Karolingisches Schweigen und karolingisches Reden. Karl der Große in der Erinnerung seiner Familie

38
Hermann Schefers (Hrsg.) Einhard – Leben und Werk Band 2 Sonderdruck aus:

Transcript of Karolingisches Schweigen und karolingisches Reden. Karl der Große in der Erinnerung seiner Familie

Hermann Schefers (Hrsg.)

Einhard – Leben und Werk

Band 2

Sonderdruck aus:

Arbeiten der

Hessischen Historischen Kommission

Neue Folge Band 39

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar.

1. Auflage 2019© Verlag Schnell & Steiner GmbH, Leibnizstr. 13, D-93055 Regensburg

Umschlaggestaltung: Anna Braungart, TübingenSatz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau

Druck: Gutenberg Beuys Feindruckerei GmbH, Langenhagen

ISBN 978-3-7954-3354-3

Erscheint zugleich in der Reihe: Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission. Neue Folge Band 39

ISBN 978-3-88443-416-1

Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem oder

elektronischem Weg zu vervielfältigen.

Weitere Informationen zum Verlagsprogramm erhalten Sie unter: www.schnell-und-steiner.de

Umschlagabbildung: Einhard in den ‚Grandes Chroniques de France‘ Paris, Bibliothèque Nationale Fr. 2813, fol. 85v

Gedruckt mit Zuschüssendes Hessischen Ministeriumsfür Wissenschaft und Kunst

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Walter BerschinIntertextuelles bei Einhart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Matthias M. Tischler Karolingisches Schweigen und karolingisches Reden. Karl der Große in der Erinnerung seiner Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Sebastian ScholzEinhards römische Mission von 806 und seine Rolle im Umfeld der Krönung Ludwigs des Frommen 813 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

Fr. Pascal Pradié OSBL’historiographie à Fontenelle au temps d’Eginhard. Une lecture des Gesta abbatum, l’Histoire sainte de Fontenelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

Georges DeclercqDie Genter Sankt-Bavo-Abtei und die Handschrift der Brief- sammlung Einhards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

Hermann Schefers Sub umbra Dei. Einhards Traktat ‚De adoranda cruce‘ und der Byzantinische Bilderstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

Tino LichtEinharts ‚Libellus de Psalmis‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Martin HellmannÜber den Nutzen der Stenographie in der Karolingerzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Uwe LobbedeyBemerkungen zu den Einhardskirchen in Steinbach und Seligenstadt . . . . . . . . . 155

Inhalt

6 | Inhalt

Kai Thomas PlatzDie Einhardsbasilika zu Seligenstadt am Main. Neue baugeschichtliche Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Egon WamersDie Elfenbeinfragmente und andere Relikte aus der Einhardsbasilika im Landschaftsmuseum Seligenstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Constanze Niess, Silke Kauferstein, Dietrich MebsRechtsmedizinische Untersuchungen an den Gebeinen aus dem Sarkophag Einhards in der Basilika von Seligenstadt: Anthropologische und DNA-analytische Untersuchungen sowie Altersbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Manfred SchoppEginhard und Imma in Sage und Legende. Ein literarischer Streifzug durch neun Jahrhunderte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 1. Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 2. Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 3. Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

* Dieser Beitrag ist eine mit Nachweisen verse-hene Fassung meines auf dem 2. Einhard-Sym-posium in Seligenstadt gehaltenen Vortrags ‚Re-dendes Schweigen und verschweigendes Reden. Einharts ‚Vita Karoli‘ als Autobiographie, Hofli-teratur und Denkmal karolingischer Gedächtnis-konstruktion‘ vom 26. September 2008. Ich habe seitdem versucht, weitere Texttraditionen und Studien zu den hier erörterten Diskursen zu sich-ten und auszuwerten. Insbesondere die neuen Studien zu Karl dem Großen und Einhart haben meine Ausführungen von Herbst 2008 nur bestä-tigt: Patzold 2011; Fried 2013; Patzold 2013;

Weinfurter 2013; Fried 2016; Fried 2017. Vereinzelte Aspekte dieses Beitrags sind auch diskutiert in Tischler 2014; Tischler 2018.

1 Vergleiche Annales Xantenses ad a. 831 (=  MGH SRG 12, S. 7, Z. 17 – S. 8, Z. 3): Anno DCCCXXXI. Mense Octobri venit ad imperatorem Pippinus rex Ae­quitaniae et Bernhardus comes Barcenonae civitatis, qui infideles deputabantur, ac fidem iuraverunt; et Pippinus de Aquis nocte fugiens abscessit; Annales Bertiniani ad a. 832 (= MGH SRG 5, S. 4, Z. 1–7, und SHF 95, S. 5, Z. 8–15): Anno ab Incarnatione Domini DCCCXXXII. Indignatus Pippinus quod a patre non fuerat honorifice susceptus, inito consilio, in vigilia

Matthias M. Tischler

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden.Karl der Große in der Erinnerung seiner Familie*

Nein, es wird hier nicht schon wieder nur um Einhart gehen. Zumindest nicht nur um ihn, um ehrlich zu sein, aber an entscheidenden Stellen doch um ihn. Mein Beitrag ver-sucht, Ordnung in unser Bild von der karolingischen Erinnerung Karls des Großen zu bringen, insofern er die in ihr verdrängten Stimmen ins rechte Licht rücken und damit zeigen wird, dass unser Bild von Karl anders akzentuiert werden muss, als es seit fast 1.200 Jahren gezeichnet wird. Hierzu gehe ich von den karolingischen Erinnerungs-bildern zu den in ihnen verschlüsselten Ereignissen zurück, um die im Folgenden hoffentlich deutlich werdende präfigurative Erinnerungstechnik der karolingischen Autoren besser darstellen zu können.

Theodosius, Herodes und David. Attigny 822 in der karolingischen Deutung

Aachen, Ende 831: Als König Pippin von Aquitanien zu Ohren kommt, dass man ihn der Vorbereitung eines Aufstandes verdächtigt, flieht er am Tag der Unschuldigen Kindlein dieses Jahres vom Hof seines Vaters Ludwigs des Frommen.1 Mit der Anspielung auf

18 | Matthias M. Tischler

optimus illum. Von der jüngeren Forschung wird diese Stelle allein auf die vom Kaiser veranlasste Blendung Bernhards mit Todesfolge bezogen, die ihm den Vorwurf des Mords aus Herrschsucht eingebracht habe; vergleiche Hoffmann 1962, S.  329; Fried 1998, S.  98 mit Anm.  106, und S.  103; Fried (Hrsg.) 2004, S.  388; Fried/Schneider 2004, S.  10; Fried 1 2008, S.  186f. mit Anm. 73. Siehe jetzt aber Fried 1 2008, S. 181, Anm. 73, der auch meine alternative Deutung er-wähnt, die ich weiter unten ausbreiten werde.

5 Vergleiche von der Nahmer 1982, S.  19f., und 73f.; Berschin 1991, S. 310 mit Anm. 481; Tisch-ler 1 2001, S. 95f., und 203. Kasten 1986, S. 25, Anm.  43, hat die ganze Dimension dieser Pas-sage noch nicht erkannt. Hageneier 2004, S.  76, Anm.  285, wiederum hat die Tragweite meiner Anspielung von 2001 nicht erkannt, die ich im Folgenden aufzeigen werde.

6 Vergleiche Vita Adalhardi, c. 7 (=  MPL 120, Sp. 1511, Z. 40–44, und Sp. 1511, Z. 47 – Sp. 1512, Z. 5): Quo nimio zelo succensus elegit plus saeculum relin­quere, adhuc puer, quam talibus admisceri negotiis, ut propinquo quem contraire prohibendo non pos­set, non se consentire fugiendo monstraret […] nec considerans propinquitatis jura, ut carni assensum praeberet sed leges Christi, quas violare non ferens sibi in animo praeponebat. Unde et voluit magis cum Christo mente ingenuus crucis ignominiam ferre, ut fortia quaeque confunderet, quam si etiam adoptaretur in regnum, ut esset regis filius.

7 Vergleiche Vita Adalhardi, c. 7 (=  MPL 120, Sp. 1511, Z. 44–47): Nec minus igitur Joanne pro justi­tia mori paratus fuisse creditur, qui pari adnisu illi­citam reprehendebat regis audaciam, et spernebat hujusmodi nuptias. Es handelt sich also nicht um Kritik an der mangelnden Religiösität Karls des Großen, wie noch Berschin 1991, S.  197, Anm. 273, meinte.

Innocentium prima noctis hora cum paucis suorum fuga lapsus est et sub omni festinatione Aquitaniam petiit. At domnus imperator graviter inde commotus est, numquam aestimans filio suo talia debere contin­gere aut patris praesentiam fugere; vergleiche Sim-son 1876, S. 13f.; Collins 1990, S. 384. In diesem Teil sind die Annalen noch am Hof Ludwigs des Frommen von einem unbekannten Autor wohl un-ter Aufsicht des Erzkaplans Fulko verfasst.

2 Vergleiche Sierck 1995, S. 36, der aber übersehen hat, dass Ludwig der Fromme seit seiner ‚Ermor-dung‘ Bernhards von Italien mehrfach mit Hero-des verglichen wurde; vergleiche die Textbelege im Folgenden. Zur Beachtung wichtiger Heiligen-tage für politische Akte und Botschaften im (Früh)Mittelalter vergleiche auch Schaller 1974.

3 Walahfridus Strabus, De imagine Tetrici (= MGH PP 2, S. 370–378); vergleiche Bock 1844; Grimm 1869; Bock 1871; Dehio 1873; Schmidt 1873; Traube 1893; von Bezold 1924; Däntl 1930; Löwe 1952, S. 392–399; Hauck 1963, S. 156–164; Falkenstein 1966, S.  55– 59; Siemes 1966, S.  106–168; Homeyer 1971; Önnerfors 1974, S.  86f., 93, 100f., und 105; Thürlemann 1977; Homeyer 1983; Godman 1985, S. 274–286; God-man 1987, S.  133–145, und 147; Herren 1992; Dutton 1994, S.  100, 106, und 197; Smolak 2001. Es handelt sich um ein dialogisches ‚Gele-genheitsgedicht‘ in Hexametern. Der in St. Gal-len, Stiftsbibliothek, Cod. 869, S.  143, überlie-ferte Titel lautet ‚Versus in Aquisgrani pala-tio editi anno Hludovvici imperatoris XVI. de imagine Tetrici‘.

4 Vergleiche Walahfridus Strabus, De imagine Tet-rici (= MGH PP 2, S. 375, v. 149–153): Obstupui, fa­teor, gemmis auroque decorum / Et vidi et mecum volvens tum singula, volvi, / An Salomona pium an magnum Davida viderem, / Herodem non esse sci­ens, nec latis honoris / Participem faciat caeli rex

den Kindermord von Bethlehem rückt Pippin seinen Vater in die Nähe eines neuen Herodes, der den unmündigen Sohn seines Onkels Pippin von Italien ermordet habe.2

Aachen, Frühjahr 829: In seinem politischen Einführungsgedicht ‚De imagine Tetrici‘3 kann sich der junge Reichenauer Dichtermönch Walahfrid Strabo nicht ent-scheiden, ob er in dem in die Kaiserpfalz einziehenden Ludwig eher den frommen Salo-mon oder den großen David erblicken soll; ein Herodes aber sei Ludwig definitiv nicht.4

Corbie, 826: In seiner kurz nach dem Tod Adalharts von Corbie verfassten Vita dieses Karolingers schildert Paschasius Radbertus ihn als einen neuen Johannes den Täufer,5 der es nicht ertragen habe,6 dass Karl der Große einst wie der verheiratete Herodes mit einer anderen Frau ein Verhältnis hatte.7

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 19

schen Herodes anspielen. Die ‚Verlockungen zu Unzucht‘ deuten auf Ehebruch hin; vergleiche Heito, Visio Wettini (=  MGH PP 2, S.  271, Z. 14–17): quod […] tamen stupri inlecebrae resolutus, cum ceteris bonis deo oblatis longevitatem vitae suae in hoc terminare voluisset; vergleiche später auch die Auslegung Heito, Visio Wettini (=  MGH PP 2, S.  273, Z. 4–8): sed etiam in coniugatis multiplice peste concretus invenitur, dum in rabiem vexatione libidinis versi et instinctu daemonum agitati, natu­rae bonum a deo concessum in uxoribus propriis perdunt, ita ut toto immaculato in stupri maculam verso ambo coniuges prostituti daemonibus fiant; Walahfridus Strabus, Visio Wettini (=  Knittel (ed.) 1986, S. 66, v. 462–464): Fedavit, ratus inlece­bras sub mole bonorum / Absumi, et vitam voluit fi­nire suetis / Sordibus; vergleiche auch hier die spä-ter folgende Auslegung: Verum multiplici thala­mum violare iugalem / Adsolet inluvie, rabiem dum quique sequentes Luxuriae instinctu violenti daemo­nis acti / Naturae concessa suis stimulante relinqu­unt / Coniugibus luxu licitumque in stupra calorem / Vertentes Satanae incedunt hostile lupanar, Wa-lahfridus Strabus, Visio Wettini (= Knittel (ed.) 1986, S. 76, v. 650–655). Die durch Cassiodor ver-anlasste, in den 820er Jahren im Karolingerreich längst bekannte lateinische Übersetzung der ‚An-tiquitates Iudaicae‘ des Flavius Josephus berich-ten von diesem Leiden des Herodes, wobei auch die anderen Aspekte übereinstimmen, insofern sein restlicher Körper keine äußerlichen Krank-heitssymptome gezeigt und Gott ihn durch die geschilderten Leiden für seine zahlreichen Fre-veltaten gezüchtigt habe; vergleiche Flavius Iose-phus, Antiquitates Iudaicae XVII.IX (=  Froben (ed.) 1524, S. 494, Z. 30–42): Herodem porro ama­rior indies morbus urgebat, supplicia deo commissi sceleris expetente. Ignis quippe lentus inerat, non tantum conflagrationem in superficiem corporis agentem prodens, quantam intrinsecus crescens ope­rabatur incendium. Aviditas quoque inexplebilis semper inerat cibi: nec tamen satietas unquam rabi­dis incitata faucibus, valebat implere ingluviem. In­testina interius ulceribus tabida putrescebant, dolo­ribus quoque coli saevissimis cruciabatur, humor li­

8 Man hat geflissentlich übersehen, dass die Kritik gezielte Andeutungen auf Zeit und Region des historischen Geschehens macht: Die ‚Visio cui-usdam pauperculae mulieris‘ und Heitos ‚Visio Wettini‘ bezeichnen Karl als princeps Italiae, Wa-lahfrids ‚Visio Wettini‘ nennt ihn dann Herrscher über die Ausonia und die Romana gens; vergleiche Visio cuiusdam pauperculae mulieris (=  Hou-ben 1976, S. 41, Z. 7): Ibi etiam videbat quendam principem Italię in tormentis; Heito, Visio Wettini (=  MGH PP 2, S.  271 Z. 9f.): Illic etiam quendam principem, qui Italiae et populi Romani sceptra quondam rexerat, vidisse se stantem dixerat; Wa-lahfridus Strabus, Visio Wettini (= Knittel (ed.) 1986, S. 66, v. 446–448): Contemplatur item quen­dam lustrata per arva, / Ausoniae quondam qui regna tenebat et altae / Romanae gentis, fixo consis­tere gressu. Diese Umschreibung der quasiimperi-alen Stellung Karls verdeutlicht nach Zeit und Inhalt dann Paschasius Radbertus: wie Anm. 117.

9 Vergleiche Heito, Visio Wettini (=  MGH PP 2, S. 271, Z. 10–14): vidisse se stantem dixerat, et ver­enda eius cuiusdam animalis morsu laniari, reliquo corpore inmuni ab hac lesione manente. Stupore igi­tur vehementi attonitus, ammirans quomodo tantus vir, qui in defensione catholicae fidei et regimine sanctae ecclesiae moderno seculo pene inter ceteros singularis apparuit, inuri tanta deformitate poenae potuisset; Walahfridus Strabus, Visio Wettini (= Knittel (ed.) 1986, S. 66, v. 449–460): Oppo­situmque animal lacerare virilia stantis; / Laetaque per reliquum corpus lue membra carebant. / Vide­rat haec, magnoque stupens terrore profatur: / ‚Sor­tibus hic hominum, dum vitam in corpore gessit, / Iustitiae nutritor erat saecloque moderno / Ma­xima pro domino fecit documenta vigere / Prote­xitque pio sacram tutamine plebem / Et velut in mundo sumpsit speciale cacumen, / Recta volens dulcique volans per regna favore. / Ast hic quam saeva sub conditione tenetur, / Tam tristique notam sustentat peste severam! / Oro, refer!‘.

10 Die Untersuchung des Vokabulars und die Ein-ordnung des Bildes von der Zerfleischung der Schamteile zeigen aber, dass Heitos bzw. Walah-frids ‚Visio Wettini‘ auf den Ehebruch des bibli-

Reichenau, 824/825: In einer Vision sieht der Reichenauer Mönch Wetti ‚Kaiser‘ Karl den Großen8 in der Vorhölle leiden, wie ihm gerade ein Untier die Geschlechtsteile zer-fleischt.9 Dieses von der Herodestradition der Spätantike geprägte Bild lässt den jüdi-schen König des Neuen Testaments wegen des Ehebruchs mit der Frau seines Bruders an einem fauligen Geschwür seiner Schamteile leiden.10

20 | Matthias M. Tischler

namque reginam aeque in tormentis, quae super se habebat cautes tres quasi molares, unum super ca­put, alterum super pectus, tertium super dorsum, qui semper eam in profundum mergebant; verglei-che Werner 1990, S.  44f.; Schaller 1992, S.  118; Dutton 1994, S.  68, und 72f.; Boshof 1996, S. 146. Bei Andreas von Bergamo, Historia, c. 6 (= MGH SRL, S. 225, Z. 4–9) wird sogar aus-drücklich die mündliche Tradition bezeugt: Con­iunx vero eiusdem Hludowici Hermengarda nomine inimicitia contra Bernardo Langubardorum regem orta est, mandans ei, quasi pacis gratia ad se venire. Ille ab ipsis nobiles legatarii sacramenta fidem suscepit, Francia iturus est. Qui mox, ut illa potuit, sicut audivimus, nesciente imperatore, oculi Bernardi evulsit. Ab ipso dolore defunctus est, post­quam quinque regnaverat annos, duo sub Carolo, tres sub Hludowicus; vergleiche Simson 1874, S.  125; Carozzi 1990, S.  369; Schaller 1992, S.  118; Carozzi 1994, S.  322f. Von einer Täu-schung Bernhards, ohne aber Irmingard zu er-wähnen, spricht später Regino von Prüm, Chro-nicon ad a. 818 (= MGH SRG 50, S. 73, Z. 17–19): Anno dominicae incarnationis DCCCXVIII. Bernardus filius Pippini, rex Italiae, Aquis evocatus ad imperatorem dolo capitur et primo oculis, post vita privatur. Jarnut 1989, S.  643f., schreibt dazu: „Wahrscheinlich erhielt er dabei die Zusi-cherung freien Geleits, möglicherweise durch die Vermittlung Kaiserin Irmingards. So jeden-falls wäre die negative Rolle, die diese Herrsche-rin in den sagenhaften Berichten der Folgezeit spielt, wohl am ehesten zu erklären, v. a., wenn man sich vor Augen hält, dass die Ausschaltung Bernhards die Stellung ihres eigenen Sohnes Lo-thar, des Mitkaisers, stärken musste.“

13 Die Reichenauer ‚Visio cuiusdam pauperculae mulieris‘ versetzt Bego ins Purgatorium wegen seiner Habgier und Unersättlichkeit, Visio cuius-dam pauperculae mulieris (=  Houben 1976, S.  41, Z. 12–14): Pichonem vero, huius regis qui quondam fuit amicus, supinum iacere in tormentis, tetrosque spiritus duos aurum liquefacere et in os eius infundere dicentes: ‚Hinc sitisti in saeculo nec saturari potuisti, modo bibe ad saturitatem!‘; ver-gleiche Boshof 1996, S. 66 mit Anm. 257.

quidus ac luridus erga pedes tumidos oberrabat. Similis illi quoque et circa pubem erat afflictio: Sed et verenda ipsa putredine corrupta scatebant vermi­bus, spiritus quoque incredibilis erecta, quae fuerat satis obscena diritate foetoris, et anhelitus respirati­one creberrima: contractus quoque per cuncta mem­bra subsistens, vim noxiam operabatur, quae om­nem tolerantiae contulerat finitatem. Dicebatur igi­tur ab his quibus inerat divinandi peritia, divinitus has poenas ob impietatem eius, et multa crudeliter gesta deposci; vergleiche Africa 1982, S.  1, 9–11, und 14f.; Steinacher 2003, S. 147, und 154f.

11 Vergleiche Visio cuiusdam pauperculae mulieris (=  Houben 1976, S.  41, Z. 7–11, und S.  42, Z. 1–10): Ibi etiam videbat quendam principem Italię in tormentis […] Interrogavit illa eundem ductorem illius, si ille ad ęternam ultra vitam redire debuisset. At ille: Utique debet. Nam si Hlodovuicus, inquit, imperator, natus eius, septem agapes pro illo pleni­ter dispensat, resolutus est […] Cumque inde perge­rent, ostendit ei ductor illius murum, cuius cacu­men celum usque tendebat, et post eum alterum, qui totus scriptus erat aureis caracteribus. Interroga­vitque illa, quid hoc esset. Terrestris, inquit, paradi­sus est, ubi nullus intrabit nisi qui hic scriptus repe­ritur. Imperavitque illi, ut legeret. At illa ait. Non didici litteras. Scio, inquit, sed tamen lege! Legit namque illa et invenit nomen Bernharti quondam regis tam luculentis litteris exaratum sicut nullius ibidem fuit, postea Hlodouuici regis tam obscurum et oblitteratum, ut vix agnosci potuisset. At illa: Quid est, inquit, quod istud nomen tam oblittera­tum est? Antequam, ait, in Bernhartum homici­dium perpetrasset, nullius ibi nomen clarius erat. Illius interfectio istius oblitteratio fuit; vergleiche Fried 1998, S.  97 mit Anm.  101. Nicht richtig liegt somit Jarnut 1989, S.  648, mit seiner Be-hauptung, dass erst im Rahmen von Ludwigs Ab-setzung in Compiègne Juni 833 von der Ermor-dung Bernhards gesprochen worden sei. Ludwig sei schuldig, eo quod fratribus et propinquis violen­tiam intulerit et nepotem suum, quem ipse liberare potuerat, interficere permiserit, Relatio episcopo-rum Compendiensis (= MGH Cap. 2, S. 54, Z. 7f.).

12 Vergleiche Visio cuiusdam pauperculae mulieris (=  Houben 1976, S.  41, Z. 15–17): Irmingartam

Reichenau, 822: In einer noch älteren Vision werden auch Ludwig der Fromme,11 seine Gemahlin Irmingard12 und ihr Günstling Bego13 in ihren Höllenstrafen geschildert.

Warum tauchen auf einmal all diese negativen Facetten im Bild des erst wenige Jahre zuvor verstorbenen Kaisers und seiner Familie auf, Facetten, mit denen sich Karl zu seinen Lebzeiten nie konfrontiert sah?

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 21

tate. Auf ein noch älteres Theodosius-Zeugnis verweist Schieffer 1972, S. 355 mit Anm. 95, bei Jonas von Orléans ‚De institutione laicali II 20‘ (= MPL 106, Sp. 211, Z. 41–44): Sciebat nempe po­testatem imperialem, qua insignitus erat, ab illius pendere potestate, cujus famulus et minister Ambro­sius erat (es folgt ein expliziter Verweis auf Cassio-dor, Historia ecclesiastica tripartita IX 30); ver-gleiche Reviron 1930, S.  98 mit Anm.  1; Ewig 1956, S. 42; Morrison 1964, S. 41; Anton 1968, S.  444. Schieffer hält Jonas für einen mutmaßli-chen Augenzeugen des Geschehens von Attigny. Sollte diese frühe Parallelisierung von Ludwig dem Frommen und Theodosius ein weiteres Indiz für die von mir vermutete Identität von Jonas von Orléans und Astronomus (Tischler 2 2001, S. 1109–1111) sein? Der Astronomus bezeugt seine Anwesenheit am Aachener Hof seit der Herr-schaftsübernahme durch Ludwig den Frommen; vergleiche Prologus (=  MGH SRG 64, S.  284, Z. 4–9): Sed haec utrum vera necne sint, perlegens quisque scire poterit. Porro quae scripsi, usque ad tempora imperii Adhemari nobilissimi et devotissimi monachi relatione addidici, qui ei coevus et connut­ritus est; posteriora autem, quia ego rebus interfui palatinis, quae vidi et comperire potui, stilo contra­didi. Bei einer Identität von Astronomus und Jo-nas von Orléans können wir von einem Augenzeu-gen solcher Traditionen ausgehen.

14 Vergleiche MGH LM N. S.  1, S.  LXV–LXVIII; Schmid 1979, S. 38f.; Schmid 1985, S. 354; Geu-enich 1989, S.  84, und 104f.; Schmid 1989, S. 130–133, und 140; de Jong 1995, S. 649–651 (je-weils ohne ausdrücklichen Bezug zu Attigny 822).

15 Vergleiche Tischler 1993–94, S.  72f.; Röcke-lein 2002; Heydemann 2010.

16 Dabei lässt er gegenüber seiner Vorlage, den ‚An-nales regni Francorum‘, bewusst die Namen Adal-harts und Walas fort, fokussiert seine Darstellung also ganz auf Bernhard von Italien; vergleiche c. 35 (= MGH SRG 64, S. 406, Z. 5–19): Anno hunc se­quente domnus imperator conventum generale coire iussit in loco, cuius est vocabulum Attiniacus. In quo convocatis ad concilium episcopis, abbatibus spirita­libusque viris, necnon et regni sui proceribus, primo quidem fratribus reconciliari studuit, quos invitos adtondi fecerat, deinde omnibus, quibus aliquid lae­surae intulisse videbatur. Post haec autem palam se errasse confessus est et, imitatus Theodosii imperato­ris exemplum, penitentiam spontaneam suscepit, tam de his quamquę de illis, que adversus Bernhar­dum nepotem gesserat proprium; et corrigens, si quid talium vel a se vel a patre suo gestum repperire alicubi potuit, elemosinarum etiam largitione plurimarum, sed et servorum Christi orationum instantia, necnon et propria satisfactione adeo divinitatem sibi placare curabat, quasi haec que legaliter super unum­quemque decucurrerant, sua gesta fuerint crudeli­

Die Forschung ist sich längst darüber einig, dass mit der öffentlichen Beichte Lud-wigs des Frommen in Attigny 822 ein Wendepunkt in der Karolingergeschichte erreicht ist. Das dortige Geschehen scheint der Auslöser einer umfassenden religiösen Erneue-rungsbewegung gewesen zu sein, welche die geistlichen und geistigen Orte des Reiches zunächst mit einem Netzwerk von Gebetsverbrüderungen,14 dann von Reliquientrans-lationen15 überzieht. Doch ist bislang kaum erkannt, dass Attigny auch gleichsam eine ‚memoriale Büchse der Pandora‘ geöffnet hat: Die bis dahin im Schoße der Karolinger-sippe gehütete, private Erinnerung an die innerfamiliären Konflikte des 8. Jahrhunderts kam nun erstmals an die Öffentlichkeit. Kaum sind hier die seit 822 inszenierte Erinne-rungskultur der Karolingerfamilie, kaum die hierbei eingesetzten typologischen Bilder und ihre Urheber wirklich verstanden, ja die Dramatik der Familiengeschichte in ihrer ganzen historischen Dimension erkannt.

Auffällig genug wird das dramatische Geschehen der Buße des Kaisers erst in der Rückschau im Spiegel der nachbiblischen und biblischen Typologie gedeutet. Doch wird der Vergleich des büßenden Kaisers mit dem spätantik-christlichen Vorbild des vor dem Bischof Ambrosius von Mailand büßenden Kaisers Theodosius des Großen erst vom Astronomus, dem jüngeren Ludwigsbiographen, gezogen.16 Dabei handelt es

22 | Matthias M. Tischler

Z. 1–17): Per idem tempus causa Thessalonicensis ci­vitatis non minima successit tribulatio sacerdoti, cum civitatem paene deletam comperisset. Promise­rat enim illi imperator se veniam daturum civibus supradictae civitatis; sed agentibus comitibus occulte cum imperatore, ignorante sacerdote, usque in ho­ram tertiam gladio civitas et donata atque plurimi interempti innocentes. Quo facto ubi cognovit sacer­dos, copiam imperatori ingrediendi ecclesiam dene­gavit, nec prius dignum iudicavit coetu ecclesiae vel sacramentorum communione quam publicam ageret paenitentiam. Cui imperator contra adserebat Da­vid adulterium simul et homicidium perpetrasse. Sed responsum illico est: ‚Qui secutus es errantem, se­quere corrigentem.‘ Quod ubi audivit clementissimus imperator, ita suscepit animo, ut publicam paeniten­tiam non abhorreret; cuius correctionis profectus se­cundam illi paravit victoriam.

20 Da die von Ambrosius verwendete Junktur ho­micidium perpetrasse auch in der die Inhalte von Attigny vermittelnden ‚Visio cuiusdam pauper-culae mulieris‘ vorkommt (=  Houben 1976, S.  42, Z. 9f.), kann man davon ausgehen, dass dort die Blendung Bernhards mit Todesfolge im Sinne der Ambrosius-Vita gedeutet worden ist:

17 Auch in seiner ‚Epistula 51‘ fordert Ambrosius Kaiser Theodosius unter Hinweis auf die Reue und Buße König Davids zu gleichem Verhalten auf (= CSEL 82.3, S. 214, Z. 62–68): Noli ergo impatien­ter ferre, imperator, si dicatur tibi: Tu fecisti istud quod David regi dictum est a propheta. Si enim hoc sedulo audieris et dixeris: ‚Peccavi domino‘, si dixeris regale illud propheticum: ‚Venite, adoremus et proci­damus ante eum et ploremus ante dominum nostrum qui fecit nos‘, dicetur et tibi: Quoniam poenitet te, dimittit tibi dominus peccatum tuum et non morie­ris. Die ‚Epistula 51‘ scheint in karolingischer Zeit aber nur Hinkmar von Reims zu kennen; verglei-che Schieffer 1972, S.  346, Anm.  55, und S.  357 mit Anm.  110. Generell zu Theodosius bei Hink-mar vergleiche Schieffer 1972, S. 357–359; Nel-son 1977, S. 244, Anm. 2, und S. 271, Anm. 3.

18 Nun hat aber Walter Berschin bereits 1986 dar-auf hingewiesen, dass genau an dieser Stelle der Ambrosius-Vita, ihrem Höhepunkt, der Besuch zweier sehr mächtiger und weiser Perser einge-flochten wird (c. 25); vergleiche Berschin 1986, S. 218, und 224.

19 Vergleiche Paulinus Mediolanensis, Vita S. Amb-rosii, c. 24, § 1–3 (= Bastiaensen (ed.) 1975, S. 84,

sich um eine doppelte Typologie, denn in der Ambrosiusvita des Paulinus von Mailand hält der Bischof nicht nur dem Herrscher das alttestamentliche Vorbild des vor dem Propheten Nathan für seinen Ehebruch mit Bathseba büßenden Königs David vor Augen.17 Vielmehr wird die Szene auch in den Kontext einer Erzählung eingebettet, die eine Kontrafaktur der biblischen Geschichte des Kindermords des Herodes ist.18 Sollte also zufällig eine Begebenheit aus dem spätantiken Italien für die Beurteilung karolin-gischer Ereignisse herangezogen worden sein? Denn auch wenn die Details der neuen Erzählung im Einzelnen von dem vorausgehenden Besuch des Jesuskindes durch die drei Weisen aus dem Morgenland abweichen, so könnte doch die karolingische Lektüre der spätantiken Neuerzählung des biblischen Herodesgeschehens ein weiteres Zeugnis für den inzwischen erkennbar gewordenen Herodesdiskurs der 20er Jahre des 9. Jahr-hunderts sein, insofern der Herodes ‚Ludwig‘ zwar ein Kindermörder, der Herodes ‚Karl‘ aber in Wirklichkeit ein David und damit ein Kindermörder u n d Ehebrecher ge-wesen sei. Hierzu muss man auch berücksichtigen, dass die beiden biblischen Herodes, Herodes der Große (Kindermord: Mt 2,1–22) und Herodes Antipas (Ehebruch: Mt 14,1–12 bzw. Mk 6,14–29), für die frühmittelalterlichen Gelehrten ohne weitere Quellen-kenntnisse nur schwer zu trennen waren. Im spätantiken Streit zwischen Bischof und Kaiser ging es also darum, ob Theodosius nur ein Herodes oder nicht auch ein David gewesen sei.19 Der neue Theodosius, also Ludwig der Fromme, hingegen akzeptiert zwar den Vorwurf des Mordes im Sinne der Ambrosiusgeschichte,20 doch den Vorwuf

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 23

gessit, flevit, ingemuit, quod non solent reges, con­fessus est culpam, obsecravit indulgentiam, humi stratus deploravit aerumnam, ieiunavit, oravit, confessionis suae testimonium in perpetua saecula vulgato dolore transmisit. Zur Kenntnis dieses Textes zum Bußpsalm in der Karolingerzeit ver-gleiche Yagello 1997, S. 111–113, und 121. Nicht zur Verfügung stand mir Yagello-Knupffer 2011.

22 Ludwig habe sich darum bemüht, alles das, was an entweder von ihm oder von seinem Vater be-gangenen ähnlichen Dingen gefunden werden konnte, mit höchster Sorgfalt wieder gut zu ma-chen; vergleiche Annales regni Francorum bzw. Annales qui dicuntur Einhardi (=  MGH SRG 6, S. 158, Z. 12–14): in quo, quidquid similium rerum vel a se vel a patre suo factum invenire potuit, summa devotione emendare curavit. Das Motiv der stellvertretenden Buße für die eigenen wie die väterlichen Taten findet sich noch in anderen ka-rolingischen Texten, die das Geschehen von Atti-gny behandeln; vergleiche Visio cuiusdam pau-perculae mulieris (=  Houben 1976, S.  41, Z. 9–11): Nam si Hlodovuicus, inquit, imperator, natus eius, septem agapes pro illo [sc. Karolus] pleniter dispensat, resolutus est; Vita Hludowici imperato-ris, c. 35 (= MGH SRG 64, S. 406, Z. 14f.): et corri­gens, si quid talium vel a se vel a patre suo gestum repperire alicubi potuit. Man beachte auch den im Vergleich zu den ‚Annales regni Francorum‘ bzw. ‚Annales qui dicuntur Einhardi‘ (= MGH SRG 6) sehr ähnlichen Schluss der ‚Vita Karoli‘ (= MGH SRG 25): summa devotione adimplere curavit, mit dem Einhart Ludwigs gewissenhafte Erfüllung des väterlichen Testamentes von 811 (wie Anm. 102) im Jahr 814 betont und der geradezu im Kontrast hierzu steht. Einhart setzt sich zu dieser früheren Wendung in Bezug, aber zu ei-nem Ereignis, das Gegenstand der Buße Lud-wigs in Attigny gewesen ist, eben die Hinwegset-zung des Sohnes über den Willen des Vaters im Hinblick auf die Herrschaft Bernhards in Italien und seine Teilhabe am väterlichen Erbe. Der po-litische Schluss der ‚Vita Karoli‘ ist vor der Kon-trastfolie der etwas älteren Annalen zu lesen, zumal das Publikum beider Texte das des Hofes ist. Es gibt noch eine weitere sehr ähnliche Stelle,

Ludwig ist also tatsächlich der Vorwurf des Kin-dermordes gemacht worden. Dieses Motiv zieht sich durch die weitere karolingische Literatur. So wird noch in der ‚Relatio episcoporum Compen-diensis‘ vom Oktober 833 Ludwig vorgeworfen, er habe seinen Neffen Bernhard umgebracht, da er ihn hätte retten können, Relatio episcoporum Compendiensis (= MGH Cap. 2, S. 54, Z. 3–8): Vi­delicet, sicut in eadem cartula plenius continetur, reatum sacrilegii incurrendo et homicidii, eo quod paternam admonitionem et terribilem contestatio­nem sub divina invocatione ante sanctum altare in praesentia sacerdotum et maxima populi multitu­dine sibi factam secundum suam promissionem non conservaverit; eo quod fratribus et propinquis vio­lentiam intulerit et nepotem suum, quem ipse liber­are potuerat, interficere permiserit; vergleiche de Jong 2009, S.  128f. Im Gegensatz zu Depreux 1992, S. 23f., Anm. 117, halte ich den Vorwurf des Selbstmordes beim Astronomus (Vita Hludowici imperatoris, c. 30 = MGH SRG 64, S. 386, Z. 1–3: etenim Berhardus et Reginherius, dum inpatientius oculorum tulerunt ablationem, mortis sibi consci­verunt acerbitatem) für einen Versuch, die mäch-tige Deutungstradition des „novus Theodosius“ umzudeuten. So jetzt auch de Jong 2009, S. 128. Den größeren Zusammenhang mit den in Atti-gny geäußerten Vorwürfen berücksichtigt Hack 2009, S. 283f., nicht.

21 Vergleiche Paulinus Mediolanensis, Vita S. Amb-rosii, c. 24, § 2 (= Bastiaensen (ed.) 1975, S. 84, Z. 7–12): Quo facto ubi cognovit sacerdos, copiam imperatori ingrediendi ecclesiam denegavit, nec prius dignum iudicavit coetu ecclesiae vel sacra­mentorum communione quam publicam ageret pae­nitentiam. Cui imperator contra adserebat David adulterium simul et homicidium perpetrasse. Das ist eine Replik auf Ambrosius’ ‚Epistula 51‘ (wie Anm.  18), die Paulinus von Mailand in seiner Ambrosius-Vita in einen fiktiven Dialog kleidet; vergleiche Schieffer 1972, S.  341 mit Anm.  35. Wie in seiner ‚Epistula 51‘ hat Ambrosius auch in seiner ‚Apologia prophetae David IV 15‘ den bü-ßenden König David als Vorbild empfohlen, Am-brosius, De apologia prophetae David (=  CSEL 32.2, S. 309, Z. 1– 5, und SC 239, S. 92, Z. 4–9): Pec­cavit David, quod solent reges, sed paenitentiam

des Ehebruchs kann er nicht auf sich sitzen lassen.21 In Attigny ist ihm nämlich vor-gehalten worden, dass der Sohn doch wie sein Vater sei,22 dass in ihm also auch der am-bivalente David stecke, der nicht nur der vorbildliche Herrscher Israels, der Einiger des

24 | Matthias M. Tischler

25 Zu Bernhard vergleiche Malfatti 1876; Mühl-bacher 1881; Eiten 1907, S. 49– 58, und 69–72; Bertolini 1967; Depreux 1997, S. 134–137.

26 Vergleiche Annales regni Francorum bzw. An-nales qui dicuntur Einhardi ad a. 822 (=  MGH SRG 6, S. 158 Z. 4–14): Domnus imperator consi­lio cum episcopis et optimatibus suis habito fratri­bus suis, quos invitos tondere iussit, reconciliatus est et tam de hoc facto quam et de his, quae erga Bernhardum filium fratris sui Pippini necnon et his, quae circa Adalhardum abbatem et fratrem eius Walahum gesta sunt, publicam confessionem fecit et paenitentiam egit. Quod tamen in eo con­ventu, quem eodem anno mense Augusto Attiniaci habuit, in praesentia totius populi sui peregit; in quo, quicquid similium rerum vel a se vel a patre suo factum invenire potuit, summa devotione emendare curavit. Zur Bewertung des Gesche-hens ingesamt vergleiche Simson 1874, S. 177–181; Hauck Bd. 2, S. 506; Schieffer 1957, S. 9; Ewig 2 1966, S.  128; Boshof 1969, S.  84f.; Schieffer 1972, S.  354f.; Staubach 1982, S.  37–39, und 327f.; Hartmann 1989, S.  165–167; de Jong 1992, S. 31f., 39f., und 49; Boshof 1996, S.  148f.; de Jong 1997, S.  888–890, und 892; Guillot 1999; Suchan 2000, S.  10–12; de Jong 2009, S.  122–131. Zur Geschichte der öffentlichen Buße im Frühmittelalter verglei-che Chélini 1991, S.  362–441. Recht bald da-nach hat Ludwig dem angeblich an der Rebel-lion Bernhards beteiligten Aming seinen kon-fiszierten Besitz zurückerstattet; vergleiche Jarnut 1989, S.  647; Boshof 1996, S.  148, Anm. 317. Noch Hinkmar beschreibt in ‚De di-vortio Lotharii regis et Theutbergae reginae‘ eine Episode, die sich in Attigny zugetragen habe: Hincmarus, De divortio Lotharii regis et Theutbergae reginae (=  MGH Conc. 4, Suppl. 1), S.  141f. Dies bezeugt die Langlebigkeit der karolingischen Erinnerungen an die Gescheh-nisse rund um Attigny 822.

mit der Einhart dann resignativ im Herbst 830 Ludwigs geringe Reformfreudigkeit kristisiert, da der Kaiser auf die vom Erzengel Gabriel in Form eines libellus (Himmelsbriefs) überbrach-ten Ermahnungen kaum reagiert habe; verglei-che Translatio SS. Marcellini et Petri 3.13 (= MGH SS 15.1, S. 252, Z. 47f.): Et ille [sc. imperator] qui­dem suscepit atque perlegit [sc. libellum]. Sed de his quae per hunc libellum facere iussus vel admoni­tus fuerat perpauca adimplere curavit; vergleiche Heinzelmann 1997, S.  288f. mit Anm.  107; Heydemann 2010, S. 302 mit Anm. 3, S. 325 mit Anm. 150, und S. 328 mit Anm. 165.

23 Vergleiche Steger 1961; Hack 2006, S. 409–421; Hartmann 2010, S. 256f., die alle den zeitgenös-sischen Wolfcoz-Psalter aus St.  Gallen, um 825, Zürich, ZB, C 12, fol. 53r nicht beachten, dessen Illustration zu Davids Bußpsalm Ps 51 die Ambi-valenz dieses David-Bildes verdeutlicht; verglei-che Berschin 1987, S. 119, Abb. 5, und S. 132; Ber-schin 2005, S. 153, Abb. 5, und S. 166. Zur kunst-geschichtlichen Einordnung dieser Illustration vergleiche auch Kauffmann 1956. Gozbert von St. Gallen ist übrigens ein von Ludwig dem From-men eigens eingesetzer Abt (816–837).

24 Amalar, Lehrer an der Hofschule von Aachen, beendet das Vorwort seiner Kaiser Ludwig dem Frommen zwischen Februar 819 und August 822 gewidmeten ersten Redaktion des ‚Liber officia-lis‘ mit dem Wunsch nach Heil. Hierbei bezeich-net er Ludwig als neuen David und Salomon, Amalarius Mettensis, Liber officialis (=  StT 139, S. 21, Z. 8f.): Divo Hludovico vita. Novo David per­ennitas. Da principi, Domine, vitam. Ipsi novo Sa­lomoni felicitas. Pax mundi vos estis; vergleiche Steck 2000, S. 42, Anm. 169. Salomon bedeutet ‚friedensreich‘, Amalar spielt hier also mit dem Namen. Walahfrid Strabo kann sich im Frühjahr 829 nicht entscheiden, ob er in Ludwig eher den frommen Salomon oder den großen David er-blickt: wie Anm. 4.

Reiches, der Förderer der Künste, sondern auch ein Ehebrecher u n d Mörder gewesen sei.23 Dieser doppelte Vorwurf dürfte übrigens erklären, warum zur selben Zeit Kaiser Ludwig der Fromme, der neue Salomon, von Gelehrten vermehrt mit dem David- u n d Salomon-Vergleich konfrontiert worden ist.24

In Attigny wird 822 Ludwig dem Frommen der Vorwurf der Beseitigung seines Nef-fen Bernhards von Italien25 gemacht.26 Wir wissen heute aber, dass die Drahtzieher hin-ter diesem Geschehen samt dem sich anschließenden öffentlichen Bußakt Ludwigs nach Benedikts von Aniane Tod (11. Februar 821) aus der Verbannung geholte Vettern

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 25

terum tulerunt ab illo, in fidei te mihi commiserit ratione.

28 Für Theodulf von Orléans kam dieser Termin zu spät, denn er war schon verstorben; vergleiche Dahlhaus-Berg 1975, S.  21; Boshof 1996, S. 148.

29 Vergleiche Weinrich 1963, S.  37–39; Kasten 1986, S.  110f. Zum monastischen Exil als Aus-schaltungsmittel mit offenem Ende jetzt de Jong 2001. Zentrale Zeugnisse für die Rehabi-litierung sind die Annales regni Francorum bzw. die Annales qui dicuntur Einhardi ad a. 821 (=  MGH SRG, S.  156, Z. 14–25): Eminuit in hoc placito piissimi imperatoris misericordia sin­gularis, quam ostendit super eos, qui cum Bern­hardo nepote suo in Italia contra caput ac regnum suum coniuraverunt: quibus ibi ad praesentiam venire iussis non solum vitam et membra concessit, verum etiam possessiones iudicio legis in fiscum redactas magna liberalitate restituit. Adalhar­dum quoque de Aquitania, ubi exulabat, evoca­tum Corbeiae monasterio, ut prius fuerat, abba­tem ac rectorem esse iussit; cum eo et Bernharium fratrem eius reconciliatum eidem monasterio red­didit. Completisque his, quae ob regni utilitatem inchoaverat. Jedoch wird die Begnadigung Wa-las bemerkenswerterweise nirgends geschil-dert. Erwähnt wird lediglich die Aussendung des ‚Mönches Wala‘ zusammen mit Ludwigs Sohn Lothar nach Italien, die einen solchen Akt der Begnadigung voraussetzt; vergleiche Anna-les regni Francorum bzw. die Annales qui dic-untur Einhardi ad a. 822 (= MGH SRG, S. 159, Z. 5, und 7–9): Peracto conventu, quod Attiniaci ha­bebatur […] Hlotharium vero filium suum in Ita­liam misit, cum quo Walahum monachum propin­quum suum, fratrem videlicet Adalhardi abbatis; Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, c. 35 (= MGH SRG 64, S. 408, Z. 16 – S. 410, Z. 1): Fi­nito hoc placito, Hlotarium filium suum domnus imperator in Italiam misit, et cum eo Uualam ad­finem suum monachum, (auffallend ist hier die Fortlassung der Verwandtschaft mit Adalhart und die Abschwächung [?] der Verwandtschaft mit Ludwig).

27 Dafür spricht übrigens auch, dass der Biograph Walas, Paschasius Radbertus, in seinem ‚Epita-phium Arsenii‘ den Theodosius-Vergleich auf die Pseudonyme am Kaiserhof Ludwigs des Frommen anwendet: Honorius steht für Lo-thar  I., dessen Berater Wala ist; vergleiche Weinrich 1963, S. 10, und 44– 51; Anton 1968, S. 442f.; Ganz 2 1990, S. 541f. Ferner stehen An-tonius († 356), Klostergründer und Berater Kai-ser Konstantins I. für Adalhart; so schon bei Al-kuin, Epistolae (=  MGH Epp. Karol. 2) 175f., 220–222, und 237; vergleiche Fleckenstein 1965, S.  43; Kasten 1986, S.  172 (jeweils ohne Angabe von Zeugnissen; Angenendt 1980, S. 88, Anm. 392, wiederum lückenhaft); verglei-che dazu Vita Adalhardi, c. 21 (=  MPL 120, Sp. 1519, Z. 41f.): Ob hoc autem ab aliquibus, ut epis­tolae magistri Albini ferunt, Antonius vocabatur), Kaiser Justinian (auffallenderweise aber nicht Theodosius), bekannt für seine gerechten Rechtsentscheide und seine Theologie, für Lud-wig den Frommen, für Judith in Analogie gebil-det zu Justinian Justina, die schöne und ehrgei-zige zweite Gemahlin Kaiser Valentinians I., die den Theodosius-Gegner Ambrosius verfolgte, aber von ihm auch ihren Sohn erziehen ließ und ihm letztlich den Kaiserthron zu verschaffen wusste, Justinas Liebhaber Naso für Ovid, der bekanntlich eine Frau am Kaiserhof des Augus-tus liebte, also für Judiths Liebhaber Bernhard von Septimanien; Naso auch bei Ermoldus Ni-gellus, In laudem Pippini regis I 187f. (=  MGH PP 2, S.  85); Walahfrid, Carmen 76, v. 62f. (= MGH PP 2, S. 415), und Phassur, der den Pro-pheten Jeremia (also Wala) einsperren ließ (Ier 20,2), für Ebo von Reims. Zur Aufschlüsselung dieser Pseudonyme vergleiche ferner Wein-rich 1963, S.  7–10; Ganz 1 1990, S.  114f.; de Jong 2009, S.  109f., 196, und 253. Paschasius Radbertus bezeugt das Pseudonym Walas auch in einem Widmungsbrief an Warin von Corvey; vergleiche De corpore et sanguine Domini Pro-logus (= MGH Epp. Karol. 4, S. 133, Z. 4–6, und CChrCM 16, S.  3, Z. 5–7): quod Arsenius noster quem nostra nunc nobis saecula Hieremiam al­

gewesen sind.27 Nach der Begnadigung der Rebellen der Bernhard-Partei auf der Ver-sammlung von Diedenhofen im Oktober 82128 hatte Ludwig insbesondere Adalhart und Wala zu sich an den Hof geholt.29 Auch die Wahl des Versöhnungsortes war kein Zufall, da dort schon im Winter 805/806 sein Vater mit Adalhart und Wala die Beschlüsse der

26 | Matthias M. Tischler

1954, S. 195f., und 341–343, Nr. XXV; Arquilli-ère 1955, S.  171f., und 177; Schieffer 1957, S.  12f.; Ewig 2 1966, S.  141f.; Boshof 1969, S.  246–251; Ullmann 1969, S.  64–70; Schief-fer 1972, S. 355; Bund 1979, S. 415–419, und 422; Nelson 1990, S. 156; Oberndorff 1991, S. 3–6, 12, 15, 20f., und 28f.; de Jong 1992, S. 29–32, 36, 38–42, 44, und 50; Boshof 1996, S.  200–202, und 268; Althoff 1997, S.  119–121; de Jong 1997, S.  863, 865f., 888f., und 898; Suchan 2000, S. 19f.; Becher 2001, S. 35–37; Althoff 2003, S. 58f.; de Jong 2003, S. 1266–1268; Pat-zold 2008, S. 185–193; de Jong 2009, S. 48f., 53, und 77. de Jong 2009, S. 126–128, möchte lieber die Unaufrichtigkeit der öffentlichen Buße Lud-wigs betonen, die Radbert dem Kaiser vorge-worfen habe. Damit übersieht sie aber, dass Ludwigs ‚Freiwilligkeit‘ 822 nur die deutende Sicht der Hofclique um Adalhart und Wala wie-dergibt, um die Abhängigkeit des Kaisers von dieser zu verschleiern. Aus einem zeitnahen Text wissen wir, dass ausgerechnet der hochbe-tagte Adalhart das dramatische Geschehen von Attigny gewürdigt hat, insofern Ludwigs öffent-liche Buße seit Pippin dem Jüngeren die erste Entschuldigung des zuungunsten seines Famili-enzweiges allein legitimierten Karlszweiges ge-wesen sei; vergleiche Agobard von Lyon, De dis-pensatione ecclesiasticarum rerum, c. 3 (= MGH Epp. Karol 3, S. 166, Z. 37–40, und CChrCM 52, S. 122, Z. 1– 5): Hanc igitur rem cum miris tunc lau­dibus adhuc inchoatam magistri nostri efferent, et praecipue venerandus senex Adalardus, qui etiam dicebat, se numquam sublimius vel gloriosius cau­sam profectus publici moveri et cogitari vidisse a tempore regis Pippini usque ad diem illum; verglei-che Cabaniss 1951, S. 57; Boshof 1969, S. 85f.; Boshof 1996, S.  154 mit Anm.  347; de Jong 2009, S.  125. Schieffer 1997, S.  121, schreibt hierzu: „und es war der alte Adalhard, der die historische Dimension des Vorgangs erfasste, wenn er spontan formulierte, ‚seit der Zeit Kö-nig Pippins habe er keinen erhabeneren und ruhmreicheren Fortgang der öffentlichen Dinge miterlebt.‘“ Agobard von Lyon aber stand später beim Aufstand gegen Ludwig den Frommen 833 auf der Seite von Lothar I. und Adalharts Bruder

30 Zu deren maßgeblichem Anteil an der Ausarbei-tung und Verbreitung der Beschlüsse vergleiche Tischler 2008, S. 199f., S. 205 mit Anm. 45, und S. 232f.

31 Fried 1 2008 passim. Es ist auch kein Zufall, dass schließlich die Aussöhnung zwischen Lud-wig dem Frommen, Judith und Wala auf der Reichsversammlung vom Mai 836 in Dieden-hofen erfolgt; vergleiche Astronomus, Vita Hlu-dowici imperatoris, c. 55 (= MGH SRG 64, S. 506, Z. 6–14): In condicta porro villa et tempore praefi­nito adfuere missi a filio, quos ipse praecepit, plu­rimi; inter quos etiam Uuala primus adfuit. Causa autem supradicta ventilata atque ad calcem per­ducta, imperator cum coniuge reconciliari voluit primum ipsi Uualę, dimissis quaecumque in eos commiserat delictis multa alacritate et benignitate cordis, mandavitque per eum et ceteros filio missos, ut quantocius veniret; quod si faceret, consultissime sibi futurum sciret. Qui redierunt et filio rem retule­runt; vergleiche Simson 1876, S. 155; Weinrich 1963, S. 87f.; Boshof 1996, S. 228f.

32 Nach der (späteren) Auffassung des Astronomus habe in Attigny der karolingische Ambrosius in Ludwig selbst gesteckt. Das hat Mayke de Jong übersehen; vergleiche de Jong 1992, S.  31: „he also submitted to a public humiliation, and this time completely of his own accord […] a semi-spontaneous gesture of humility“; de Jong 2009, S.  124: „There was no Ambrose who ad-monished Louis to do penance or delivered a public rebuke (‚correptio‘).“ Der Astronomus spricht von penitentia spontanea (c. 35): wie Anm. 17; vergleiche Berschin 1991, S. 233. Der Astronomus schildert also eine Selbstanklage ‚ohne unmittelbaren, sichtbaren Zwang‘ (Fried 2012, S.  122) und tatsächlich sind ja erst 833 ei-nige Lothar treu ergebene Bischöfe als Ankläger Ludwigs des Frommen aufgetreten (Thegan, Gesta Hludowici imperatoris, c. 43f. = MGH SRG 64, S.  230–238; Annales Bertiniani ad a. 833 = MGH SRG 5, S.  7: in diesem Teil noch am Hof Ludwigs des Frommen von einem unbekannten Autor wohl unter Aufsicht des Erzkaplans Fulko verfasst; Astronomus, Vita Hludowici imperato-ris, c. 49 = MGH SRG 64, S. 480–482); vergleiche Simson 1876, S.  63–78; Halphen 1904; Kern

‚Divisio regnorum‘ ausgehandelt hatte,30 die wir als ‚Friedensordnung der Karolinger-familie‘ bezeichnen können.31 Auch wissen wir heute, dass Ludwig der Fromme die Freiwilligkeit seines Bußaktes nur zur Schau gestellt hatte.32 Doch warum wurde bis 822

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 27

33 So in Anlehnung an Fried 2001 und Fried 2002.34 Vergleiche Fried 2001; zusammenfassend

Fried (Hrsg.) 2004, S. 386f.35 Zentrale Textstelle ist hier Vita Karoli, c. 2 (= MGH

SRG 25, S. 4, Z. 15 – S. 5, Z. 5): Hunc [sc. honorem] cum Pippinus pater Karoli regis ab avo et patre sibi et fratri Karlomanno relictum, summa cum eo concor­dia divisum, aliquot annis velut sub rege memorato tenuisset, frater eius Karlomannus – incertum quibus de causis, tamen videtur, quod amore conversationis contemplativae succensus –, operosa temporalis regni administratione relicta, Romam se in otium contulit, ibique habitu permutato monachus factus in monte Soracte apud ecclesiam beati Silvestri constructo mo­nasterio cum fratribus secum ad hoc venientibus per aliquot annos optata quiete perfruitur. Zum nicht ganz freiwilligen Eintritt ins Kloster 747 verglei-che Rodenberg 1923, S.  15–19; Tangl 1960, S. 10f.; Riesenberger 1970, S. 272, und 279–283; Krüger 1973, S.  183–187, und 198; Bund 1979, S. 363–367; Stancliffe 1983, S. 158–160, und 171; Jarnut 1990, S. 65f.; Swinarski 1991, S. 251–257. Einhart verschleiert die wahren Begebenheiten mit der Bemerkung incertum quibus de causis, Vita Karoli (= MGH SRG 25, S. 4, Z. 19); vergleiche

Wala; vergleiche Boshof 1969, S. 252f.; Boshof 1996, S.  196f. Agobard war zu dieser Zeit (bis 834) Titularabt von Ludwigs Haftort Saint-Mé-dard in Soissons; vergleiche Cabaniss 1951, S.  65f. Die Freiwilligkeit der Buße verneint de Jong 2009, S. 123, zu Unrecht, denn Paschasius Radbertus, Vita Adalhardi, c. 51 (= MPL 120, Sp. 1534f.), bezeugt, dass Ludwig sich erst nach der Rückkehr Adalharts an den Hof zur Buße bereit-gefunden habe, nachdem er sich selbst zuvor (wegen Adalharts Rivalen Benedikt von Aniane) der schlechteste Ratgeber war; vergleiche von der Nahmer 1982, S. 42; Fried 2012, S. 122 mit Anm.  10. Adalharts Einfluss vermuteten auch schon von der Nahmer 1982, S.  42; Kasten 1986, S.  142–144; Hartmann 1989, S.  166. Die Demut des Kaisers ist schon von Zeitgenossen verächtlich gemacht worden, ein Akt wie Atti-gny 822 also in seiner Zweischneidigkeit erkannt worden; vergleiche Vita Alcuini, c. 15 (=  Jaffé, BRG 6, S. 23, Z. 30–33, und MGH SS 15.1, S. 193, Z. 3– 5): At ille [sc. Alcuinus] vultum in Hludowicum dirigens, novissimum illorum [sc. filiorum], sed humilitate clarissimum, ob quam a multis despica­bilis notabatur, ait.

in der Karolingerfamilie alles totgeschwiegen, seitdem auf der Reichenau, in Corbie und an anderen Orten des Reiches aber nicht mehr geschwiegen, in Aachen und Seli-genstadt aber mehr verschwiegen als wirklich offen geredet? Wo liegen die historischen Wurzeln dieser Erinnerungsmodi und ihrer Bilder?

Verliererparteien. Die Anhänger Karlmanns des Älteren, Karlmanns des Jüngeren, Pippins des Buckligen und Bernhards von Italien

Einhart hat nicht nur zum Paderborner König-Papst-Treffen im Vorfeld der Kaiserkrö-nung in Rom geschwiegen33 oder wie die Reichsannalen zu diesen Ereignissen wesentli-che Dinge verschwiegen.34 Er belegt nämlich auch zentrale Episoden der Familienge-schichte der Karolinger mit seinem redenden Schweigen. Es sind stets die kritischen Phasen der Machtübergabe vom Vater auf die Söhne, in denen sich die Frage nach der Legitimität der Herrschaftsnachfolge stellt. Ein zentrales Motiv ist hierbei stets das Scheitern zunächst geteilter Herrschaft und ihre schließlich allein gesicherte Weitergabe an den Fähigsten unter den Söhnen. Auch hier redet und verschweigt Einhart zugleich. Schon zum Konflikt in der Generation vor Karl dem Großen zwischen Pippin dem Jün-geren und Karlmann dem Älteren kann er angeblich keine Gründe für den Herrschafts-verzicht des in Wahrheit politisch isolierten und gescheiterten Karlmann benennen,35

28 | Matthias M. Tischler

santen) aus dem im karolingischen Einflussbe-reich liegenden, von Karlmann selbst gegründe-ten Kloster Monte Soratte in das im Benevent, also im außerkarolingischen Machtbereich, lie-gende Kloster Montecassino; vergleiche Vita Karoli, c. 2 (= MGH SRG 25, S. 5, Z. 10–14): Nam huiuscemodi frequentiam cum suo proposito of­ficere vidisset, relicto monte in Samnium provin­ciam ad monasterium sancti Benedicti situm in castro Cassino [Casino ed.] secessit et ibi quod re­liquum erat temporalis vitae religiosae conver­sando conplevit. Wolf 1992, S.  524– 531, speku-liert völlig grundlos über Karlmanns angebliche Einsicht in die Unhaltbarkeit seiner unkanoni-schen Ehe als Grund für seine Konversion in den Mönchsstand.

37 Vergleiche Vita Karoli, c. 3 (= MGH SRG 25, S. 6, Z. 9–12): multis ex parte Karlomanni societatem se­parare molientibus, adeo ut quidam eos etiam bello committere sint meditati.

38 Vergleiche Vita Karoli, c. 5 (= MGH SRG 25, S. 7, Z. 10–12): fratre adhuc vivo, etiam et auxilium ferre rogato, suscepit [sc. bellum Aquitanicum]. Et licet eum frater promisso frustrasset auxilio.

39 Vergleiche Vita Karoli, c. 3 (= MGH SRG 25, S. 6, Z. 12–18): Sed in hoc plus suspecti quam periculi fuisse ipse rerum exitus adprobavit, cum defuncto Karlomanno uxor eius et filii cum quibusdam, qui ex optimatum eius numero primores erant, Italiam fuga petiit et nullis existentibus causis, spreto ma­riti fratre, sub Desiderii regis Longobardorum pat­rocinium se cum liberis suis contulit.

Becher 1992, S. 46. Das hat unlängst Patzold 2011, S. 52f. nicht beachtet, der den von Einhart hiermit signalisierten Hofdiskurs übersieht, weshalb er dessen abmildernder Schilderung auf den Leim gehen muss. Nach Walahfrid Strabo, Vita S.  Galli II 10 (von 833/834) soll Karlmann 747 St.  Gallen besucht haben, mit der Bitte an Abt Otmar, sich zu seinem Bruder Pippin zu begeben, um sich die Benediktregel überreichen zu lassen, was dann auch gesche-hen sei: Walahfridus Strabus, Vita (III) S. Galli (=  MGH SRM 4, S.  320, Z. 1–27); vergleiche Sprandel 1958, S.  12; Duft 1966, S.  9; Ber-schin 1987, S.  69; Tischler 3 2001, S.  12 mit Anm.  17. Diese auf oraler Tradition (Walahfri-dus Strabus, Vita (III) S.  Galli = MGH SRM 4, S.  320, Z. 5) beruhende Passage ist eine Fort-schreibung von Einharts kryptischer Stelle. Denn wir erfahren aus ihr, dass sich Karlmann nicht nur zunächst nach St. Gallen, einem Klos-ter seines Reichsteils, zurückzog, sondern auch für eine Reise Otmars an den Hof seines Bru-ders Pippin verantwortlich zeichnete, welche die königliche Förderung St.  Gallens und die Einführung der Benediktregel ermöglichen sollte. Interessant ist, dass uns hiervon erst der am Aachener Hof wirkende Walahfrid fast 90 Jahre nach dem Ereignis berichtet. Ging es bei der Reise Otmars auch um einen Vermittlungs-versuch zwischen den Brüdern?

36 Um 750 erfolgte die Flucht vor seinen Verwand-ten (d. h. vor verwandten politischen Sympathi-

und er spekuliert lediglich über dessen geistliche Ambitionen.36 Diese Auseinander-setzung um die alleinige Macht wirkt wie ein präfiguratives Vorspiel zum noch drama-tischeren Konflikt zwischen Karl dem Großen und seinem Bruder Karlmann den Jün-geren. Als Grund für das Zerbrechen der geteilten Herrschaft nennt Einhart eine mächtige Fraktion von Großen auf Seiten Karlmanns, welche die Gemeinschaft der Brüder habe spalten wollen. Einige dieser Großen hätten sogar an einen Krieg gegen Karl gedacht.37 Doch behauptet Einhart an einer anderen Stelle der Vita, dass Karl-mann seinem Bruder die zunächst zugesagte Hilfeleistung im Aquitanienkrieg von 769 dann doch versagt habe.38 Es ist faszinierend zu beobachten, dass Einhart im selben Erzählzusammenhang gleich das nächste familiäre Konfliktfeld der Karolinger anspricht: Nach dem Tod Karlmanns sei dessen Ehefrau, deren Namen Einhart eben-falls nicht nennt, mit ihren wiederum namenlosen Kindern und führenden Großen der Entourage ihres Ehemanns, und zwar ohne Gründe und unter Missachtung Karls des Großen, nach Italien zum Langobardenkönig Desiderius geflohen.39 Doch wie die

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 29

41 Vergleiche Vita Karoli, c. 4 (= MGH SRG 25, S. 7, Z. 2–7): ad actus et mores ceterasque vitae illius partes explicandas ac demonstrandas, omissis incognitis, transire disposui; ita tamen, ut, primo res gestas et domi et foris, deinde mores et studia eius, tum de regni administratione et fine narrando, nihil de his quae cognitu vel digna vel necessaria sunt praetermittam.

42 Vergleiche Nelson 2009, S. 10–13.43 Vergleiche Nelson 2009, S.  24; Hartmann

2010, S. 129.44 Vergleiche Annales regni Francorum bzw. Anna-

les qui dicuntur Einhardi (= MGH SRG 6, S. 148, Z. 1–6): Huius coniurationis principes fuere Eggi­deo, inter amicos regis primus, et Reginhardus ca­merarius eius et Reginharius Meginharii comitis fi­lius, cuius maternus avus Hardradus olim in Ger­mania cum multis ex ea provincia nobilibus contra Karolum imperatorem coniuravit.

40 Die einzigen beiden Großen, Warin und Adal-hart, gehören zur Fraktion der ‚Überläufer‘; ver-gleiche Annales regni Francorum (= MGH SRG 6, S. 32, Z. 5–10): Domnus rex Carolus venit ad Corbo­nacum villam, ibique venientes Wilcharius archiepi­scopus et Folradus capellanus cum aliis episcopis ac sacerdotibus, Warinus et Adalhardus comites cum aliis primatibus, qui fuerunt Carlomanni; uxor vero Carlomanni cum aliquibus paucis Francis partibus Italiae perrexerunt; Annales qui dicuntur Einhardi (= MGH SRG 6, S. 33, Z. 8–14): Ibi [sc. Carbonaco villa] Wilharium episcopum Sedunensem et Folra­dum presbyterum et alios plures sacerdotes, comites etiam atque primates fratris sui, inter quos vel prae­cipui fuere Warinus et Adalhardus, ad se venientes suscepit. Nam uxor eius et filii cum parte optimatum in Italiam profecti sunt; rex autem profectionem eo­rum in Italiam quasi supervacuam patienter tulit.

offiziöse Reichsannalistik40 nennt Einhart die Köpfe dieser Karolingerfraktion nicht. Warum hält er diese Personengruppe aus der karolingischen Erinnerung heraus?

Mit der knappen Feststellung des Übergangs der Gesamtherrschaft auf Karl den Großen beendet Einhart die Geschichte des Karlmannzweiges in der Karolingerfami-lie, aber auch die Geschichte der ihm nahestehenden Großen. Doch sie ist nur die Vor-geschichte zur eigentlichen Vita Karls des Großen, die nun mit einer Rubrik zu ihrer Gliederung eröffnet wird.41 Der gemeinsame Nenner der über den weiteren Text verstreuten Bausteine einer tendenziösen Familiengeschichte ist das systematische Verschweigen von Ereignissen, die Karlmanns Ehefrau, ihre Kinder und ihre Anhänger betreffen, sowie die hiermit zusammenhängende Frage nach der Legitimität der Herr-schaft Karls des Großen und seiner allein herrschenden Nachfahren.

Die gleiche Erzählhaltung nehmen Einhart und viele andere fränkische Zeugnisse beim Aufstand Pippins des Buckligen ein. Nur durch komplizierte Kombinationen der Forschung kennen wir heute einige Namen der Verschwörer, die mit Karls ältestem, in-zwischen aber als illegitim betrachteten Sohn sympathisierten und daher Karl den Gro-ßen und seine jüngeren Söhne beseitigen wollten – etwa die noch lebende Mutter Himilt-rud und ihre Brüder.42 Damit stellt sich Einhart bewusst gegen die Erzählhaltung der offiziösen Reichsannalistik, die einen Rädelsführer beim Aufstand Bernhards 817 erwäh-nen, dessen Vorfahre Hartrat schon den Aufstand von 785/78643 angezettelt haben soll.44

Kindermord. Karlmanns des Jüngeren Kinder und Bernhard von Italien

Der in Attigny formulierte Vorwurf der Ermordung Bernhards von Italien durch Lud-wig den Frommen rief schlimmste Erinnerungen in der Familie des Vaters wach. War nicht ganz Ähnliches einst mit den (minderjährigen) Kindern Karlmanns des Jünge-

30 | Matthias M. Tischler

49 Vergleiche Abel/Simson 1888, S.  30f.; Nonn 1975, S. 386. Zu Soissons in römischer und mero-wingischer Zeit Kaiser 1973.

50 Diplomata Karolomanni (=  MGH DD Karol. 1, S. 62f., Nr. 43); Diplomata Karoli (= MGH DD Ka-rol. 1, S. 81f., Nr. 55); vergleiche Schieffer 1990, S. 162. Zur besonderen Bedeutung von Saint-De-nis als früher Königsgrabkirche der Franken ver-gleiche Krüger 1971, S.  171–189. Nonn 1975, S.  387, verweist darauf, dass die ersten beiden überlieferten Urkunden Karlsmanns auf Vorur-kunden Pippins beruhen, in denen der peculiaris patronus noster übernommen worden ist, und auch später noch wird Saint-Denis von beiden Brüdern auffallend oft begünstigt (Diplomata Karolomanni = MGH DD Karol. 1, S. 63f., Nr. 44; S. 66, Nr. 46, und S. 74, Nr. 53; Diplomata Karoli = MGH DD Karol. 1, S. 126f., Nr. 87; S. 128, Nr. 88; S. 133 Nr. 92; S. 134f. Nr. 93; S. 135f. Nr. 94; S. 144f., Nr.  101; S.  167f., Nr.  120; S.  224f., Nr.  166, und S.  255f., Nr.  190). Offensichtlich beanspruchte also Karlmann den hl. Dionysius für sich als spe-ziellen Patron, wohl in Abwehr gleicher Interes-sen seines Bruders.

51 Vergleiche Konecny 1976, S.  65; Hartmann 2009, S.  97. Die erneute Wahl des Leitnamens der Familie ist also kein ‚Zeichen brüderlicher Gemeinsamkeit‘, wie das Hägermann 2003, S. 25, irrtümlich annahm.

52 Vergleiche Annales Petaviani (= MGH SS 1, S. 13, Z. 9–11): nativitas Pipini filii Karlomanni, et hoc anno domna Berta fuit in Italia propter filiam Desi­derii regis, et redditae sunt civitates plurimae sancti Petri. Delaruelle 1932, S.  218, ging noch von

45 Die Texte sprechen von parvuli oder filii, woraus das Geschlecht des nach Pippin geborenen Kin-des nicht hervorgeht: wie Anm.  40 und 90f. Da der ‚Liber pontificalis‘ aber auch zweimal von der von Desiderius intendierten Salbung dieser filii zu ‚Königen der Franken‘ spricht (=  LP, S. 488, Z. 21–23, und S. 493, Z. 17f.), kann man da-von ausgehen, dass auch das zweite, in der Über-lieferung auffallend namenlos gebliebene Kind ein Sohn Gerbergas war; vergleiche Classen 1972, S. 131, Anm. 94.

46 Vergleiche Jarnut 1975, S. 290. Vergleiche Vita Hadriani I papae, c. 34 (= LP, S. 496, Z. 16–20): Et dum agnovisset fugam arripuisse in Veronam prae­nominatum Adelgis, relinquens plurimam partem ex suis exercitibus Papiam, ipse quoque cum ali­quantis fortissimis Francis in eandem Veronam pro­peravit civitatem. Et dum illuc coniunxisset, proti­nus Autcarius et uxor adque filii saepius nominati Carolomanni propria voluntate eidem benignis­simo Carulo regi se tradiderunt. Eosque recipiens eius excellentia denuo reppedavit Papiam.

47 Vergleiche Werner 1973, S.  153, Anm.  143; Fried 1994, S. 250; Fried 1998, S. 76; Schnei-der 2010, S. 31. Fried 1 2008, S. 162: „Karl selbst hatte seine Neffen beseitigt“; Fried 2 2008, S. 58: „sie alle, die Königin und ihre Söhne, Karls Neffen, verschwanden spurlos aus der Ge-schichte.“ Gerberga soll der Legende nach Auf-nahme im langobardischen Königskloster San Salvatore in Brescia gefunden haben; vergleiche Hägermann 2003, S. 28.

48 Erkannt ist das bislang nur für Karl den Großen: Werner 1973 und Becher 1992.

ren45 passiert, die seit der Auslieferung der Familie in Verona (noch Herbst 773 oder schon 774?)46 aus der karolingischen Erinnerung verschwinden?47 Der bekannte Kon-flikt zwischen Karl dem Großen und Karlmann dem Jüngeren braucht hier nur ange-deutet, nicht aber weiter ausgeführt zu werden. Dieser Kampf wird auf allen Ebenen ausgetragen: Es wird das Familiengedächtnis durch das Verschieben von Geburtstagen manipuliert,48 es werden am selben Festtag des hl. Dionysius (9. Oktober 768) an ver-schiedenen Orten die Königsweihen von Karlmann (Soissons) und Karl dem Großen (Noyon) vollzogen,49 es wird von beiden fast zur selben Zeit, aber unabhängig vonein-ander das Gebetsgedenken des verstorbenen Vaters in Saint-Denis gefördert50 und es wird dem erstgeborenen Sohn jeweils der Name des Großvaters und ersten Königs der Dynastie gegeben: Pippin.51 Doch die Geburt des karlmannschen Pippin entnehmen wir nur einem singulären Annalenwerk aus dem Umfeld des Vaters, einer überarbeiteten Fassung der ‚Annales Petaviani‘.52

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 31

pinus, ex concubina eius Himiltrude natus, in tanto scelere inventus est, ut regnum sibi patris, patrem et fratrem occidendo, fraude subripere deliberaret, Annales Mosellani (= MGH SS 16, S. 498, Z. 10–13); Hac tempestate filius regis Pippinus ex concu­bina Himildruda cum aliquibus comitibus Franco­rum consiliatur, ut regem interficeret et loco eius regnaret, Chronicon Laurissense breve (=  MGH SS 1, S. 119, Sp. a Z. 19–23, und Schnorr von Ca-rolsfeld 1911, S.  37, Z. 3– 5). In der Vulgatfas-sung des ‚Chronicon Laurissense breve‘ und bei Einhart ist Himiltrud nur noch eine namenlose Konkubine: Hac tempestate inventum est consilium pessimum, quod Pippinus filius regis ex concubina inierat, ut regem interficeret et regnaret in loco eius, Chronicon Laurissense breve (=  Schnorr von Carolsfeld 1911, S. 33, Z. 25–27); Vita Karoli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S.  22, Z. 14f.): de concubina quadam, cuius nomen modo memoriae non occur­rit; vergleiche Hartmann 2007, S. 558.

56 Sie sind nämlich enthalten im Kontext der Le-bensgeschichte des Arnulf von Metz, des heili-gen Vorfahren der Karolinger, der frühesten ka-rolingischen Hausgeschichte. Nur dieses Werk sowie das in ihm integrierte, von demselben Autor verfasste Epitaph bezeugen zudem, dass Ludwig der Fromme einen Zwillingsbruder na-mens Lothar hatte, der zwei Jahre nach der Ge-burt starb: tertius [sc. natus] Lodobich qui cum Hlotario, qui biennis occubuit, uno partu est geni­tus, Paulus Diaconus, Gesta episcoporum Met-tensium (=  MGH SS 2, S.  265, Z. 26f.); Paulus Diaconus, Carmina (=  MGH PP 1, S.  71–73, Nr.  XXXIX). Ferner enthält der Text das von Karl berichtete Ringwunder des Bischofs Arnulf

einer Geburt Pippins wahrscheinlich gegen Ende des Jahres 770 aus. Doch die unmittelbare Folge dieser beiden Nachrichten legen einen Zusam-menhang zwischen der Geburt des Karlmanns-sohnes und der Brautschau Bertradas (für Karl den Großen) nahe, weshalb die Geburt des ge-sunden Pippin vor der Hochzeit Karls des Gro-ßen mit der langobardischen Braut erfolgt sein dürfte.

53 Mündlicher Hinweis von Johannes Fried. Ver-gleiche jetzt Fried 2013, S. 22f., 37–40, 180f., und 185–190.

54 Vergleiche Fried 2000.55 Paulus Diaconus, Gesta episcoporum Metten-

sium (=  MGH SS 2, S.  265, Z. 22–24): Habuit ta­men, ante legale connubium, ex Himiltrude nobili puella filium nomine Pippinum. Paulus schreibt sein Werk nach dem Tod Hildegards (783) im Auftrag des Bischofs Angilram von Metz, der das Grabgedenken der Königin hütet und die legiti-men Ansprüche ihrer Nachkommen propagiert; vergleiche Kempf 2004. Erwähnt wird Himilt-rud auch in den ‚Annales Laureshamenses ad a. 792‘, den ‚Annales Mosellani ad a. 791‘ und im ‚Chronicon Laurissense breve (Codex Fuldensis) ad a. 792‘ im Kontext des Aufstandes ihres Soh-nes Pippins des Buckligen, dort aber bereits aus-drücklich als Konkubine: Et in ipso anno inventum est consilium pessimum, quod Pippinus filius regis, ex concupina Himildrude nomine genitus, contra regis vitam seu filiorum eius, qui ex legitima mat­rona geniti sunt, ‹inierat›, Annales Laureshamen-ses (=  MGH SS 1, S.  35 Z. 15–17, und Katz (ed.) 1889, S.  37, Z. 30–33); Ipsoque anno tempore au­tumni eiusdem regis primogenitus filius nomine Pip­

Konkubinat, Ehebruch und legitime Ehe. Die Partnerschaften Karls des Großen, Ludwigs des Frommen und Pippins von Italien

Mündliche Traditionen aus der Familienerinnerung finden sich verschriftet – abgesehen von einigen Stellen im älteren Teil der ‚Annales regni Francorum‘53 – nur in abseitig gele-genen Texten.54 Es stellt sich hier die Frage nach den intendierten Publiken dieser Werke. Ein großes Thema in der karolingischen Erinnerungsgeschichte ist hierbei das Ver-schweigen bestimmter Partnerinnen, zumindest ihrer Namen. Zu den ersten beiden Eheverbindungen Karls des Großen liefert Einhart keine oder nur verschleiernde Nach-richten. Den Namen der ersten Ehefrau Karls des Großen, Himiltrud, kennen wir fast nur aus den ‚Gesta episcoporum Mettensium‘55 des Hofhistoriographen Paulus Diaconus und diese Detailinformationen hat neben anderen nur hier bezeugten Familieninterna56

32 | Matthias M. Tischler

60 Vergleiche Classen 1965, S.  557, Anm.  81 (=  Classen 1985, S.  28, Anm.  86); Goffart 1986, S. 62, 86–89, und 93; Kasten 1997, S. 139, und 148; Hartmann 2010, S. 233f., zur Zurück-setzung Pippins in den 780er Jahren. In den ‚An-nales Laureshamenses ad a. 792‘ wird Pippin in Spiegelung zu den von einer legitimen Gattin (sc. Hildegard) geborenen Brüdern implizit als illegi-tim hingestellt: wie Anm.  55; vergleiche Abel/Simson 1883, S. 44f. In den ‚Annales Lobienses ad. a. 812‘(=  MGH SS 13, S.  231, Z. 35) wird Karl der Jüngere als erstgeborener bezeichnet: Karo­lus, primogenitus domni imperatoris; vergleiche Hack 2009, S.  80, Anm.  96. Die Delegitimie-rung Pippins zeigt sich dann auch in Einharts ‚Vita Karoli‘, wo Pippin nicht in c. 19 bei den Frauen und Kindern, sondern erst in c. 20 im Kontext der Aufstände gegen den Vater Karl er-wähnt wird; vergleiche Hack 2009, S.  65. Frei-lich wird Pippins des Buckligen Namen weiter-hin in der Liturgie für die Königsfamilie erwähnt und er wird auch später als Miterbe seines Vaters anerkannt; vergleiche Classen 1972, S.  118f.; Thoma 1985, S. 78; Nelson 1 1991, S. 200; Kas-ten 1997, S.  144f.; Hack 2009, S.  66; Hart-mann 2010, S. 234.

61 Diese Strategie hat Hartmann 2010, S.  49, nicht erkannt. Zur Neutralisierung des Karlsbru-ders Karlmann gehört auch die Bestätigung von dessen Schenkungsurkunde für Saint-Denis kurz vor dem Ableben: Diplomata Karolomanni (= MGH DD Karol. 1, S. 74 Nr. 53) durch Karl den Großen im Jahr 774: Diplomata Karoli (=  MGH DD Karol. 1, S. 126f. Nr. 87).

62 Und zwar im zeitgenössischen Gedicht des Go-desscalc in dem nach ihm benannten Evangelis-tar Paris, BnF, Ms. nouv. acq. lat. 1203, Godes-scalcus, Carmen (=  MGH PP 1, S.  94, Z. 25–28):

von Metz: Paulus Diaconus, Gesta episcoporum Mettensium (= MGH SS 2, S. 264, Z. 15–36); ver-gleiche Goffart 1986, S.  75–80, 82, 87, und 89f.; Nelson 2005, S. 32f.; Elling 2010, S. 227f. Dieses spielt vielleicht auf Karls eigene eheliche Untreue im Konflikt zwischen der angetrauten Langobardenprinzessin und der neuen Ehefrau Hildegard an.

57 Die Detailinformationen erklären sich dadurch, dass Karl der Große wohl selbst der Lieferant der (gefilterten) Informationen war; vergleiche Goffart 1986, S.  76f.; Berschin 1988, S.  154; Grahn-Hoek 2003, S.  29 mit Anm.  130; Nel-son 2005, S. 33; Elling 2010, S. 218, und 228.

58 Was bezeichnend ist, weil sie nur im Zusam-menhang mit ihrem Sohn Pippin dem Buckligen und seinem Aufstand gegen Karl den Großen erwähnt wird und hierbei namenlos bleibt; ver-gleiche Vita Karoli, c. 20 (= MGH SRG 25, S. 25, Z. 13f.): Erat ei filius nomine Pippinus ex concu­bina editus, cuius inter ceteros mentionem facere distuli; vergleiche Hartmann 2007, S.  558; Nelson 2009, S. 8.

59 Vergleiche Codex Carolinus (=  MGH Epp. Karol. 1, S. 586, Nr. 60, Z. 26–33): dignati estis nobis repro­mittere, ut in sanctum diem Pascae ad limina beati apostolorum principis Petri una cum spiritale filia nostra, regina, Domino auxiliantae properare debu­issetis, ut filium, qui nunc vobis procreatus est, a sa­cro baptisma in ulnis nostris suscipere debuissemus: sicut terra sitiens imbrem, ita et nos exspectabiles fuimus mellifluam excellentiam vestram; et dum ad­propinquasset ipsum diem sanctum Pascae et nullum mandatum de adventum vestrum suscaepissemus aut de missis vestris secundum placitum, quod inter nos extiterat, valde tristes effecti sumus; vergleiche Angenendt 1980, S.  70–74; Angenendt 1984, S. 157, und 159f.; Sierck 1995, S. 183.

wohl Karl selbst geliefert.57 Bei Einhart bleibt diese frühe Frau Karls des Großen ohne Namen.58 Der Grund hierfür ist der Konflikt zwischen Pippin dem Buckligen und Karl dem Jüngeren, den jeweils Erstgeborenen aus den Ehen Karls mit Himiltrud bzw. Hil-degard. Karl und Hildegard bedürfen schon der Umtaufung ihres Sohnes Karlmann zu Pippin und seiner Salbung zum König von Italien durch Papst Hadrian I. höchstpersön-lich,59 um den älteren Pippin zu delegitimieren60 und die Namen des 771 verstorbenen Bruders Karlmann und seines 774 verschwundenen erstgeborenen Sohnes Pippin durch doppelte Gegenerinnerung zu überlagern.61 Der doppelte Akt durch den Papst wird aber zunächst nur im Godesscalc-Evangelistar vermerkt, und somit zunächst allein in der privaten Erinnerung Hildegards und Karls des Großen;62 die offiziöse Reichsannalistik

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 33

ditionen des Haftklosters Prüm verarbeitet (‚XI. De imperatore Caroli ob dissimulationem peric-litato‘). Die rivalisierenden Brüder hätten in St. Goar unter dem Einfluss des Ortsheiligen zu brüderlicher Eintracht und einem Freund-schaftsvertrag gefunden: Ibi, quod inter eos graves aliquamdiu simultates et inimicitiae fuerant, inspi­rante superna clementia et opitulante confessoris sanctissimi merito in fraternam concordiam et foedus amicitiae coierunt, Wandalbertus Prumi-ensis, Vita et Miracula S. Goaris 1887 (= MGH SS 15.1, S.  366, Z. 44–46, und Stiene (ed.) 1981, S. 56, Z. 13–17); vergleiche Classen 1972, S. 120; Hägermann 2000, S. 589.

67 Vergleiche Codex Carolinus (= MGH Epp. Karol. 1, S.  561, Nr.  45, Z. 19–23): Etenim, mitissimi et a Deo instituti benignissimi reges, iam Dei voluntate et consilio coniugio legitimo ex praeceptione genito­ris vestri copulati estis, accipientes, sicut praeclari et nobilissimi reges, de eadem vestra patria, scilicet ex ipsa nobilissima Francorum gentae, pulchrissi­mas coniuges. Et eorum vos oportet amori esse adne­xos; vergleiche Mikat 1978, S.  72; Pohl 2007, S.  171. Nach diesem Brief ist Karls Verbindung mit Himiltrud eine legitime Ehe gewesen; ver-gleiche Schmid 1977, S.  110, und 113. Dieses Zeugnis hat Hartmann 2010, S. 234, übersehen, weshalb er die Verbindung irrtümlich als ‚nicht legale Ehe‘ einstuft. Nicht ganz trifft ferner seine Behauptung ebenda, S.  51, zu: „Über die Her-kunft der beiden Frauen der Brüder Karl und Karlmann […] ist übrigens nichts bekannt.“

68 Vergleiche Nelson 1 1991, S. 197. Nach Häger-mann 2003, S. 15, sei sie „vermutlich alemanni-scher Herkunft“ gewesen, da Karl mit ihrer Hilfe, wie später v. a. mit Hildegards Hilfe, das „dem Frankenreich unterworfene Herzogtum Alemannien an sich zu binden“ suchte.

69 Vergleiche Konecny 1976, S.  65–67; Wolf 1 1995, S.  269; Wolf 2 1995, S.  301, und 303f.; Hartmann 2009, S. 97.

Principis hic Caroli claris natalibus ortam / Carl­mannum sobolem, mutato nomine Pippin, / Fonte renascentem, et sacro baptismate lotum, / Extulit albatum sacratis conpater undis. Zu dem zwischen dem 9. Oktober 781 (Auftrag) und 30. April 783 (Hildegards Tod) entstandenen Codex verglei-che Mütherich 1987; Reudenbach 1998; Cri-vello/Denoël/Orth 2011.

63 Vergleiche Abel/Simson 1888, S. 378f.; Thoma 1985, S.  77–83; Settipani/van Kerrebrouck 1993, S. 211. Vergleiche Annales regni Francorum (=  MGH SRG 6, S.  56, Z. 15–18): Et supradictum iter peragens celebravit pascha in Roma. Et ibi bap­tizatus est domnus Pippinus, filius supradicti domni Caroli magni regis, ab Adriano papa, qui et ipse eum de sacro fonte suscepit; vergleiche Thoma 1985, S.  80; Annales qui dicuntur Einhardi (= MGH SRG 6, S. 57, Z. 19f.): Et cum ibi sanctum pascha celebraret, baptizavit idem pontifex filium eius Pippinum. Die ‚Vita Hadriani I papae‘ bricht übrigens mit der Deportation von Desiderius und Ansa ins Frankenreich 774 die Schilderung der politischen Ereignisse in Rom und Italien ab, geht also auf dieses wichtige Ereignis nicht mehr ein.

64 Vergleiche Nelson 1 1991, S. 197.65 Vergleiche Annales Mosellani ad a. 781 (= MGH

SS 16, S. 497, Z. 13f.): perrexit rex Karlus Romam et baptizatus est ibi filius eius, qui vocabatur Karlo­mannus, quem Adrianus papa mutato nomine vo­cavit Pippinum; Annales Laureshamenses ad a. 781 (=  MGH SS 1, S.  31, Z. 38f., und Katz (ed.) 1889, S. 33, Z. 3– 5): Perrexit rex Carlus Romam et baptizatus est ibi filius eius, qui vocabitur Carlo­mannus, quem Adrianus papa mutato nomine vo­cavit Pippinum; vergleiche Thoma 1985, S.  79–81; Hägermann 2003, S. 26.

66 Den Konflikt (um den Status als Erstgeborener) zwischen Pippin dem Buckligen und Karl dem Jüngeren bezeugt noch spät im 9.  Jahrhundert Wandalbert von Prüm, der wohl mündliche Tra-

nennt den alten Namen Pippins nicht.63 Die Umdeutung der an sich legitimen Verbin-dung mit Himiltrud in ein Konkubinat findet sich zunächst wieder nur in den familien-nahen ‚Gesta episcoporum Mettensium‘;64 und auch die wenigen weiteren Annalen-werke, die allein die Umtaufung bezeugen, scheinen dem engsten Familienkreis anzugehören.65 Damit wird seit spätestens 780/781 oder April 783 die allmähliche Ver-drängung Pippins des Buckligen aus der Herrschaftsfolge (zugunsten des ältesten Hil-degard-Sohnes Karls des Jüngeren) bezeugt.66 Karl nahestehende fränkische Texte drü-cken die vollbürtige Ehe67 mit der Fränkin68 Himiltrud69 auf den Status eines Konkubinats

34 | Matthias M. Tischler

75 Damit sind die folgenden Einschätzungen abzu-lehnen: Delaruelle 1932, S. 222: „il [sc. „Égin-hard“] ne cherche pas à dissimuler ses ignoran-ces, puisqu’il sait avouer que la cause de la répu-diation lui est inconnue“; Hägermann 2003, S. 27: „Karl […] verstieß die langobardische Prin-zessin, deren Namen nicht einmal bekannt ist – ohne Schuld, wie eine wenig spätere Quelle lako-nisch und sicherlich zutreffend berichtet.“ Ver-gleiche aber Wolf 1996, S.  403, Anm.  73: „Wahrscheinlich hat hinsichtlich der zweiten Gemahlin Karls d. Gr. nach 771 eine ‚damnatio memoriae‘ stattgefunden.“ Ferner Nelson 1998, S. 183: „The Lombard princess was the fall-guy. That is one reason why she suffered a kind of ‚damnatio memoriae‘.“

76 Vergleiche Vita Karoli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S. 21, Z. 19–24): Talem eum in tuendo et ampliando simulque ornando regno fuisse constat. Cuius animi dotes et summam in qualicumque et prospero et ad­verso eventu constantiam ceteraque ad interiorem atque domesticam vitam pertinentia iam abhinc dicere exordiar.

77 Vergleiche Vita Karoli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S.  22, Z. 1); vergleiche Tischler 1 2001, S.  374 mit Anm. 454.

70 Vergleiche Abel/Simson 1883, S. 39 mit Anm. 2; Konecny 1976, S.  66–68; Krah 1987, S.  36–38; Jarnut 1993, S.  168f.; Hack 2009, S.  43, und 277. Hack 2009, S. 65f. möchte den Prozess der Delegitimierung Himiltruds schon vor der Hei-rat Karls mit der langobardischen Prinzessin ein-setzen sehen.

71 Vergleiche Goffart 1986, S.  60, Anm.  6; Nel-son 2009, S. 9.

72 Nach der Einschätzung von Schieffer 1968, S. 39, war sie die erste vollbürtige Ehefrau. Er hat die Delegitimierung Himiltruds noch nicht er-kannt.

73 Vergleiche Vita Karoli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S.  22, Z. 4–7): Deinde cum matris hortatu filiam Desiderii regis Langobardorum duxisset uxorem, incertum qua de causa, post annum eam repudia­vit. Vergleiche ferner Vita Karoli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S. 23, Z. 6–9): Colebat [sc. Karolus] enim eam [sc. Berhtradam] cum summa reverentia, ita ut nulla umquam invicem sit exorta discordia, pra­eter in divortio filiae Desiderii regis, quam illa sua­dente acceperat; vergleiche Lintzel 1929, S. 21f.; Mohr 1955, S.  68–71; Classen 1965, S.  547 (= Classen 1985, S. 14).

74 Wie Anm. 73.

herab, um im Kontrast hierzu den angeblich legalen Status seiner Ehe mit Hildegard zu betonen.70 Hinzu tritt später noch die Diskreditierung von Pippins äußerer Gestalt, für die sich zuerst und allein Einhart verantwortlich zeichnet.71

Auch den Namen von Karls zweiter Ehefrau Gerberga,72 einer Tochter des Langobar-denkönigs Desiderius, verschweigt Einhart und er verschleiert den Grund für die von Karl betriebene Trennung von ihr als unbekannt.73 Die auffallend deutlich vermerkte Em-pörung der Mutter Bertrada hierüber, die Einhart in ihrer Einmaligkeit schildert,74 deutet freilich auf die große Tragweite dieses Entschlusses hin. Bertrada hatte diese politische Verbindung ja selbst eingefädelt, um ihrem Sohn in seiner schwächeren Ausgangsposi-tion gegenüber dem Bruder ein größeres Gewicht zu verschaffen. So konnte die Mutter die Gefährdung ihrer fränkisch-langobardischen Ausgleichspolitik nur missbilligen.

Aus der originalen Disposition und aus dem Erzählstil der Karlsvita kann abgelei-tet werden, dass Einhart sehr wohl über die näheren Umstände Bescheid wusste.75 Be-sagtes Kapitel beginnt nämlich nicht dort, wo die Editoren Georg Waitz und Oswald Holder-Egger den Einschnitt gesetzt haben. Wir haben hier lediglich eine gliedernde Rubrik vorliegen, die sich auf den Beginn des vorausgegangenen Kapitels bezieht, den annalistischen Teil der Vita abschließt und den biographischen Teil der Vita ein-leitet.76 Dieser beginnt vielmehr mit den Worten Post mortem patris, wo einige Hand-schriften tatsächlich noch die originale P-Initiale bewahrt haben.77 Dieser Einschnitt

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 35

iter perageret orationis causa partibus Romae, una cum uxore sua domna Hildegarde regina; ähnlich die ‚Annales Mettenses priores‘, vergleiche An-nales Mettenses priores (= MGH SRG 10, S. 68, Z. 19f.): Eodem anno orationis causa partibus Roma­nae urbis iter direxit una cum uxore sua Hildegarde regina. Die überarbeitete Fassung der Reichsan-nalen lässt jedoch den Namen der Königin fort: Initoque consilio orandi ac vota solvendi causa Ro­mam statuit proficisci sumptisque secum uxore ac liberis, Annales qui dicuntur Einhardi (=  MGH SRG 6, S. 57, Z. 13f.). Den Tod Hildegards vermel-den dann aber beide Annalen unter ihrem Na-men zu 783: Tunc obiit domna ac bene merita Hil­degardis regina pridie Kal. Mai., quod evenit in die tunc in tempore vigilia ascensionis Domini, Anna-les regni Francorum (=  MGH SRG 6, S.  64, Z. 5–7); Hildigardis regina uxor eius decessit  II. Kal. Mai. Cuius funeri cum more solemni iusta persolve­ret, Annales qui dicuntur Einhardi (= MGH SRG 6, S.  65, Z. 11–13). Die ‚Annales Mettenses prio-res‘ vermerken dann auch ihren Begräbnisort: Anno ab incarnatione Domini DCCLXXXIII. Bo­nae memoriae Hildegardis regina obiit pridie kal. Maii, sepultaque est iuxta Metensem urbem in basi­lica beati Arnulfi confessoris, Annales Mettenses priores (= MGH SRG 10, S. 70, Z. 19–22).

78 Vergleiche Vita Karoli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S. 22, Z. 1–4): Post mortem patris cum fratre regnum partitus tanta patientia simultates et invidiam eius tulit, ut omnibus mirum videretur, quod ne ad ira­cundiam quidem ab eo provocari potuisset.

79 Vergleiche Vita Karoli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S.  22, Z. 4–8): Deinde cum matris hortatu filiam Desiderii regis Langobardorum duxisset uxorem, incertum qua de causa, post annum eam repudiavit et Hildigardam de gente Suaborum praecipuae no­bilitatis feminam in matrimonium accepit.

80 Die den Päpsten verhasste Heiratsverbindung zwischen Karl und der Tochter des Desiderius wird wohl deshalb mit keinem einzigen Wort ge-würdigt, weil durch sie die gefürchteten Lango-barden im Zaum gehalten werden. Ungeachtet der wechselnden historischen Koalitionen in Ita-lien nimmt freilich der ‚Liber pontificalis‘ gene-rell eine feindselige Haltung gegenüber den Lan-gobarden und eine freundschaftliche Position gegenüber den Franken ein; vergleiche Ber-schin 1988, S. 127.

81 Vergleiche Annales Laureshamenses (= MGH SS 1, S.  32, Z. 12, und Katz (ed.) 1889, S.  33, Z. 17): Obiit Hildigard regina.

82 Vergleiche Annales regni Francorum (=  MGH SRG 6, S.  56, Z. 10–12): Tunc sumpto consilio, ut

leuchtet auch inhaltlich ein, da er wie am Anfang des Werkes (c. 2f.) die Erzählung mit der karolingischen Familiengeschichte eröffnet und nochmals mit der vaterlosen Zeit und dem Bruderkonflikt seit 768 einsetzt.78 Warum aber beginnt Einhart die Schilde-rung von Karls Privatleben erneut mit diesem Konflikt und warum folgt danach un-vermittelt und scheinbar zusammenhanglos die durch seine Mutter eingefädelte Hei-rat mit der namenlosen Langobardentochter, ihr von Karl betriebenes Scheitern und schließlich die Ehe mit der Alemannin Hildegard?79 Warum beginnt Einhart also – wie übrigens vor ihm Paschasius Radbertus in der Adalhartvita – die eigentliche Schilde-rung der Lebensgeschichte seines Helden mit der Frage nach der rechtmäßigen Ehe-frau Karls? Und warum bringt Einhart alle diese Informationen, die in der offiziösen Reichannalistik gar nicht zu finden sind? Denn bemerkenswerterweise schweigen sich die ‚Annales regni Francorum‘ und der ‚Liber pontificalis‘ zu diesem Ereignis80 wie zur späteren Scheidung komplett aus, während andere offiziöse Texte umgekehrt die Hochzeit mit Hildegard verschweigen und Karls neue Frau erst allmählich, man möchte sagen behutsam in die Geschichte der Familie einführen: Die ‚Annales Lau-reshamenses‘ erwähnen überhaupt nur ihren Tod zu 783,81 während die ‚Annales regni Francorum‘ die neue Königin gar erst auf jener Romreise 780/781 nennen,82 die die Familien- und Herrschaftsverhältnisse endlich regeln sollte.

36 | Matthias M. Tischler

gatum esset; periit in partu. Notker möchte die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die Rechtmä-ßigkeit der Auflösung der Ehe nach kirchlichem und fränkischem Recht lenken: Qua non post multum temporis, quia esset clinica et ad propagan­dam prolem inhabilis, iudicio sanctissimorum sa­cerdotum relicta velut mortua, Notker Balbulus, Gesta Karoli imperatoris (= MGH SRG 12, S. 82, Z. 3– 5); vergleiche Abel/Simson 1888, S. 95; An-tonelli 1928, S. 106f.; Delaruelle 1932, S. 223 mit Anm. 3; Lejeune 1948, S. 70, Anm. 3; Löwe 1970, S. 297f.; Goetz 1981, S. 44; Reischmann 1984, S. 68; MacLean 2003, S. 218; Hartmann 2010, S.  54. Auf diese Stelle gehen nicht ein Haefele 1959; Siegrist 1963; Ganz 1989.

87 Den Namen „Desiderata“ (im Anklang an den Vater Desiderius) bringt kein mittelalterlicher Text ins Spiel: Er ist die Kreatur des modernen Editors der karolingischen Adalhartvita, also Ge-org Heinrich Pertz; vergleiche Abel/Simson 1888, S.  80, Anm.  5; Hellmann 1909, S.  208; Kasten 1986, S. 24, Anm. 43; Hack 2007, S. 900 mit Anm. 94.

88 Vergleiche Diplomata Karolomanni (= MGH DD Karol. 1, S. 61–76, Nr. 43– 54).

83 Diese mehr kommentierende Erzählhaltung wird besonders deutlich in Einharts eigentümli-cher Darstellung der Kaiser‚krönung‘ Karls des Großen Weihnachten 800; vergleiche Schief-fer 2004, S. 6f.

84 Vergleiche Tischler 1 2001, S. 78–101, und 240–589 (Entstehung, Rezeption und Überlieferung der sogenannten Widmungsfassung). Wolf 1997 hat Einharts Erzählhaltung daher als „hofhistori-ographischen Euphemismus“ bezeichnet.

85 Wie Anm. 93.86 Die ausgeschmückte spätere Erzählung bei Not-

ker Balbulus ‚Gesta Karoli imperatoris II 17‘, wo-nach Karl die langobardische Königstochter we-gen einer unheilbaren Krankheit und der Unfä-higkeit, Kinder zu gebären, fortgeschickt habe, besitzt nur bedingt Glaubwürdigkeit. Die Un-fruchtbarkeit könnte ein bewusst vom Umfeld Karls in die Welt gesetztes übles Gerücht gewe-sen sein; vergleiche auch die hierzu passende Nachricht bei Tassilos Kanzler Creontius, Anna-les ducum Baioraiae III 10, ad. a. 771 (= Riezler (ed.) 1881–84, S.  410, Anm.  1, Z. 3– 5): illa fame pressa pene exanimata de Francia in Italiam ducta est; enixa est ibi filium, cum sterilem eam esse divul­

Man muss Einharts assoziativen Erzählstil kennen, um die authentische Leser- und Hörerperspektive seines Textes wiederzuentdecken:83 Wir haben es mit Hofliteratur zu tun, die zunächst nur für Ludwig den Frommen und sein engstes Hofumfeld gedacht ist und dort auch nachweislich zirkuliert.84 Natürlich wusste der Hof in Aachen, dass das karolingisch-langobardische Ehebündnis unmittelbar mit dem Bruderkonflikt und mit der Italienpolitik der Karolinger zu tun hatte, und natürlich kannte der Hof auch die nä-heren Gründe für die Zurückweisung der ungenannten Desideriustochter und für die schließlich eingegangene Heirat mit der Alemannin Hildegard: Das gezielte Ausblen-den der narrativen Zwischenräume ist der Beleg für ihre genaue Kenntnis in Aachen.

Die späteren, aus der Distanz entwickelten Erinnerungen, die plausible Gründe für Karls rasche Trennung von der Langobardenprinzessin vorzubringen versuchen, sind der Beleg für das anhaltende Problembewusstsein in dieser Angelegenheit noch gegen Ende des 9. Jahrhunderts: Andreas von Bergamo nennt den Konflikt zwischen den Brü-dern als Grund der Trennung von der Langobardin,85 während Notker Balbulus ihre Un-fruchtbarkeit als kirchenrechtlich relevanten Scheidungsgrund vorbringt.86 Die offizi-elle Auflösung der Ehe mit der Langobardin verlangte eine wasserdichte Legitimierung dieser problematischen Ehescheidung, die es freilich gar nicht geben konnte.

Nun wird bei Einhart aber auch noch der Name der Ehefrau Karlmanns verschwie-gen und ebensowenig besitzen wir Aussagen über diese Hochzeit und ihr Datum.87 Gerbergas Name findet sich selbst in Karlmanns Urkunden nicht.88 Ihn konnte die

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 37

sier for the ‚Divisio Regnorum‘ of 806“). Hen 2000, S.  185–190, hält den Text sogar für eine Propagandaschrift zur Durchsetzung der ‚Divi-sio regnorum‘. Zugleich sind die Annalen sehr mit dem Erbe des (noch immer kinderlosen) Karlssohnes Karls des Jüngeren beschäftigt, wo-rin man auch einen Anlass für die ‚Divisio reg-norum‘ sehen mag; vergleiche Fried 1 2008, S. 175: „Karls des Jüngeren Königtum besaß al-ler Voraussicht nach keine Zukunft.“ Ohne Aus-breitung von überzeugenden neuen Argumen-ten bringt McKitterick 2008, S.  68, inzwi-schen auch eine Entstehung der Annalen in Saint-Denis oder Metz ins Spiel.

91 Basel, UB, N I 4, E, Fragmentum Basiliense (= MGH SS 13, S. 28, Sp. a, Z. 4–8): Gerberga vero, uxor Carolomanni, cum duobus parvulis, et paucis principibus de parte coniugis sui Carolomanni Ita­liam petens, et ad Desiderium regem Langobardo­rum pervenit; vergleiche Tischler 1 2001, S. 1323f., Anm. 21.

92 Die Vita Karoli-Handschrift Paris, BnF, Ms. lat. 4955 aus der 1. Hälfte des 11.  Jahrhunderts er-gänzt in c. 3 den Namen Tedberga, doch scheint dies ein verballhorntes „Gerberga“ zu sein: que dicitur tedberga; vergleiche Tischler 1 2001, S. 1323–1325 mit Anm. 24. Zu hiermit verwandten jüngeren Zeugen der ‚Vita Karoli‘ mit dieser In-terpolation vergleiche ebenda.

93 Vergleiche Andreas Bergomas, Historia, c. 3 (= MGH SRL, S. 223, Z. 37 mit Anm. l, und S. 224, Z. 1 mit Anm.  a): Quidam et etiam filiam suam, ‹Berterad› nomine, Karoli, Pipini filius, Franco­rum rex, coniugio sotiavit; alia vero filia, Liuperga nomine, sotiavit Taxiloni Baioariorum rex; et pax firmissima ex utraque partis firmaverunt, sed mi­nime conservaverunt. Habebat Carolus suus ger­manus maior se Karlemannus nomine, ferebundus et pessimus; contra Carolus iracundus surrexit, eum iurare fecit, ut ipsa ‹Berterad› ultra non habe­ret coniuge. Quid multa? Remisit eam Ticino, unde

89 Vergleiche Böhmer/Mühlbacher/Lechner 1908, S.  66, Nr.  142a. Die Aussage von Hack 2009, S. 44, Anm. 101: „Ihr Name wird weder in den langobardischen, noch in den fränkischen Quellen genannt“, trifft also nicht zu.

90 Annales Mettenses priores ad a. 771 (=  MGH SRG 10, S. 58, Z. 2– 5): Gerberga vero uxor Carolo­manni cum duobus parvulis et paucis principibus de parte coniugis sui Carolomanni Italiam petiit et ad Desiderium regem Langobardorum pervenit, Annales Mettenses priores; vergleiche Nelson 2 1991, S.  158; Nelson 2004, S.  94, Anm.  2. Nach Wattenbach/Levison/Löwe 1953, S.  260–264, sprachen sich Hoffmann 1958, S.  53–61; Schieffer 1960, S.  171–173; Hasel-bach 1970, S.  23f.; Schröer 1978, S.  140 mit Anm.  13; Nelson 2 1991, S.  156–160; Collins 1994, S. 234, Anm. 37, und S. 246 mit Anm. 85; Fouracre/Gerberding 1996, S. 338; Nelson 1998, S.  183, Anm.  56; McKitterick 2000, S.  166; Nelson 2000, S.  144, für eine Entste-hung dieser Annalen am ehesten im Kloster Chelles aus, in dem Gisela, Tochter Bertradas und Schwester Karlmanns und Karls, auf ihre alten Tage lebte. Dieser Lokalisierung wider-sprach jedoch Fried 1 2008, S. 159, der sie „im Umfeld des Kaiserhofes entstanden“ sieht. Da die Annalen zunächst nur bis 805 reichen, nimmt man allgemein eine Entstehung um die-ses Jahr an. Das Werk möchte a) die von Gott gewollte Herrschaft des Karolingerhauses an-stelle der des Merowingerhauses rechtfertigen; vergleiche Hen 2000, und b) die daher schon früh angelegte Wurzel des Kaisertums der Ka-rolinger aufzeigen; vergleiche Haselbach 1970, S. 91, und 185f. Man hat Übereinstimmun-gen mit dem Herrschaftsverständnis der zur selben Zeit verfassten ‚Divisio regnorum‘ aus-gemacht; vergleiche Haselbach 1970, S. 188f.; Schröer 1978, S. 153; Nelson 2 1991, S. 158f.; McKitterick 2000, S. 166 („justificatory dos-

moderne Forschung nur über ganz bestimmte, zumeist spätere Zeugnisse des Karolin-gerreiches erschließen:89 Genannt wird Gerberga allein in den ‚Annales Mettenses pri-ores‘, einer frühen karolingischen Hausgeschichte aus dem Kontext der Diedenhofer Verhandlungen zur ‚Divisio regnorum‘ von 806,90 in einem verwandten, heute Baseler Annalenbruchstück91 und in einem nahestehenden interpolierten Exemplar der Karls-vita aus Saint-Bertin92 sowie unabhängig hiervon – doch kaum zufällig ausradiert und mit anderem Namen überschrieben – in der ältesten St. Galler Handschrift der Lango-bardengeschichte des Andreas von Bergamo.93 Doch mit der Ausblendung zentraler

38 | Matthias M. Tischler

95 Vergleiche Wolf 1992, S. 520– 522 mit Anm. 33, 39, und 51, S.  528 mit Anm.  107, und S.  531 mit Anm.  130. Ihre einzige Erwähnung (ohne Na-men) erfolgt anlässlich eines Aufenthalts in Lüt-tich bei der Erhebung der Gebeine des hl. Hug-bert 743; vergleiche Vita Hugberti episcopi Leo-diensis, c. 20 (= MGH SRM 6, S. 495, Z. 24–27): Haec audiens vir Dei nobilissimus princeps Carlo­mannus, statim surrexit de solio suo una cum uxore sua atque obtimatibus suis, qui primati erant eius palacio, et venerunt simul ad sanctum Dei Hugbertum et viderunt, quae acta erant de ipso. Es handelt sich also um eine (unkontrol-lierte) Lokalerinnerung.

96 Die Ausschaltung der Karlmannsöhne berichten auffallenderweise nur wieder einige kleinere An-nalen, nicht die offiziöse Reichsannalistik; ver-gleiche Annales Petaviani ad a. 753 (= MGH SS 1, S.  11, Z. 15–17): et papa Stephanus venit ab urbe Roma in Franciam, et Karolomannus post eum, et filii eius tonsi sunt; Annales Mosellani ad a. 753 (=  MGH SS 16, S.  495, Z. 26f.): et papa de Roma venit et Karlamannus post eum et filii sui tonsi; An-nales Laureshamenses ad a. 753 (=  MGH SS 1 S. 27, Sp. a, Z. 25 – S. 28, Sp. a, Z. 2, und Katz (ed.) 1889, S. 29, Z. 25–27): et Papa de Roma venit et Car­lemannus post illum, et filii sui tonsi; vergleiche Sprigade 1964, S.  59, Anm.  2; Becher 1989, S.  140–142; Becher 1992, S.  45, und 47. Karl-manns des Älteren Söhne, über welche die wei-tere Überlieferung nichts mehr berichtet, wer-den vermutlich gemöncht und somit von der Herrschaftsnachfolge ausgeschlossen.

97 Vergleiche Delaruelle 1932, S. 271: „Le silence fait sur le nom véritable de la princesse, comme sur son sort après sa répudiation, fut peut-être de commande. Le mystère ne sera vraisemblable-ment jamais percé.“

dudum eam duxerat. Mater vero eorum haec sepa­ratio audiens, Carlemanni, filii sui, blasphemiam intulit; oculorum cecitate perculus est, cum peri­culo vita finivit. Die Handschrift ist St.  Gallen, Bibliotheca Vadiana, Cod. 317. Der Name hieß wohl zunächst Gerberga, wurde dann aber von einer anderen Hand mit anderer Tinte in Bert-rada abgeändert. Diesen zweiten Namen be-zeugt auch Johannes Aventin (oder seine Vor-lage Creontius?) in seinen ‚Annales ducum Baio-raiae III 10, ad a. 771‘, Iohannes Aventinus, Annales ducum Baioraiae (= Riezler (ed.) 1881–84, S. 410, Anm. 1, Z. 1f.): Eodem anno Berchthra­eda regina expulsa est a Carolo rege Francorum; vergleiche Riezler 1881, S.  253, und 262. Die generelle Skepsis hinsichtlich der Vertrauens-würdigkeit des Andreas von Bergamo, die Hack 2009, S. 103, formuliert, teile ich nicht, da And-reas an dieser Stelle auch zutreffend den Konflikt der Brüder um ein- und dieselbe langobardische Königstochter des Desiderius bezeugt; verglei-che Papst Stephan  III. in seinem an Karl und Karlmann gemeinsam adressierten Brief vom Frühjahr/Sommer 770: Itaque nostrae perlatum est notioni, quod certae cum magno cordis dolore dicimus: eo quod Desiderius Langobardorum rex vestram persuadere dinoscitur excellentiam, suam filiam uni ex vestra fraternitate in conuvio copulari […] ut nullo modo quisquam de vestra fraternitate praesumat filiam iam dicti Desiderii Langobardo­rum regis in coniugium accipere, Codex Carolinus (= MGH Epp. Karol. 1, S. 561, Nr. 45, Z. 4–6, und S. 563, Nr. 45, Z. 11–13). Zur Bewertung des Wer-kes des Andreas von Bergamo vergleiche Mor 1953, S.  242f., und 245; Capitani 1964, S.  753; Pohl 1994, S. 393f.; Balzaretti 1996, S. 33f.

94 Vergleiche Schüssler 1985, S.  63, Anm.  116; Nelson 2004, S. 100.

dynastischer Details aus dem konkurrierenden Zweig der Familie wird eine eingeführte Tradition nur fortgesetzt: Auch von Karlmanns des Älteren Ehefrau94 ist in den (zeitge-nössischen) Texten fast nirgendwo die Rede95 und die Namen ihrer Kinder werden ebensowenig mitgeteilt96 wie die der Kinder Gerbergas und Karlmanns des Jüngeren.

Längst ist aufgefallen, dass Einhart im genannten Erzählzusammenhang keine Namen nennt  – weder den der langobardischen Ehefrau,97 noch den der Ehefrau Karlmanns, noch die ihrer Kinder. Alle diese Personen sind in der durch Einhart be-stimmten hofnahen Erinnerung namenlos. Mit der Fokussierung der weiteren Fami-liengeschichte auf Hildegard am Anfang des privaten Teils der Karlsvita, hebt Ein-hart hingegen auf den für ihn zentralen Diskurs ab: Er unterstreicht hierdurch die

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 39

Italien zurückgekehrt, Berater am Hofe wird; vergleiche Kasten 1986, S. 47; dann dessen we-sentlich jüngerer Halbbruder Wala, der einst als Aufrührer an Pippins des Buckligen Seite steht und deshalb 790–792 in Schutzhaft eines na-mentlich unbekannten Magnaten übergeben wird (vergleiche Weinrich 1963, S. 15 mit Anm. 46f.), dann aber begnadigt wird und seit 805/806 am Hof sogar wieder eine hohe Vertrauensstellung einnimmt; vergleiche Nelson 1 1991, S.  201. Im Testament Karls des Großen von 811 steht er an der Spitze der fünfzehn unterzeichenden Grafen: vergleiche Vita Karoli, c. 33 (= MGH SRG 25, S. 41, Z. 1–4 und 7f.): Hanc constitutionem atque ordina­tionem coram episcopis, abbatibus comitibusque, qui tunc praesentes esse potuerunt, quorumque hic nomina descripta sunt, fecit atque constituit. […] Comites: Walah; vergleiche Weinrich 1963, S.  24f.; Brunner 1979, S.  70f., und 78; Boshof 1996, S. 93. Ferner die unverheiratete Gundrada; vergleiche Paschasius Radbertus, Vita Adal-hardi, c. 33 (= MPL 120, Sp. 1526, Z. 35): virgo fa­miliarior regi; vergleiche Nelson 1 1991, S. 204; zeitweilig Bernar, der eigentlich Mönch von Lé-rins ist; vergleiche Alkuin, Epistola Nr.  220 (a. 801) (=  MGH Epp. Karol. 4, S.  364); vergleiche Kasten 1986, S. 50f.; sowie die früh verwitwete Theodrada, die später dem Marienkloster in Soissons vorstehen wird; vergleiche Paschasius Radbertus, Vita Adalhardi, c. 33 (= MPL 120, Sp. 1527, Z. 1–4): quae jam reddito fructu nuptiarum secundum castimoniae gradum arripuerat, ad pe­des Jesu cum Maria domi sedebat: illa quidem Sues­sionis sanctimonialium regens vitam; vergleiche Fried 1998, S. 94, und Exkurs S. 107–109; Fried 2012, S. 134 mit Anm. 52, und S. 140.

98 Vergleiche Wendling 1985.99 Vergleiche Vita Karoli, c. 30 (= MGH 25, 34, Z.

8–19); vergleiche Wendling 1985, S. 203.100 Vergleiche Ermoldus Nigellus, In honorem Hlu-

dowici II, 682–700 (= MGH PP 2, S. 25, und CHF 14, S.  54); vergleiche Wendling 1985, S.  203. Das Werk entsteht zwischen Herbst 826 und Fe-bruar 828; vergleiche Anton 1968, S.  190f.; Ebenbauer 1978, S.  101 mit Anm.  589, und S.  375, Anm.  589; Godman 1985, S.  255 mit Anm.  60; Godman 1987, S.  108, und 110–130; Berschin 1991, S. 220–223.

101 Vergleiche Theganus, Gesta Hludowici impera-toris, c. 6 (=  MGH SRG 64, S.  180, Z. 5–7), wo geschildert wird, dass Karl alle Mitglieder der Aachener Versammlung von September 813 ge-fragt habe, ob sie der Übergabe des Kaisertitels an den Sohn zustimmten: interrogans omnes a maximo usque ad minimum, si eis placuisset, ut nomen suum, id est imperatoris, filio suo tradidis­set; vergleiche Wendling 1985, S.  203f., und 229; Boshof 1996, S.  87f. mit Anm.  21; Fried 1998, S. 102, Anm. 118.

102 Nämlich Bernhard, der Sohn Karl Martells. Darin folgt Einhart den älteren auf die Herrschaft Pip-pins des Jüngeren bezogenen Texten; vergleiche Nelson 1 1991, S. 195. Der Name der Nebenfrau, wohl Ruodhaid, mit der Karl Martell Adalharts Vater Bernhard gezeugt hat, wird nur in einigen älteren karolingischen Annalenwerken zu ihrem Todesjahr 725 (‚Annales Mosellani‘, ‚Annales Laureshamenses‘, ‚Annales Petaviani‘ und ‚An-nales Nazariani‘) und ausgerechnet im Reichen-auer Verbrüderungsbuch genannt; vergleiche Hlawitschka 1965, S.  78f., Anm.  32. Dann Bernhards Kinder: Adalhart, der nach 790 aus

rechtmäßige Herrschaft der von Hildegard geborenen männlichen Nachkommen Karls des Großen, von denen seit 811 allein Ludwig der Fromme, der Empfänger des Karlsle-bens, übriggeblieben ist. Einhart selbst ist ein aktiver Verfechter dieses Legitimitäts-denkens, ist er doch die treibende Kraft bei der Aachener Mitkaiserkrönung Ludwigs des Frommen im Jahr 813,98 die er auffallend ausführlich schildert,99 obwohl wir seine maßgebliche Rolle in diesem Geschehen wieder nur durch ein jüngeres, zur ‚Vita Karoli‘ aber zeitgleiches Zeugnis kennen.100 Bei Einhart ist wie später auch bei Thegan101 in den beiden vorangegangenen Generationen der Karolinger und bei der Herrschaftsüber-gabe von Karl auf Ludwig für innerfamiliäre Konkurrenten kein Platz mehr: Angesichts der detaillierten Angaben zur Familie Karls des Großen springt die fehlende nähere verwandtschaftliche Zuordnung eines ganzen Familienzweigs, der einst Karlmann nahegestanden ist, in der Familiengeschichte der Karolinger besonders ins Auge:102

40 | Matthias M. Tischler

Theodrada Witwe geworden. Tatsächlich folgt sie der in diesem Jahr verstorbenen Karlstoch-ter Rotrud als Äbtissin des Marienklosters in Soissons; vergleiche Vita Adalhardi, c. 33 (=  MPL 120, Sp. 1526f.); vergleiche Weinrich 1963, S. 14 mit Anm. 35, und S. 20.

105 Daher schreibt Fried 1998, S. 102, Anm. 118 zu Recht: „Einhard brachte Bernhards italisches Königtum in keiner Weise mit der Nachfolge-ordnung von 811/13 in Zusammenhang.“

106 Vergleiche Divisio regnorum, c. 5 (= MGH Cap. 1, S. 128, Z. 19–22): Quod si talis filius cuilibet is­torum trium fratrum natus fuerit, quem populus eligere velit ut patri suo in regni hereditate succe­dat, volumus ut hoc consentiant patrui ipsius pu­eri et regnare permittant filium fratris sui in por­tione regni quam pater eius, frater eorum, habuit; Vita Karoli, c. 19 (=  MGH SRG 25, S.  24, Z. 9–11): In quibus rex pietatis suae praecipuum do­cumentum ostendit, cum filio defuncto nepotem patri succedere […] fecisset; vergleiche Fried 1 2008, S.  185. Insofern trifft die Einschätzung von Hack 2009, S.  94, nicht zu: „In der Vita Karoli spielt es [sc. „das Kapitulare von 806“] – erstaunlich genug – dennoch überhaupt keine Rolle.“

107 Tatsächlich nimmt die ‚Divisio regnorum‘ in c. 18 indirekt Bezug auf Karls Konflikt mit seinem Bruder und seine tödlichen Folgen für dessen Söhne: De nepotibus vero nostris, filiis scilicet prae dictorum filiorum nostrorum, qui eis vel iam nati sunt vel adhuc nascituri sunt, placuit nobis

103 In diesem Zusammenhang ist es auch auffal-lend, dass wir in diesem Familienzweig weder den Namen der Großmutter Adalharts, Karl Martells Konkubine und Mutter des älteren Bernhard, noch die Namen von dessen beiden Gemahlinnen, der Mütter Adalharts und Walas kennen und den Namen der Ehefrau Pippins von Italien nur erschließen können; vergleiche Fried 2012, S. 136.

104 Vergleiche Fried 1998, S.  93f.; Fried 1 2008, S.  167, und S.  177f. mit Anm.  68. Ubl 2008, S. 379, Anm. 428; Hack 2009, S. 44, Anm. 100; Hartmann 2009, S. 105, haben diese Identifi-zierung als Spekulation zurückgewiesen. Sie beachten aber nicht den gesamten Komplex des Konfliktes zwischen Ludwig dem Frommen und Bernhard von Italien und die dahinter ste-hende Frage nach den Spannungen zwischen den Zweigen der Karolingerfamilie. Dass Pip-pins Ehefrau eine Fränkin, keine ‚Ausländerin‘ gewesen ist, ergibt sich wohl aus Alkuins Epis-tola 119 (=  MGH Epp. Karol. 2, S.  174, Z. 16f.): Laetare cum muliere adoliscentiae tuae; et non sint alienae participes tui; ut benedictio tibi a Deo data in longam nepotum procedat posteritate; ver-gleiche Fichtenau 1949, S.  46 mit Anm.  65, und S.  302, Anm.  65; Devisse 1975–76, Bd.  1, S.  373 mit Anm.  40. Es gibt noch ein weiteres Argument für die von Johannes Fried vorge-schlagene Identifizierung: Mit dem Tod Pippins von Italien am 8. Juli 810 (Böhmer/Mühlba-cher/Lechner 1908, S.  231, Nr.  515a) wäre

Stünde uns heute nur Einharts Karlsleben zur Verfügung, so müssten wir unsere Karo-lingergenealogie ohne eine genaue Zuordnung von Adalhart von Corbie und seiner in der Karlsvita (c. 19) genannten Verwandten zeichnen.103

Adalharts Schwester Theodrada aber ist, wie wir heute annehmen dürfen, die Ehefrau Pippins von Italien, also die Mutter Bernhards von Italien gewesen.104 Ein-hart blendet mit Absicht die enge verwandtschaftliche Verbindung Adalharts zu Pippins Kindern aus. Denn er muss die Eheverbindung zwischen beiden Familien-zweigen der Karolinger verschweigen, um nicht an die hieraus abgeleiteten Herr-schaftsansprüche Adalharts, Walas und Bernhards und somit an die frühere Konkur-renz der beiden Familienzweige zu erinnern.105 Nun steht aber ausgerechnet in diesem Kapitel gleichsam die Paraphrase eines Kerngedankens der ‚Divisio reg-norum‘ von 806, nämlich dass der Sohn seinem verstorbenen Vater im Reichsteil folgen soll, wenn sich die Großen hierauf einigen können.106 Mit dieser Regelung sollte der generationenlange Onkel-Neffen-Konflikt in der Karolingerfamilie beigelegt

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 41

/ Gentibus unus erat pridem ferme omnibus usus, / Unus ut e fratrum corpore sceptra gerat, / Ce­tera nitatur magni pars esse senatus, / Ut regni solidus continuetur apex. Das Gedicht ist bis-lang als baldige Reaktion auf die Beschlüsse der ‚Divisio regnorum‘ verstanden worden; vergleiche Faulhaber 1931, S. 21, 30, und 32; Schneider 1964, S.  102 mit Anm.  2; Dahl-haus-Berg 1975, S.  12 mit Anm.  63–65, und S.  17; Boshof 1990, S.  174f.; Erkens 1996, S.  470 mit Anm.  228. Godman 1985, S.  246–248; Godman 1987, S. 97–100; Patzold 2006, S.  56, rücken das Gedicht nun versuchsweise ins Jahr 817. Muss man das Gedicht als Mah-nung an Ludwig den Frommen und seine Bera-ter 817 verstehen, an den Regelungen der ‚Di-visio regnorum‘ festzuhalten? Wenn ja, dann ist dieses Gedicht ein wichtiges Zeugnis dafür, warum Theodulf zu den Anhängern von Bern-hards Aufstand gehörte.

109 Vergleiche Annales regni Francorum ad a. 806 (= MGH SRG 6, S. 121, Z. 10–16): De hac partiti­one et testamentum factum et iureiurando ab op­timatibus Francorum confirmatum, et constitu­tiones pacis conservandae causa factae, atque haec omnia litteris mandata sunt et Leoni papae, ut his sua manu subscriberet, per Einhardum missa. Quibus pontifex lectis et adsensum prae­buit et propria manu subscripsit.

110 Hierzu und zur Deutung des Geschehens in seinem politischen Gesamtkontext zuletzt Hack 2009, S. 280–287; Patzold 2012, S. 46–48, 50, und 52.

111 Vergleiche Fried 2012, S. 138.

praecipere, ut nullus eorum per quaslibet occasio­nes quemlibet ex illis apud se accusatum sine iusta discussione atque examinatione aut occidere aut membris mancare aut excaecare aut invitum ton­dere faciat; sed volumus ut honorati sint apud pa­tres vel patruos suos et obedientes sint illis cum omni subiectione quam decet in tali consanguitate esse, Divisio regnorum (= MGH Cap. 1, S. 129, Z. 46  – S.  130, Z. 4); vergleiche Classen 1972, S.  129–131; Hack 2009, S.  303f. Auch auf den Auslöser des Konflikts, die Reichsteilung zwi-schen den Brüdern im Jahr 768 nimmt die ‚Di-visio regnorum‘, c. 4 (=  MGH Cap. 1, S.  128, Z. 1f.) Bezug: sicut quondam divisum est inter nos et fratrem nostrum Karlomannum. Insofern ist es nicht „merkwürdig […] dass Karl der Große sich anscheinend bewusst war, dass es zu blutigen Kämpfen um sein Erbe kommen könnte“, wie Hartmann 2010, S. 239, meint.

108 Und auch in seinem die ‚Divisio regnorum‘ kommentierenden Gedicht ‚Quod potestas impatiens consortis sit‘ bemerkt Theodulf von Orléans, dass schon in der Heiligen Schrift von der gegenseitigen Ermordung von Königsbrü-dern die Rede sei, weshalb dies in der Gegen-wart unbedingt zu verhindern sei: Carmen XXXIV, v. 1–12 (=  MGH PP 1, S.  526): Fabula Geryonem tricipem regnasse canit, quod / Unum cor potuit fratribus esse tribus. / Pagina veridico recinit sermone beata, / Figmenta exsuperans omnia lege pia, / Terrea germanos ob regni cul­mina reges / Crudeli quosdam fraude dedisse neci. / Omnibus hoc votis, omni est hoc arte ca­vendum, / Ne nostro in saeclo tale quid esse queat.

werden,107 doch hatte ihre endgültige Aufhebung in der ‚Ordinatio imperii‘ von 817 ja gerade zum Aufstand und Tod des von ihr betroffenen Bernhard von Italien ge-führt.108 Einhart wusste genau, warum er hier assoziativ schreiben musste, denn er war es ja, der 806 die ‚Divisio regnorum‘ dem Papst zur Unterfertigung nach Rom überbracht hatte.109 Wie einst sein Vater 774 hatte Ludwig der Fromme mit der töd-lichen Blendung Bernhards 818110 dieselbe familiäre Konstellation heraufbeschwo-ren: Der legitime Erbe des verstorben Bruders war zugunsten der eigenen Söhne be-seitigt worden. Vom Mord an den Brudersöhnen aber profitierte zweimal nur der Zweig der Familie, aus dem Ludwig und seine Kinder hervorgegangen waren.

Doch diese Karolingerlinie hatte ein gravierendes Problem und dies wussten nicht nur ihre Gegner in der Familie.111 Karls neue Ehe mit Hildegard war illegitim, da seine Verbindung mit der Langobardenprinzessin eine vollgültig geschlossene Ehe war, wie später noch Paschasius Radbertus und Einhart in den Viten ihrer Protagonisten

42 | Matthias M. Tischler

sen Witwe dann Veranlassung gab, sich zu De-siderius, Karls brüskiertem Schwiegervater, zu flüchten) oder erst nach dem Tod des Bruders, als die unverhoffte Aussicht auf die eigene Al-leinherrschaft Karl die Bindung an den Hof von Pavia als lästige Fessel erscheinen ließ.“ Kasten 1986, S. 20, Anm. 34, entscheidet sich für eine Verstoßung vor dem Tod Karlmanns. Vergleiche aber Anm. 117.

116 Wie Anm. 117.117 Vergleiche Vita Adalhardi, c. 7 (= MPL 120, Sp.

1511, Z. 29–40): Unde factum est, cum idem im­perator Carolus desideratam Desiderii regis Ita­lorum filiam repudiaret, quam sibi dudum etiam quorumdam Francorum juramentis petierat in conjugium; ut nullo negotio beatus senex persua­deri posset, dum esset adhuc tiro palatii, ut, ei quam vivente illa rex acceperat, aliquo communi­caret servitutis obsequio; sed culpabat modis om­nibus tale connubium, et gemebat puer beatae indolis, quod et nonnulli Francorum eo essent perjuri, atque rex illicito uteretur thoro, propria, sine aliquo crimine, repulsa uxore. Man muss hier genau auf die verwendeten Herrschertitel und Tempora achten: Paschasius datiert die Verstoßung der langobardischen Ehefrau in die Zeit der Alleinherrschaft Karls nach dem Tod Karlmanns („imperator“, d. h. König bei-der „regna“), die Beziehung mit Hildegard aber noch in dessen Lebenszeit („rex“).

112 Vergleiche Vita Adalhardi, c. 7 (=  MPL 120, Sp. 1511, Z. 32f.): quam [sc. Desiderii regis Ita-lorum filiam] sibi dudum […] petierat in conju­gium; vergleiche Fried 2012, S.  138; Vita Ka-roli, c. 18 (=  MGH SRG 25, S.  22, Z. 4–6): Deinde cum matris hortatu filiam Desiderii re­gis Langobardorum duxisset uxorem; verglei-che Fried 2012, S.  138. Die Bezeugung der tatsächlichen Heirat nur in diesen beiden jün-geren Texten ist nicht anzuzweifeln, weil sonst der hier von Paschasius Radbertus the-matisierte Ehebruch (wie Anm. 117) nicht er-klärbar wäre und auch Einharts darauf reagie-rendes Schweigen (wie Anm. 73) nicht plausi-bel gemacht werden könnte. Ohne Belege hierfür vorzubringen, behauptet McKit-terick 2008, S.  88–90, dass diese Ehe nur geplant, aber nicht zustande gekommen sei. Das trifft freilich nicht zu: Vergleiche Hart-mann 2009, S. 97, Anm. 550.

113 Wie Anm. 81f.114 Wie Anm.  73. In der jüngeren Reichenauer

Chronistik des 11.  Jahrhunderts wird daraus eine baldige Zurückweisung: statim eam repu­diavit, Hermannus Contractus, Chronicon (= MGH SS 5, S. 100, Z. 1); Chronicon Suevicum universale (= MGH SS 13, S. 63, Z. 20).

115 Vergleiche Schieffer 1997, S. 73: „Die Zeitan-gabe lässt offen, ob dieser Entschluss noch vor dem Tod Karlmanns gefasst wurde (und des-

Adalhart und Karl eingestehen müssen.112 Hildegard wird daher, wie wir bereits se-hen konnten, in der älteren offiziösen Geschichtsschreibung des Hofes nur sehr zö-gerlich erwähnt.113 Dem entspricht die absichtsvoll wage Angabe Einharts, zwischen der Heirat und der Verstoßung der Langobardin habe ein Zeitraum von einem Jahr gelegen,114 ohne letzteres Ereignis angeblich näher begründen zu können. Damit hält Einhart bewusst offen, ob Karls Entschluss der Verstoßung noch vor oder erst nach Karlmanns Tod gefallen war.115 Denn Einhart weiß, dass der von Karl nach Karlmanns Ableben in der Herrschaftsnachfolge übergangene Familienzweig um Adalhart, der ja gegen die neue Verbindung mit Hildegard war,116 sehr wohl den Grund und den Zeitpunkt der Verschmähung der einst ersehnten Langobardin kennt: Es war Karls Verhältnis mit einer anderen Frau noch zu Lebzeiten seiner langobardischen Ehe-frau, sein Konkubinat mit Hildegard.117 Mit Einharts Formulierung bleibt aber auch der genaue Zeitpunkt der bald folgenden Heirat mit der agilofingischen Alemannin Hildegard unbestimmt, wenngleich dieser Bund mit einer aus dem Reichsteil des Bruders stammenden Gemahlin für ein Datum nach dem Ableben des Bruders und der Annexion seines Reiches spricht, dessen Große er hierdurch auf seine Seite zu

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 43

122 Zwar war Wala, der große Kritiker Ludwigs des Frommen, in einer Nahehe mit einer uns na-mentlich nicht bekannten Frau verbunden (Ver-wandtschaftsverhältnis 3:2), doch stieß sich sein Biograph daran keineswegs; vergleiche Epitaphium Arsenii II 8 (= Dümmler/Traube (edd.) 1900, S.  69 Z. 5f.): eo quod olim uxorem sibi sororem ipsius [sc. Bernhardi de Septima-nia], filiam nobilissimi viri et magnificentissimi, duxerat [sc. Wala]; vergleiche Fried 1 2008, S. 167, Anm. 45; Fried 2012, S. 135 mit Anm. 54.

123 Im Gegensatz zu Karl dem Großen und seinem Berater Alkuin (wie Anm. 104; vergleiche Fried 1998, S. 94, Anm. 84; Fried 1 2008, S. 177f. mit Anm. 66 und 68, und S. 190 mit Anm. 89) sehen nämlich erst Ludwig der Fromme (und seine Berater) den älteren Bruder Pippin bzw. dessen Ehe als illegitim und damit auch dessen Sohn Bernhard als nicht erbberechtigt an; vergleiche Ordinatio imperii, c. 15 (= MGH Cap. 1, S. 273, Z. 3– 5): Si vero absque legitimis liberis aliquis eorum decesserit, potestas illius ad seniorem fratrem re­vertatur. Et si contigerit illum habere liberos ex concubinis, monemus ut erga illos misericorditer agat; Thegan, Gesta Hludowici imperatoris, c. 22 (= MGH SRG 64, S. 210, Z. 5–7): Ipso eodem anno Bernhardus, filius Pippini ex concubina natus, per exhortationem malorum hominum extollens se adversus patruelem suum, voluit eum a regno expellere. Johannes Fried erklärt diese von Karl dem Großen abweichende Sicht Lud-wigs des Frommen mit dem neuen, seit 814 in Aachen Einzug haltenden aquitanisch-west-

118 Vergleiche Lintzel 1929, S. 20; Ary 1981, S. 24. Letztmöglicher Termin hierfür ist der 30. April 772; vergleiche Abel/Simson 1888, S. 104f. mit Anm. 5, und S. 671–673, Excurs VI. Hartmann 2009, S. 99, und Hartmann 2010, S. 53, datie-ren die neue Eheverbindung auf Ende 771/An-fang 772. Gemeinhin datiert man die Geburt des ersten Sohnes Karls und Hildegards, Karls des Jüngeren, in die Zeit 772/773. Die von Merta 1992, S. 129–131, für vor Juli 771 vermu-tete Geburt sieht Schieffer 1997, S. 253, daher zu Recht mit großen Zweifeln.

119 Vergleiche Ubl 2007, S. 96f.; Fried 2012, S. 139.120 Sofort nach der Mitkaiserkrönung Herbst 813

schickt Karl seinen Sohn Ludwig ins Unterkö-nigreich Aquitanien zurück und lässt ihn auch nicht nach Aachen kommen, als sich sein Tod im Januar 814 ankündigt; vergleiche Boshof 1996, S. 89; Hartmann 2010, S. 237.

121 Vergleiche Astronomus, Vita Hludowici impe-ratoris, c. 21 (= MGH SRG 64, S. 346 Z. 14–20): Timebatur enim quam maxime Uuala, summi apud Karolum imperatorem habitus loci, ne forte aliquid sinistri contra imperatorem moliretur. Qui tamen citissime ad eum venit et humillima subiec­tione se eius nutui secundum consuetudinem Fran­corum commendans subdidit. Post cuius ad impe­ratorem adventum, emulati eum omnes Franco­rum proceres certatim gregatimque ei obviam ire certabant; vergleiche Ganshof 1948, S.  451; Weinrich 1963, S.  28 (mit Zweifeln an ‚An-sprüchen auf Thronfolge in einem Teilreich‘); Nelson 2000, S. 148f.

ziehen hoffte.118 Karl hatte mit Hildegard und ihren gemeinsamen Nachkommen zwar harte Fakten geschaffen, doch standen sie angesichts der sich verändernden Eheauffassungen zur Zeit seines allein übriggebliebenen Sprosses Ludwig auf zuneh-mend schwankendem Boden. Das Verbot der Scheidung von einer legitimen Ehefrau zu deren Lebzeiten zugunsten einer neuen Beziehung wird nämlich unter Ludwig ausdrücklich eingeschärft.119 Daher musste Einhart Karls ‚Ehe‘ mit Hildegard noch Jahrzehnte später auffallend stark legitimieren. In der Familie der Karolinger gab es einen Legitimitätsdiskurs, der Ludwigs Nachfolge bis in die letzten Lebensmonate seines Vaters in Frage gestellt hat. Nicht nur die zögerliche, distanzierte Haltung Karls zu seinem Sohn noch im Herbst 813 spricht Bände.120 Auch Ludwigs große Angst vor Walas Machtansprüchen Anfang 814121 war begründet, war dieser doch (neben dem betagten Adalhart) der einzige volljährige Karolinger mit einer Anwartschaft auf die Karlsnachfolge, weil er im Gegensatz zu Ludwig gerade nicht einem illegiti-men Verhältnis entsprungen war.122 Auch die zunächst rechtliche,123 dann faktische

44 | Matthias M. Tischler

honorem Hludowici I 565–600, hier 597–600 (826/828) (=  MGH PP 2, S.  23, und CHF 14, S. 50): ‚Si Deus e vestro Francorum semine regem / Ordinat, iste tuis sedibus aptus erit.‘ Haec paucis sapiens Carolus pandebat alumnis, / Quorum causa sibi credula sive placens; vergleiche Fried 1 2008, S. 187. Boshof 1996, S. 90 hat die beiden Vatizinien noch als mögliche Rechtfertigung der öffentlichen Kirchenbuße Ludwigs des Frommen in Attigny in Erwägung gezogen. de Jong 2009, S.  20 beachtet nicht den dramati-schen Charakter dieser Legitimierung, weil sie den Kontext der Vatizinien übersieht.

127 Vergleiche Theganus, Gesta Hludowici impera-toris, c. 2 (= MGH SRG 64, S. 176–178); verglei-che Fried 2012, S.  137. Auch der folgende ge-schichtliche Exkurs in c. 3 dient der Legitimie-rung der Herrschaft Ludwigs. Hier wird dessen Überlegenheit im Vergleich zu den Brüdern in eine konzise Geschichte jüngerer Söhne einge-ordnet, die im Gegensatz zu ihren älteren Brü-dern zur Herrschaft gekommen waren: Thega-nus, Gesta Hludowici imperatoris (= MGH SRG 64, S. 178).

128 Der Astronomus weiß schließlich sogar zu be-richten, dass Karl schon bei der Geburt seines Sohnes Ludwig diesem sein (Teil)Reich überge-ben habe und daher zugleich Anordnungen zu seiner Verwaltung getroffen habe; vergleiche Astronomus, Vita Hludowici imperatoris, c. 3 (= MGH SRG 64, S. 290, Z. 2 – S. 292, Z. 4).

129 Hier sticht Nitharts positive Haltung Ludwig gegenüber und seine ausdrückliche Betonung der gültigen Ehe (iustum matrimonium) Karls des Großen besonders ins Auge; vergleiche Nithardus, Historiarum libri IV, hier I 2 (= MGH 44, S. 2, Z. 8–26, und CHF 7, S. 4, Z. 17 – S. 6, Z. 3, und S.  6, Z. 7  – S.  8, Z. 1): Heres autem tante sublimitatis Lodhuwicus, filiorum eius iusto mat­rimonio susceptorum novissimus, ceteris deceden­tibus successit. Qui ut pro certo patrem obisse com­perit, Aquis ab Aquitania protinus venit […] Initio quidem imperii suscepti pecuniam ingenti numero a patre relictam trifariam dividere iussit et unam partem causa funeris expendit, duas vero inter se

gotischen Rechtsverständnis, das an die Beur-teilung naher Verwandtschaftsgrade strengere Maßstäbe als bisher anlegt; vergleiche Fried 1998, S. 96; Fried 2006, S. 20f.; Fried 1 2008, S.  191. Zu ‚Verwandt-Sein‘ im Frühmittelalter vergleiche jetzt Goetz 2008; Lubich 2008. Zu den Ehe-, Illegitimitäts- und Erbrechtsvorstel-lungen dieser Zeit vergleiche auch die älteren Darstellungen von Sickel 1903; Mikat 1978; Kottje 1990.

124 Jarnut 1989; Werner 1990, S.  31– 54; De-preux 1992.

125 Die besondere Zuneigung Karls des Großen ge-genüber Pippin von Italien bezeugt Ermoldus Nigellus, In honorem Hludowici I 39 (=  MGH PP 2, S. 6, und CHF 14, S. 8): Italiae regnum Pip­pino cessit amato; Ad Pippinum regem II 173–176 (= MGH PP 2, S. 90, und CHF 4, S. 230): Alter, avi gestans nomen de nomine Pippin, / Italici regni dignus honore fuit, / Quem Carolus sapiens nimio dilexit amore, / Regem constituit, inclita dona de­dit; vergleiche Werner 1990, S. 32, Anm. 105.

126 Der Druck zum Nachweis der Legitimität der alleinigen Nachfolge Ludwigs des Frommen ist offenbar so groß geworden, dass hierfür Vatizi-nien von gleich zwei herausragenden Gelehr-tenpersönlichkeiten aus der Zeit Karls des Gro-ßen bemüht werden müssen: So sollen Paulinus von Aquileja († 802) und Alkuin († 804) noch vor dem Ableben seiner Brüder Ludwig als den einzig wahren Nachfolger Karls empfohlen ha-ben; vergleiche Ebenbauer 1978, S. 105; God-man 1985, S. 263f.; Godman 1987, S. 116; Wer-ner 1990, S.  29 mit Anm.  97; Boshof 1996, S. 89f.; Depreux 1998, S. 202 mit Anm. 27, und S. 214; Fried 1998, S. 102. Die Stellen sind Vita Alcuini, c. 15 (821/829 bzw. 826/829) (=  Jaffé, BRG 6, S. 23f., und MGH SS 15.1, S. 192f.); zu die-ser Biographie vergleiche Wattenbach/Levi-son/Löwe 1953, S. 236; Bullough 1973, S. 573, und 577– 583; Berschin 1991, S.  176–182; von Padberg 1997, S.  34–37; Bullough 2004, S.  21f., 24–30, 33, 164, 168, 227, 229, S.  301, Anm.  151, S.  328, 419, und 435; Hageneier 2004, S.  144, Anm.  97. Ermoldus Nigellus, In

Beseitigung Bernhards von Italien 817/818124 im Vergleich zu Karls bevorzugender Behandlung seines Enkels seit 806,125 ferner die auffallende Legitimierung Ludwigs des Frommen in zwei Vatizinien der 820er Jahre126 und die Betonung der Legitimität Ludwigs selbst noch bei Thegan 836/837,127 beim Astronomus um 840128 und bei Nithart um 843129 zeigen, dass 814 der Stabwechsel von Karl auf Ludwig überhaupt

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 45

stellung seines Großonkels Wala, des Pfalzgra-fen in Aachen, mehr als bezeichnend: wie Anm. 121. Offensichtlich muss sich Ludwig auf dem Weg nach Aachen erst einmal an einzelnen Orten eine möglichst große Anhängerschaft verschaffen, um dort bestehen zu können; ver-gleiche Boshof 1996, S. 91. Ermoldus Nigellus spricht bezeichenderweise von einer ‚Friedens-fahrt‘ (tramen pacificum) Ludwigs von Aquita-nien nach Aachen; vergleiche Ermoldus Nigel-lus, In honorem Hludowici, II 135 und 152 (=  MGH PP 2, S.  28, und CHF 14, S.  62): Unus amor cunctis erat, omnibus una voluntas […] Tra­mite pacifico rex Aquis ingreditur; vergleiche Swinarski 1991, S.  379, Nr.  55. Auffallend ist auch, dass Thegan ausdrücklich vom fehlenden Widerspruch bei der Übernahme aller Teilrei-che im Augenblick des Herrschaftswechsels zu Ludwig dem Frommen spricht; vergleiche Gesta Hludowici imperatoris, c. 8 (= MGH SRG 64, S. 188, Z. 5f.): suscepit omnia regna, quę Deus tradidit patri suo, sine ulla contradictione; ver-gleiche Kasten 1986, S.  101. Nithart aber be-zeugt ausdrücklich illoyale Kräfte; vergleiche Historiarum libri IV, hier I 2 (=  MGH SRG 44, S. 2, Z. 11–14, und CHF 7, S. 6, Z. 3–6): quo un­dique ad se venientem populum absque quolibet impedimento suę ditioni addixit, de ceteris, qui sibi ‹minus› creduli videbantur, deliberaturus. Ludwigs Verhalten ist das Spiegelbild zu Karls sehr distanziertem Verhalten gegenüber sei-nem Sohn 813/814: wie Anm. 120.

131 Das steht den Bewertungen der Lage entgegen, die noch Schlesinger 1958, S.  217, bzw. Schieffer 1997, S.  112, gegeben haben: „Der Herrscherwechsel lief sozusagen automatisch ab“ bzw. „Nie zuvor und nie wieder in karolingi-scher Zeit fielen Macht und Verantwortung an der Spitze von Reich und Familie so mühelos einem Einzelnen zu wie Anfang 814 nach dem Tode Karls des Großen. Ludwig, der bisherige Unterkönig von Aquitanien und seit wenigen Monaten auch gekrönter Kaiser, war von Karls legitimen Söhnen allein übrig und eben darum [‚allen Bedenken zum Trotz‘, Zusatz 2000] der letztlich unanfechtbare Erbe, auch wenn er bis dahin der Führung des Imperiums ziemlich ferngestanden hatte und nicht eigens auf seine

et sorores suas a patre iusto matrimonio susceptas divisit, quas et instanter a palatio ad sua monaste­ria abire praecepit. Fratres quoque adhuc tenera aetate, Drugonem, Hugonem et Teodericum, par­ticipes mensae effecit, quos et in palatio una secum nutriri praecepit, et Bernardo nepoti suo, filio Pip­pini, regnum Italiae concessit. Qui quoniam ab eo paulo post defecit, capitur et a Bertmundo Lugdu­nensis provinciae praefecto luminibus et vita pari­ter privatur; vergleiche Schultze 1928, S.  64, 67–69, und 71–74; Patze 1972, S. 150; Nelson 1985, S. 270; Airlie 2007, S. 63; de Jong 2009, S. 98. Diese wichtige Passage bezeugt ein still-schweigendes Anknüpfen an das am Ende der ‚Vita Karoli‘ angehängte Testament Karls des Großen, das Nithart zwar nicht zitiert, das er aber – zumal als Enkel – gekannt haben dürfte. Da Nithart zunächst im Auftrag Karls des Kah-len schreibt, erklärt sich sein ausdrückliches Anknüpfen an das verehrungswürdige Geden-ken des gemeinsamen Großvaters; vergleiche Nithardus, Historiarum libri IV, Praefatio (= MGH SRG 44, S. 1, Z. 18–20, und CHF 7, S. 2, Z. 17–19): Avi quoque insuper vestri venerandam memoriam per omnia obmittere ratum minime vi­detur; ac per hoc textus hinc sumat exordium.

130 Denn auch schon die auffallend zögerliche An-näherung Ludwigs des Frommen aus Aquita-nien nach Aachen nach dem Tod seines Vaters spricht für eine nicht gesicherte Position des Sohnes bei der Herrschaftsübernahme. Und umgekehrt bezeugt der Astronomus die Verun-sicherung Theodulfs im Augenblick der Annä-herung Ludwigs an Orléans, als er den neuen Kaiser um Instruktionen bittet, wie er sich ver-halten soll; vergleiche Astronomus, Vita Hlu-dowici imperatoris, c. 21 (=  MGH SRG 64, S. 346, Z. 4–11): Qui cum Aurelianam devenisset ad urbem, Theodulfus eiusdem urbis episcopus, vir undecumque doctissimus, causam eius adven­tus persensit et velocissime misso perlatore impe­ratori innotescere studuit, hoc tantummodo ei suggerendum iubens, utrum prestolaretur venien­tem in urbem, an in itinere aliquo sibi occurreret venturo ad urbem. Quam causam ille protinus commentatus agnovit et ipsum venire ad se iussit. Insbesondere ist hier Ludwigs Angst vor den Machenschaften und der tatsächlichen Macht-

kein Selbstläufer war. Ludwigs zunächst sehr vorsichtiges Vorgehen,130 dann aber seine rasche Ausschaltung der Verwandten Adalhart, Wala und anderer zeigt seinen Realitätssinn im keineswegs entschiedenen Machtspiel des Jahres 814.131

46 | Matthias M. Tischler

usque velint amore diuturnitatis inlecti aliorum praeclara facta qualibuscumque scriptis inserere quam sui nominis famam posteritatis memoriae nihil scribendo subtrahere, tamen ab huiuscemodi scriptione non existimavi temperandum, quando mihi conscius eram nullam ea veracius quam me scribere posse, quibus ipse interfui, quaeque prae­sens ocultata, ut dicunt, fide cognovi et, utrum ab alio scriberentur necne, liquido scire non potui.

134 Vergleiche Vita Karoli, Praefatio (=  MGH SRG 25, S. 1, Z. 1–4, und S. 2, Z. 1–3): Vitam et conver­sationem […] res gestas domni [domini ed.] et nu­tritoris mei Karoli […] postquam scribere animus tulit […] nutrimentum videlicet in me inpensum et perpetua […] cum ipso ac liberis eius amicitia.

135 Vergleiche Walahfridus Strabus, Prologus (=  MGH SRG 25, S.  XXIX, Z. 1–7): Predictus

historische Rolle vorbereitet worden war, da der Vater viele Jahre hindurch eher mit seinem älteren Sohn Karl als Nachfolger rechnete.“ Sein Urteil über eine scheinbar problemlose Herrschaftsübergabe 814 hat Schieffer auch später nicht revidiert; vergleiche Schieffer 2005, S. 111: „Als Karl der Große am 28. Januar 814 in Aachen starb und begraben wurde, ging seine Machtfülle somit unangefochten auf Lud-wig über.“

132 Vergleiche Goetz 1993, S. 234.133 Vergleiche Vita Karoli, Praefatio (=  MGH SRG

25, S.  1, Z. 10–22): Et quamquam plures esse non ambigam, qui otio ac litteris dediti statum aevi praesentis non arbitrentur ita neglegendum, ut omnia penitus quae nunc fiunt velut nulla memo­ria digna silentio atque oblivioni tradantur, poti­

Karolingische Erinnerung. Redendes Schweigen und verschweigendes Reden

Es dürfte deutlich geworden sein, warum die karlskritischen Stimmen eines Paschasius Radbertus in Corbie und anderer in den frühen 820er Jahren eine dritte Option zwi-schen totalem Schweigen und totalem Reden in der Erinnerung an Karl den Großen und seiner Familie verlangte. Zu dieser Haltung des redenden Schweigens und ver-schweigenden Redens war nur eine Persönlichkeit befähigt, die zur endlich fälligen Verschriftlichung eines offiziösen Karlsbildes als glaubwürdigster Augenzeuge legiti-miert war.132 In Abgrenzung zu den nur angedeuteten konkurrierenden Meinungen, die auf ein in Bewegung geratenes Karlsbild hinweisen, konnten Einharts auffällige Selbst-legitimierung und seine verräterische Betonung der Augenzeugenschaft auf Dauer nicht unbemerkt bleiben.133 Einhart schweigt genau an den problematischen Stellen der Familiengeschichte der Karolinger. Dies ermöglicht uns neue Einsichten in das Wesen der karolingischen Erinnerung:

a) Die karolingische Memoria besitzt in doppelter Hinsicht ‚familiären‘ Charakter: Sie ist einerseits stark auf die biologische Größe familia konzentriert, aber sie wird auch massiv von der familia als Sippe bestimmt, der ‚adoptierte‘ Vertraute angehören, die ihre Erinnerung maßgeblich prägen. Zu diesen Vertrauten zählen auch die engsten An-gehörigen am Hof (aula) wie Paulus Diaconus, Einhart und andere. Bekannt ist die tat-sächliche Nähe Einharts zu Karl, die er im Vorwort zu seiner Karlsbiographie ausdrück-lich betont: Karl sei sein Herr und Ernährer gewesen, mit ihm selbst und seinen Kindern habe er Freundschaft gepflegt.134 Diese besondere Nähe Einharts zu Karl wird aber auch von anderen bezeugt, so insbesondere von Walahfrid Strabo im Vorwort zu seiner Neu-ausgabe der ‚Vita Karoli‘, insofern der Kaiser Einhart mehr Persönliches und Geheimes mitgeteilt habe als irgendjemand anderem.135 Und auch Hrabanus Maurus erwähnt in

Karolingisches Schweigen und Karolingisches Reden | 47

indigni sumus, omnino tacere, quamvis indocti ne­quimus. Zumindest seine Augenzeugenschaft zu Walas Leben erwähnt Paschasius Radbertus auch am Anfang des Epitaphium Arsenii I, Prae fatio (=  Dümmler/Traube (edd.) 1900, S.  19, Z. 4f.): Unde exordiar narrare partim que perspexi his oculis, partim quae accepi auribus, et mente plenius intellexi.

139 Vergleiche Paschasius Radbertus, Vita Adal-hardi, c. 7 (= MPL 120, Sp. 1511, Z. 29, und 47f. sowie Sp. 1512, Z. 2– 5): etiam multis oblectatus blanditiis […] nec considerans propinquitatis jura […] Unde et voluit magis cum Christo mente inge­nuus crucis ignominiam ferre, ut fortia quaeque confunderet, quam si etiam adoptaretur in reg­num, ut esset regis filius; vergleiche Kasten 1986, S.  25. Diese Stelle ist bei Hlawitschka 1976 nicht berücksichtigt.

140 Zeugnis hierfür ist Radberts Werk ‚De partu Virginis‘, Praefatio (=  CChrCM 56 C, S.  47, Z. 1–6): Venerabili Matronae Christi, una cum sacris virginibus Vesona monastice degentibus, P. R. mo­nachorum omnium peripsema. Quaestionem ca­rissimae, de partu beatae Mariae virginis mihi nuper allatam vobis persolvere decrevi; quoniam vos eam plurimum amare non ambigo ut ex hoc sciatis quantum vos diligam, longe diu a puero ves­ter alumnus, multo iam senio confectus; verglei-che Fried 2007, S. 91. Auch seinen Kommentar zu Ps 44 hat Paschasius Radbertus der Theod-rada und ihrem Konvent gewidmet: Paschasius Radbertus, Expositio in psalmum XLIV (=  CChrCM 94, S.  1–107); vergleiche de Jong 1996, S. 126f., und 180.

itaque homuncio – nam statura despicabilis vide­batur  – in aula Karoli, amatoris sapientiae, tan­tum gloriae incrementi merito prudentiae et probi­tatis est assecutus, ut inter omnes maiestatis regiae ministros paene nullus haberetur, cui rex id tempo­ris potentissimus et sapientissimus plura familia­ritatis suae secreta committeret.

136 Vergleiche Hrabanus Maurus, Carmina, Nr. LXXXV (= MGH PP 2, S. 238, V. 7f.): Quem Ca­rolus princeps propria nutrivit in aula, / Per quem et confecit multa satis opera. Zur Bedeu-tung von nutritor vergleiche Ganz 1997, S. 302; Schefers 1997, S. 82.

137 Man wird beide, zumindest aber Wala, zu jenen Höflingen zählen, die Paschasius Radbertus als von Ludwig wie von seinem Vater Karl ‚genährt‘ bezeichnet, die dann aber wegen der Hofintrige Bernhards von Septimanien von Ludwig vom Hofe vertrieben worden seien; vergleiche Epi-taphium Arsenii II 9 (=  Dümmler/Traube (edd.) 1900, S.  71, Z. 12–15): ut omnes repelleret [sc. Hludowicus], quos aut ipse aut magnus pater eius imperator nutrierat, a secreto, a colloquio, a familiaritate et consilio, a fidei fide, ab honoribus, et ab omni consortio prioris vitae.

138 Die Verpflichtung zur Erinnerung Adalharts wegen seiner Augenzeugenschaft und der Ver-trautheit mit ihm nennt Paschasius in Vita Adalhardi, c. 2 (= MPL 120, Sp. 1509, Z. 9–15): Et si non assequi eorum jura facundiae queo, mate­riam tamen loquendi scias non deesse; quia eum recolere scribendo cupio virum, quem sanctum et admirabilem universus pene praedicat orbis; quem quia vidimus, et usi familiaritatis ejus amore, licet

seinem Grabepitaph auf Einhart dessen ‚Ernährung‘ durch Karl und die hierdurch er-möglichten zahlreichen Großtaten.136 Paschasius Radbertus nimmt eine mit Einhart vergleichbare Rolle ein.137 Auch er ist Vertrauter der Karolingerfamilie, aber in jenem Zweig, der zeitweilig mit Karl dem Großen, dann v. a. aber mit Ludwig dem Frommen um Macht und Einfluß ringt: Es ist der Familienzweig um Adalhart, Wala und Bernhard von Italien.138 Adalhart aber wechselt Zeit seines Lebens zwischen seinem und Karls Familienzweig, seitdem er Karls Angebot auf eine ‚Adoption‘ ausgeschlagen hat.139 Pa-schasius wird im Marienkloster von Soissons erzogen.140 Äbtissin ist zu dieser Zeit aber Theodrada, die Schwester Adalharts und Halbschwester Walas, die Ehefrau Pippins von Italien und Mutter Bernhards von Italien. Sie bietet die Gewähr von bestem Insider-wissen der Familie, und dies erklärt, warum Paschasius Radbertus‘ biographische Werke zu Adalhart und Wala so brisante Interna der Karolingerfamilie liefern, die uns Einhart und andere Günstlinge des Karlszweiges bewusst vorenthalten.

48 | Matthias M. Tischler

vidually poor. The most famous are quasi-of-ficial, apparently inspired by the royal court (if not actually written there). Others, relatively underplayed in modern historiography, are re-gional productions which sometimes suggest different readings.“ Zuletzt hat de Jong 2009, S.  59–111, eine Klassifizierung zentraler Texte des 9. Jahrhunderts zu den Geschehnissen rund um Ludwig den Frommen vorgenommen, ohne aber deren familienbedingten Milieus und Dis-kurse näher herauszuarbeiten. Sie geht hierbei leider nicht näher auf die ‚Vita Adalhardi‘ des Paschasius Radbertus ein.

144 Fried 2004.

141 Zu ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ im Mittelalter ver-gleiche von Moos 1998; von Moos 2004.

142 Vergleiche Landwehr 2001, S. 115f.143 Im Gegensatz zu Fried 1998, S.  103; Nelson

2009, S. 14, setze ich bei der hier angesproche-nen ‚Zentrum-Peripherie-Konstellation‘ den Akzent weniger auf ‚Reichsgeschichte‘, denn auf ‚Familiengeschichte‘; vergleiche hierzu schon, wenn auch noch ohne weitere innerfa-miliäre Differenzierung Innes/McKitterick 1994, S.  202. Vergleiche auch die interessante Charakterisierung der frühen Annalistik von Nelson 2009, S. 14: „The annalistic sources for Charlemagne’s reign are for the most part indi-

b) Dieser familiäre Charakter der Erinnerung bestimmt auch die Publiken und die in und mit ihnen geführten Diskurse. Tatsächlich hat uns die Entkontextualisierung von Texten durch die moderne Editionen die von den Autoren intendierten und tatsächli-chen Auditorien und Lesezirkel aus dem Gesichtsfeld verschwinden lassen. Es bedarf in der Erinnerungskritik daher einer neuen Sensibilisierung für den öffentlichen und privaten Charakter von Memoria, bei allen Schwierigkeiten, die mit einer klaren Schei-dung dieser Sphären im Mittelalter verbunden sind.141 Wir müssen neu fragen, wo was zu welchem Zweck geäußert, aber auch nicht geäußert worden ist.142

c) Dies führt uns zur Einsicht, dass es eine doppelte Topographie der Memoria gibt, die es zu beschreiben gilt: Die Erinnerungssplitter in den Narrativen sind von den familiä-ren und geographischen Kontexten gar nicht zu trennen.143 Dies bedeutet aber, dass wir künftig die karolingische Erinnerungsliteratur viel stärker aus der Perspektive der di-versen Milieus dieser Familie lesen müssen. Wir brauchen daher dringend eine proso-pographische Topographie der karolingischen Erinnerungskultur und ihrer Techniken, und zwar auf der Grundlage der von Johannes Fried entwickelten Memorik.144

Prof. Dr. Matthias Martin TischlerInstitució Catalana de Recerca i Estudis Avançats/Universitat Autònoma de Barcelona Edifici B, Campus de la UAB, E E-08193 Bellaterra