Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław von Maté Tamáska 1 Einleitung 1.1 Architektur, Narration und Raumbenutzung Wrocław (Breslau) zählt mit seiner pulsierenden Altstadt zu den attraktivsten Städten Polens. Eine Altstadt, verstanden als der historische Kern von Groß- und Mittelstädten, stellt viel mehr dar als bloß einen Knotenpunkt der Außenbezirke. Sie ist darüber hinaus auch in der Geschichte verwurzelt und daher ein Träger von Identität, oder besser gesagt: von Identitäten. Stadtbewohner und Besucher von außerhalb, Fachleute und Laien, Angehörige unter- schiedlicher Generationen und sozialer Schichten messen denselben Steinen ganz unterschiedliche Bedeutungen bei. Die diversen Bedeutungen könnten kaum stärker voneinander abweichen als im Falle von Wrocław unmittelbar nach Kriegsende. Die Ruinen einer deutschen Stadt wurden in den darauffolgenden Jahren „polnisch“ wiederaufgebaut, d.h. diejenigen Baudenkmäler, denen man von polnischer Seite hohe Bedeutung zumaß, wurden unverzüglich und sorgfältig wiedererrichtet. Ziel war es, dem Stadtbild ein polnisches Antlitz zu verleihen. Diese spezielle Ge- schichtsschreibung mit Hilfe von Baudenkmälern wurde Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 61 (2012) H. 3

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Bedeutungsebenen der rekonstruiertenAltstadt von Wrocław

vonMaté Tamáska

1  Einleitung1.1  Architektur, Narration und Raumbenutzung

Wrocław (Breslau) zählt mit seiner pulsierendenAltstadt zu den attraktivsten Städten Polens. EineAltstadt, verstanden als der historische Kern vonGroß- und Mittelstädten, stellt viel mehr dar alsbloß einen Knotenpunkt der Außenbezirke. Sie istdarüber hinaus auch in der Geschichte verwurzelt unddaher ein Träger von Identität, oder besser gesagt:von Identitäten. Stadtbewohner und Besucher vonaußerhalb, Fachleute und Laien, Angehörige unter-schiedlicher Generationen und sozialer Schichtenmessen denselben Steinen ganz unterschiedlicheBedeutungen bei. Die diversen Bedeutungen könnten kaum stärker

voneinander abweichen als im Falle von Wrocławunmittelbar nach Kriegsende. Die Ruinen einerdeutschen Stadt wurden in den darauffolgenden Jahren„polnisch“ wiederaufgebaut, d.h. diejenigenBaudenkmäler, denen man von polnischer Seite hoheBedeutung zumaß, wurden unverzüglich und sorgfältigwiedererrichtet. Ziel war es, dem Stadtbild einpolnisches Antlitz zu verleihen. Diese spezielle Ge-schichtsschreibung mit Hilfe von Baudenkmälern wurde

Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 61 (2012) H. 3

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bereits ausführlich erforscht1, insbesondere vonGregor Thum2. Weniger häufig wird aber danach gefragt, wie die

Altstadt als Resultat städtebaulichen Schaffensheute funktioniert, wo ihre tatsächlichen Grenzenliegen und welche Bedeutungen sie für die heutigeGeneration symbolisiert. Um darauf eine Antwort zufinden, müssen wir zunächst näher auf das Span-nungsfeld „Architektur und ihre Narration“ eingehen.Nimmt man z.B. das Werk über den Dom in Wrocław vonMarcin Bukowski, eines der führenden Denkmalpflegerder Nachkriegszeit in Wrocław, zur Hand3, wird klar,dass der Wiederaufbau auch in anderer Weiseinterpretiert werden kann. Der historischenBedeutung des Sakralbaues widmet der Autor nureinige Zeilen, die innovative Eisbetonkonstruktiondes Dachstuhls behandelt er hingegen sehrausführlich. Ebenso zeigen BukowskisLiteraturhinweise, in der hauptsächlich Werke zuFragen der historischen Bau- undRekonstruktionstechnologie aufgeführt werden, dasser nicht auf die Diskussion über die Identität derArchitektur eingehen, sondern sich derinternationalen Gemeinschaft der Denkmalpflegerpräsentieren möchte. Dieses Beispiel zeigt, dass mandie beiden Bereiche „Technologie“ und„Identitätskraft des Wiederaufbaues“ auchvoneinander getrennt darstellen kann. Nicht jedesArchitekturerbe ist nämlich automatisch einKulturerbe, und eine Rekonstruktion selbst ist nicht1 Eine kurze Zusammenfassung zur Geschichte der

Architekturforschung über Wrocław findet man bei PIOTRKUROCZYŃSKI: Die Medialisierung der Stadt. Analoge unddigitale Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945,Bielefeld 2011, S. 112-117

2 GREGOR THUM: Die fremde Stadt. Breslau 1945, Berlin2003.

3 MARCIN BUKOWSKI: Katedra Wroclawska [Der Breslauer Dom],Wrocław 1962, S. 242, 244 ff.

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unbedingt ein symbolisches, politisches oderideologisches Werk, sondern oft eine rein technischeHerausforderung. Wenn man die symbolische Kraft desWiederaufbaues überbetont, verfälscht man diesoziologische Rolle der Architekten und läuftGefahr, deren politische Macht zu überschätzen.Gerade wenn man über den Wiederaufbau spricht,sollte man die ideologische Komponente nur behutsamins Spiel bringen. Der Wiederaufbau nach dem ZweitenWeltkrieg war vor allem eine technischeHerausforderung, bei der die Architekten effektiveLösungen umsetzen mussten (wie die Eisbetonkon-struktion in dem Dachstuhl). Insbesondere beimWohnungsbau standen symbolische oder politischeZwecke erst an zweiter Stelle.4 Ein von Ideologiegeprägtes Schaffen der Architekten wird auch dadurcherschwert, dass die Denkmalpflege selbst oft garkeine Möglichkeit hat, sich für oder gegen einpolitisches Regime zu entscheiden und dahergezwungen ist mit der Politik zu kollaborieren. Siemusste und muss sich daher bis heute einer Sprachebedienen, die es ihr erlaubt, den MachthabernFinanzmittel zu entlocken.5

4 WERNER DURTH: Utopia im Niemandsland: Stadtplanung alsVernichtung, in: DIETER BINGEN, HANS-MARTIN HINZ (Hrsg.): DieSchleifung. Zerstörung und Wiederaufbau historischerBauten in Deutschland und Polen, Wiesbaden 2005, S. 47-65,hier S. 47 f.

5 Ein typisches Beispiel dafür ist die Germanisierungdes Wawels in Kraków (Krakau) seitens deutscherDenkmalpfleger während der nationalsozialistischenBesatzung, wodurch das Baudenkmal und sein Kulturerbe dieKriegszeiten überstehen konnten. SANDRA SCHLICHT: ZwischenAneignung und Ablehnung. Deutsche Besetzung Polens und derUmgang mit Architektur und Kunst, in: ANDREA LANGER (Hrsg.):Der Umgang mit dem kulturellen Erbe in Deutschland undPolen im 20. Jahrhundert. Beiträge der 9. Tagung desArbeitskreises in Leipzig, 26.-29. September 2002,Warszawa 2004, S. 131-140, hier S. 140.

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Hierbei ist auch zu beachten, dass sich dieNarrationen in der Denkmalpflege viel schnellerverändern als die morphologischen Elemente selbst.Ein typisches Beispiel hierfür ist die Stadt Poznań(Posen) in den 1920er Jahren. Obwohl die polnischenBehörden anfangs den Abriss der preußischen Presti-gebauten angestrebt hatten, blieben diese Gebäudeerhalten. Sie bekamen neue Funktionen, soverwandelten sich z.B. die früherenVerwaltungsgebäude in einen Campus. NeueBaudenkmäler wurden gezielt so platziert, dass siedie preußischen Prestigebauten aus dem Stadtbildausblendeten.6 Das Kulturerbe, also die Narrationeiner Stadtlandschaft, ist mehr oder wenigerunabhängig von der städtebaulichen Morphologie.7 Eswird zwar durch Gebäude inspiriert, stellt aber imGrunde genommen ein Kommunikationsfeld dar. Ohneeine Gruppe, die es pflegt und bewahren will, kannein Kulturerbe nicht existieren.8 Der Charakterdieser kulturtragenden Gruppe kann sehr unterschied-lich sein, doch im 20. Jahrhundert spielte hierfürzweifellos die nationale Frage eine zentrale Rolle.9

Sie war gerade auch in Wrocław besonders umstritten.Rudolf Stein vergaß in seiner wertvollen Studie überden Breslauer Ring (Rynek) nicht anzumerken, dass

6 HANNA GRZESZCZUK-BRENDEL: Das Gedächtnis des Raumes.Architektonisch-urbanistische Identifikationen in Posennach dem Ersten Weltkrieg, in: LANGER (wie Anm. 5), S. 93-106, hier S. 99, 102.

7 LOUIS ALTHUSSER: Ideology and Ideological StateApparatuses, in: DERS.: Lenin and Philosophy and otherEssays, New York 1971, S. 127-188, hier S. 155.

8 GREGORY ASHWORTH, PETER HOWARD: European Heritage Planningand Management, Portland 1999, S. 10, 79.

9 Sogar das Weltkulturerbe erwuchs aus den einzelnenNationalerben. Vgl. dazu ERDŐSI PÉTER, SONKOLY GÁBOR: Levelsof National Heritage Building in Central Europe since1990, in: MORITZ CSÁKY, MONIKA SOMMER (Hrsg.): Kulturerbe alssoziokulturelle Praxis, Wien 2005, S. 147-163.

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der Schöpfer dieses Werkes der „gesamte deutscheStamm“ sei.10 Einige Jahrzehnte später deklarierteman die Stadt dann schon zu einem Werk despolnischen Volkes.11

Das Kulturerbe ist aber keine bloße Ideologiebezüglich der städtebaulichen Morphologie. LetztenEndes entscheiden die über ihn geführten Diskurseüber die Werte und Nicht-Werte, das Erbe und Nicht-Erbe. Das Ergebnis dieser Diskurse wirkt sich aufdas Schicksal der einzelnen Gebäude und Stadtteileaus. Eine kostspielige Rekonstruktion lässt sichüberhaupt nur dann durchführen, wenn die Bauobjektezuvor schon als Kulturerbe erfasst und akzeptiertworden sind. Erst mit dieser auf Emotionen undwissenschaftlichen Prinzipien beruhendenVorbereitung ist es möglich die Mittel für die Bau-arbeiten einzuwerben. In dieser Hinsicht war es vongroßer Bedeutung, dass sich Wrocławs neueBevölkerung, vor allem die Bildungselite, rasch mitder Stadt identifizieren konnte.12

1.2  Fragestellung und Methodologie

Angesichts dieser methodischen Dilemmata will dievorliegende Arbeit die zwei Inhaltsebenen desWiederaufbaues – reine Architektur und Narrationenüber die Architektur – getrennt voneinanderanalysieren. Als eine dritte Ebene kommt diealltägliche Raumnutzung13 hinzu, die sich nicht

10 RUDOLF STEIN: Der große Ring zu Breslau, Breslau 1935,S. XI.

11 THUM (wie Anm. 2), S. 349.12 Innerhalb dieses Prozesses lassen sich drei Phasen

unterscheiden: Feindschaft, Eingewöhnung und Aneignung.Vgl. dazu ZBIGNIEW MAZUR: Das deutsche Kulturerbe in denWest- und Nordgebieten Polens, in: Osteuropa 47 (1997), S.633-649.

13 Vgl. dazu EDWARD HALL: The Hidden Dimension, New York1966.

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ausblenden lässt, wenn man die heutigen Funktionender rekonstruierten Altstadt untersuchen möchte. Die erste Ebene betrifft die Architektur selbst

und die Beschreibung der physikalischen Grenzen derAltstadt. Hierzu werden im Folgenden sowohl diefachlichen Konzepte des Wiederaufbaus als auch dieheutige Gestalt der Stadtlandschaft vorgeführt. Diezweite Ebene fokussiert auf die maßgeblichenDiskurse über die historische Stadt. Sie wird anhandvon Medien (wie z.B. Reiseführern) analysiert, dieden alltäglichen Stadtnutzern Informationen über diehistorischen Werte der Stadtlandschaft vermitteln.Die dritte Ebene betrifft die alltäglichenRaumnutzer selbst. Eine repräsentative Erhebung dergesamten Stadtbevölkerung war hier nicht möglich,stattdessen wurde mit den Studenten eine spezielleGruppe ausgewählt. Die Raumwahrnehmungen dieserGruppe ermöglichen Rückschlüsse zu der Frage, welcheKonstruktionen der Stadtlandschaft sich durch diealltägliche Raumnutzung ergeben. Jede der drei Ebenen beruht auf eigenen

empirischen Daten. Die erste Ebene wird anhand vonFachliteratur untersucht14; ergänzt durch eine vomVerfasser erstellte Fotodokumentation derStadträume. Für die zweite Ebene wird sowohl Fach-als auch populärwissenschaftliche Literaturherangezogen15, um die maßgeblichen Diskussionen über

14 Einen besonders wichtigen Orientierungspunkt stelltdabei das Buch von THUM (wie Anm. 2) dar. Außerdem sindwichtig MARCIN BUKOWSKI: Wrocław z lat 1945-1952. Zniszczeniai dzieło odbudowy [Breslau 1945-1952: Die Zerstörung unddas Wiederaufbauwerk], Warszawa 1985; EDMUND MAŁACHOWICZ:Stare miasto we Wrocławiu. Zniszczenie, odbudowa, program[Die Altstadt in Breslau. Zerstörung, Wiederaufbau,Programm], Warszawa 1976.

15 BEATA MACIEJEWSKA, STANISŁAW KLIMEK: Wroclaw – Breslau.Stadt der Begegnung, Wrocław 2008; RAFAŁ EYSYMONTT, STANISLAWKŁIMEK: Breslau. Architektur und Geschichte, Wrocław 2007.

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die Stadtlandschaft zu erfassen.16 Im Falle deranalysierten Bilder- und Reisebücher sind wenigerder Inhalt selbst als vielmehr die Konzeptionen derBücher interessant: Welche Gebäude bzw. Epochenwerden gezeigt bzw. nicht gezeigt? Die Untersuchungder dritten Ebene basiert auf einer Datenerhebung inForm des mental mapping, also anhand kognitiverKarten17, unter 63 Studenten. Da es hier in ersterLinie um deren kognitive Repräsentationen derStadtlandschaft und nicht um eine statistische bzw.repräsentative Datenerhebung geht, folgte dieAuswahl der Studenten keiner Survey-Methode. Ebensowenig wurde nach studienfachspezifischenUnterschieden gesucht, obwohl die Befragtenunterschiedliche Fächer studieren (Geschichte,Soziologie und Kunstgeschichte). Die Studentenmussten ihre kognitiven Karten aus dem Kopf auf einleeres Blatt Papier zeichnen. Als Aufgabe bekamensie nur mitgeteilt, die Altstadt und ihrewichtigsten Objekte kartografisch darzustellen.

2  Über den Begriff und dieRekonstruktion der „Altstadt“

In einem ersten Schritt wird die Altstadt also alsein stadtmorphologisches Ensemble behandelt. Sie istnach diesem Verständnis eine Zone, in der die16 Die durch dominierende Diskurse entstandene

Stadtlandschaft bildet zugleich das repräsentativeSelbstbild einer historischen Stadt, seine skyline. SPIROKOSTOF: Das Gesicht der Stadt. Geschichte städtischerVielfalt, Frankfurt a.M. – New York 1992, S. 279.

17 Vgl. dazu PETER R. GOULD, RODNEY R. WHITE: Mental Maps,London – New York 1974; CHARLES J. HOLAHAN: EnvironmentalPsychology, New York 1984; KEVIN LYNCH: The Image of theCity, Cambridge/Mass. 1960; STANLEY MILGRAM: PsychologicalMaps of Paris, in: HAROLD M. PROSHANSKY, WILLIAM H. ITTELSONu.a. (Hrsg.): Environmental Psychology. People and TheirPhysical Settings, New York 1976, S. 104-124.

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Relikte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichenStädtebaus vorherrschend sind.18 Der Begriff„historische Stadt“ tauchte schon um 1900 auf, alsCamillo Sitte sein berühmt gewordenes Buch übermittelalterliche Stadträume veröffentlichte.19 Knappein Jahrhundert später betont auch ChristopherAlexander die Vorzüge der mittelalterlichenStadträume gegenüber dem industriellen Zeitalter.20

Seiner Ansicht nach weise die mittelalterliche Stadteine organische Harmonie auf, die man in derModernität vergeblich suche. Es ließen sich nochzahlreiche weitere Grundlagenwerke zum Städtebau mitähnlichen Grundgedanken anführen. Wichtiger noch istes aber zu betonen, dass der Begriff „historischeStadt“ heutzutage auch im Alltag verwendet wird. Derwesteuropäische Mensch der 21. Jahrhunderts nimmtdie historische Stadt als etwas Besonderes und alsein wertvolles Kulturerbe wahr.21

In Wrocław trennte der Stadtgraben derVorkriegszeit die Altstadt von den modernenStrukturen des 19. und 20. Jahrhunderts. DieseSituation war entstanden, weil das alte Zentrumwährend der Industrialisierung nur zögernd umgebautund die außerhalb des Stadtgrabens liegenden Gebiete

18 In der Stadtmorphologie werden drei Städtetypenunterschieden: die vorindustrielle Handwerkerstadt, dieindustrialisierte Stadt und die regionale Stadt des 20.Jahrhunderts. Siehe dazu ARTHUR GALLION: The Urban Pattern,Toronto 1950; KEVIN LYNCH: A Theory of Good City Form,Cambridge 1981.

19 CAMILLO SITTE: Städtebau nach seinen künstlerischenGrundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen derArchitektur und monumentalen Plastik unter besondererBeziehung auf Wien, Wien 1909.

20 CHRISTOPHER ALEXANDER, SARA ISHIKAWA, MURRAY SILVERSTEIN:Pattern Language. Towns, Buildings, Construction, Oxford1977.

21 DAVID LÖWENTHAL: The Past is a Foreign Country,Cambridge 1985, S. 341.

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stark in Anspruch genommen worden waren.22 DieKoexistenz von Alt und Neu ist sogar im heutigenWrocław zu spüren, obwohl man nach denKriegszerstörungen nicht das ganze Stadtgefügewiederherstellen konnte und wollte.23

Die Altstadt von Wrocław bezieht ihren besonderenCharakter also aus der Tatsache, dass sie eigentlichgar nicht alt ist, sondern nur alt aussieht.24 Dersog. „historische Wert“ im Sinne von Alois Riegl25

fehlt wegen der vollständigen Vernichtung 1944/45.26

Aber auch die Art und Weise der Rekonstruktion istam Verschwinden des historischen Wertes mitschuldig.

22 WOLFGANG KREFT: Stadtentwicklung in Schlesien im 19. und20. Jahrhundert. Eine Leitlinie zum Forschungsprojekt„Historisch-topographischer Städteatlas von Schlesien“,in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 56 (2007),S. 251-277, hier S. 259; DERS: Schlesische Städte imSpiegel topographischer Karten. Ein multimediales Atlas-projekt zur Siedlungsentwicklung vom 19. bis zum 21.Jahrhundert, in: MAREK HAŁUB, ANNA MAŃKO-MATYSIAK (Hrsg.):Śląska Republika Uczonych/Schlesische Gelehrten-republik/Slezská vědecká obec. Bd. 4, Wrocław 2010, S.419-434, hier S. 420; AGNIESZKA ZABŁOCKA-KOS: Zrozumiećmiasto. Centrum Wrocławia na drodze ku nowoczesnemu city1807-1858 [Die Stadt verstehen. Das Stadtzentrum vonBreslau auf dem Weg zur modernen City 1807-1858], Wrocław2006, S. 369; MARTA MŁYNARSKA-KALETYNOWA (Hrsg.), RAFAŁ EYSYMONTT(Mitarb.): Atlas historyczny miast polskich. T. 4, zesz.1: Wrocław [Historischer Städteatlas von Polen. Bd. 1,Heft 4: Wrocław], Wrocław 2001, S. 28.

23 THUM (wie Anm. 2), S. 243. 24 OLGIERD CZERNER: Rynek Wrocławski [Der Breslauer Ring],

Wrocław 1976, S. 131.25 Vgl. ALOIS RIEGL: Der moderne Denkmalkultus. Sein Wesen

und seine Entstehung, Wien 1903.26 MAŁACHOWICZ, Stare miasto we Wrocławiu. Zniszczenie,

odbudowa, program (wie Anm. 14), S. 89; Die schwerbeschädigten, aber noch stehenden Häuser wurdensystematisch abgerissen, um deren Ziegel nach Warszawa(Warschau) transportieren zu können. THUM (wie Anm. 2), S.197.

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Der Wiederaufbau zielte auf die stilistische Einheitder historischen Straßenräume. Diese Methode ähnelteder Denkweise des Purismus in der Denkmalpflege des19. Jahrhunderts. Elemente, die diesem Programmnicht entsprachen, wurden nur selten renoviert undbisweilen sogar abgerissen.27 Der Versuch einertotalen Rekonstruktion der verschwundenenStraßenräume ist oft als polnischer Weg derDenkmalpflege bezeichnet worden. Man sollte aberbedenken, dass es sich hierbei um eininternationales architektonisches Programm handelt,in dem der Wiederaufbau der polnischen Städte nureine von mehreren Stationen darstellt.28 DieBesonderheit des polnischen Falles in derNachkriegszeit liegt vielmehr darin, dass hier derWiederaufbau in einem besonders großen Maßstabdurchgeführt wurde.29

Die totale Rekonstruktion wird in dem modernenKanon der Architekturtheorie bis heute vehementabgelehnt, da diese Methode – so der Vorwurf – dieschöpferische Originalität der Kunst vermissenlasse.30 Dieser Einwand lässt aber außer Acht, dassdie Rekonstruktion, wie das Wort selbst zeigt, nicht27 Zur Regotisierung der Altstadt siehe ebenda, S. 441.28 Es lassen sich mindestens drei Prinzipien

unterscheiden, die dazu führen, dass zerstörte Gebäudegegen den Willen der Architekten wiedererrichtet werden:das mahnende, das ästhetische und das ökonomische Prinzip.WINFRIED NERDINGER : „Warum wurde und wird rekonstruiert“ –Rekonstruktion als politische, ideologische oderästhetische Handlung, in: UTA HASSLER, DERS. (Hrsg.): DasPrinzip Rekonstruktion, Zürich 2010, S. 14-29.

29 KONSTANTY KALINOWSKI: Der Wiederaufbau der Altstädte inPolen in den Jahren 1945-1960, in: ÖsterreichischeZeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 32 (1978), S. 81-93, hier S. 87.

30 UTA HASSLER: Verlustkompensation und dasRekonstruktionstabu in der Ideologie der Moderne – dieantihistorischen Prämissen, in HASSLER/NERDINGER (wie Anm.28), S. 30-63, hier S. 37.

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ohne konstruktives Denken existieren kann. Um dieJahrhundertwende, als die Architektur neue Wege ausdem Historismus suchte, war es nochselbstverständlich diese Bedeutung des Wortes zubetonen. Die Rekonstruktion des Wissens über denStädtebau des vorindustriellen Zeitalters diente alsMittel dafür, neue Probleme der modernen Stadtarchitektonisch zu lösen.31 Die im Falle Wrocławsangestrebte pittoreske Gestaltung32, also dasKonstruieren von alt aussehenden und bildhaftenEnsembles, war zwar ohne Zweifel einekonservatorische Strömung, jedoch keine unkritischeNachahmung alter Bauweisen.33 Die pittoreskeArchitektur wollte, ähnlich wie die Moderne, etwasNeues schaffen, nur waren die Antworten völligunterschiedlich. Die moderne Architektur wirkte mitihren ahistorischen Formen radikal neu, während diepittoreske Architektur, die in deutschem Sprachraumoft Heimatarchitektur genannt wurde, nach derWiederbelebung der Gemütlichkeit dervorindustriellen Städte strebte. Der polnische Weg der Denkmalpflege war also der

Nebenpfad eines architektonischen Programms, das vonden 1920er bis zu den 1940er Jahren europaweit vieleAnhänger hatte. Das Pittoreske eroberte auch dieAltstädte. Insbesondere nach den Zerstörungen durchden Ersten Weltkrieg bestand Bedarf für eine solche

31 Dies gilt nicht zuletzt für SITTE (wie Anm. 13), derden Städtebau von Wien reformieren wollte.

32 Die Pittoreske war ursprünglich für Gartenstädteentworfen worden. Zur Pittoreske siehe KOSTOF (wie Anm.16), S. 70; Vgl. auch WALTER L. CREESE: The Search for Envi-ronment. The Garden City Before and After, New Haven –London 1966.

33 HANS-GÜNTHER ANDERSEN: Von schleswig-holsteinischerHeimatschutz-Architektur, in: GEERD DAHMS, GIESELA WIESE u.a.(Hrsg.): Stein auf Stein. Ländliches Bauen zwischen 1870und 1930, Kiekeberg u.a. 1999, S. 207-236, hier S. 208.

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Architektur.34 Die wiedererrichteten Städte strebtennicht nach Originalität, sondern nach Modernisierungund einer altertümlich aussehenden pittoreskenGestaltung.35 Wenn man die entsprechenden Rekon-struktionen der im Ersten Weltkrieg zerstörtenostpreußischen Städte anschaut, erstaunt es, wieviele Neuerungen in dieser Bauweise umgesetzt wur-den.36 Dass die Modernisierung und die pittoreskeArchitektur parallele Bestrebungen waren, belegt dieSanierung von Gdańsk (Danzig) in den 1930er Jahrennachdrücklich. Einschlägige Forschungen zeigensogar, dass die pittoreske Altstadtsanierung als einarchitektonischer Stil angesehen werden kann, dereigene Attribute (wie z.B. eine zurückhaltendeDekoration, schematische Symbole auf den Portalen,ruhige Fassaden mit Betonung der Baukörper)hervorgebracht hat.37

Aus architektonischer Sicht kann also die Altstadtentweder im Original vorhanden sein oderrekonstruiert werden, doch in beiden Fällen soll sieein historisches Milieu schaffen. Dieses historischeMilieu ist aber nicht leicht zu fassen, wenn man die34 Dies war u.a. in Belgien und Nordfrankreich der Fall.

Vgl. dazu ANDRÉ DE NAEYER: La reconstruction des monumentset des sites en Belgique après première Guerre Mondiale,in Monumentum 20 (1992), S. 167-187.

35 MAŁGORZATA OMILANOWSKA: „Wie der märchenhafte Phönix ausder Asche werden sie auferstehen“. Haltungen zumWiederaufbau und zur Restaurierung von Baudenkmälern inPolen in den Jahren 1915-1925, in: LANGER (wie Anm. 5), S.79-91, hier S. 86.

36 JAN SALM: Der Wiederaufbau der Städte im ehemaligenOstpreußen nach dem Ersten Weltkrieg. Ein Beitrag zurForschung, in: MICHAL WOŹNIAK (Hrsg.): Kunstgeschichte undDenkmalpflege. IV Tagung des Arbeitskreises deutscher undpolnischer Kunsthistoriker und Denkmalpfleger, Toruń 2002,S. 189-212, hier S. 193.

37 BIRTE PUSBACK: Rekonstruktion eines Wunschbildes. DieWiederherstellung Danziger Bürgerfassaden in der NS-Zeit,in: HASSLER/NERDINGER (wie Anm. 37), S. 168-189, hier S. 170.

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Altstadt als sozialen Raum behandelt.38 Aussoziologischer Sicht ist die Altstadt nichtautomatisch alt oder traditionell, da gerade diehistorischen Stadtzentren oft pulsierendeSchauplätze sich schnell wandelnder sozialerHandlungen sind. Ohne die moderne Urbanität würdeder Begriff „Altstadt“ gar nicht existieren. DieseSymbiose von Alt und Neu beeinflusst die ganzeZeitauffassung der modernen (und auch der postmoder-nen) Gesellschaft und macht die Geschichte alssolche begreifbar.39 Je mehr eine Gesellschaft, sobehauptet Pierre Nora, seine Traditionen verliere,desto größer werde das Verlangen, eine Traditionkünstlich aufzubauen und dadurch Erinnerungssymbole,u.a. Denkmäler und Denkmalzonen, zu kodifizieren.40

Die denkmalgeschützte Altstadt symbolisiert dieOrtsgeschichte im Allgemeinen und begünstigt dieAusbildung einer lokalen Identität. In Wrocławverfügt das historische Zentrum über eine besondersstarke Identitätskraft, da sich hier anderehistorische Kulturelemente, wie z.B. die deutsch-sprachige lokale Literatur, allein schon wegen derSprachbarriere nur mit großen Schwierigkeiten zupflegen lässt.41

38 HENRI LEFÈBVRE: A város jogán... Szemelvények, in:CSONTOS JÁNOS, LUKOVICH TAMÁS (Hrsg.): Urbanisztika 2000,Budapest 1999, S. 37-46, hier S. 37; erweitertefranzösische Fassung: Le droit à la ville, Paris 1972.

39 REINHART KOSELLECK: Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M.2006; FRANÇOIS HARTOG: Régimes d’historicité. Présentisme etexpériences du temps, Paris 2002; JOHN H. GOLDTHORPE: The Useof History in Sociology. Reflection on some RecentTendencies, in: British Journal of Sociology 42 (1991), 2,S. 211-230; DAVID LOWENTHAL: The Heritage Crusade and theSpoils of History, Cambridge 2003.

40 Zu den Erinnerungsorten vgl. PIERRE NORA: ZwischenGeschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1998.

41 Die besondere Relevanz der Architektur in Wrocławbetonen auch HILARY BOWN, KAROLINA FUHRMANN, MACIEJ MILEWICZ:

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Die Altstadt als Sozialraum weckt aber nicht nurErinnerungen, sondern ist wegen ihrer zentralen Lageauch Schauplatz diverser gesellschaftlicherHandlungen und ökonomischer Interessen. DieAuswirkungen des Massen- und Luxustourismus lassensich hier nicht mehr wegdenken.42 Die Tourismus-industrie (Hotels, Cafés, Souvenir-Shops, Museen,Führungen usw.) und ihre Logistik habenstandardisierte soziale Räume gerade auch in deneindrucksvollsten europäischen Altstädten erzeugt.Diese Räume sind von den lokalen Traditionengrößtenteils unabhängig und werden von dem Anthropo-logen Marc Augé als „Nicht-Orte“ bezeichnet.43

Insbesondere kleinere Städte beschränken sichgänzlich auf ihre touristische Funktion44, dochbesteht diese Gefahr auch für größere Städte.Zwar lockt Wrocław Touristen in großer Zahl an,

doch lässt sich in diesem Fall nicht von einer

Geschichtspolitik und lokale Identität in Breslau seit1989, in: PHILIPP THER, TOMASZ KRÓLIK u.a. (Hrsg.): Daspolnische Breslau als europäische Metropole – Erinnerungund Geschichtspolitik aus dem Blickwinkel der OralHistory, Wrocław 2005, URL: http://homepage.univie.ac.at/philipp.ther/breslau/html/Geschichtspolitik.html(11.10.2011); PIOTR ŻUK: Wrocławskie pomosty do europy – oeuropejskiej tożsamości w lokalnych warunkach [BreslauerBrücken nach Europa – europäische Identität im lokalenRahmen], in: DERS., JACEK PLUTA (Hrsg.): My Wrocławianie,Wrocław 2006, S. 35-58, hier S. 42.

42 UTA HASSLER, GREGERS ALGREEN-USSING, NIKLAUS KOHLER: CulturalHeritage and Sustainable Development in SUIT (SustainableDevelopment of Urban Historical Areas through an ActiveIntegration within Towns). Forschungsbericht 2002, URL:http://gaston.lema.arch.ulg.ac.be/research/suit/download/SUIT5.2c_PPaper.pdf 11.09. 2010 (11.10.2011).

43 MARC AUGÉ: Nicht-Orte. Frankfurt a.M. 1992, S. 123.44 GREGORY J. ASHWORTH: Heritage Planing. An Approach to

Managing Historic Cities, in: ZBIGNIEW ZUZIAK (Hrsg.):Managing Historic Cities, Kraków 1993, S. 27-48, hier S.45.

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monofunktionalen Entwicklung sprechen. Das gesamtestädtische Leben konzentriert sich auch heute in derAltstadt. Das heißt aber gleichzeitig, dass dort dieZeit keinesfalls stehengeblieben ist, sie vergehtvielmehr wie im Fluge. All das erzeugt eine erhöhteSpannung zwischen der historisch geprägtenarchitektonischen Umgebung und dem zeitgenössischensozialen Milieu.Dieses Milieu wird immer stärker geprägt durch die

Merkmale der globalisierten Gesellschaft, also durchFilialen weltweiter Ladenketten, uniforme Werbungund ganz allgemein durch Lebensmuster, die aufKonsum hin ausgerichtet sind. Wrocław, wie auchandere mittlere Großstädte überall auf der Welt,wird immer enger in globale Netzwerke eingebunden.45

Die Globalisierung berücksichtigt kaum noch diespezifischen Eigenschaften historischer Städte.Manuel Castell bezeichnete die dadurch entstandenenStadträume als space of flow.46 In diesen Stadträumenwiderspricht die globalisierte Gegenwart derhistorischen Zeiterfahrung. Statt lokalerVerbundenheit entstehen flexible und unüberschaubareNetzwerke. In der Altstadt des space of flow entwickeltsich der Stadtkörper nicht mehr aus derVergangenheit durch die Gegenwart bis in dieZukunft, sondern die globalisierte Gegenwart strömtin

45 THOMAS SIEVERTS: Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt,Raum und Zeit, Stadt und Land, Braunschweig 1997, S. 9.

46 EMANUEL CASTELLS: Crisis, Planning, and the Quality ofLife. Managing the New Historical Relationships betweenSpace and Society, in: Society and Space 1 (1983), S. 3-21, hier S. 4.

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Breslau 1932. Ausschnitt aus: Plan der HauptstadtBreslau, Breslau 1932 (Herder-Institut- Marburg,Kartensammlung, K 14 VIII B 33)

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Wrocław 2012, URL: http://openstreetmap.de

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die alten Strukturen hinein. Die Filialenmultinationaler Konzerne, die aus Prestigegründen inhistorische Gebäude einziehen47, setzen die lokaleTradition des genius loci kaum fort. Sie sind vielmehrdarum bemüht, die Stadt mit dem globalen Kapital zuverknüpfen. Äußere Netzwerke beeinflussten dieStadtentwicklung natürlich immer schon. DieGlobalisierung verstärkte jedoch diesen Effekt ineinem bis dato ungekannten Maßstab.Die Gedanken von Castell sind typisch für die

Postmoderne und stehen in enger Verbindung mitanderen Theoretikern der gegenwärtigen Soziologie,die die neuen Makrosysteme der Welt beschreibenmöchten.48 Die Postmoderne weist aber auch eineandere Strömung auf, in der die Mikroebene derGesellschaft ins Blickfeld gerät. Diese Strömungversucht diejenigen Gruppen zu identifizieren, dieüber keine Macht verfügen, und deren verschiedenenDiskurse zu erkennen und zu analysieren. Dersogenannte cultural turn hat die Erforschung derStadtlandschaft tiefgreifend beeinflusst.49 Bis indie letzten Jahrzehnte hinein verlief das Denkenüber die Stadtlandschaft bzw. das Stadtbild in einemeinheitlichen Kanon, der von Stadtplanern, Denkmal-pflegern und Kunsthistorikern dominiert wurde. DiePostmoderne lehnt diesen einheitlichen Kanon ab undversucht die nicht-professionellen Raumerlebnissevon Passanten kennenzulernen.50 Es wird nicht mehrgefragt, wie es früher gewesen sein mag und ob die47 GIORGIO PICCINATO: All Cities all Historic (But some

more so than Others), in: ZUZIAK (wie Anm. 44), S. 49-54,hier S. 50.

48 ULRICH BECK: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eineandere Moderne, Frankfurt a.M. 1986; DERS., ANTHONY GIDDENS,SCOTT LASH: Reflexive Modernization. Politics, Tradition andAesthetics in the Modern Social Order, Cambridge 1994.

49 MARIUSZ CZEPCZYNSKI: Cultural Landscapes of Post-Socialist Cities. Representation of Powers and Needs,Burlington – Hampshire 2008, S. 24.

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täglichen Nutzer des Stadtraums die vorgegebenenNarrative gut genug kennen. Der Grundgedanke descultural turn betont, dass die täglichen Nutzer diesenStadtraum selbst konstruieren. Durch das alltäglicheHandeln entstehen Räume, die nicht unbedingt iden-tisch mit den Raumvorstellungen der Stadtplaner undDenkmalpfleger sind, jedoch relevante Informationenüber die Stadtlandschaft vermitteln 51

Die bisherigen Ausführungen lassen sich in einerArbeitsdefinitionen zusammenfassen: Erstens lässtsich die Altstadt vor allem als eine städtebaulicheMorphologie definieren, in der vorindustrielleGrundformen entscheidend sind (Kap. 3). Zweitenswird die Altstadt als ein Erinnerungsort angesehen,der von Architekten, Kunsthistorikern undPublizisten erstellt wird (Kap. 4). Drittens ist dieAltstadt ein Schauplatz sozialer Handlungen wie z.B.Tourismus, Kleinhandel und Bildung, u.a. in Form vonUniversitäten (Kap. 5).

3  Die Altstadt von Wrocław alsstädtebauliches Ensemble

3.1  Das architektonische Programm der Rekonstruktion

Wenn man die Rekonstruktion Wrocławs in derNachkriegszeit verstehen will, darf man nicht diestädtebaulichen Bestrebungen vor 1939 vernachlässi-

50 Vgl. dazu CLIFFORD GEERTZ: The Interpretation ofCultures, New York 1973.

51 Vgl. dazu u.a. IAIN S. BLACK: (Re)reading ArchitecturalLandscapes, in: IAIN ROBERTSON, PENNY RICHARDS (Hrsg.):Studying Cultural Landscapes, London 2003, S. 19-46.;GEERTZ (wie Anm. 50); RICHARD JOHNSON, DEBORAH CHAMBERS, PARVATIRAGHURAM, ESTELLA TINCKNELL: The Practice of Cultural Studies,London 2004; LILY L.L. KONG: A „New“ Cultural Geography?Debates about Invention and Reinvention, in: ScottishGeographical Magazine 113 (1997), 3, S. 177-185, URL:http://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/00369229718737011 (4.06.2012).

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gen. Insbesondere ist festzuhalten, dass Breslau einOrt war, wo die pittoreske Architektur florierte.Sie konkurrierte natürlich mit anderen, modernenStrömungen. Während Max Berg ein Hochhaus auf demRing plante, versuchte Rudolf Stein das Stadtbilddes 18. Jahrhunderts zu rekonstruieren.52 Diese Be-strebungen, die alte Architektursprache wiederlebendig werden zu lassen, bedeuteten aber nicht,dass man aus Verkehrsgründen nicht bereit gewesenwäre, alte Häuser abzureißen. So war z.B. in den1920er Jahren geplant die Randbebauung desBlücherplatzes (pl. Solny) zu öffnen und einerepräsentative Allee direkt auf den Ring zu führen.53

Ebenso stellte es keinen Widerspruch gegen diepittoreske Architektur dar, eine ganze Häuserzeileentlang der alten Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundertabzureißen und dort die schon lange zuvor geplanteRingstraße, nun als ul. Kazimierza Wielkiego, anzu-legen.54

Die Rekonstruktion der zerstörten Stadt nach 1945griff auf das Pittoreske zurück. Man wollte dievorindustrielle Ästhetik mit den Funktionen einermodernen Stadt verknüpfen. Daraus resultierte eineMischform, die als „urbanistische Denkmalpflege“bezeichnet werden kann.55 Man versuchte die

52 MAŁACHOWICZ, Stare miasto (wie Anm. 35). S. 61 [Stimmtdie Seitenzahl? Ich finde in keiner der beiden Ausgabenauf S. 61 Hinweise zu Stein und Berg]; STEIN (wie Anm. 10),Abb. 135-138.

53 Siedlung und Stadtplanung in Schlesien, Breslau 1926,S. 18.

54 EDMUND MAŁACHOWICZ: Stare miasto we Wrocławiu.Zniszczenie, odbudowa, program [Die Altstadt von Breslau:Zerstörung und Wiederaufbau], 2. überarb. Aufl., Warszawa1985, S. 73; Atlas historyczny miast polskich (wie Anm.47), Karte 3.

55 SIGRID BRANDT: Die Erfurter Konferenz 1956. Theorienurbanistischer Denkmalpflege im Kontext städtebaulicherOrientierungen nach 1945, in: LANGER (wie Anm. 5), S. 163-

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„urbanistische Denkmalpflege“ auch mit technischenArgumenten zu legitimieren. Jan Zachwatowicz – derVater des polnischen Weges der Denkmalpflege –behauptete, dass die erhalten gebliebenenKanalisationsbauten und Straßenzüge ohnehin diePlatzierung der neuen Häuser determinierten.56 Eserschien also als logisch, und vor allem alsökonomisch sinnvoll, die alte Bebauungwiederherzustellen statt eine neue Infrastruktur zubauen. Eine ganz andere Frage war aber, ob man dieso wiederhergestellten alten Städteräume mithistorischen Fassaden versieht. In diese Fragespielten sowohl fachliche als auch ästhetische undemotionale Argumente mit hinein.57

Es darf nicht vergessen werden, dass der polnischeWeg der Denkmalpflege dem sozialistischen Städtebauuntergeordnet wurde.58 Die Rekonstruktion derAltstädte begrenzte sich nur auf einen kleinen Kern,um den herum eine „lebendige“ sozialistische Stadtwachsen sollte.59 In Wrocław wurde z.B. ohne vielAufhebens die ul. Świdnicka (Schweidnitzer Straße)

177.56 Ebenda, S. 169. 57 Da in den 1940er Jahren die meisten Arbeitsgänge noch

in Handarbeit erledigt wurden, war es in ökonomischerHinsicht kaum von Bedeutung, ob man ein modernes Wohnhausbaute oder ein altes Bürgerhaus rekonstruierte. Wegendieser Arbeitsweise erscheinen die Rekonstruktionen derVor- und unmittelbaren Nachkriegszeit als besondersauthentisch und wertvoll. KALINOWSKI (wie Anm. 38), S. 90;HASSLER, Verlustkompensation (wie Anm. 39), S. 51.

58 THUM (wie Anm. 2), S. 232; ANDRZEJ TOMASZEWSKI: Legendeund Wirklichkeit. Der Wiederaufbau Warschaus, in:BINGEN/HINZ (wie Anm. 4), S. 165-173, hier S. 166.

59 Vgl. dazu ARNOLD BARTETZKY: Stadtplanung alsGlücksverheißung. Die Propaganda für den WiederaufbauWarschaus und Ost-Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg, in:DERS., ALFRUN KLIEMS u.a. (Hrsg.): Imaginationen des Urbanen.Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- undOsteuropa, Berlin 2009, S. 51-80.

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verbreitert, wodurch eine repräsentative Verbindung,eine Paradeallee zwischen Alt und Neu, entstand.60

Diese Allee beginnt gleich beim Rynek mit einemmonumentalen Wohnhauskomplex. Dieses Gebäude ist einhervorragendes Beispiel dafür, wie sich dersozialistische Realismus mit den architektonischenTraditionen vor Ort verband. Es besteht aus mehrerenherkömmlichen Bürgerhäuserfassaden. Diese Lösungerinnert stark an die pittoreske Architektur derZwischenkriegszeit (Abb. 1). Bis in die 1950er Jahre hinein gelang es nur zu

einem Bruchteil die Altstadt wiederaufzubauen.61 Dienächste Phase der Rekonstruktion entfernte sichrasch von der pittoresken Architektur und folgteeiner modernen. Der Ausbau des dritten bedeutendenPlatzes der Altstadt, des Nowy Targ (Neumarkts), wardann gänzlich durch eine moderne Architekturgeprägt62, die in den 1960er Jahren zu einem Kanondes Städtebaus in Wrocław wurde. Damit endete fürlange Zeit die Geschichte der pittoreskenArchitektur in dieser Stadt. Nach der Wende wurdeaber der Gedanke der Rekonstruktion als einer

60 THUM (wie Anm. 2), S. 233.61 Ebenda, S. 239.62 Gemäß einer Richtlinie aus dem Jahr 1954 sollten die

„Objekte, die keine Baudenkmäler sind, nicht wiedergebautwerden“, zit. nach RAFAŁ EYSYMONTT: Richtlinien zurDenkmalpflege historischer Städte Schlesiens – Theorie undPraxis nach 1989 am Beispiel der Stadt Nimptsch und derDominsel in Breslau, in LANGER (wie Anm. 5), S. 177-188,hier S. 180.

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Abb. 1: Bürgerhausfassaden an der Ecke Rynek/ul.Świdnicka

neuen europäischen Strömung in vielerlei Formenerneut aufgegriffen.63 So wurde das Haus Zum GoldenenHund (Pod Złotym Psem, Rynek 4) wiederaufgebaut. Esstand sogar zu Debatte, den pseudomodernen Platz desNowy Targ einzuebnen und nach seinem historischenVorbild wiederaufzubauen.64 Die Geschichte des Wiederaufbaues ist also ein

langer, zum Teil bis heute andauernder Prozess, indem mehreren Architekturideen ihre Spuren hinter-lassen haben. Die folgende Ausführungen werdenzeigen, dass die verschiedenen Grundprinzipien überdie Frage, was, wo und wie wiederaufgebaut sollte,zu einer einzigartigen Stadtcollage führten. Die soentstandene historische Stadtlandschaft bedeutetekeine mechanische Wiederherstellung der altenStadträume.

3.2  Die postmoderne Stadtcollage65

Zu welchen städtebaulichen Ergebnissen führte nunder Wiederaufbau? Ein Referenzpunkt ist dabei derStadtgraben, der, wie bereits erwähnt, im Vor-

63 Vgl. dazu KATJA MAREK: Rekonstruktion undKulturgesellschaft. Stadtbildreparatur in Dresden,Frankfurt am Main und Berlin als Ausdruck derzeitgenössischen Suche nach Identität, maschinenschriftl.Kassel 2009, URL: http://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-2009101330569/7/DissertationKatjaMarek.pdf (12.10. 2011).

64 TAMÁSKA MÁTÉ: Romboljátok le, három nap alatt felépítem– Interjú Rafał Eysymontt-tal [Zerstöre nun, ich werde esin drei Tagen wiederaufbauen – Interview mit RafałEysymontt], in: Építészfórum vom 3.05.2011, URL:http://epiteszforum.hu/node/18673 (12.10.2011).

65 Vgl. dazu COLIN ROWE, FRED KOETTER: Collage City,Cambridge 1978.

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kriegsbreslau eine Grenze zwischen Alt und Neumarkierte (Abb. 2).Die rekonstruierte Altstadt Wrocławs ist

wesentlich kleiner als ihr Vorgänger aus derVorkriegszeit. Das stadtmorphologische Ensemble derAltstadt erreicht fast nirgendwo die ehemaligenGrenzen des Stadtgrabens. Die entlang der altenStadtmauern angelegte neue Ringstraße markierte eineneue Grenzlinie zwischen Alt und Neu. Sie selbstgehört schon eher zu der neuen Stadt. Trotzzahlreicher alter Bürgerhäuser wird das Straßenbildvon Gründerzeitgebäuden (z.B. derUniversitätsbibliothek) und dem Großstadtverkehr be-herrscht (Abb. 3).In dem Gebiet zwischen der neuen Ringstraße und

dem alten Stadtgraben herrscht keinerlei Altstadt-Atmosphäre. Hier und da erhebt sich eine gotischeKirche, aber die Parkplätze, die endlosen Baulückenund die freistehende Neubauten ergeben ein lockeresKonglomerat, das einer Pufferzone zwischen Altstadtund zeitgenössischer Stadt ähnelt (Abb. 4).

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Abb. 2: Die Morphologie des Wiederaufbaues

Abb. 3: Die neue Ringstraße (ul. KazimierzaWielkiego)

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Abb. 4: Stanislaus- und Dorotheenkirche (Kościół św.Stanisława i św. Doroty), Ansicht aus der ul.Mennicza (Groschengasse)

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Abb. 5: Stark aufgelockerte historischeBebauungsstrukturen in der Neustadt um die ul.Krasińskiego (Münzstraße)

Die rekonstruierte Altstadt verlor nicht nur wegender neu ausgewiesenen Ringstraße an Fläche, sondernauch aus dem Grund, dass ein ganzes Viertel an ihremöstlichen Rand nicht wiederaufgebaut wurde. Dieehemalige „Neustadt“ ist heute ein relativ gutgepflegtes Gebiet mit Parkanlagen und Neubauten(Abb. 5). Doch mit Ausnahme zweier Klöster undResten der Befestigungen – die übrigens wegen eines2001 eröffneten Einkaufszentrums, der GaleriaDominikańska, kaum auffallen, vgl. Abb. 6 – bliebenkeine Spuren aus der Vergangenheit übrig. Aufgrundder freistehenden Bebauung der Parzellen kommen diehistorischen Straßenzüge kaum zur Geltung.Die rekonstruierte Struktur der Altstadt erreicht

nur im Westen, am pl. Jana Pawła II (Königsplatz),die Vorkriegsbegrenzung am Stadtgraben. Die hierstehenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichenKirchen sind zwar nicht unbedingt vonvorindustriellen Gebäuden umgeben, doch folgen dieStraßenzüge der historischen Bebauung (Abb. 7).Die Konzeption des Wiederaufbaus sah von Anfang an

nur den Nachbau der wertvollsten Ensembles vor. Dochselbst auf dem Rynek war die Rekonstruktion nichtvollständig. Der neugebaute Rynek und derbenachbarte pl. Solny, der sich als dessen„Zwillingsplatz“ bezeichnen lässt, hinterlassen ei-nen im wahrsten Sinne des Wortes bildhaften Eindruck(Abb. 8).

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Abb. 6: Das Einkaufszentrum Galeria Dominikańskawurde unmittelbar auf den renovierten Überrestender Stadtbefestigung platziert

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Abb. 7: ul. św. Barbary (An der Barbarakirche)

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Abb. 8: Der Rynek – Symbol, Denkmal und pulsierendesZentrum zugleich

Man könnte es so ausdrücken, dass diesehistorisierenden Stadträume meistens nur über zweiDimensionen verfügen. Die Fassaden wurden voll-ständig rekonstruiert, während die Hinterhöfe nachden Vorstellungen der späten 1940er Jahreausgestaltet wurden. Zu dieser Zeit konstruierte mannämlich mit Vorliebe ganze Parzellenblöcke als einzusammengehöriges En-

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Abb. 9: Hinterhöfe des Rynek ohne historischeBebauung

Abb. 10: Schematische Darstellung der Auflockerungder Bebauung südlich vom Rynek (oben: Zustand19xx, unten: Zustand 20xx)

semble, um sonnige Wohnungen errichten zu können.Diese Lösung war eine bewusste Abgrenzung zu dendichtbebauten Einzelparzellen des wilden Wachstumsdes 19. Jahrhunderts. Verlässt man heutzutage denRynek Richtung Süden, findet man sich sogleich ineiner neuen Stadt aus den 1940er Jahren wieder (Abb.9, 10). Die Freiflächen dienen heute leider alsParkplätze, doch können sie immer noch alshervorragendes Bespiele dafür dienen, wie man in den1940er Jahren die alten Bauformen und neuenAnsprüche der Stadtbewohner miteinander verknüpfenwollte. Die Altstadt im engeren Sinne um den Rynekherum besteht also aus zusammengewürfeltenParzellen, die in Richtung des Hauptplatzes einehistorische Bebauung imitieren.

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Diese zweidimensionale historische Stadt erhälterst im Gebiet nördlich vom Rynek, zum Fluss hin,eine dritte Dimension. Dieses Gebiet befindet sichzwischen zwei städtebaulichen Ensembles. Es grenzteinerseits an den an eine mittelalterlicheKolonialstadt erinnernden Rynek, anderseits an dasbarocke Stadtviertel, das sich aus demmittelalterlichen Fürstensitz entwickelte. Die engenStadträume wirken hier sehr authentisch, doch wurdendie Fassaden nicht so plakativ und historischausgestaltet wie auf dem Rynek selbst (Abb. 11).

Abb. 11: ul. Igielna (Nadlergasse), im Hintergrunddas Seitenschiff der Elisabethkirche

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Abb. 12: Gebäude des Ossolineums, ul. Szewska(Schuhbrücke)

Hier trifft man sowohl auf moderne als auch aufpostmoderne Lösungen. Die engen Straßenräume mündenschließlich in die Barockstadt. Die prächtigenEnsembles der Paläste und Kirchen überstanden – wenn

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auch stark beschädigt – den Krieg. Infolgedessenwirken die repräsentativen barocken Bebauungen bisheute lebendig und dreidimensional (Abb. 12).

Abb. 13: Denkmalzone Dominsel

Schließlich soll die Aufmerksamkeit noch daraufgelenkt werden, dass die in der Oder gelegenenSandinsel und Dominsel (Piasek, Ostrów Tumski) fürdas grundsätzliche Rekonstruktionskonzept einezentrale Rolle spielten. Die Lage und Bedeutungdieser Gegend war in der Vorkriegszeit eherzweitrangig gegenüber dem Ring und der deutschenSiedlung aus dem Spätmittelalter. 66 Die Gebäude aufden zwei Inseln wurden im Krieg schwer beschädigt,doch schon unmittelbar nach dem Krieg wurde mit demWiederaufbau begonnen. Die Dominsel wurde sogar alsstädtisches Freilichtmuseum konzeptioniert.67 Die sieumschließende Grünfläche betont die Absonderung der66 THUM (wie Anm. 2), S. 448.

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Sandinsel gegenüber der neuen Stadt aus der Zeit um1900 einerseits und der sozialistischen Moderneandererseits.68 Die Insel bietet eine Arthistorischen Spaziergang vom Frühmittalter bis zumBarock. Die Gebäude wurden nicht nur zweidimensionalrekonstruiert, also als moderne Wohnhäuser mithistorischen Fassaden ausgestaltet, wie es oft amRynek der Fall war, sondern auch in ihrem originalenRaumkonzept wiederaufgebaut (Abb. 13). Die Dominselals der Höhepunkt der rekonstruierten Altstadtstellt heute ein monumentales Denkmal dar, daseinerseits an den Wiederaufbau erinnert undandererseits Ähnlichkeiten mit der Stadtlandschaftaus der Vorkriegszeit aufweist.

Abb. 14: Ecke ul. Nowy Świat (Neueweltgasse)/ul.Łazienna (Engelburggasse)

67 EYSYMONTT, Richtlinie der Denkmalpflege (wie Anm. 63),S. 181.

68 Ebenda, S. 180.

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Abschließend sollte noch betont werden, dass dieunvollendete Rekonstruktion der Altstadt eineeinzigartige Stadtlandschaft hervorgebracht hat, diesich nicht nur aus rekonstruierten Teilen, sondernauch aus nicht wiederaufgebauten Strukturenzusammensetzt. Egal durch welchen Teil der Altstadtman auch spaziert: Als immer wiederkehrendes Motivenden abrupt die Abfolgen rekonstruierter Strukturenund gehen ohne visuelle Überleitung in große,funktionslose Freiflächen über. Durch das ständigeUnterbrechen des historischen Stadtkörpers wird mangeradezu darauf gestoßen, dass man hier keinenoriginalen Baubestand, sondern nur schöne Fassadensieht. Dieser Kontrast ist am stärksten dort zu

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

fühlen, wo die Baulücken aneinander grenzen und alsHauptmotiv selbst in den Vordergrund rücken. Obwohlviele Baulücken nach der Wende wieder bebaut wurden,blieben so viele übrig, dass man sie immer noch alstypisch bezeichnen kann (Abb. 14).

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4  Altstadt-Diskurse4.1  Die Symbolik des Kulturerbes

Wie Gregor Thum ausführlich zeigt, bediente dieRekonstruktion der Altstadt von Wrocław eine starkpolitische und vor allem nationale Ideologie.69 Wennauch die sozialistische Polonisierung derNachkriegszeit heute eher ein historisches Problemzu sein scheint, bedeutet dies nicht, dass diedeutsch-polnischen Beziehungen auf dem Gebiet desStädtebaues heute frei von Belastungen wären. DieKonflikte beziehen sich nicht mehr auf die„Nationalität der Denkmäler“, sondern konzentrierensich auf die Vorstellungen von der Stadt durch dieKonsum- und Erlebnisgesellschaft. PolnischeStudenten beschwerten sich darüber, dass die„Heimatbesucher“, also insbesondere aus demVorkriegsbreslau stammende Deutsche, Wrocław alsschmutzig, ungepflegt und desorganisiert empfindenwürden.70 Schon die ersten Heimatbesucher derNachkriegszeit kritisierten die neuen Stadtbewohnerdafür, dass sie angeblich alte Kulturgütervernichtet hätten.71 Man darf in diesem Zusammenhang69 Vgl. THUM (wie Anm. 2).70 „Ihr Verhalten [das der Heimattouristen] macht mich

manchmal wütend, wenn ich höre, dass Wrocław einst ihreswar […], dass es damals schön war und die Polen eszurückbekommen und kaputtgemacht haben.“ Zit. nach JOLANTAGAMBUS, KERSTIN HINRICHSEN, ANNA LISA WIESBROCK, HELENE WOLF:Breslauer in Wroclaw. Die deutsche Minderheit nach derVertreibung, in: THER/KRÓLIK u.a. (wie Anm. 19), URL:http://homepage.univie.ac.at/philipp.ther/breslau/html/Breslauer%20in%20Wroclaw.%20Die%20deutsche%20Minderheit%20nach%20der%20Vertreibung.html (11.06.2012)

71 Demnach „tendierten Heimaturlauber oft noch zu derAnnahme, dass Zerstörung, Verfall und Faulheit eigentlichangeborene Eigenschaften der Polen […] seien.“ ANDREWDEMSHUK: „Heimaturlauber“. Westdeutsche Reiseerlebnisse impolnischen Schlesien vor 1970, in Zeitschrift für

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natürlich nicht vergessen, dass die neuen Bewohner –sogar in den kleineren Städten der „wiedergewonnenenGebiete“ – noch für lange Zeit im deutschenArchitekturerbe eine fremde Symbolik sahen.72 Genausowenig darf man aber die Beschwerden derHeimatbesucher wie denkmalpflegerische Überlegungenbehandeln. Die Beschwerden wurzeln vielmehr in einerpostmodernen Identität, die nicht mehr auf Sittenund Bräuchen, sondern auf ökonomischen Erfolgenbasiert. Eine gut gepflegte Altstadt gilt als Aus-hängeschild einer Stadt. Sie zeigt dem Fremden, obsich die lokale Gesellschaft erfolgreich in dieglobale Wirtschaft hat integrieren lassen. DiesenSchaufenstereffekt nutzen Lokalpolitiker, wenn sieein positives Bild von ihrer Tätigkeit zeichnenwollen. Die Renovierung des Ryneks gegen Ende der1990er Jahre war in dieser Hinsicht zweifelsohneeine Erfolgsmeldung zu Wroclaws Positionierung imneuen wirtschaftlichen System und zugleich einVersuch die Identität der Stadtbewohner unter denneuen politischen Bedingungen zu stärken.Anders als noch während des Wiederaufbaus nach dem

Zweiten Weltkrieg ist im Zusammenhang mit derRenovierung und Rekonstruktion die Betonung des„polnischen Kulturerbes“ kein zentrales Anliegenmehr. Viel wichtiger ist die Frage, ob die sanierteAltstadt die Wünsche der postmodernen Konsum- undErlebnisgesellschaft erfüllen kann.73 Die

Ostmitteleuropa-Forschung 60 (2011), S. 79-99, hier S. 91.72 Vgl. dazu ZDZISŁAW MACH: Niechciane miasta. Migracja i

tożsamość społeczna [Ungewollte Städte. Migration undsoziale Identität], Kraków 1998; DARIUSZ NIEDŹWIEDZKI:Odzyskiwanie miasta. Władza i tożsamość społeczna[Wiedergewonnene Städte. Herrschaft und sozialeIdentität], Kraków 2000.

73 MAREK (wie Anm. 64), S. 129; dazu noch die typischeÄußerung eines Tourismusmanagers aus Wrocław: „You haven’tseen Wrocław before the ’90s, so I think it was notinteresting for tourists. Everything was very dark, very

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Attraktivität der historischen Stadträume locktspezifische Dienstleistungen an. Vor allemGastronomiebetriebe lassen sich hier in großer Zahlnieder.74 Ein reichlich mit derartigen Betriebenversehenes historisches Stadtzentrum stellt fastüberall in Europa eine typische Erscheinung dar, wasder Altstadt von Wrocław ein globales Flairverleiht.Es wäre aber eine stark eingeschränkte Sichtweise,

das Kulturerbe der Altstadt auf profitorientierteMarketingstrategien reduzieren zu wollen. Nichtweniger auffällig sind die Versuche den Stadtraum„denationalisieren“ zu wollen und Wrocław als eineaus Multikulturalität, Lokalkolorit und europäischerIdentität gemischte Kulturszene zu zeigen.75 So wirddie Meinung vertreten, dass durch den Wiederaufbauder Altstadt der Krieg als der gemeinsame SchreckenEuropas besiegt worden sei.76 Der Machtwechsel in derStadt habe demnach sogar dafür gesorgt, dass dieAltstadt ihr historisches Aussehen habewiedererlangen können: Die deutschen Architektenseien moralisch nicht in der Lage gewesen, weiterhinsolch eine Methode wie die (pittoreske)

dangerous“, zit. nach BOWN/ FUHRMANN/MILEWICZ (wie Anm. 21),o.S.

74 PIOTR PARA: Zmiana roli oraz funkcji Rynkuwrocławskiego w latach dziewięćdziesiątych z perspektywysocjologicznej [Der Wandel der Rolle und Funktion desBreslauer Marktplatzes in den 1990er Jahren aussoziologischer Sicht], in: MARZENA SMOLAK (Hrsg.):Wrocławski Rynek, Wrocław 1999, S. 275-278.

75 Die neuen, für ein breites Publikum gedachtenPublikationen über die Stadtgeschichte betonen nicht daspolnische, sondern das multikulturelle Erbe von Wrocław,insbesondere NORMAN DAVIES, ROGER MOORHOUSE: Breslau. Die BlumeEuropas. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt,München 2005.

76 ANDRZEJ TOMASZEWSKI: Der Umgang mit Kulturgütern in Polenund in Deutschland im 20. Jahrhundert (aus polnischerSicht), in: LANGER (wie Anm. 5), S. 33-42, hier S. 33.

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Heimatarchitektur, die schon im Nationalsozialismuseingesetzt worden und daher kompromittiert sei, zupflegen. In Polen dagegen habe sich eine nationaleArchitektur mit Hilfe der pittoresken Rekonstruktionohne weiteres durchsetzen lassen.77

4.2  Die Skyline von Wrocław

Wenn man mit dem Begriff „Wrocław“ im Internet aufBildersuche geht, wird man mit einer Vielzahl vonAltstadtfotos überflutet.78 Ein ähnliches Ergebnisergibt natürlich auch die Suche nach andereneuropäischen Städtenamen, es ist aber nicht dieRegel. Warszawa wird z.B. als eine Mischung ausAltgebäuden und Wolkenkratzern verbildlicht.79 Diemeisten Bilder im Internet sind digitale Nachfolgerder Ansichtskarte und somit auch Medien desLeitbildes einer Stadt.80 Diese Darstellungenverkörpern in ihrer vielfachen Wiederholungprägnante Symbole, mit deren Hilfe der Ortsunkundigeeine bestimmte Stadt assoziiert. In derenglischsprachigen Literatur nennt man diesebildhaften Selbstrepräsentationen Skyline.81 Die Skylinewird durch Eliten82 geprägt und verändert sich nur77 In Deutschland „hatten die Architekten keine

Gelegenheit ihren kreativen Ehrgeiz beim Wiederaufbauhistorischer Bauten zu zeigen“, ebenda, S. 40.

78 http://www.google.com, Bildersuche nach „Wroclaw”(11.10.2011.)

79 http://www.google.com, Bildersuche nach „Warszawa”(11.10.2011.)

80 CHRISTIAN EBERT: Identitätsorientiertes Stadtmarketing,Frankfurt a.M. 2004, S. 212.

81 KOSTOF (wie Anm. 16), S. 297. 82 Die Eliten verteilen sich auf politische,

wirtschaftliche und kulturelle Gruppen. Zwar können dieseGruppen miteinander kooperieren, doch streben dieKultureliten oft nach Autonomie. Vgl. dazu PIERRE BOURDIEU:Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – SozialesKapital, in: REINHARD KRECKEL (Hrsg.): Soziale

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sehr langsam.83 Im Folgenden wird die Skylineausschließlich als ein Produkt der kulturellenEliten behandelt und anhand einiger ausgewählterPublikationen näher untersucht.Zuerst sollen zwei derzeit auf dem Markt

befindliche Bildbände behandelt werden.84 Die ersteFeststellung ist wohl keine Überraschung und stimmtmit der im Internet gemachten Erfahrung überein:Auch in den Bildbänden ist die Altstadtüberproportional vertreten. Im Gegensatz zu derSkyline aus dem Internet präsentieren uns aber dieBildbände eine ausführliche und vielfältigeStadtlandschaft. Während das Rathaus und dasEnsemble des Ryneks in der Internetsuche absolutdominant sind, spielen in den Bildbänden die Kirchenund die Sandinsel eine ebenso zentrale Rolle. Diehier vermittelte Stadtlandschaft folgt der Logik derehemaligen Rekonstruktionsarbeiten: Da die Re-konstruktion keinen Wert auf die Wiederherstellungder kleinen Nebengassen legte, sucht man sie auch inden Bildbänden vergeblich.Eine weitere Beobachtung bezieht sich auf die

Perspektive. Zwar eignet sich eine Skyline imAllgemeinen immer für eine breite Perspektive, dochwird sie im Fall von Wrocław besonders häufigherangezogen. In den besser erhaltenen historischenStädten, wo sich der historische Wert auch im Bau-material widerspiegelt, können nahe Perspektiven aufBauelemente wie Tore, Fenster, Klinken oderWandstruktur die historische Skyline sinnvollergänzen. Diese Perspektive fehlt aber für Wrocławfast gänzlich.

Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183-198.83 SHARON ZUKIN: Landscapes of Power. From Detroit to

Disney World, Berkeley 1991, S. 19.84 MACIEJEWSKA/KLIMEK (wie Anm. 50); EYSYMONTT/KLIMEK (wie

Anm. 50).

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Bezeichnend ist, wie die beiden Bücher die neuerenBauphasen behandeln. In der realen Welt grenzen dierekonstruierten Gebäude an solche aus demsozialistischen Realismus und aus dersozialistischen Moderne. Die Bücher vermittelndagegen den Eindruck, als sei die Umgebung derAltstadt durch Gründerzeitarchitektur und früheModerne bestimmt. Die neuere Architektur (nach 1945)wird nur durch einige Gebäude aus den Wendejahrennach 1990 repräsentiert, die übrigens in Baulückender Altstadt errichtet wurden. Mit anderen Worten:Die sozialistischen Jahrzehnte werden einfachausgeblendet. Die bisherigen Ausführungen lassen sich mit einer

kleinen Statistik illustrieren. Sie veranschaulichtuns eine historische Stadt (besser gesagt ihre durchdie Bildungseliten erstellte Skyline) mit wertvollenKirchen und soliden Bürgerhäusern, in der aber auchdas industrielle Zeitalter seine Spuren hinterlassenhat.85

Objekte Seiten in %Kirchen 47 %Rynek 23 %Gründerzeitbauten 23 %Architektur der Moderne 7 %Postmoderne, zeitgenössische

Architektur 3 %

Zusammen: 100 %

85 Daten aus EYSYMONTT/KLIMEK (wie Anm. 50).

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Abb. 15: Wahrnehmung der Altstadt aufgrund desReiseführers von EYSYMONTT/ ZIĄTKOWSKI (wie Anm. 88)

Die Altstadt lässt sich auch als eine Strukturbetrachten. Dafür eignet sich ein Reiseführer, derzu Spaziergängen animieren soll und daher Zonen,Grenzen und Entfernungen präsentiert.86 Derbeigefügte Stadtplan dient also als eine Richtlinie,mit der die kognitiven Karten der Studenten zuvergleichen sind. Der Reiseführer behandeltnatürlich den Rynek als eine zentrale Zone derAltstadt (Abb. 15). Andere Zonen bilden dieBarockstadt und die Inseln (Sand- und Dominsel, aberauch weitere kleinere Flussinseln). Als vierte Zonekann man den Stadtgraben der Altstadt abgrenzen,doch nur mit wesentlichen Einschränkungen: Zwarbefinden sich in dieser Zone mehrere sehenswerte

86 Für die Analyse wurde benutzt: RAFAŁ EYSYMONTT, LESZEKZIĄTKOWSKI: Breslau Stadtführer, Wrocław 2009. Eineausführliche Betrachtung von Reiseführern über Wrocławbietet KUROCZYŃSKI (wie Anm. 1).

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

gotische Kirchen, jedoch wird ihr Charakterhauptsächlich durch Gebäude aus der Gründerzeit undder Moderne geprägt. Wenn man, wie in der obenvorgenommenen Definition, die Altstadt als einGebiet interpretiert, das ausschließlichvorindustrielle Gebäude enthält, kann derStadtgraben nicht zur Altstadt gezählt werden.

5  Alltag in der Altstadt – diekognitiven Karten

der Studenten Die kognitiven Karten der Studenten werden in zwei

Schritten analysiert. Zuerst wird eine kurzestatistische Auswertung vorgenommen, ähnlich wie beiden Bildbänden. Danach wird nach Strukturen (Zonen,Straßen, Grenzen) gesucht, die sich mit denRaumvorstellungen des Reiseführers vergleichenlassen.Das am häufigsten gezeichnete Objekt ist das

Rathaus (ratusz). Dieses Gebäude erscheintallerdings auf den meisten Karten nur als einunstrukturiertes Gefüge, das ebenso das alte wieauch das neue Rathaus zeigt, oft sogar dieangrenzenden kleineren Häuser mit umfasst. Man kanndavon ausgehen, dass das Rathaus auch in denkognitiven Karten anderer Stadtbewohner im Mittel-punkt stehen würde. Dagegen sind das Hauptgebäudeder Universität und die Universitätsbibliothekspezifische Merkmale, die auf die Hauptbeschäftigungder befragten Personengruppe hinweisen. Auf dem Wegzwischen den beiden Gebäuden befindet sich, folgtman den kognitiven Karten der Studenten, nur derRynek, aber kein anderes „wichtiges“ Objekt. Dieserweckt den Eindruckt, als ob Universität undBibliothek sich direkt am Rande des Platzes be-fänden. Die in der Realität dazwischen gelegenenkleinen Gassen werden ignoriert.

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Die Studenten markieren außerdem noch relativ oftzwei innerstädtische Kirchen: die Elisabethkirche(kościół św. Elżbiety) und die Magdalenenkirche(kościół św. Marii Magdaleny). Diese Kirchenfunktionieren auf den kognitiven Karten alsGrenzsteine zwischen der Altstadt und den neuen Ge-bieten.Eine weitere Gruppe bilden Objekte, die zwar immer

wieder einmal vorkommen, allerdings nicht bei derMehrheit der Untersuchungsteilnehmer. Sie enthältauch moderne Objekte der globalisiertenStadtlandschaft wie Einkaufszentren oder Fastfood-Ketten. Genannt werden auch Objekte aus vergangenenJahrhunderten, die aber ihrer historischenKonnotationen entkleidet worden sind: So ist derPranger nicht wegen seiner symbolischen Erinne-rungskraft an die Stadtautonomie ins Blickfeldgeraten, sondern als beliebter TreffpunktJugendlicher. Die Wyspa Słodowa (Vorderbleiche)besitzt ebenfalls keine herausgehobene historischeBedeutung, sondern ist ein typischerStudententreffpunkt unter freiem Himmel.

sehr häufig gezeichnete Objekte

Zahl

häufig gezeichnete Objekte

Zahl

bisweilen gezeichnete Objekte

Zahl

Rathaus 38 Pranger 13 Oper 9Hauptgebäudeder Universität

28 Galeria Dominikańska

14 McDonald’s 9

Elisabethkirche

27 Dom 13 Diverse Kneipen

8

Magdalenenkirche

26 Sonstige Einkaufszentren

7

Universitätsbibliothek

26 Diverse Kinos

7

Sonstige Kirchen

23 Neuer Spring-brunnen auf

7

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

dem Rynek

Aus den angeführten Zahlen lässt sich die wichtigeSchlussfolgerung ziehen, dass die Wahrnehmungen derAltstadt durch die Studenten durch historischeGebäude bestimmt sind. Dieser Effekt wird auchdadurch unterstützt, dass viele Institute derUniversität ihren Sitz in derartigen Gebäuden haben.Die Studenten markieren in erster Linie diejenigenOrte, an denen sie den offiziellen Teil ihres Tagesverbringen, also seltener Kneipen oder Discotheken.Dies ist wohl auch damit zu erklären, dass dieDatenerhebungen während der Vorlesungszeitstattfanden. Nicht nachzuvollziehen ist, warum dieStudenten die Mensen nicht verzeichnen. DieseGebäude sind zur Mittagszeit voller junger Leute,sie sind sogar die belebtesten Orte des gesamtenUniversitätsviertels.Allein schon anhand der Zahl der genannten Objekte

lässt sich nachweisen, dass der Rynek imAltstadtbild der Studenten absolut dominant ist. Ererweitert sich in den meisten Fällen in Richtung despl. Solny. Die Altstadt im engeren Sinne erstrecktsich entlang einer von Norden (Universität) nachSüden (Bibliothek) laufenden Zone in dem Bereichzwischen den beiden Stadtkirchen. Weiterestrukturbildende Elemente sind noch die GaleriaDominikańska und die Kreuzungen der ul. Świdnicka(Schweidnitzer Straße). Die beiden Objekte erfüllenauf den mentalen Karten die Funktion von„Stadttoren“.Neben diesen Ähnlichkeiten fallen aber auch

Unterschiede ins Auge. Man kann die Studentenhinsichtlich der von ihnen gezeichneten Karten invier Gruppen aufteilen. Die erste Gruppe verstehtunter der Altstadt ausschließlich den Rynek (Abb.16). Die zweite Gruppe ordnet den Rynek in einStraßennetz ein, in dem sich in Süd-Nord- und West-

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Ost-Richtung verlaufende Achsen kreuzen, ähnlicheinem römischen Militärlager (Abb. 17). Die dritteGruppe versucht ebenfalls den Rynek als Teil einesumfassenderen Systems darzustellen, jedoch nichtentlang der Achsen der Altstadt, sondern entlangihrer Grenzen (des Flusses, der neuen Ringstraße)(Abb. 18). Die vierte Gruppe platziert die Orte undObjekte unabhängig voneinander auf freier Fläche,wie ein Mosaik ohne Verknüpfungen (Abb. 19).

Typen Anzahl

Nur der Rynek und sein „Zwillingsplatz“ werdendargestellt

22

Querachsen werden dargestellt 8Grenzen werden deutlich hervorgehoben 19Objekte werden mosaikartig dargestellt 14Insgesamt 63

Die erste Gruppe interpretiert also die Altstadtals eine Kombination aus Rynek und pl. Solny. DerRynek wird in den Zeichnungen meist mit weiterenGebäuden versehen, wie z.B. dem 1929-1931errichteten Hochhaus, in dem sich heute die BankZachodni WBK befindet, oder den Häusern Jaś i Małgosia(Hänsel und Gretel). Die meisten Bürgerhäuser sindaber meist ohne nähere Bezeichnung als eineununterbrochene Linie gezeichnet, die den Platzbegrenzt. Einige Studenten machen sich jedoch dieMühe eine ausdifferenzierte Zeichnung des Rathausesanzufertigen und das alte Gebäude getrennt vonseinen neuen Teilen darzustellen. In dieser relativausführlichen Verbildlichung des „Zwillingsplatzes“öffnen sich Tore, die beiden Kirchen, in RichtungStadt. Diese Tore bilden aber keine einheitlicheBegrenzung. Die Elisabethkirche ist bei dieserGruppe häufiger gezeichnet als die Magdalenenkirche.Man kann daher festhalten, dass die im Nordwesten anden Rynek angrenzende Elisabethkirche eine sehr

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

deutliche Grenze markiert, die Magdalenenkircheöstlich des Ryneks hingegen eher als eine Stationwahrgenommen wird, die sich in den Verlauf derinnerstädtischen Straßen einpasst.Die zweite Gruppe unterscheidet sich von der

ersten dadurch, dass sie den Rynek in einStraßennetz einordnet. Dieses Straßennetz bestehtaus zwei in Kreuzform zusammentreffendenHauptachsen. Die von Süden nach Norden gerichteteAchse verläuft entlang der ul. Świdnicka, also jenerStraße, die im Rahmen der sozialistischenRaumplanung für Aufmärsche ausgebaut wurde. Nach derEinmündung in den Hauptplatz wird diese Achseweniger eindeutig. Die Studenten zeichnen die Achsesogar in zwei parallelen Varianten weiter: Einigefolgen der ul. Świdnicka weiter, die nach dem Rynekin die Kuźnicza (Schmiedebrücke) übergeht, anderewählen jedoch die ul. Szewska, wo sich zahlreicheUniversitätsinstitute befinden.

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Abb. 16: Wahrnehmung der Altstadt durch Studenten,Gruppe 1

Abb. 17: Wahrnehmung der Altstadt durch Studenten,Gruppe 2

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Abb. 18: Wahrnehmung der Altstadt durch Studenten,Gruppe 3

Die Ost-West Achse scheint auf den ersten Blickdem alten historischen Handelsweg zu folgen. DieStadt wurde im Mittelalter entlang der heutigen ul.Wita Stwosza (Albrechtstraße) und der ul. św.Mikołaja (Nikolaistraße) ausgebaut.87 Diese Linieverbindet die beiden in den studentischen Karten oftverzeichneten Stadtkirchen. Interessant ist jedoch,dass gerade diejenigen Studenten, die eine Ost-West-Achse wahrnehmen, diese beiden Kirchen nur seltenzeichnen. Dies ist wohl so zu interpretieren, dassdie Studenten in diesen Fällen nicht denhistorischen Handelsweg meinen, sondern den Weg ent-lang der ul. Oławska (Ohlauer Straße). DieWahrnehmungen werden eindeutig durch die parallelangeordnete Fußgängerzone gesteuert, die vom Ein-

87 BOGUSŁAW CZECHOWICZ: Rynek wrocławski jako zagadnieniekonserwatorskie [Der Breslauer Markt aus konservatorischerSicht], in: SMOLAK (wie Anm. 75), S. 284-292, hier S. 286.

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kaufszentrum zum Hauptplatz führt. Weiter inRichtung Westen ist die Achse dann weniger markantausgeprägt, da sie sich in der Fußgängerzone in derul. Ruska (Reuschestraße) nicht fortsetzt. Die hiergestalteten Arkaden repräsentieren in typischerWeise die Umsetzung einer städtebaulichen Denkweise,die den Autoverkehr in der Altstadt nochbefürwortete.

Abb. 19: Wahrnehmung der Altstadt durch Studenten,Gruppe 4

Auf den Karten der dritten Gruppe sind die sichkreuzenden Achsen ebenfalls häufig zu finden,allerdings nicht in so markanter Form. Sie werdenvielmehr in eine größere Struktur eingeordnet. DieseStruktur basiert sich auf den Darstellungen derGrenzen. Die nördliche Grenze bildet die Oder, wird

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aber im Bereich der Dominsel überschritten. DieDominsel ist mit der Altstadt allerdings nurkünstlich verknüpft. Sie mag dem Bild in den meistenFällen nachträglich als Ergänzung hinzugefügt wordensein. Auch fehlen gelegentlich die Brücken. Dieeigentliche Altstadt dehnt sich zwischen dem Flussund der ul. Kazimierza Wielkiego, also derRingstraße der Nachkriegszeit, aus. Der Stadtgrabenkommt nur selten auf den Karten vor. Die ersten zweiGruppen nehmen die Altstadt dort wahr, wo diehistorischen oder zumindest historisierenden Objekteden Stadtraum beherrschen. Die dritte Gruppeorientiert sich aber an Strukturen, in erster Liniean den Gürteln. Tatsächlich befinden sich aberinnerhalb des Gürtels der Ringstraße zahlreichemoderne Gebäude. Es ist kein Zufall, dass der amnordöstlichen Rand gelegene dritte Platz derehemaligen Altstadt, der Nowy Targ, nur auf diesenKarten erscheint, wenn auch nur sporadisch.Die vierte Gruppe zeichnet gar keine Straßen. Die

Stadtlandschaft besteht hier aus mehr oder wenigerzutreffend platzierten Mosaiken, die zumeist auseiner Mischung historischer und neuerer Objektegebildet werden. Diese Objekte sind vermehrt um denHauptplatz herum angeordnet, und entlang derFußgängerzonen (ul. Świdnicka, ul. Oławska) inRichtung der modernen „Stadttore“ (desEinkaufszentrums, der Unterführung an der ul.Kazimierza Wielkiego). In einigen Fällen jedochreichen die Mosaiken über den Stadtgraben hinaus, umSehenswürdigkeiten, wie z.B. die Hala Stulecia(Jahrhunderthalle), das Panorama Racławicka oder diestädtischen Parkanlagen, einzubeziehen.

6  ZusammenfassungEinleitend wurde die Frage gestellt, wie weit sich

die renovierte Altstadt Wrocławs noch als mit ihremVorbild identisch bezeichnen lässt. Wie funktioniert

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diese Rekonstruktion in städtebaulicher Hinsicht?Auf der Suche nach einer Antwort wurden drei Ebenender Stadtlandschaft untersucht: die städtebauliche-morphologische, die diskursive und die alltägliche. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass die

heutige Altstadt auf jeder dieser drei Ebenenwesentlich kleiner ist als vor dem Krieg. Einetotale Rekonstruktion konnte nur innerhalb der neuenRingstraße umgesetzt werden. Aufgrund dieserTatsache scheitern die narrativen Versuche derReiseführer und Bildbände den historischen Stadtkernin der öffentlichen Meinung wieder bis zu der Grenzeaus der Vorkriegszeit auszudehnen. Die mentaleKarten zeigen nämlich ganz klar, dass die Studentennur solche Stadteile historisch wahrnehmen, wo nichtnur einzelne Gebäude, sondern ganze Straßenräumerenoviert und, wo es nötig war, völlig rekonstruiertworden sind.Eine weite Feststellung lautet, dass die

Rekonstruktion der Altstadt eine sowohlhistorisierende als auch modernisierende Lösungdarstellte. Die bisherigen Forschungen betonen dabeivor allem die Ideen des sozialistischen Städtebaus.Mit der vorliegenden Arbeit soll aber ein andererAspekt betont werden, nämlich die Tatsache, dassselbst der historisierende sozialistische Baustilnicht ganz ohne einen theoretischen Vorläuferauskam. Dies war die pittoreske Architektur, die inWrocław auch schon vor dem Krieg florierte. Sogesehen, lässt sich eine gewisse architektonisch-fachliche Kontinuität vor und nach dem Kriegfeststellen. Für die pittoreske Architektur war dieOriginalität weniger bedeutend; daher entstand einenur rein äußerlich mit ihrer Vorgängerin identischeAltstadt, die hinter ihren Fassaden moderneWohnungen beherbergte. Die rekonstruierte Altstadterzielte eine Bildhaftigkeit aber nur dort, wobesonders werthaltige Bauwerke standen. Die

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Bedeutungsebenen der rekonstruierten Altstadt von Wrocław

Hinterhöfe und Nebenstraßen erhielten hingegen nureine sehr einfache Ausstattung. Diese Aussage ist zwar nicht ganz neu, doch wurden

ihre Folgen bisher in der Forschung kaum bemerkt,z.B. die, dass die heutige Altstadt am ehesten denAnsichtskarten der Zwischenkriegszeit ähnelt, aufdenen nur die schönsten Straßenzüge abgebildetwaren. Das heißt aber auch, dass man eine histo-rische Stadt erlebt, in der fast keine Nebenstraßenexistieren. Die Sehenswürdigkeiten drängen sich umden Markplatz, in der Barockstadt und auf derDominsel. Diese Areale sind nur durch wenigehistorische Straßen miteinander verbunden. Verlässtman diese Straßen, befindet man sich inmitten dessozialistischen Architekturerbes. Dadurch entstehteine nur vordergründig historische Stadtlandschaftohne jegliche Tiefe oder Bildhaftigkeit. Diese Art der Rekonstruktion wirkt sich auch auf

die öffentliche Diskussion über die Altstadt aus. Esist klar, dass Bildbände und Reiseführer nur solcheSehenswürdigkeiten anbieten können, die auchtatsächlich existieren. Der Spielraum für Autorenund Fotografen ist sehr eng. In einer wiederaufge-bauten Stadt kann man kaum etwas neu entdecken, daalles einer gründlichen Planung entsprungen ist. Manschaut vergeblich in die Hinterhöfe hinein odersucht zumindest nach kleinen architektonischenDetails, die wegen ihres Alters einendenkmalpflegerischen Wert besitzen. Die durchReiseführer entstandene kognitive Stadtlandschaftbeschränkt sich darauf die Werte der Rekonstruktionhervorzuheben. Allerdings steht es den Autoren freizu entscheiden, in welcher Umgebung die Altstadtpräsentiert werden soll. Die für den vorliegendenBeitrag ausgewerteten Bildbänder blenden diespätere, sozialistische Bautätigkeit um denrekonstruierten Bereich herum fast gänzlich aus. IhrZiel ist ästhetischer Natur und beruht auf einer

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Matè Tamáska

kategorischen Ablehnung der Baustile desSozialismus. Anderseits darf man nicht vergessen, dass dieses

Altstadtbild, das nur aus repräsentativen,historischen Bauwerken und einzelnenzeitgenössischen Gebäuden besteht, gut zu denheutigen ökonomischen und politischen Heraus-forderungen passt. Die ökonomische Herausforderungliegt in der Entwicklung einer repräsentativen,attraktiven und pulsierenden Innenstadt, wofür sichder Rynek mit seinen bildhaften Fassaden besondersgut eignet. Die politische Herausforderung beziehtsich auf die kulturelle Vielfalt der Stadt, die sichebenfalls durch historische Bauwerke treffendsymbolisieren lässt. Die Bemühungen derBildungseliten allerdings, die symbolischen Grenzender Altstadt bis zum Stadtgraben auszudehnen unddadurch die ehemals gültigen Grenzen der Altstadtwiederherzustellen, scheitern an den städtebaulichenVoraussetzungen. Die in den 1940er Jahren ausgebauteneue Ringstraße bildet nämlich eine unpassierbareGrenze zwischen Alt (bzw. der pittoreskenRekonstruktion) und Neu.Diese Annahme wird durch die kognitiven Karten der

Studenten bestärkt. Diese Datenerhebung ist daswichtigste Novum der vorliegenden Studie. DieStudenten – die hier die alltäglichen Nutzer derInnenstadt repräsentieren – offenbaren eineerstaunlich starke Wahrnehmung der historischenStadt. Unter den am häufigsten verzeichnetenObjekten finden wir die beiden Stadtkirchen undzahlreiche andere historische Bauobjekte.Andererseits fällt auf, dass die historischeInnenstadt in den Köpfen der Studenten noch kleinerist als ihre von der Rekonstruktion erfasste Fläche.Der Rynek und sein Zwillingplatz, der pl. Solny,dominieren gänzlich die Vorstellungen. Andere Plätzeund Achsen spielen nur insofern eine Rolle, als sie

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dieses Zentrum bedienen. Die Studenten ignorierendie Nebengassen, ähnlich wie es in den be-herrschenden Diskursen der Fall ist. Zwar überraschtdieser Umstand nicht wirklich, da die Nebenstraßennicht unbedingt in eine skizzenähnliche kognitiveKarte hineingehören. Es fällt jedoch auf, dass dienicht rekonstruierten Stadtgefüge (wie z.B. der NowyTarg und seine Umgebung) gänzlich wegfallen. DieWahrnehmungen der Studenten über die Altstadt machensich also an der Rekonstruktion fest. Zugleich sindauch die Strukturen der heutigen Stadt maßgebend.Die Fußgängerzonen stellen Achsen in der Altstadtdar, die den Markplatz mit dem Wahrzeichen einerglobalen Stadt, dem Einkaufszentrum, verknüpfen.Dieses Phänomen erinnert an eine Konzeption derNachkriegszeit, die den Rynek und die sozialistischeStadt mit einer Paradeallee zusammenzufügen wollte.Allerdings geht es heute nicht mehr um eine politi-sche (Zwangs)aktivität, sondern um das Konsumieren.Andere wichtige Straßen von historischer Bedeutung,die noch nicht in eine Fußgängerzone umgewidmetwurden (wie z.B. die ul. Wita Stwosza, also der alteHandelsweg) fehlen in den kognitiven Karten.Die wichtigste These dieses Beitrags bildet die

Feststellung, dass die rekonstruierte Altstadt nachdem Zweiten Weltkrieg kleiner geworden ist. Teil-weise spielen aber gerade deswegen diehistorisierenden Gebäude eine überdimensionierteRolle im neuen Stadtleben, auch unter den täglichenNutzern des Stadtraums. Diese Rolle ist sowohl inden städtebaulichen Gegebenheiten als auch in derRekonstruktion selbst verwurzelt. Jene Gebietenämlich, die nicht mit Hilfe der pittoreskenRekonstruktion wiederbelebt wurden, fallen sowohlmorphologisch als auch diskursiv aus der Strukturder Altstadt heraus. Abschließend ist zu betonen,dass die Rekonstruktion kein einmaliges Ereignis warund bis heute andauert. Die heutige Generation

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erstellt ein Altstadtbild, das sich sowohlmorphologisch (z.B. neue Fußgängerzonen) als auchideologisch (die kulturelle Vielfalt und dasKonsumdenken, das Ausblenden der sozialistischerModerne) von der Rekonstruktion der Nachkriegszeitunterscheidet.

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SummaryL e v e l s o f M e a n i n g i n t h e R e c o n s t r u c t e d O l d Q u a r t e r o f

W r o c l a w

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This work defines the old quarter on threelevels. The first is the architectural configu -ration which is dominated by preindustrialstructures. The second is the discourse concer -ning the cultural heritage. The third is thespatial perception of the everyday users of thetown. The old quarter of Wroclaw was rebuiltafter 1945 and for that reason the fundamen talquestion arises how far the original old quarteris reflected in the reconstruction. The searchfor an answer first involves an examination ofthe architecture. I come to the con clusion thatthe reconstruction represents a continuation ofthe picturesque architecture of the pre-war era.The urban landscape which thus came aboutdivides into zones depending on the extent towhich the structures which had been destroyedhave been rebuilt. In the past years it wasdetermined that the image of the old quarterproduced by media, such as guides and picture-books, removes socialist buildings from view.Not least among the fin dings of this work isthat the eye-catching “historical” facadescontribute a positive message in today’sconsumer society and an increasinglyEuropeanised world. The level of ex amination ofday to day life is based on the collection ofdata among 63 students using the method ofmental mapping. The students present a spatialconcept with an overabundance of historicalbuildings, but in a context which also hasregard to present-day orientations such aspedestrian precincts and shopping centres. Theoverall thesis is that today’s old quarter ofWroclaw would be significantly smaller thanbefore the war. But partly for this very reason“historic”, i.e. reconstructed, buildings andstructures play a disproportionate role intoday’s city life

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