persönlich geblieben waren, obwohl er mittendrin saß, am Tisch seitlich der Tanzfläche sitzend und der Musik zuhörend, In The Midnight Hour, von einer Bläsergruppe gespielt, Saxophon und Trompete zu den Gitarren am anderen Mikrophon, anschließend ohne Übergang eine Otis-Redding-Nummer, härter, genauer, der Text vereinzelt dazwischen und zusammen eine Maschine, die weiterrollte, Töne, Musik, ein Schlagen, dicht zusammengedrängt in einem Augenblick das Singen, die Stimme, dazu wieder eine Bläsergruppe von unten hochziehend, laut im Raum um die Bewegungen der Tanzenden herum, aus der er hin und wieder auch sie, seine Frau, auftauchen sah, für ihn deutlich herausgehoben unter den anderen Mädchen ihr Haar, Ihr Gesicht, eine Bewegung, die gerade aufrechte Haltung.34

IV.

Dass Rhythmik ein Leitmotiv in Brinkmanns Ästhetik darstellt, wird deutlich, wenn wir nun auch

den Gedichtband Westwärts 1&2 von 1975 hinzuziehen, der bekanntlich schon im Titel auf

Kerouacs On the Road anspielt. Speziell in den ersten Gedichten dieses Bandes ist eine zweite

zentrale Rhythmustheorie der Beatgeneration umgesetzt, und zwar die im Zitat Jack Kerouacs

33 Ebd., S. 6. 34 Rolf Dieter Brinkmann: Keiner weiß mehr: Roman, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 57.

13

schon angedeutete Theorie Charles Olsons über den projektiven Vers. Zweifellos war Brinkmann

diese Theorie durch Höllerers Nachwort aus der Theorie der modernen Lyrik vertraut. Höllerer

dürfte auch für den exzentrischen, den „Betrieb“ verachtenden Brinkmann seit seinem 1959

verfassten Nachwort zu Ginsbergs Howl bzw. seiner 1961 mit Gregory Corso edierten

Anthologie Junge Amerikanische Lyrik neben dem Anglisten Klaus Reichert als wichtigster

Vermittler der für Brinkmann so wichtigen Beatlyrik gegolten haben. Olsons Essay hatte

wiederum seinen wichtigsten Referenten in William Carlos Williams, dessen Gedichte schon 1962

von Enzensberger übersetzt waren; Brinkmann nahm diese Übersetzung nach eigener Aussage

„so um 63, 6 “35 zur Kenntnis und besorgte sich 1965 in London Originalausgaben, u. a.

sicherlich die 1962 erschienenen Sammlung Pictures from Brueghel and Other Poems, wohl aber auch

Spring and All von 1923. Dessen Wirkung lassen zumindest die berühmten, von Brinkmann

imitierten Glimpses-Gedichte erkennen, jene lyrischen Epiphanien der Dinge, bekannt aus dem

wohl berühmtesten Gedicht von William Carlos Williams, The red wheelbarrow:

so much depends upon a red wheel barrow glazed with rain water beside the white chickens.36

Diverse der Gedichte aus Brinkmanns Westwärts 1&2 sind lesbar als eine Lyrik der glimpses im

Sinne von Williams, also als Einfangen flüchtiger Wahrnehmungen wie etwa in Die

Orangensaftmaschine.37 In Westwärts finden sich aber auch sehr vergleichbare Epiphanien der Dinge,

wie insbesondere das Gedicht mit dem Titel Trauer auf dem Wäschedraht im Januar zeigt:

Ein Stück Draht, krumm ausgespannt, zwischen zwei kahlen Bäumen, die bald wieder Blätter treiben, früh am Morgen hängt daran eine

35 Brinkmann: Briefe an Hartmut, a.a.O., S. 39. 36 The Collected Poems of William Carlos Williams, Volume 1: 1909-1939, ed. A. Walton Litz and Christopher

MacGowan, London 1987, S. 224. 37 Pawel Zimniak: Piloten - Orangensaftmaschinen - (Augen)Blicke. Zu Rolf Dieter Brinkmanns

Raumkonstellationen, in: Medialität der Kunst, a.a.O., S. 229-242.

14

frisch gewaschene schwarze Strumpfhose aus den verwickelten langen Beinen tropft das Wasser in dem hellen frühen Licht auf die Steine.38

Vor dem Hintergrund dieser sehr evidenten Bezüge sind nun die weitreichenden Überlegungen

Williams zum „Measure“, d. h. zu dem Zusammenspiel von triadischer step down line und

variablem Versfuß zu prüfen. Sie dominieren einen relativ kleinen Teil seiner poetischen Arbeit,

und zwar zwei Bücher der fünfziger Jahre – The Desert Music und Journey to Love –, sowie Teile von

Paterson V. Dennoch begriff Williams diese Theorie des „Measure“ als „Lösung des Problems der

modernen Vers“, als den „Höhepunkt“ einer zeitlebens andauernden Suche nach einer neuen

Form der Prosodie. Deren Grundfrage ist wie bei Arno Holz: Wie kann man den „Leierkasten“

der Metrik überwinden, ohne in der freien Rhythmik zu landen? Die triadische Anordnung der

jeweils etwas stärker eingerückten Dreizeiler liefert darauf die Antwort, denn ungeachtet der

unterschiedlichen Silbenhäufung in den einzelnen Zeilen geht Williams von deren Isochronie aus:

Sie sind rhythmisch gleichförmig, da sie entweder in der Lesung die gleiche Dauer haben oder

aber über jeweils nur eine Hebung bzw. Betonung verfügen. Der folgende Auszug aus dem

Gedicht Asphodel, that Greeny Flower zeigt dies. Die Sprache ist an der amerikanischen

Alltagssprache orientiert, die graphische Anordnung der einzelnen Zeilen korreliert vollständig

mit einer ziemlich dichten Aufteilung des Textes in Intonationseinheiten:

I have learned much in my life from books

and out of them about love.

Death is not the end of it.

There is a hierarchy which can be attained,

I think, in its service.

Its guerdon is a fairy flower;

a cat of twenty lives. If no one came to try it

the world would be the loser.39

38 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte. Mit Fotos und Anmerkungen des Autors. Erweiterte Auflage,

Reinbek bei Hamburg 2005, S. 37. 39 William Carlos Williams: Pictures from Brueghel and Other Poems: Collected Poems 1950-1962, New York 1962,

S. 157.

15

Es ist ganz offenkundig, dass sich Brinkmann in der graphischen Gestaltung seiner Gedichte aus

Westwärts 1&2 an dieser step down line orientierte. Die zeigt etwa sein Gedicht mit dem Titel D-

Zug:

: aus dem heruntergezogenen Fenster das Zeitungspapier wehen lassen, eine Kinderhand, mit dem Papierfetzen daran, das Elend (Ausland), das in diesem Land investiert, sitzt an jeder flüchtig erblickten Straßenecke, traurige, müde Gesichter, ohne Ausdruck, Tränensäcke, Falten um den eingezogenen Mund, eine junge Frau weint vor Erschöpfung in einer zweieinhalb Zimmerwohnung, in der aufgefalteten Architektur der Geometrie, es ist nachts und die Heizungsröhre knacken, Zitat: „das gefährlichste Tier, das existiert, ist der Architekt. Er hat mehr verwüstet als der Krieg.“40

Erkennbar wird der Einfluss Williams‘ durch die graphische Gestaltung, wenngleich Brinkmanns

Textgliederung in mehreren Spalten aufgrund der ineinandergleitenden Textfetzen freilich weit

dynamischer als bei Williams ist. Dass es hier jedoch um ein neues Gestaltungsprinzip geht, zeigt

neben D-Zug auch etwa das Gedicht Westwärts, aber auch das sehr frühe Gedicht Vanille von

1969. Freilich bleibt die entscheidende Frage, ob und inwiefern Brinkmanns Lyrik nicht nur der

graphischen Gestaltung, sondern auch der prosodischen Logik von Williams folgt. Man kann

diese Wirkung nachweisen, muss dazu jedoch einen kleinen Umweg in Kauf nehmen. Der

Einfluss zeigt sich in dem Zusammenspiel von prosodischer Atmung und semantischem

Sinngehalt, wie es dem folgenden Zitat aus Olsons bereits erörtertem Essay über den projective

verse zu entnehmen ist. Olson diskutiert an dieser Stelle eine Passage aus seinem Gedicht The

Praises, das ganz erkennbar eine Variation von Williams step-down line darstellt.41 Er illustriert an

diesem Beispiel den Zusammenhang von Aufstauen und Fortschreiten des Sinnes, der – gemäß

den „margins“ einer Schreibmaschine – aus dem Zusammenspiel von step-down-line (Zeile 1-4)

und long-line (Zeile 5 & 6) entspräche:

40 Brinkmann: Westwärts, a.a.O., S. 182. 41 Das Gedicht findet sich im Original in: The Collected Poems of Charles Olson: Excluding the Maximus Poems, S.

98.

16

„Sd he: to dream takes no effort to think is easy to act is more difficult but for a man to act after he has taken thought, this! is the most difficult thing of all“ Jede dieser Zeilen ist sowohl ein Fortschreiten des Sinnes wie des Atmens, und dann ein Aufstauen, ohne einen Fortschritt oder irgendeine Art von Bewegung außerhalb der Zeiteinheit, die mit der Idee zusammenfällt.42

Der in den sechs Zeilen zunehmende Schwierigkeitsgrad findet demnach seine Entsprechung in

einem erst „fortschreitenden“, dann „aufstauenden“ Atem. Wie wichtig diese Logik der Atmung

wiederum für Rolf Dieter Brinkmanns Lyrik gewesen ist, zeigt dass mit Abstand bekannteste

Gedicht aus Westwärts 1&2, nämlich das berühmte Einen jener klassischen, ein regelrechtes

Musterbeispiel für eine Feldkomposition im Sinne Charles Olsons:

Einen jener klassischen schwarzen Tangos in Köln, Ende des Monats August, da der Sommer schon ganz verstaubt ist, kurz nach Laden Schluss aus der offenen Tür einer dunklen Wirtschaft, die einem Griechen gehört, hören, ist beinahe ein Wunder: für einen Moment eine Überraschung, für einen Moment Aufatmen, für einen Moment eine Pause in dieser Strasse, die niemand liebt und atemlos macht, beim Hindurchgehen. Ich schrieb das schnell auf, bevor der Moment in der verfluchten dunstigen Abgestorbenheit Kölns wieder erlosch.43

Brinkmanns Gedicht hält einen Moment fest, der zwar ein alltäglicher ist, sich aber weder visuell

noch rein akustisch erfassen lässt. Vielmehr handelt es sich um eine plötzliche, augenblickshafte

Überraschung, die bezeichnenderweise als „Pause“ beschrieben wird, also als ein „die dunstige

42 Charles Olson: Gedichte. Aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Klaus

Reichert, Frankfurt am Main 1965, S. 115f. 43 Brinkmann: Westwärts, a.a.O., S. 35.

17

Abgestorbenheit“ der Stadt Köln kontrastierender Reiz. Wir haben es mit einem mehrfach

variierten Motiv Brinkmanns zu tun: Ein exotischer Moment, der angesichts einer dominant

monotonen Rhythmik des Alltäglichen diskrepant heraussticht, und daher emphatisch registriert

wird. Wie in den Überlegungen Olsons zum „projektiven Vers“, so ist auch die in diesem

Gedicht vorliegende Rhythmik lebensweltlich verankert. Dies zeigt das Motiv der

„abgestorbenen“, also monotonen Großstadt; was darunter genauer zu verstehen ist, zeigt das

den Band Westwärts 1&2 eröffnende Vorwort Brinkmanns, das mit den Worten einsetzt:

Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter, der Mond geht auf, die Sonne geht auf, die Augen gehen auf, Türen gehen auf, der Mund geht auf [...] die Plakate, Bauzäune und Verbote machen weiter, die Fahrstühle machen weiter, die Häuserwände machen weiter, die Innenstadt macht weiter, die Vorstädte machen weiter.44

Brinkmann beschriebt hier einen die gesamte Lebenswelt des lyrischen Ichs vereinheitlichenden

monotonen Trott, einen unaufhörlich fortschreitenden Rhythmus, den Brinkmann im weiteren

Verlauf des Vorworts folgendermaßen beschreibt: „Es ist Samstagnachmittag, es ist Sonntag, es

ist Montag, es ist Dienstagmorgen, es ist Mittwoch, es ist Donnerstag, es ist Freitagnachmittag, es

ist Samstag und Sonntag. Es ist ein erstaunliches Gefühl meine ich, das den Verstand erstaunt.“ 45

Im Gedicht Einen jener klassischen wird diese atemlos machende Abfolge des Immergleichen durch

einen ekstatischen Moment einer ästhetischen Erfahrung kontrastiert , der ein Aufatmen erlaubt.

Dem entspricht die prosodische Struktur: Bildet der auffallend hypotaktische Bau der ersten vier

Strophen, also die Unterordnung von Nebensätzen unter den in der ersten Strophe einsetzenden

Hauptsatz – einen Tango in Köln hören, ist beinahe ein Wunder – die atemlos machende

Stereotypie der Lebenswelt nach, so entspricht der Moment des Atemholens jenem

herausstechenden Moment, der fast an ein Wunder grenzt, und im Gedicht durch die

anaphorische Häufung „Für einen Moment“ suggestiv beschworen wird. Mit dem Doppelpunkt

in der vierten Strophe beginnt somit ein durch die Anapher ausgelöster rhythmischer Bruch, der

punktgenau mit dem inhaltlichen Wandel des Atmosphärischen von Monotonie zu plötzlicher

Exotik übereinstimmt. Er reicht bis zum Ende der fünften Strophe, sodass das Gedicht in den

letzten drei Strophen wieder in den prosaischen Klang seines Anfangs zurückfällt. Ganz wie in

Olsons Deutung seines Gedichtes The Praises geht es in Einen jener klassischen also um das

Zusammenspiel von aufstauendem und fortschreitendem Atem, ums Aufatmen im Moment der

Sinnerfahrung, um einen Moment des Atemholens, des Atemholenkönnens.

44 Ebd., S. 7. 45 Ebd.

18

V.

Ich gehe nun davon aus, dass es neben diesem Einfluss Kerouacs auf die rhythmischen

Verfahren aus Keiner weiß mehr und demjenigen Olsons und Williams‘ auf die Gedichte aus

Westwärts 1&2 noch einen dritten Impuls für Brinkmanns Neudeutung der literarischen

Rhythmik gibt. Bekanntlich bezog sich Brinkmann bei seiner im einleitenden Zitat schon

angeklungenen „Auflösung bislang geltender starrer Gattungseinteilungen“ wie etwa Roman,

Lyrik, Essay oder Theaterstück auch und vor allem auf die cut-up-and-fold-in Methode William S.

Burroughs, die insbesondere seiner von Brinkmann umfangreich rezensierten Nova-Trilogie

zugrunde lag. Entsprechend der Bedeutung von „cut-up“ als „Schnipsel“ bzw. „Notizzettel“

wurden in der Nova-Trilogie ganze Manuskriptseiten in kleine Zettel zerschnitten und ohne

genauen Plan neu angeordnet. Daraus entstand eine assoziative Erzählstruktur, die es dem Leser

erlaubt, in einen beliebigen Teil des Buchs einzusteigen, und sich von dort den Text entwickeln

zu lassen. Durch die cut-up-Technik und den beliebigen Einstieg in das Werk konnte also jeder

Leser seine eigene Perspektive auf den erzählerischen Fortgang entwickeln.

Cut-up and fold-in ist jedoch nicht allein eine Montage und Collage von Materialien im Sinne

etwa der dadaistischen Collagetechnik oder den Decollagen von Fluxus-Künstlern wie etwa Wolf

Vostell. Bei Burroughs fokussiert das cut-up-Verfahren vielmehr menschliche Kommunikation.

Es beschreibt ein auf die kontaminierte menschliche Sprache bezogenes, subversives Verhalten,

eine Form der Dekonstruktion des gesprochenen Wortes. Burroughs cut-up-Verfahren basiert

also nicht nur im Zusammenfügen, sondern im gleichzeitigen Aufbrechen vorgegebener Abläufe.

In The invisible Generation wird dieses Verfahren als eine regelrechte Befreiung beschrieben:

the use of irrelevant response will be found effective in breaking obsessional association tracks all association tracks are obsessional get it out of your head and into the machines stop arguing stop complaining stop talking let the machines argue complain and talk a tape recorder is an externalized section of the human nervous system you can find out more about the nervous system and gain more control over your reactions by using the tape recorder than you could find out sitting twenty years in the lotus posture or wasting your time on the analytic couch listen to your present time tapes and you will begin to see who you are and what you are doing here mix yesterday in with today and hear tomorrow your future rising out of old recordings you are a programmed tape recorder set to record and play back who programs you who decides what tapes play back in present time 46

46 William S. Burroughs: The invisible Generation, in: Word Virus: The William S. Burroughs Reader, ed. James

Grauerholz and Ira Silverberg, New York 1998, S. 222.

19

Wie dies konkret funktioniert, zeigt der Kurzfilm The Cut-Ups, den Burroughs gemeinsam mit

britischen Filmregisseur Antony Balch zusammenschnitt. Diese Montage trug anfangs den

signifikanten Titel Guerilla Condition, sie kombiniert das filmische Material von Szenen und

Personen aus der Beat-Kultur, das zwischen 1961-65 in Paris, Tanger und New York gefilmt

wurde, mit einem ausgesprochen enervierenden Soundtrack. Dieser besteht vor allem aus den

beiden in Endlosschleifen sich wiederholenden Worten „yes“ und „hello?“, die als Bestandteile

einer gängigen Kommunikation einen regelrechten Kurzschluss erzeugen, also durch

rhythmisiertes looping in ihrer kommunikativen Funktion vollkommen ad absurdum geführt

werden: Mit der erkennbaren Absicht, den Zuhörer von gängigen Floskeln zu entfremden und

herauszufordern. Auch diesbezüglich verweise ich auf einen Mitschnitt auf YouTube unter

http://www.youtube.com/watch?v=Uq_hztHJCM4. Deutlich wird die Strategie des cut up als

subversiv rhythmisierte Montage zudem im folgenden Zitat aus dem in ACID abgedruckten und

in Brinkmanns Essay Der Film in Worten paraphrasierten Text Die unsichtbare Generation:

nehmen sie ihren chef und ihre kollegen auf analysieren sie assoziationsmuster lernen sie ihre stimmen zu imitieren oh sie werden in der ganzen firma geschätzt und nicht leicht zu übertreffen sein nehmen sie die körpergeräusche der anderen auf mit versteckten mikrophonen den atemrhythmus die bewegungen der gedärme nach dem essen das pulsieren der herzen schalten sie dann ihre eigenen körpergeräusche ein und werden sie das atmende wort und das pulsierende herz dieser organisation werden sie zu dieser organisation die unsichtbaren brüder fallen in die gegenwart ein je mehr leute wir dazu bekommen können mit tonbandgeräten zu arbeiten desto brauchbarer werden experimente und erweiterungen47

Es ist wohl leicht einsehbar, dass zwischen der von Ginsberg so bezeichneten „spontaneous bob

prosody“ Jack Kerouacs und der hier von Burroughs beschriebenen subversiven Praktik des cut

up eine Weiterentwicklung stattgefunden hat. Kerouac beschrieb eine Form des „Action Writing“

als Form der freien Assoziation, welches z.B. auf die Interpunktion verzichtet und statdessen

etwa durch Gedankenstriche Atempausen anzeigt, so, wie ein Saxophonist zwischen Sätzen Luft

holt, wobei dieses freie Assoziieren im „endlosen Meer der Gedankenwelt“ stattfindet. Über

Burroughs hingegen schreibt Brinkmann 1970, dass dessen cut up and fold in Methode das Ziel

habe, „das zwanghafte Muster bloßen Reagierens auf Wörter zu durchbrechen. Die bekannte Art

der Assoziation ist ersetzt worden durch ein Erzählen in Wortblöcken und Vorstellungsfeldern“,

die Handlung bestehe nur mehr „aus nebeneinandergestellten sowie ineinandergleitenden und

wieder zerschnittenen Stimmen“, aus „den Bewegungen der Stimmen, Mobiles, die sich in dem

aufgeweichten Augenblick jetzt, hier drehen.“ Clou der cut up Technik Burroughs sei die

Befreiung des „Stille-Virus“, die Suche nach dem plötzlichen Moment der Stille gemäß einer in

Der Film in Worten von Burroughs zitierten Wendung: „ein Loch in der Zeit finden“.

47 William S. Burroughs: Die unsichtbare Generation, in: ACID. S. 169.

20

Cut-up and fold-in ist keine bloße Montage, sondern eine subversive Strategie des samplings, das

bei Burroughs die kontaminierte Kommunikation zu befreien versucht: „a dynamic rhythm of

cohesion and fragmentation“, wie John Vernon betonte.48 Bei Brinkmann dagegen richtet sich

eben dieser Impuls der Befreiung eines kontaminierten Vermögens auf die menschliche

Wahrnehmung. Cut up bezeichnet bei ihm eine bestimmte Taktierung der Blicke, eine

Schnitttechnik des Sehens, wie das folgende Zitat aus Rom, Blicke verdeutlicht: „Denn die Blicke

machen ja ständig cut ups! Also hat der Burroughs gar nichts Neues erfunden!“49 Brinkmanns

Fokus liegt also auf der Dekonstruktion der kontaminierten Wahrnehmung, wie auch ein Zitat

Gottfried Benns verdeutlicht, das Brinkmann in Rom, Blicke ganz im Geiste der cut up-Methode

erläutert:

Ich erinnere mich an den Satz bei G. Benn, den ich mehr und mehr begreife, je mehr ich aus der Umwelt sehe: „Entweder ist Leben unbewußt, oder gar nicht“ – das kann doch nur heißen, daß alle Lebensvorgänge, überhaupt alle Lebensimpulse und die verschiedenen Ausprägungen dieses einen einzigen Lebensimpulses gar nicht gewußt sind – und daß es darauf ankommt, Stückchen für Stückchen dem zugänglich zu machen – mit Anstrengung, Beobachtung, Kombination: beobachten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen.50

Wenn Brinkmann in Rom, Blicke seine in ihrer Länge regelrecht exzessiven Briefe an seine Frau

Maleen oder seinen Studienfreund Rainer schreibt, dann geht es ihm offenkundig darum, „mit

Anstrengung, Beobachtung, Kombination“ die ihm in Rom oder den Überlandfahrten

begegnende Lebenswelt bewusst zu machen, und zwar durch eine auf die Wahrnehmung – nicht

wie bei Burroughs auf die Sprache – fokussierte Methode des cut up. Dies genau meint die

Formel „beobachten, auseinandernehmen, neu zusammensetzen.“ Auf diese Weise macht sich

Brinkmann in Rom, Blicke mit Burroughs auf die Suche nach den „Löchern in der Zeit“. Er sucht

Momente, in denen jene römischen „Straßenszenen“, die er bekanntlich als einen

„durchgehenden Non-Stop-Horror-Film der Sinne und Empfindungen“ 51 empfand, aufbrechen.

Gegen diesen Non-Stop-Horror-Film setzt Brinkmann die Suche nach den „Löchern in der Zeit,

und aus eben dieser Mischung entsteht jener „Rhythmus zwischen Anspannung und

Entspannung – für mich ist er immer wichtig gewesen.“ An anderer Stelle wird dieser Rhythmus

gegenüber Maleen präzise, ja nahezu suggestiv erläutert:

48 „In The Soft Machine Burroughs makes his best use of cutups by establishing with them a dynamic rhythm of

cohesion and fragmentation which becomes the experience of the novel. In the later novels, however, cutups come

to seize their own space, to have less to do with other sections of the novels, except as waste bins to catch those

sections when they d rop. They become stagnant pools of amputated language and space through which the reader

has to wade.“, vgl.: Vernon: Burroughs, a.a.O., S. 122. 49 Rolf Dieter Brinkmann: Rom, Blicke, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 93. 50 Ebd., S. 162. 51 Ebd., S. 34.

21

Atmen, einatmen, ausatmen:dasein:sehen, riechen, fühlen, begreifen: ins Dunkle tasten:denken – ich erzähle dir, Maleen, alle Geheimnisse, die ich weiß. Und Du vielleicht längst weißt? Atmen:ausatmen:sehen:mit dem Zug fahren, noch einmal!:(schaukelndes Eisen, schaukelnder Stahl, innen mit Polstern ausgeschlagen)/: Lust:( „in the swamps“?/:(/:lust englisch:last?)/:eine heulende Sirene der Verkehrpolizei?/:Platzbehauptung? Primatenverhalten physiologisch elendig verankert – dann sind enorme Zeiträume auszuarbeiten! Wozu? Anspannung, Entspannung:ganz einfaches Prinzip!/:Raussehen, nichts denken, träumen!/:(Kann man überhaupt tiefe Träume in Wörtern ausdrücken? Bezweifle ich aber stark! Ist eine Aufgabe. Sehr menschlich).52

Derlei Instruktionen und Anweisungen haben in Rom, Blicke einen kaum zu unterschätzenden

Stellenwert. Wie wichtig bei der Suche nach den „Löchern in der Zeit“ diese instruktiven

Anweisungen der Briefpartner ist, verdeutlicht auch das folgende Briefzitat, in welchem

Brinkmann sich im Zuge der Beschreibung seiner Romempfindungen wiederum an Maleen

richtet:

Ja, Du musst mit mir jetzt hier durchgehen, ich erzähle das alles, um Dir einen Eindruck zu vermitteln, wie einer, ich, eben dadurch geht. Und Du gehst dann, nach einiger Zeit, wenn Du hier bist, selber dadurch. Ist das noch ein Brief? Ich schreibe immerzu an Dich. Hast du das zwischendurch vergessen? (:Diese Unterbrechung ist eigentlich wie eine Zuwendung des Kopfes beim Zusammengehen durch diese Straße runter den Fluß, wie eben zwei Leute, nach einiger Zeit, in einer Unterhaltung, sich einander zuwenden.) (Wie wäre es, wenn Du mir einen Gang an irgendeinem Nachmittag durch Köln erzähltest, wie ein Gang durch den Park […]) Und wir gehen weiter, ich gehe weiter, und jetzt, als ein unsichtbarer Geist, sehr aufmerksam, hellwach, gehst du mit mir weiter. Da gehen wir, ich konkret, und du nebenher als ein unsichtbarer Geist, der, wenn er konkret da wäre, ganz andere Einzelheiten entdeckte, die ich wohl begierig bin zu hören, um sie auch sehen zu können, eine Straße runter in Richtung Tiber. Was würdest Du jetzt sehen? (Anderes! – Ja. Was anderes?)/:Jeder macht Cut-Ups mit seinen Augen, die durch Gedanken und Wertmuster in der Abfolge bestimmt sind. (Das Dritte ist der Gedanke, der die Wahrnehmung steuert, worauf sie fällt.)53

Brinkmanns Briefe an Maleen und Hartmut, die die Grundlage des Textes von Rom, Blicke

darstellen, bringen diese beiden Briefpartner auf Augenhöhe des aktuellen Erlebnisstromes,

sodass sie gleichsam „Schritt halten“ mit dem Romflaneur Brinkmann. Es geht um

Taktgleichheit, um eine imaginiere Synthese zweier Wahrnehmungen im Akt des Schreibens, ein

Verfahren, welches Brinkmann auch im obigen Zitat als „Cut-up“ bezeichnet: „Jeder macht Cut-

Ups mit seinen Augen, die durch Gedanken und Wertmuster in der Abfolge bestimmt sind.“

Diese Schnitte und ihre Abfolge werden in Rom, Blicke aus der dialogischen Perspektive der

voluminösen Briefe realisiert, also durch eine Disziplinierung der Briefpartner, durch deren

52 Ebd., S. 166. 53 Ebd., S. 135.

22

Angleichung an das Lesetempo und den Lauf- und Wahrnehmungsrhythmus des Schreibers

Brinkmann. Es ist eine Synchronisierung der Wahrnehmung von Sender und Empfänger des

Briefes, und zwar im filmischen Sinne, also bzgl. der jeweiligen Einstellungsdauer des Blickes, der

Einzelbildgeschwindigkeit. Das suggestive „wir gehen weiter“ unterstreicht diese Verklammerung

von Blick- und Schriftraum, diese taktgleiche Rhythmisierung von Wanderungs- und

Schreibtempo, der die Briefpartner sich zu fügen haben. Eine identische Funktion haben die

diversen Reise- und Stadtpläne bzw. die Romkarten, in denen Brinkmann seine Passagen, Gänge

und Fahrten durch die Stadt einzeichnet, inclusive signifikanter Haltepunkte, die zu Fundorten

erster Eindrücke und Notizen werden. Es ist also keine Briefkommunikation im herkömmlichen

Sinne, sondern ein Cut-Up und Fold-in im Sinne der zuvor zitierten Anweisungen aus Burroughs

Nova Express: Brinkmann wird das Herz und der Wahrnehmungsrhythmus seines Briefpartners,

gemäß des zitierten Mottos: „werden sie das atmende wort und das pulsierende herz dieser

organisation“. Erst vor diesem Hintergrund erklären sich jene eigentümliche, dem Materialband

beigefügte Straßen- und Landkarten, in denen Brinkmann seine Reiserouten nachzeichnete, und

zugleich in einem bisweilen 15-Minuten-Takt seine Wahrnehmungsereignisse umschreibt:

„ nach Halb : Die Sonne sackt ab“, „Viertel nach der Himmel ein geschmolzenes Gold“,

„Friesach Zehn vor “, „ Uhr: jetzt schon in einem blinden Abendgrau“: Diese Taktierung der

23

Wahrnehmung lässt sich in mehrfacher Hinsicht deuten. Klar dürfte sein, dass sie nicht zum

Wohle, sondern wohl eher zum Leidwesen des Briefpartners formuliert wird, insofern eine

herkömmliche Briefkommunikation sicher etwas anders funktionieren dürfte. Entweder folgen

diese Montagen der Blicke als cut ups also wie bei Burroughs einer gezielt enervierenden bzw.

provokativen Strategie, oder aber es geht in diesem phänomenologischen Stenogramm um die

Suche nach einem Moment der Stille, einem „Loch in der Zeit“. Wie immer dem sei, klar dürfte

sein, dass sich mindestens drei große Schwerpunkte prosodischer Verfahren im Werk

Brinkmanns beobachten bzw. neu entdecken lassen: Zum einen die auf Atemlosigkeit

abzielenden Bop-Prosodien im Sinne Kerouacs und Ginsbergs, wie sie für den Debütroman

Keiner weiß mehr kennzeichnend sind. Zweitens die hochkomplexe rhythmische Lyrik im Sinne der

Feldkomposition Charles Olsons, die diverse Gedichte aus Westwärts 1&2 kennzeichnet;

diesbezüglich muss man Brinkmanns auffallende Verwendung mehrerer Spalten des Textfeldes

auch als Variation der triadischen step-down-line von W.C. Williams verstehen, die ebenfalls eine

Lösung metrischer Monotonie zum Ziel hatte. Und schließlich die subversive, auf der Idee des

Stille-Virus im Sinne Burroughs abzielende Rhythmik des cut-up, wie Brinkmann sie in Rom,

Blicke, aber auch in den Materialbänden Schnitte und Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für

einen Aufstand experimentell erprobte.