Anamorphosen des Affekts. Hitchcocks Akusmatik der Erinnerung: Rebecca, Spellbound, Marnie

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199 SULGI LIE ANAMORPHOSEN DES AFFEKTS HITCHCOCKS AKUSMATIK DER ERINNERUNG: REBECCA, SPELLBOUND, MARNIE REBECCA Remember reBecca – Hitchcocks erster Film in Amerika trägt demonstrativ einen weiblichen Namen. Ein bedeutender Mann war es jedoch, der Hitchcock nach Hollywood holte – David O. Selznick. Selznick, der berühmte Produzent, der seinen frühen Filmen ein kurzes Firmenlogo voranstellte, das selbst schon ikonisch geworden ist: In Großaufnahme prangt auf einem Schild stolz die Aufschrift »A Selznick International Picture«. Begleitet von machtvollen Fan- farentönen, schwenkt die Kamera nach unten und gibt die Totale eines herr- schaftlichen Hauses frei, das den Schriftzug »Selznick International Pictures trägt«. Die gedoppelte (patriarchale) Signatur des sich selbst als »Auteur« ver- stehenden Produzenten Selznick geht also Hitchcocks Namen voran und über die Querelen zwischen Produzent und Regisseur rankt sich die Legendenbil- dung, obwohl letztlich nur drei Filme von Hitchcock (reBecca, SpellBounD und the paraDine caSe) unter Selznicks Ägide entstanden sind. Aber zwischen die Konkurrenz von Selznick und Hitchcock blendet sich mit Beginn der eigentli- chen Filmcredits »Rebecca« als fiktionaler weiblicher Name ein, der weder der Produzentensignatur Selznick noch der Autorensignatur Hitchcock subsumiert werden kann, wie noch zu zeigen sein wird. Zu Beginn der Credits etabliert eine Schrifteinblendung ein drittes Mal Selznicks Namen als »Eigentümer« der Fik- tion. (Abb. 3, 4) Über dem Bild eines vernebelten Waldes liest man: »Selznick International presents its picturization of DAPHNE DU MAURIER’S celebrated

Transcript of Anamorphosen des Affekts. Hitchcocks Akusmatik der Erinnerung: Rebecca, Spellbound, Marnie

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sUlGi lie anaMorphosen des affeKts HitcHcocks akUsMatik der erinnerUnG: reBecca, sPellBoUnd, Marnie

reBecca

Remember reBecca – Hitchcocks erster Film in Amerika trägt demonstrativ

einen weiblichen Namen. Ein bedeutender Mann war es jedoch, der Hitchcock

nach Hollywood holte – David O. Selznick. Selznick, der berühmte Produzent,

der seinen frühen Filmen ein kurzes Firmenlogo voranstellte, das selbst schon

ikonisch geworden ist: In Großaufnahme prangt auf einem Schild stolz die

Aufschrift »A Selznick International Picture«. Begleitet von machtvollen Fan-

farentönen, schwenkt die Kamera nach unten und gibt die Totale eines herr-

schaftlichen Hauses frei, das den Schriftzug »Selznick International Pictures

trägt«. Die gedoppelte (patriarchale) Signatur des sich selbst als »Auteur« ver-

stehenden Produzenten Selznick geht also Hitchcocks Namen voran und über

die Querelen zwischen Produzent und Regisseur rankt sich die Legendenbil-

dung, obwohl letztlich nur drei Filme von Hitchcock (reBecca, SpellBounD und

the paraDine caSe) unter Selznicks Ägide entstanden sind. Aber zwischen die

Konkurrenz von Selznick und Hitchcock blendet sich mit Beginn der eigentli-

chen Filmcredits »Rebecca« als fiktionaler weiblicher Name ein, der weder der

Produzentensignatur Selznick noch der Autorensignatur Hitchcock subsumiert

werden kann, wie noch zu zeigen sein wird. Zu Beginn der Credits etabliert eine

Schrifteinblendung ein drittes Mal Selznicks Namen als »Eigentümer« der Fik-

tion. (Abb. 3, 4) Über dem Bild eines vernebelten Waldes liest man: »Selznick

International presents its picturization of DAPHNE DU MAURIER’S celebrated

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novel« und nach einer Überblendung auf eine weitere Waldansicht folgt der

Titel reBecca. Das Intervall zwischen den beiden Einstellungen lässt offen,

ob »Rebecca« grammatikalisch noch zum ersten Satz gehört (novel reBecca)

oder der Titel ganz für sich steht. Wem »gehört« Rebecca? Der Schriftstellerin

Daphne du Maurier, die sie literarisch erfunden hat, dem Produzenten Selznick

oder dem Regisseur Hitchcock, dessen Name am Ende der Creditsequenz steht?

Noch bevor die eigentliche Diegese begonnen hat, erscheint der Ursprung von

Rebecca eigentümlich überdeterminiert. Was sich aber unzweifelhaft beobach-

ten lässt, ist der abrupte Übergang von der Tageshelle und den klaren visuel-

len Linien des Selznick-Logos zu den nebel- und sonnenumflorten Bildern der

Credits. Fast schon lassen sich diese opaken Naturbilder als subversive Replik

auf das Selznick-Logo lesen: hier die repräsentative Bild-Architektonik einer

patriarchalen Genealogie, dort die diffuse Morphologie von Licht und Schat-

ten, die von einem autonomen weiblichen Signifikanten initiiert wird. Und just

in dem Moment, als nun zum vierten Mal Selznicks Name eingeblendet wird

(»Produced by David O. Selznick«), zeigt sich deutlich eine perspektivische

Verzerrung des Bildfeldes: Wie durch eine trübe Linse aufgenommen, fransen

Abb. 1–4: reBecca (USA 1940, R: Alfred Hitchcock)

anaMorPHosen des aFFekts

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die grafischen Linien von dem Fluchtpunkt zum Bildrand aus, so dass eine

merkwürdige Krümmung der Perspektive entsteht. (Abb. 5)

Hitchcocks erster Film in Hollywood streut in die Credits eine Anamorphose

ein, die nicht nur die (zentral-)perspektivische Ordnung des Bildes subtil ver-

formt, sondern allegorisch auch den Namen des übermächtigen Produzenten

dezentriert. Als weiblicher Name, der noch keinen Körper hat, scheint Rebecca

bereits in den Credits eine anamorphotische Macht zu besitzen, die unsichtbar

die männliche Autorenschaft von Selznick unterwandert. Mit »Directed by Alf-

red Hitchcock« enden die Credits und im Umschnitt auf ein Bild des Mondes

erweitert sich plötzlich der Rahmen des filmischen Bildes auf seine normale

leinwandfüllende Größe. Erst nachträglich wird dem Zuschauer bewusst, dass

sowohl das Selznick-Logo als auch die Credits nochmals durch einen internen

Rahmen kleiner kadriert und zudem noch an den Ecken abgerundet waren. In

Antizipation der späteren »Heimkino«-Sequenz, in der sich die beiden Prota-

gonisten die Projektion ihres Hochzeitfilms ansehen, operiert reBecca bereits

vor Beginn der eigentlichen Diegese mit der Mise en abyme einer doppelten

Rahmung. Dieses vertrackte Spiel von Rahmen in Rahmen, Frames in Frames

verzögert aber auch nach dem Ende der Credits die Hoffnung auf den Beginn

der Diegese durch einen weiteren heterodiegetischen Ein- und Aufschub: »Last

night I dreamed I went to Manderley again« verkündet eine Frauenstimme aus

dem Off und subjektiviert die nun einsetzende, gleitende Vorwärtsbewegung

der Kamera durch den Wald als Mischung aus Traum- und Erinnerungsbild.

Nachträglich werden damit auch die Waldansichten der Credits als subjektiv

gefilterte Bilder umcodiert. Eine körperlose Stimme und ein körperloser Blick

saugen sich in einer sogartigen Bewegung in den Raum hinein, ohne dass der

epistemische Status der Erzählerin enthüllt wird. Mit der Ansicht von Schloss

Abb. 5: reBecca (USA 1940,

R: Alfred Hitchcock)

sUlGi lie

202

Manderley kommt der trägerlose Point of View kurz zum Stopp, bis die Bewegung

in die Raumtiefe wieder aufgenommen wird und der Blick in ein dunkles Fens-

ter führt, um dann in die Aufsicht einer tosenden Meeresbrandung am Strand

überzublenden, begleitet von den Worten: »We can never go back to Manderley

again. That much is certain. But sometimes in my dreams … I do go back to the

strange days of my life … which began for me in the South of France.« (Abb. 6)

Damit ist der mehrmals aufgeschobene Beginn der eigentlichen Diegese in

Frankreich durch den Spiraleffekt der doppelten Rahmungen als Flashback

im Flashback markiert – die Erinnerung innerhalb einer geträumten Erinne-

rung. Noch bevor man einige Einstellungen später Joan Fontaine in der Rolle

der namenlosen Heldin als Subjekt der geträumten Erinnerungsstimme und

des -blicks identifizieren kann, gibt es also in dem Film die abwesende Präsenz

einer akusmatischen Audio/Vision, die jeder Verkörperung vorgängig ist. Auf

die Anamorphose der extradiegetischen Credits folgt die Akusmatik der hete-

rodiegetischen Narration: Anamorphose der Erinnerung, Akusmatik der Erin-

nerung. Fast schon als poetisches Programm für alle weiteren Filme Hitchcocks

hebt reBecca mit der reinen Subjektivität der Erinnerung an, die nicht eindeutig

einem erinnerndem Subjekt zugeschrieben werden kann und deshalb von Kör-

per zu Körper, Name zu Name gleitet. Die Erinnerung ist nicht nur anamorpho-

tisch, sie ist gleichsam auch metamorphotisch, indem sie ihre Gestalt und ihren

Träger konstant umflort, verformt und auch deformiert.

Als ob die Konkurrenz zwischen Hitchcock und Selznick auch im Film selbst

ihr Echo hinterlassen hätte, erzählt auch reBecca von einem Konkurrenzver-

hältnis, allerdings einem weiblichen: Ein namenloser Körper (der Name von

Joan Fontaines Figur wird niemals genannt) wird von einem körperlosen

Namen (die verstorbene Rebecca) heimgesucht und muss sich in dieser ima-

Abb. 6: reBecca (USA 1940,

R: Alfred Hitchcock)

anaMorPHosen des aFFekts

203

ginären Konkurrenz mit einer Abwesenden behaupten. Im Gegensatz zu den

anderen Figuren, allen voran ihrem Gatten Maxim de Winter (Laurence Olivier),

denen die Erinnerung an die Verstorbene noch allzu gegenwärtig ist, sieht sich

Joan Fontaine mit der Macht einer ihr fremden Erinnerung konfrontiert, die

sie nichtsdestotrotz als ihre eigene annehmen muss, um sich die symbolische

Position der »Mrs. De Winter« zu erkämpfen. Als Subjektivität ohne Subjekt

geistert die Erinnerung an Rebecca durch den Film, die aber bereits in der ers-

ten Emanation der/des akusmatischen Stimme/Blicks von der Erinnerung

von Rebecca durchdrungen wird. Selbsterinnerung ist immer auch Fremd-

erinnerung, Rebecca besetzt gerade durch ihre Absenz nicht nur die Figuren

in der Fiktion (Joan Fontaine, Maxim und vor allem natürlich die dämoni-

sche Haushälterin Mrs. Danvers), sondern auch den außerfiktionalen Ort der

Enunziation: Ist Rebecca nicht auch Hitchcock und Selznick, verbirgt sie sich

nicht auch hinter der phantomatischen Autonomie der Kamera, die in Vor-

wegnahme der berühmten Anfangssequenz von pSycho bereits hier schon auf

unmögliche Weise durch Gitter, Tore und Fenster gleitet und in Vorwegnahme

von vertiGo in der schwindelerregenden Aufsicht auf das Meer in den Abgrund

blickt? In der Überblendung auf die tosende Brandung führt die Erinnerung zu

einem intensiven Affekt – der Schwindel vor dem Moment des Sturzes. Eine

subjektivierte und dennoch subjektlose Erinnerung, die sich spiralförmig auf

einen traumatischen (Ab-)Grund zubewegt – damit bekommt die Morphologie

der Erinnerung eine abstrakte affektive Signatur, die auch in SpellBounD und

Marnie wiederkehren wird. Erst sekundär wird die subjektlose Subjektivität der

Erinnerung lose an ein Subjekt in der Diegese gekoppelt: Als sich der Kamera-

blick aus der Sogkraft des Abgrunds wieder hochwindet, sieht man Laurence

Olivier in einer Totale am Rande der Klippe stehen. Der vermeintliche Point of

View geht in eine objektive Einstellung über und offenbart damit gerade seine

Inkongruenz mit dem männlichen Blick – kontra Laura Mulveys einflussrei-

cher These von der nahtlosen Synchronie zwischen Kameraauge und männli-

chen Zuschauerauge bei Hitchcock.1 Der Blick ist niemandes Blick und wenn er

1 Vgl. Mulvey, Laura: »Visuelle Lust und narratives Kino«, in: Weissberg, Liliane (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt/Main 1994, S. 66–89. – Aber der Blick gehört in reBecca auch nicht der

weiblichen Figur: Wenn in einer zentralen Szene des Films, Joan Fontaine in Gegenschnitt mit

ihrem bewegten Point of View auf die Tür zum reliquienartigen Zimmer der verstorbenen Rebecca

zuschreitet, heben ihre seitlich ins Bild hineingreifenden Hände die Subjektive wieder auf. Auch

hier stört ein anamorphotisches Element die perspektivische Ordnung der Blicke.

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jemandes Blick ist, ist er der Blick eines Niemands mit dem Namen Rebecca:

»Rebecca herself lurks in the blind space of the film, with the result that, […],

she never becomes ›domesticated.‹ Rebecca is the Ariadne in this film’s laby-

rinth, but since she does not relinquish the thread to any Theseus, her space,

Manderley, remains unconquered by man.«2

Dass die Akusmatik der Erinnerung in reBecca sich nicht einer männlich kont-

rollierten Mnemotechnik subsumieren lässt, macht nicht zuletzt jene Szene deut-

lich, in der Rebecca als Revenant durch die Stimme Maxims qua Blick wieder aus

dem Reich der Toten aufersteht.3 Maxims Beichte gegenüber Joan Fontaine im

Bootshaus, in der die bisher vermutete Verklärung Rebeccas schockartig demon-

tiert wird, muss als strukturelles Äquivalent der anfänglichen Traum sequenz ver-

standen werden. Die Trennung zwischen eigener und fremder Erinnerung wird

hier nochmals evidenter, da Maxim seine eigene Erinnerung an die Todesnacht

erzählt, aber die Kamera eben nicht seine, sondern die gleichsam untote subjek-

tive Perspektive Rebeccas einnimmt und auf der primären Ebene der Enunzia-

tion ihre Blickmacht über die diegetisierte Stimme Maxims behauptet. Wie in der

Anfangsszene initiiert die Stimme den Blick, aber die Perspektive der männlichen

Stimme ist mit der Perspektive des weiblichen Blicks inkongruent. Auch wenn

die zunächst visuell verkörperte Stimme im Moment von Rebeccas gespensti-

scher Blick-Emanation ins Off-screen wandert, kann die körperlose Stimme des

Mannes die dämonische Akusmatik des weiblichen Blicks nicht mehr kontrol-

lieren. Die Stimme beschwört den Blick, um von diesem wieder unterworfen zu

werden. Am Ende der langen Kamerabewegung rückt Maxim wie schon in der

Klippensequenz als Objekt in das Blickfeld der anwesend- abwesenden Rebecca.

Das männliche Subjekt der Erinnerung gerät in den mythischen Bann eines

bösen Blicks, den Lacan als fascinum bezeichnet hat:

»Der böse Blick ist das fascinum, das, was durch seine Wirkung die Bewe-

gung stocken lässt und buchstäblich das Leben ertötet. Im Augenblick, wo

das Subjekt einhält und seine Gebärde unterbricht, wird es mortifiziert. Die

2 Modleski, Tania: »Woman and the Labyrinth: reBecca«, in: dies.: The Women Who Knew Too Much. Hitchcock and Feminist Theory, New York, London 1988, S. 53.

3 In Derridas Überlegungen zur abwesenden Präsenz der Erinnerung heißt es an einer Stelle: »Der

Revenant, der nach dem Tode Lebende (le survivant), tritt vermittels der Figur oder der Fiktion

in Erscheinung; aber sein Erscheinen ist nicht nichts, ist nicht nur Schein.« – Derrida, Jacques:

Mémoires. Für Paul de Man, Wien 1988, S. 90.

anaMorPHosen des aFFekts

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Anti-Lebens-, die Anti-Bewegungsfunktion dieses terminalen Punktes ist

das fascinum, und es geht hier durchaus um eine der Dimensionen, in denen

der Blick seine Wirkgewalt direkt entfaltet.«4

Diese Erinnerungsséance führt auf eindrückliche Weise vor, dass Rebeccas

fascinum deshalb so traumatisch insistiert, weil die »kryptophorische Kammer/

Kamera«5 permanent von der Diegese in die Enunziation gleitet. Akusmatik

der Erinnerung – das heißt auch, dass Rebecca und reBecca nicht miteinander

identisch sind, wie auch Katharina Sykora in ihrer Analyse des Films sugge-

riert:

»Die Eigenbewegung des Films verleiht so ihrer Absenz einen sekundären

Körper. Mit der Demontage ihres integren Bildes und der Beschwörung ihres

Todes geht also gleichzeitig eine Wiedererstehung Rebeccas einher, und

zwar durch ihren erneuten Rahmenwechsel von der reinen Narration in das

›selbstbewusste Bild‹ des Films, der noch ihre Abwesenheit in ein imaginäres

Bildnis ex negativo verwandelt.«6

Der sekundäre Körper Rebeccas fällt indes mit dem primären Körper der

Kamera ineinander, der strukturell ein körperloser Körper ist, der sich nie in

4 Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch XI, Weinheim, Berlin

1996, S. 125.

5 Bronfen, Elisabeth: »Aneignung der Fremde auf unheimliche Art. reBecca (Alfred Hitchcock)«, in:

dies., Heimweh: Illusionsspiele in Hollywood, Berlin 1999, S. 189.

6 Sykora, Katharina: »Parergon reBecca«, in: dies.: As You Desire Me. Das Bildnis im Film, Köln 2003,

S. 41.

Abb.7: reBecca (USA 1940,

R: Alfred Hitchcock)

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der Diegese verkörpern kann. In dieser Hinsicht wird Rebeccas akusmatischer

Name wohl auch dann nicht auszulöschen sein, wenn in der Schlusseinstellung

des Films ihr gesticktes Initial in Flammen aufgeht, aber wiederum der männ-

lichen Schriftmacht von Selznicks Endcredits (»THE END. A Selznick Inter-

national Picture«) widersteht: Remember reBecca. (Abb. 7)

spellBound

Im Schlussbild von reBecca sind das Erinnern Rebeccas und das »Spelling«

ihres Namens traumatisch kurzgeschlossen; ihr Fluch hat immer auch eine

buchstäbliche, textuelle, grafische Form. In SpellBounD, Hitchcocks zweiter

Zusammenarbeit mit Selznick, entfaltet sich die Akusmatik der Erinnerung

konsequenterweise entlang dem materialistischen Diskurs der Psychoana-

lyse. »I am haunted, but I can’t see by what«, sagt der amnestische Patient

John Ballantine (gespielt von Gregory Peck) in SpellBounD zur anamnetischen

Ärztin Constance Peterson (gespielt von Ingrid Bergmann). Unheimlich ist

die traumatische Heimsuchung, weil sich Wirkung und Ursache voneinander

abspalten und der überwältigende Angstaffekt sich nicht ätiologisch auflösen

lässt. Das kausale Ausdrucksverhältnis zwischen Ursache und Wirkung hat

sich zugunsten eines Überschusses der Wirkung über die Ursache verscho-

ben. In Ballantines Satz artikuliert sich indes nicht nur die A-Kausalität des

Traumas, sondern auch seine A-Visualität: Das »I can’t see by what« ist auch

ein »I can’t see«. Der traumatische Affekt stürzt das Sehen in eine Krise, der

titelgebende »Spellbound« (gebannt) ist ein Bann, der blendet und erblinden

lässt. In (populär-)freudianischer Manier vertraut das therapeutische Narra-

tiv des Films auf das Versprechen, das das Aussprechen – das »Spelling« der

psychoanalytischen »Talking Cure« – den Patienten wieder von diesem Bann

entbinden könne. Im Signifikanten »Spellbound« steckt aber auch ein anderes

»Spelling« - ein gleichsam »kryptonymisches«7 Buchstabieren und Schreiben,

auf das Tom Cohen in seinen Hitchcock-Studien verwiesen hat: »In the film

[…] the binding ›spell‹ of the title refers not only to the totalizing hermeneutic

7 »Kryptonyme«, in der Begriffsprägung der Psychoanalytiker Abraham und Torok sind »(Wör-

ter, die verbergen), denn sie spielen auf eine fremde und dunkle Bedeutung an […].« – Abraham,

Nicolas und Torok, Maria: Kryptonymie. Das Verbarium des Wolfmanns, Basel 2008, S. 91–92.

anaMorPHosen des aFFekts

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of psychoanalysis […], but of what even preceeds spelling on a linguistic level.«8

Und tatsächlich hat das Trauma in SpellBounD als »Bound-Spell« eine mate-

rielle Spur hinterlassen, der Bann hat sich buchstäblich in den Textkörper des

Films eingeschrieben: Die Rede ist natürlich von jenen grafischen Pattern aus

Streifen, Linien und Gittern, die fast alle Filme Hitchcocks durchziehen und die

William Rothman als »bar series«9 (///) bezeichnet hat. (Abb. 8)

Ballantine hat eine ausgesprochene Furcht vor der Vertikalen, die sich zum

ersten Mal zeigt, als Peterson beim Dinner mit ihrer Gabel ein (vaginales) Muster

in das Tischtuch einfurcht. Mit der flachen Seite eines Messers versucht Ballan-

tine, die Linien wieder glattzubügeln, aber die Spuren lassen sich nicht wieder

verwischen. In SpellBounD hat das Trauma eine sowohl grafische als auch kine-

matografische Textur: Linie und Fläche, Schwarz und Weiß, Licht und Schat-

ten. So leidet Ballantine nicht nur an einer »Fotophobie« vor weißem Licht, wie

Peterson und ihr Mentor Dr. Brulov in einer späteren Szene diagnostizieren,

sondern auch an einer ausgeprägten »Grafophobie« vor dunklen Linien aller

Art. Beides sind okulare Phobien, die auf der organischen Verwundbarkeit des

Auges gründen: Geblendet von der Fläche, aber auch zerschnitten vom Slash

(/) der Linie, wie im Buñuel’schen Scherenschnitt durch die gemalten Augen

in Dalís Traumsequenz. Aber auch »[j]enseits der Dalí’schen Traumsequenzen

mit ihrem symbolistischen Vokabular« haben sich, wie Gertrud Koch schreibt,

»die Traumaspuren in der visuellen Umsetzung als dunkle Linien auf weißem

8 Cohen, Tom: Ideology and Inscription. »Cultural Studies« after Benjamin, de Man, and Bakhtin, Cam-

bridge/Mass., 1998, S. 164.

9 Vgl. Rothman, William: The Murderous Gaze, Cambridge/Mass., 1982.

Abb. 8: SpellBounD (USA 1945,

R: Alfred Hitchcock)

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Untergrund bereits eingeprägt.«10 Als solch eine grafische Spur ritzt sich das

Trauma in die visuelle Oberfläche des Films ein, wie eine weitere Szene des

Films eindrücklich zeigt (Abb. 9–12).

SpellBounD ist ein Film der frontalen Blicke und Bewegungen, die direkt das

»Diesseits« der Kamera adressieren. Schauen in der früheren Restaurantszene

die verdutzten Gäste in den optischen Point of View von Ballantine, so sugge-

riert nun der strukturell komplementäre Blick Ballantines in die Kamera die

diegetische Symmetrie mit dem optischen Point of View von Peterson: Face

to Face and Eye to Eye. Doch dieser scheinbar eindeutige Blickaustausch wird

durch die Montage minimal irritiert: im Gegenschuss auf Petersen ist ihre

abweichende Blickrichtung mit der Blickachse von Ballantine nicht reziprok.

Ihre Blicke verfehlen sich um eine entscheidende Nuance, sie sehen sich und

gleichzeitig sehen sie sich nicht. Diese merkwürdig asynchrone Alternation von

10 Koch, Gertrud: »Das unerhörte Déjà-vu des Verdrängten. Amnesie und Trauma«, in: Jaspers,

Kristina und Unterberger, Wolf (Hg.): Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud, Berlin

2006, S. 123.

Abb. 9–12: SpellBounD (USA 1945, R: Alfred Hitchcock)

anaMorPHosen des aFFekts

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Schuss und Gegenschuss hinterlässt einen blinden Fleck in der Diegese – einen

anamorphotischen Rest, der Pascal Bonitzer und Slavoj Žižek zufolge die Hitch-

cock’sche Montage kennzeichnet. Auch in der berühmten Überblendung über

die geschlossenen Augen Petersens öffnen sich die metaphorischen Türen des

Unbewussten zwar in strenger zentralperspektivischer Geometrie, stoßen aber

im Fluchtpunkt auf keinen visuellen Kern, sondern auf den a-visuellen Glanz

einer weißen Leinwand. Um Tom Cohen noch einmal zu zitieren: »Doors open

on doors opening on doors, only to reveal luminous white walls that trigger more

›photophobia‹.«11 So wird in der Rücküberblendung mittels eines fast unmerk-

lichen Zeitlupeneffekts der Kuss des Paares zunächst verfremdet, bevor Ballan-

tine beim zufälligen Blick auf Petersens gestreifte Jacke wieder vom photo- und

grafophobischen Schock getroffen wird: Im pathogenen Gestalt switch verwan-

delt sich die konkrete Form der Kleidung in ein abstraktes, präfigurales Pattern

aus Linie und Licht, das sich wiederum in ein blendendes Weiß auflöst. Dieser

Denaturierung der Perspektive trägt auch Gilles Deleuze Rechnung, wenn er

in seinen Ausführungen zum »mentalen Bild« Hitchcocks grafische Abstrak-

tionen des Bildfeldes nicht auf Malerei und Theater, sondern auf die Weberei

zurückführt. Deleuze definiert die Hitchcock’sche Einstellung als einen »Web-

rahmen«, der aus Relationen von natürlichen und abstrakten Zeichen gefloch-

ten und verflochten ist:

»Ist die Beziehung eine natürliche und verweist ein Element auf andere

innerhalb einer vertrauten Reihe, in der jedes Element durch die anderen

›interpretierbar‹ ist, so handelt es sich um Markierungen (marques). Es kann

freilich jederzeit geschehen, daß eines dieser Elemente aus dem Geflecht her-

ausspringt und unter Bedingungen auftaucht, die es seiner Reihe entziehen

oder mit ihr in Widerspruch geraten lassen; in diesem Fall sprechen wir von

Demarkierungen (démarques).«12

Als Beispiel einer solchen Demarkierung nennt Deleuze das ominöse Glas

Milch in SuSpicion, das als toxisch leuchtendes Objekt in einer späteren Szene

von SpellBounD wiederkehrt: (Abb. 13–15) Um die rasiermesserscharfe Para-

lyse von Ballantine wieder zu entschärfen, verabreicht ihm der weise Dr. Brulov

11 Cohen, Tom: Hitchcock’s Cryptonymies. Volume II. War Machines, Minneapolis, London 2005, S. 121.

12 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1989, S. 272.

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einen antipsychotischen Schlummertrunk. Wiederum folgt ein frontaler Blick

des milchtrinkenden Ballantines in die Kamera, bis der Gegenschuss seinen

optischen Point of View auf Brulov einnimmt. Diesmal stimmt die Achsensym-

metrie von Schuss und Gegenschuss, aber nur, um prompt von einer bizarren

Demarkierung verzerrt zu werden. Das Milchglas stülpt sich gleichsam über das

gesamte Gesicht von Ballantine, überflutet sein Blickfeld, um schließlich ganz

in das Weiß des Whitescreens überzugehen. Ein unmöglicher Point of View: In

der anamorphotischen Trübung durch den Glasboden verformt sich nicht nur

die räumliche Perspektive, auch die distinkten Funktionen von Auge und Mund

verformen sich ineinander. Pascal Bonitzer definiert das Hitchcock’sche Objekt

folgendermaßen: »The-object-which-makes-a-stain is thus, literally speaking,

an object which goes against nature.«13 Die Demarkierung ist eine Denaturation,

die aber in dieser Szene sowohl das Objekt als auch das Subjekt erfasst: Das Auge,

das trinkt, ist zugleich der Mund, der sieht. Die Kamera, die vorgibt, die die-

getische Perspektive der Figur einzunehmen, transformiert sich gleichzeitig zu

einem »anamorphotischen Phantom«14 – okular, oral und anti-okular zugleich.

Der »Spell« des traumatischen Affekts kippt nun ganz buchstäblich in einen

»Spill«, »wenn wieder ein Glas Milch die Leinwand überschwemmt und nur ein

leeres weißes Bild übrig lässt.«15 Die Fotophobie des Protagonisten schwappt

gleichsam aus der diegetischen Welt heraus und kontaminiert als leckender Fleck

die Außenseite des Films. Vom Weiß der Milch führt eine weitere Demarkierung

13 Bonitzer, Pascal: »Hitchcockian Suspense«, in: Žižek, Slavoj (Hg): Everything You Always Wanted to Know about Lacan (But Were Afraid to Ask Hitchcock), London/New York 1992, S. 21.

14 Lacan: Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, a.a.O., S. 95.

15 Deleuze: Bewegungs-Bild, a.a.O., S. 28.

Abb. 13–15: SpellBounD (USA 1945, R: Alfred Hitchcock)

anaMorPHosen des aFFekts

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zum Weiß des Schnees. In der finalen Skifahrt soll die verdrängte Urszene end-

lich wiederholt, erinnert und durchgearbeitet werden.16 (Abb. 16–21)

16 Über den temporalen Kurzschluss einer vollkommen antirealistisch verkürzten psychoanaly-

tischen Behandlungsdauer in SpellBounD vgl. Brill, Lesley: »Bygones be Bygones«, in: ders.: The Hitchcock Romance. Love and Irony in Hitchcock’s Films, Princeton 1988, S. 239ff. und Damisch,

Hubert: »In aller Hast. Arbeitshypothese«, in: ders.: Fixe Dynamik, Berlin, Zürich 2001, S. 218ff.

Abb. 16–21: SpellBounD (USA 1945, R: Alfred Hitchcock)

sUlGi lie

212

Befreit die Erinnerung des Traumas nun den Patienten von seinem Leiden?

Kann der verdrängte Affektüberschuss nun wieder an seine ätiologische Ursa-

che zurückgebunden werden? Dock kein Hitchcock-Plot ohne Blot: Obwohl

die narrative Schließung die geglückte Einheit von Heilung und Paarbildung

behauptet, lassen zu viele anamorphotische Elemente auf die Insistenz der

traumatischen Symptome in der Enunziation schließen: das gemalte Panorama

der Berglandschaft, die Artifizialität der Rückprojektion, die abgespaltene Ich-

Stimme von Ballantine, der Sogeffekt des Zooms im Memory-Flash auf sein

kindliches Alter Ego. Im Umschnitt nimmt die Kamera direkt die Position des

schuldig unschuldigen Mörders ein und rutscht samt sichtbarem Schuhwerk

rücklings auf den kleinen Bruder zu: The Murderous Gaze.

Zumindest in der letzten Einstellung der Szene aber scheinen die Körper der

Liebenden in der Umarmung miteinander vereint, als auch Vordergrund und

Hintergrund ohne Rückprojektion miteinander versöhnt. Doch diese kurze

unbefleckte Harmonie wird abrupt von einem typografischen »Spelling« über-

blendet und überschrieben. Um mit Deleuze zu sprechen: Als Markierung ist

das Papier ein anonymes polizeiliches Dokument in Schreibmaschinenschrift,

das Ballantine und Petersen als Verdächtige deklariert; aber als Demarkierung

ist es eine »bar series« von schwarzen Strichen auf weißem Grund. Die grafische

Matrix des Traumas lässt sich nicht löschen. Diegetisch mag das Trauma aufge-

löst sein, aber der freigesetzte Affekt übersteigt die fiktionale Realität des Films,

wie auch die spektakuläre Schlussszene von SpellBounD zeigt. (Abb. 22- 24)

Peterson hat den Psychiater Dr. Murchison des Mordes überführt und ihn

zugleich als den eigentlichen Verursacher von Ballantines Amnesie identifi-

ziert. Als synchronisierte Einheit von Kamera und Pistole, Projektor und Pro-

jektil nimmt ein weiterer optischer Point of View die mörderische Subjektive von

Murchinson auf Peterson ein, bis sich die bewaffnete Hand plötzlich gegen den

Kamerablick selbst richtet und frontal in das Okular des Objektivs feuert. Doch

das ist nicht alles: Ein kurzer Flash Frame in Blutrot blitzt beim Schuss auf, der

erste Farbfleck nicht nur dieses Schwarz-Weiß-Films, sondern in Hitchcocks

Filmografie überhaupt. Ein Tod in Rot: Der diegetische Selbstmord der Figur

wird mit der allegorischen Selbstzerstörung der kinematografischen Enun-

ziation kurzgeschlossen. In einer finalen Point-of-View-Paradoxie werden

Okularzentrismus und Antiokularzentrismus ununterscheidbar: Der Augen-

blick des Todes ist der Augenblick des Erblinden und das Auge der Kamera blutet

anaMorPHosen des aFFekts

213

in der »Röte des Rot von Technicolor«.17 Der »disjunktive Surrealismus«18 des

Films, der in Dalís Traumsequenz im Schnitt durchs Auge symbolistisch Gestalt

annimmt, explodiert hier direkt als tödliche Farbmaterialität. Ein »color bleed-

ing«, das in der allegorischen Zerstörung der »vierten Wand« auch auf die trau-

matische Verwundung, Verblutung und Erblindung des Zuschauerauges zielt,

wie sie Brigitte Peucker in ihrer Analyse der Szene beschrieben hat:

»As the bullet is figuratively shot into the space of the theater, a single flash of

red perforates the otherwise black-and-white images of the film, as through

to suggest that the film frame was indeed bleeding into the space of the spec-

tator, momentarily triggering the collapse of representation and reality into

one another. Equated with Dr. Murchinson as he points the gun simultane-

ously at himself, at the camera, and hence at the spectator, the spectator has

figuratively become the suicide’s (blinded) victim. One again a flash of red

marks the image of a gun at the moment of shooting, suggesting that it is

Murchinson’s retinal image that we see. This is a subjective shot, of course,

seen through the eyes of a character at the point of death. […]. Here, too, the

red-suffused shot that follows immediately upon its firing figures the physi-

cal merger of character with spectator at the level of perception.«19

17 So der schöne Hitchcock’sche Buchtitel von Bitomsky, Hartmut: Die Röte des Rots von Technicolor. Kinorealität und Produktionswirklichkeit, Darmstadt 1972.

18 Brill, The Hitchcock Romance, a.a.O., S. 243. Vgl. auch Spoto, Donald: »The systematic destruction

of one’s literal vision is, for Dalí as for Hitchcock, a necessary prelude to the vision of the ›more

real‹ or surreal world beyond more appearance«, in: Spoto, Donald: The Art of Alfred Hitchcock, New

York 1976, S. 156.

19 Peucker, Brigitte: »The Scene of Art in Hitchcock«, in: dies.: The Material Image. Art and the Real in Film, Stanford 2007, S. 97.

Abb. 22–24: SpellBounD (USA 1945, R: Alfred Hitchcock)

sUlGi lie

214

Ein Netzhauttod der Figur, des Zuschauers, der Kamera: So endet SpellBounD

mit einem demarkierten, denaturierten »Spill« reiner anamorphotischer Farbe.

MarnIe

Vom Schock dieses Flash Frames führt ein direkter roter Faden zu den Farb-

verformungen von Marnie. Hitchcocks Affektästhetik erreicht in Marnie einen

neuen Abstraktionsgrad, der mit jedem Realismus bricht. Wie Donald Spoto zu

Recht festgehalten hat, sind sowohl SpellBounD als auch Marnie in ihrer Arti-

fizialität fast schon als Experimentalfilme zu betrachten: »In Marnie, there

was no obligation for the director to rely on simple realism.«20 Viele Kritiker

haben dem Film jedoch gerade diesen artifiziellen Antirealismus vorgehalten

und darin ein Schwinden von Hitchcocks technischer und kreativer Kontrolle

erkennen wollen. Tatsächlich versuchen die Rückprojektionen von Marnies

Reitausflügen und der gemalte Hintergrund des Hafens von Baltimore gar nicht

erst, ihre mangelnde Realitätsillusion zu kaschieren. Aber genau in diesen ver-

meintlich »schlechten« und unrealistischen Effekten artikuliert sich die ästhe-

tische und ätiologische Wahrheit des Film: Denn die traumatischen Symptome

der Protagonistin werden von der Diegese direkt auf den Textkörper des Films

übertragen.21 Diese Symptomtransmission von der Diegese in die Enunziation

wird in Marnie nicht zuletzt an der Farbe lesbar. Wenn in SpellBounD das trau-

matische Pattern in Schwarz und Weiß alterniert, so flackert es in Marnie in

plötzlichen Schüben von Rot auf. Auf die Fotophobie und die Grafophobie folgt

nun die Kolorphobie.

Die Röte des Rots von Marnies Trauma blitzt zuerst beim Besuch im Haus

ihrer Mutter (begleitend dazu hört man im Off auch zum ersten Mal den unheil-

vollen Reimgesang der Kinder auf der Straße: »Mother, Mother, I am ill …«), als

die Farbe eines Blumenstraußes sich auf unheimliche Weise zu verselbststän-

digen scheint. (Abb. 25, 26)

20 Donald Spoto, The Art of Alfred Hitchcock, New York 1976, S. 406.

21 Zur ästhetischen Spezifik der Rückprojektion in Marnie vgl. Lie, Sulgi: »Das verdoppelte Enunziat

oder die Spaltung des filmischen Bildes: Weltprojektion als Rückprojektion in Marnie«, in: ders.:

Die Außenseite des Film. Zur politischen Filmästhetik, Berlin, Zürich 2012, S. 39–46.

anaMorPHosen des aFFekts

215

Die Montage vernäht die Großaufnahme der roten Blumen des Bösen mit

dem Point of View von Marnie, aber der rote Flash entspricht eben nicht ihrer

eigenen pathogenen subjektiven Wahrnehmung, sondern hat sie selbst zum

Objekt. Diese Konfusion von Subjektive und Objektive ist von entscheidender

Bedeutung: Anstatt die Farbphobie in der Diegese zu subjektivieren, tritt der

Angstaffekt der Figur quasi von außen entgegen. Als ob sich Affekt und Subjekt

voneinander abgespalten hätten, kontaminiert das Rot als anamorphotischer

Fleck das gesamte Bildfeld. In diesem Sinne bewahrheitet sich der Satz »I am

haunted, but I can’t see by what« aus SpellBounD auch in dieser Szene, weil sich

die Farbe gleichsam von ihrem materiellen Träger (der Blume) löst und sich

immateriell spektralisiert. Marnie kann zwar das Rot der Blume sehen, aber

nicht das traumatische Rot des Affekts. Solchermaßen abgelöst vom Modus der

Sichtbarkeit, entfaltet der Film das Paradox einer »unsichtbaren Farbe«. Die

Spektralfarbe Rot ist zugleich eine spektralogische Farbe, die als unkörperli-

ches Ereignis sowohl in den Körper der Figur als auch in den Körper des Films

eindringt.

Weitab von jeder konventionellen Semantik von kinematografischer Farb-

dramaturgie und Farbsymbolik, wird in Marnie die Farbe zum reinen Affekt,

wie umgekehrt der Affekt zur reinen Farbe wird. So schreibt auch Deleuze

über das Affektbild: »Gewiss gibt es eine Farbsymbolik, aber sie besteht nicht

in einer Entsprechung zwischen einer Farbe und einem Affekt (Grün und die

Hoffnung …). Vielmehr ist die Farbe selbst der Affekt, das heißt die virtuelle

Verbindung von allen Gegenständen, deren sie sich bemächtigt.«22 Wenn

22 Deleuze: Bewegungs-Bild, a.a.O., S. 164.

Abb. 25/26: Marnie (USA 1964, R: Alfred Hitchcock)

sUlGi lie

216

daher Richard Allen in seinem neueren Buch über Hitchcocks romantische Iro-

nie in den Farbflashes einen »subjektiven Expressionismus«23 zu identifizie-

ren meint, stimmt bereits die bloße analytische Beschreibung nicht. Subjektiv,

expressiv oder gar expressionistisch ist daran gar nichts. Anstatt einer Inner-

lichkeit, die sich im Affektausdruck nach außen kehrt, hat man es in Marnie

mit einem unpersönlichen Affekt zu tun, der das Subjekt von außen heimsucht.

Diese paradoxe Logik der Externalisierung, die darin besteht, »den Affekt

von der Zugehörigkeit zu einer Person abzuschneiden«,24 wie es weiterhin bei

Deleuze heißt, wird in allen Farbflash-Sequenzen von Marnie als traumatisches

Pattern wiederholt. (Abb. 27, 28)

Der traumatische Wiederholungszwang schreibt sich auch in diesen beiden

Alptraumsequenzen in die Filmform ein. Beide werden über eine akustische

Chiffre miteinander verbunden: einmal ist es das zufällige Klopfen des Gardi-

nenknopfs von innerhalb, das andere Mal das Klopfen einer Hand von außer-

halb des Fensters. Wiederum bleibt die Differenz von Realität und Fantasie

diegetisch unmarkiert: Was im zweiten Fall (die klopfende Hand) zweifellos

der inneren Subjektivität von Marnies traumatischem Traum entspringt, ver-

körpert sich trotzdem objektiv im Bild: Der verdrängte Affekt wird von innen

nach außen projiziert. Freuds Beschreibung der sexuellen Ätiologie dieses Pro-

jektionsvorgangs in einem Text über weibliche Paranoia, in der die Patientin

von akustischen Halluzinationen in Form von Klopfgeräuschen verfolgt wird,

kann fast als direkter Kommentar zu dieser Szene gelesen werden:

23 Allen, Richard: Hitchcock’s Romantic Irony, New York 2007, S. 242.

24 Deleuze: Bewegungs-Bild, a.a.O., S. 287.

Abb. 27/28: Marnie (USA 1964, R: Alfred Hitchcock)

anaMorPHosen des aFFekts

217

»Ich könnte es wagen, in der Zersetzung der angeblich realen ›Zufälligkeit‹

noch weiter zu gehen. Ich glaube überhaupt nicht, daß die Standuhr getickt

hat oder daß ein Geräusch zu hören war. Die Situation, in der sie sich befand,

rechtfertigte eine Empfindung von Pochen oder Klopfen an der Klitoris. Dies

war es dann, was sie nachträglich als Wahrnehmung von einem äußeren

Objekt hinausprojizierte. Ganz Ähnliches ist im Traume möglich.«25

Und ganz Ähnliches ist auch im Kino möglich, um Freuds kinematografi-

sche Sprache zu paraphrasieren: Das Kino ist ein Apparat, der audiovisuelle

Affekte hinausprojiziert. Das Klopfen der Klitoris ist das Klicken des Kinos. In

Freuds Fallgeschichte fantasiert die Patientin das Geräusch des fotografischen

Verschlusses – ein »Shutter«, der auch dann noch weiterklickt, wenn, wie in

Marnie, die Augen längst geschlossen - »shut« - sind.

Die Einstellungsperspektive der zweiten Sequenz spiegelt fast achsensymme-

trisch die erste Sequenz wider und auch die Kamera scheint die Bewegung nach

rechts wieder aufzunehmen. Im Gegensatz zu den blutigen Blumen werden hier

die Farbflashes von keinerlei realem Wahrnehmungseindruck verursacht, son-

dern direkt vom unsichtbaren psychischen Apparat der Träumenden ausgelöst.

Das Trauma kann auch ohne visuellen Farbreiz reaktiviert werden. Aber auch

der innere Reizüberschuss materialisiert sich im Flash als reine »hinausproji-

zierte« Äußerlichkeit. Was Frieda Grafe über Eisensteins Ideen zur Autonomie

der filmischen Farbe geschrieben hat, gilt nicht minder für Hitchcock: Farbe

»ist mehr Trieb als Bedeutung, weder bloß symbolisch noch realistisch. Sie ist

eine handelnde Eigenschaft, die in das vorbegriffliche, von Denk- und Sprach-

klischees freie Gebiet der Erregungen und Reize führt.«26 Filmfarben, so scheint

Frieda Grafe freudianisch zu suggerieren, sind ein roter Faden ins Unbewusste.

Ein Unbewusstes jedoch, das sich nicht in irgendeiner Tiefe verhüllt, sondern

sich ganz literal an der Oberfläche der Leinwand materialisiert. Die Farb flashes

in Marnie geben Lacans Neologismus der »Extimität« eine anamorphotische

kinematografische Gestalt: ein Fremdkörper im Eigenen, ein Externes im

25 Freud, Sigmund: »Mitteilung eines der psychoanalytischen Theorie widersprechenden Falls von

Paranoia«, in: Schriften zur Krankheitslehre der Psychoanalyse, Frankfurt 1991, S. 189. Dank an Mar-

kus Klammer für den Hinweis auf Freud.

26 Grafe, Frieda: Filmfarben, Berlin 2002, S. 41.

sUlGi lie

218

Intimen. In diesem Sinne überfluten die anamorphotischen Traumaspuren die

gesamte Enunziation. So schreibt auch Joe McElhaney in einer jüngeren Studie

zu dem Film: »It is as though the stain is not simply within the diegesis, but has

begun to spill over onto the very surface of the image itself.«27 In den folgenden

Sequenzen wird diese Befleckung der Diegese nochmals mit aller Buchstäblich-

keit koloriert und kombinatorisch verkettet (Abb. 29, 30):

Rot und weiß, Kreis und Fläche: Mit der Kreisform der verschütteten Tinte,

die sich konzentrisch vom diegetisch kleinen Fleck auf dem Ärmel zur non-

diegetischen Totaleinfärbung ausbreitet, ist das morphologische Muster der

Anamorphose vorgegeben. Zentrifugal franst das Rot von der Mikro- in die

Makroebene aus, intensiviert noch von dem Sogeffekt des Zooms auf Marnies

gebanntes Gesicht: Red Vertigo. In Fortführung des kryptonymischen Spellings

von SpellBounD wird der Rot-Affekt durch Buchstaben verdoppelt: »Ink. Red«

steht genuin unrealistisch rot auf weiß auf dem Tintenbehälter und der kleine

rote Punkt, der die beiden Wörter voneinander trennt, (inter)punktiert grafisch

und grammatologisch den traumatischen »Spill«. Kryptonymie, so Akira Lip-

pit, ist eine besondere Form traumatischer Übertragung: »Those synonyms or

cryptonyms construct an unconscious dimension within the words that carry

their meanings. Secret words travel parasitically from one host body to another

in a movement that closely resembles transference. […] Transference is the

means by which nonverbal energy circulates within the world.«28 Die Unheim-

27 McElhaney, Joe: The Death of Classical Cinema. Hitchcock, Lang, Minnelli, New York 2006, S. 98.

28 Lippit, Akira Mizuta: Electric Animal. Toward a Rhetoric of Wildlife, Minneapolis, London 2000,

S. 191.

Abb. 29/30: Marnie (USA 1964, R: Alfred Hitchcock)

anaMorPHosen des aFFekts

219

lichkeit der Affektübertragung steht auch im Zentrum zweier Rot-Flashes, die

einen »animal magnetism« (Lippit) zwischen Pferden und Marnie in Szene

setzen. (Abb. 31–34)

Der rote Punkt auf weißer Fläche wiederholt und vervielfältigt sich im

gepunkteten Trikot des Jockeys, die Kreisform verdoppelt sich in der wiederum

verdoppelten Zahl »8«, während sich im Hintergrund von Marnie und Mark an

einem Zelt die weißen Streifen von SpellBounD abzeichnen. Ohne die Dechif-

frierung zu weit treiben zu wollen: »8« ist auch die Anzahl aller Farbflash-

Sequenzen in Marnie, die in diesem Aufsatz analysiert werden. »Telepathy« ist

dann ausgerechnet noch der Name des Pferdes, denn telepathisch ist auch die

unkörperliche Macht des Affekts. Kryptonymische Übertragung, telepathische

Übertragung. Im nächsten Schritt führt eine metonymische Kontiguität vom

Sportreiter zum Jagdreiter mit roter Jacke und weißer Hose. Der rote Fleck der

Tinte breitet sich im Bildfeld immer mehr aus, dass das Rot auch in der Diegese

in der Rückenansicht des Reiters fast schon leinwandfüllend geworden ist. Der-

art autonom und abstrakt pulsiert die Energetik der Farbe in Marnie, dass die

momentane Implosion/Explosion der Diegese rein von den Aggregatzuständen

Abb. 31–34: Marnie (USA 1964, R: Alfred Hitchcock)

sUlGi lie

220

des Rot determiniert zu sein scheint. Für einen kurzen Moment löst sich auch

die sinnhafte Intelligibilität der Stimme in einzelne Sprachfetzen auf, wenn

Marnie vom akustischen Stimmengewirr der anderen Reiter verstört wird. Ein

»Spelling«, auf das natürlich wieder das »Spilling« folgt. In dieser seriellen

Verwebung von grafischen, verbalen und akustischen Tropen ist das Trauma

vollends textuell geworden. Eingesponnen im Webrahmen einer autonomen

Semiose, sind auch die Figuren diesen Tropen nicht vorgängig. Im Gegenteil:

»In Marnie a cinematic logic of the ›mark‹ seems simultaneously accelerated

and withdrawn from mere personification. These transformations cannot be

returned to a familial itinerary.«29 Marnie ist mit Marnie zugleich identisch als

auch nichtidentisch. Auch in Marnie gibt es keinen Plot ohne Blot: Die manifeste

Erzählung von Mutterneurose und Männerangst und ihrer therapeutischen

Überwindung durch eine überdeterminierte Liebhaber/Vater/Arzt/Detektiv/

Vorgesetzten-Figur (Sean Connery als Mark Rutland) erweist sich als so fragil

wie die gemalten Kulissen der Hintergründe.30 »Nothing is grounded«, möchte

man da Mark Rutland entgegnen, der in der folgenden Sequenz Marnies Angst

vor dem Gewitter mit dem Satz »The building is grounded« zu beruhigen ver-

sucht. (Abb. 35–38)

Diese Szene lässt sich als negative Umschrift der Kuss-Szene aus SpellBounD

lesen: Der Liebesblitz schlägt in Blendung um, auf die weiße Gardinenfläche

mit dunklen Streifen wird nun das anamorphotische Rot projiziert und der

finale Kuss antizipiert bereits die spätere Vergewaltigung durch Mark. Parallel

zu dem Fensterklopfen in der früheren Alptraumszene ist auch hier nicht zu

unterscheiden, ob das Rot von Innen oder von Außen kommt, ob es real oder

halluziniert ist, ob vom Gewitter »rückprojiziert« oder von Marnie »hinaus-

projiziert«. Marnie: »The colours. Stop the colors.« Mark: »What colours?«

Nachdem in einer abrupten Totale ein Baum durch das Fenster bricht, kippt im

nächsten Umschnitt die Kamera von der Horizontalen kurz in eine anamorpho-

29 Cohen: Hitchcock’s Cryptonymies, a.a.O., S. 78.

30 Mark Rutland reiht sich in die Hitchcock’sche Riege jener männlichen Protagonisten, die Richard

Allen in einem wichtigen Aufsatz als »metaskeptisch« beschrieben hat: Figuren einer »duplicitous

masculinity«, die permament zwischen romantischem Liebhaber und Bösewicht oszillieren. Des-

halb ist nur konsequent, dass Hitchcock die Rolle mit Sean Connery besetzt hat, der vor Marnie als

frauenverschlingender James Bond berühmt geworden war. Vgl. Allen, Richard: »Hitchcock, or the

Pleasures of Metaskepticism«, in: Allen, Richard und Ishi-Gonzalès, Sam (Hg.): Alfred Hitchcock. Centenary Essays, London 1999, S. 221–237.

anaMorPHosen des aFFekts

221

tische Schrägstellung: »The camera is not grounded.« Obwohl sie im nächsten

Moment wieder gerade zu stehen scheint, folgt auf diese natürliche Remarkie-

rung wieder eine denaturierende Demarkierung: Auf gänzlich unromantische

Weise zoomt nun die Kamera auf die küssenden Gesichter zu, bis sich in der

extremen Nahsicht Nase und Mund in fragmentierte Partialobjekte verwan-

deln. Im Close-Up setzen sich Marnies rote Lippen vom Weiß ihrer Haut ab, als

ob sich die Traumafarben auch in ihre Gesichtsoberfläche eingeprägt hätten.

»It’s all over, you’re alright,« sagt Mark, nur um ein weiteres Mal auf der Ebene

der Enunziation von einem Jump Cut konterkariert zu werden. Wenn paral-

lel zur Paartherapie in SpellBounD nun auch in Marnie das Trauma an seinem

infantilen Ursprung wiederbelebt und exorziert werden soll, sind also berech-

tigte Zweifel angebracht. (Abb. 39–42)

Marnies einsetzende Erinnerungsrückblende beginnt mit einer demonstrati-

ven Anamorphose, der bizarren Torsion eines Raumes, der aber nach und nach

auf geometrale Normalmasse zurechtgebogen wird. Wird nun die deformierte

Perspektive durch die Katharsis der Erinnerung wieder entzerrt? Wenn Spell-

BounD noch auf eine versöhnliche Schließung setzt, verweigert sich das Ende

Abb. 35–38: Marnie (USA 1964, R: Alfred Hitchcock)

sUlGi lie

222

von Marnie jeder Positivität: Durch die unwillkürliche Reaktivierung ihrer frü-

heren Kinderstimme vergegenwärtigt sich die Erinnerung zunächst wieder als

Bild: Marnie erschlägt als Kind einen Matrosen – einen Kunden ihrer Mutter,

die sich aus Armut prostituiert hat. In Reminiszenz an Norman Bates’ schizo-

genen Split von Körper und Stimme in pSycho, spaltet sich Marnies Stimme im

Akt der infantilen Regression von ihrem aktualen Körper ab und schließt den

unbewältigten Affekt der Vergangenheit mit der Gegenwart kurz:

»Und so bleibt als letztes schreckliche Detail die merkwürdige hybride Stimme

Marnies, in der das mordende Kind und die unterwürfige Frau einen neuen

hysterischen Fremdkörper bilden.«31

31 Bronfen, Elisabeth: »Die Sprache der Hysterie: Eine hermeneutische Herausforderung. Freud mit

Hitchcock gelesen«, in: dies., Erdle, Birgit R. und Weigel, Sigrid (Hg.): Trauma. Zwischen Psycho-analyse und kulturellem Deutungsmuster, Köln, Weimar, Wien 1999, S. 171.

Abb. 39–42: Marnie (USA 1964, R: Alfred Hitchcock)

anaMorPHosen des aFFekts

223

»There, there now«, spricht Marnie in Kinderstimme in einem der erschüt-

terndsten Momente des Films – als ob das vergangene »there« noch immer im

Hier und Jetzt insistieren würde: There is here and now. Denn der abgespaltene

Affekt kann in Marnie vom Subjekt letztlich nicht mehr eingeholt werden. In

einer hochkomplexen Bild-Ton-Montage blendet die Sequenz von dem inner-

diegetischen Blutfleck des Erinnerungsbildes zur reinen anamorphotischen

Rotfläche, um darunter wieder Marnies gegenwärtiges Gesicht erscheinen zu

lassen. Über das Rot legen sich die erinnerten Angstschreie von Mutter und

Kind, die bruchlos in Marnies aktuellen Schrei überzugehen scheinen. Aber

diese vokale Modulation von der Vergangenheit in die Gegenwart erweist sich

bei genauerem Hinsehen und -hören als Täuschung: Denn Marnie öffnet zwar

den Mund, aber der Schrei bleibt ihr buchstäblich im Halse stecken. An ihrer

Stelle schreit die rote Farbe weiter: Im Moment ihrer scheinbaren narrati-

ven Reintegration ist der traumatische Antagonismus von Affekt und Subjekt

unüberbrückbar geworden. In den Farbdefigurationen von Marnie transfor-

miert sich – um eine wichtige Bemerkung Žižeks aufzugreifen – der »Horror

[…] zu etwas Transsubjektivem, d. h., er kann nicht länger als Affekt einer die-

getischen Person qualifiziert werden. Aus unserer Perspektive entspricht diese

›transsubjektive‹ Dimension jedoch gerade der Dimension des Subjekts jen-

seits von ›Subjektivität‹.«32 In diesem Sinne nehmen die Affektanamorphosen

in reBecca, SpellBounD und Marnie eine streng »akusmatische« Dimension ein:

zugleich visuell und a-visuell, diegetisch und nondiegetisch, verkörpert und

entkörpert, subjektiv und transsubjektiv – Blut und Rot. Deshalb suchen uns

Hitchcocks Filme noch immer heim.

lIteratur

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32 Žižek, Slavoj: »Hitchcock’s Universum«, in: Žižek, Slavoj u.a.: Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, Frankfurt/Main 2002, S. 232.

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