Ab osse ad os. Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung, Gebäranstalten und die Schicksale...

10
AfF 4/2013 143 t Aufsatz Christian Hoffarth Ab osse ad os Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung, Gebäranstalten und die Schicksale schwangerer Frauen im 19. Jahrhundert che Sammlungen existierten zu jener Zeit auch andernorts, beispielsweise in Straßburg 5 , Göttingen 6 , Marburg 7 und Berlin 8 , sind aber offenbar nur in wenigen Fällen erhalten geblieben. Da Methoden zum nicht-invasiven Einblick in den menschlichen Körper wie das Röntgen noch nicht zur Verfügung standen, dienten die Objekte zunächst im Rah- men des gynäkologischen Studiums zur Veranschaulichung von Deformitäten, die zur Erschwerung oder Unmöglichkeit einer natürlichen Geburt führen konnten. Über das Phäno- men des ‚engen Beckens‘ publizierten Michaelis und Litz- – eine Kollektion zur Illustration der von Michaelis und Litzmann begründeten Lehre vom engen Becken (med. Diss), Kiel 2010. Die Verfasserin stellt ihren Ausführungen zum ‚engen Becken‘ sowie einer Untersuchung des Knochenmaterials nach modernen medizinischen Maßstäben eine knappe historische Einführung voraus, die aber zur Gänze auf einer sehr selektiven Auswahl an Sekundärliteratur von zum Teil fragwürdiger wissenschaftlicher Substanz fußt. 5 Eine von Georg Wilhelm Stein d. Ä. (1737–1803) angelegte Sammlung wurde 1872 von der Straßburger Entbindungsanstalt aufgekauft. 6 Vgl. URL: http://www.universitaetssammlungen.de/sammlung/533. 7 Vgl. Metz-Becker (wie Anm. 1), S. 62 u. 131. 8 Vgl. URL: http://www.universitaetssammlungen.de/sammlung/826. Einleitung D er für das traditionelle Konzept der Familie so be- deutsame Komplex der Geburt durchlief im 18. und 19. Jahrhundert einen Wandel. Hatten Kreißende ihre Kinder zuvor in der Regel im privaten Raum mit der Hilfe von Hebammen – im Sprachgebrauch der Zeit ‚Bade- mütter‘, ‚Weißfrauen‘ etc. – zur Welt gebracht, wurde der Geburtsvorgang durch die Etablierung der Gebärhäuser nun in die Öffentlichkeit verlagert, Schwangere, zunächst insbesondere mittellose, zu Patientinnen und damit zu Gegenständen der Schulmedizin gemacht. 1 Diese forcierte Akademisierung der Geburt, zu verstehen freilich im Nexus der ‚Geburt der Klinik‘, 2 hinterließ historiographisch und personengeschichtlich verwertbare Spuren, nicht nur in Ge- stalt schriftlicher Aufzeichnungen, sondern mitunter auch in Form leiblicher Relikte. Eine ebensolche Ausgangslage bestand bei einem Forschungsprojekt der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel, 3 dessen Ergebnisse im Folgenden ausschnittsweise vorgestellt werden sollen. Neben einer Vielzahl anderer beeindruckender Zeugnisse von Theorie und Praxis der Heilkunde in früheren Zeiten findet sich in den Beständen besagten Kieler Museums, ver- wahrt in einem schlichten Vitrinenschrank, eine Kollektion weiblicher Becken aus dem 19. Jahrhundert. Zusammenge- tragen von den Direktoren der im Jahre 1805 gegründeten Kieler Gebär- und Hebammenlehranstalt Gustav Adolf Michaelis (1798–1848) und Carl Conrad Theodor Litzmann (1815–1890), handelt es sich um Präparate verformter Be- ckenknochen von Frauen, die unter der Geburt eines Kindes oder bald darauf im Gebärhaus verstorben waren. 4 Ähnli- 1 Beides, ‚Öffentlichkeit‘ der Geburt wie der Status der Gebärenden als ‚Gegenstände‘, ist durchaus wörtlich zu verstehen. So wurden Entbindungen in den universitären Häusern vielfach unter den Augen (und Händen) ganzer Gruppen von Studenten vollzogen, die Gebärenden galten Ärzten als lebende Fantome“, wobei ‚Fantom‘ im medizinischen Sinne als Torsopräparat für gynäkologische Übungen zu verstehen ist. Vgl. Marita Metz- Becker, Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1997, S. 192–200. 2 Nach Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973 (zuerst französisch: Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical, Paris 1963). 3 S. URL: http://www.med-hist.uni-kiel.de. 4 Zur medizinischen Seite s. Rita Wellhausen, Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung des früheren 19. Jahrhunderts Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung, jetzt: Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung.

Transcript of Ab osse ad os. Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung, Gebäranstalten und die Schicksale...

AfF 4/2013 143t

AufsatzChristian Hoffarth

Ab osse ad os

Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung, Gebäranstalten und die Schicksale schwangerer Frauen im 19. Jahrhundert

che Sammlungen existierten zu jener Zeit auch andernorts, beispielsweise in Straßburg5, Göttingen6, Marburg7 und Berlin8, sind aber offenbar nur in wenigen Fällen erhalten geblieben. Da Methoden zum nicht-invasiven Einblick in den menschlichen Körper wie das Röntgen noch nicht zur Verfügung standen, dienten die Objekte zunächst im Rah-men des gynäkologischen Studiums zur Veranschaulichung von Deformitäten, die zur Erschwerung oder Unmöglichkeit einer natürlichen Geburt führen konnten. Über das Phäno-men des ‚engen Beckens‘ publizierten Michaelis und Litz-

– eine Kollektion zur Illustration der von Michaelis und Litzmann begründeten Lehre vom engen Becken (med. Diss), Kiel 2010. Die Verfasserin stellt ihren Ausführungen zum ‚engen Becken‘ sowie einer Untersuchung des Knochenmaterials nach modernen medizinischen Maßstäben eine knappe historische Einführung voraus, die aber zur Gänze auf einer sehr selektiven Auswahl an Sekundärliteratur von zum Teil fragwürdiger wissenschaftlicher Substanz fußt.

5 Eine von Georg Wilhelm Stein d. Ä. (1737–1803) angelegte Sammlung wurde 1872 von der Straßburger Entbindungsanstalt aufgekauft.

6 Vgl. URL: http://www.universitaetssammlungen.de/sammlung/533.7 Vgl. Metz-Becker (wie Anm. 1), S. 62 u. 131.8 Vgl. URL: http://www.universitaetssammlungen.de/sammlung/826.

Einleitung

Der für das traditionelle Konzept der Familie so be-deutsame Komplex der Geburt durchlief im 18. und 19. Jahrhundert einen Wandel. Hatten Kreißende

ihre Kinder zuvor in der Regel im privaten Raum mit der Hilfe von Hebammen – im Sprachgebrauch der Zeit ‚Bade-mütter‘, ‚Weißfrauen‘ etc. – zur Welt gebracht, wurde der Geburtsvorgang durch die Etablierung der Gebärhäuser nun in die Öffentlichkeit verlagert, Schwangere, zunächst insbesondere mittellose, zu Patientinnen und damit zu Gegenständen der Schulmedizin gemacht.1 Diese forcierte Akademisierung der Geburt, zu verstehen freilich im Nexus der ‚Geburt der Klinik‘,2 hinterließ historiographisch und personengeschichtlich verwertbare Spuren, nicht nur in Ge-stalt schriftlicher Aufzeichnungen, sondern mitunter auch in Form leiblicher Relikte. Eine ebensolche Ausgangslage bestand bei einem Forschungsprojekt der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel,3 dessen Ergebnisse im Folgenden ausschnittsweise vorgestellt werden sollen.Neben einer Vielzahl anderer beeindruckender Zeugnisse von Theorie und Praxis der Heilkunde in früheren Zeiten findet sich in den Beständen besagten Kieler Museums, ver-wahrt in einem schlichten Vitrinenschrank, eine Kollektion weiblicher Becken aus dem 19. Jahrhundert. Zusammenge-tragen von den Direktoren der im Jahre 1805 gegründeten Kieler Gebär- und Hebammenlehranstalt Gustav Adolf Michaelis (1798–1848) und Carl Conrad Theodor Litzmann (1815–1890), handelt es sich um Präparate verformter Be-ckenknochen von Frauen, die unter der Geburt eines Kindes oder bald darauf im Gebärhaus verstorben waren.4 Ähnli-

1 Beides, ‚Öffentlichkeit‘ der Geburt wie der Status der Gebärenden als ‚Gegenstände‘, ist durchaus wörtlich zu verstehen. So wurden Entbindungen in den universitären Häusern vielfach unter den Augen (und Händen) ganzer Gruppen von Studenten vollzogen, die Gebärenden galten Ärzten als „lebende Fantome“, wobei ‚Fantom‘ im medizinischen Sinne als Torsopräparat für gynäkologische Übungen zu verstehen ist. Vgl. Marita Metz-Becker, Der verwaltete Körper. Die Medikalisierung schwangerer Frauen in den Gebärhäusern des frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1997, S. 192–200.

2 Nach Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973 (zuerst französisch: Naissance de la clinique. Une archéologie du regard médical, Paris 1963).

3 S. URL: http://www.med-hist.uni-kiel.de.4 Zur medizinischen Seite s. Rita Wellhausen, Die Kieler

geburtshilfliche Beckensammlung des früheren 19. Jahrhunderts

Die Kieler geburtshilfliche Beckensammlung,jetzt: Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung.

AfF 4/2013144 u

Christian Hoffarth

man, dieses Material samt älteren Studien zur Ge-schichte der institutiona-lisierten Geburtshilfe zu überblicken, so lässt sich ein wesentlicher Deu-tungsdualismus ausma-chen. Während man in der neueren Forschung zeigen möchte, dass die Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe in erster Linie als Unterwerfung der „unwissenschaftlich ‚veranlagte[n]‘ Frau“ un-ter das „Theorem einer weiblichen Sonderanth-ropologie“ zu verstehen sei,13 war die ältere dem traditionellen Selbstbild der Ärzteschaft verhaftet und beurteilte den listig

erzwungenen Übergang der Geburtshilfe aus den Händen der auf Grundlage volkstümlichen Überlieferungswissens arbeitenden Hebammen auf Schulmediziner14 demgemäß als notwendigen Schritt eines Sublimationsprozesses.15 Zwar

Schlumbohm (Hrsg.), Rituale der Geburt. Eine Kulturgeschichte (= Beck’sche Reihe, 1280), München 1998 (allg.); Katja Regenspurger, Die Frau als Gegenstand der Geburtshilfe. Accouchierhauspolitik und weibliches Selbstverständnis um 1800, in: Julia Frindte (Hrsg.), Handlungsspielräume von Frauen um 1800 (= Ereignis Weimar-Jena, 10), Heidelberg 2005, S. 77–90 (allg.); Marion Stadlober-Degwerth, (Un)Heimliche Niederkunften. Geburtshilfe zwischen Hebammenkunst und medizinischer Wissenschaft, Köln/Weimar/Wien 2007 (für Regensburg); Henrike Hampe, Zwischen Tradition und Instruktion. Hebammen im 18. und 19. Jahrhundert in der Universitätsstadt Göttingen (= Beiträge zur Volkskunde in Niedersachsen 14), Göttingen 1998 (für Göttingen); Stefan Wolter,

„Ein Accouchier Hospital würde diesen Mangel bald ersetzen“. Von der „Weiberkunst“ zur Wissenschaft. Die Entwicklung der Geburtshilfe im 18. und frühen 19. Jahrhundert am Beispiel Eisenach, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 53 (1999), S. 113–150 (für Eisenach und Jena); Astrid Ley/Marion Maria Ruisinger (Hrsgg.), Von Gebärhaus und Retortenbaby. 175 Jahre Frauenklinik Erlangen, Erlangen 2003 (für Erlangen); Susanne Preußler, Hinter verschlossenen Türen. Ledige Frauen in der Münchner Gebäranstalt (1832–1853) (= Münchner Beiträge zur Volkskunde, 4), München 1985 (für München); Metz-Becker (wie Anm. 1) (für Marburg).

13 Metz-Becker, S. 55.14 S. zu diesem Prozess, sauber aus den Quellen belegt, ebd., S. 33–

40. Mit besonderer Aggressivität kämpfte Friedrich Benjamin Osiander (1759–1822) gegen die Hebammen, alles daran setzend, sie aus dem Gewerbe zu verdrängen.

15 Ein kritischer Überblick der Forschungsgeschichte, der diesen Gegensatz deutlich herausstellt, bei Hampe, S. 18–25. Hampe weist auch darauf hin, dass unter feministisch geprägten Wissenschaftlern Tendenzen bestehen, in bewusst eingenommenem Antagonismus zu den traditionellen Deutungen

„genauso einseitig blind“ die entgegengesetzte Meinung zu dogmatisieren (Hampe, S. 22 mit Anm. 1). Der gesamte Komplex

mann maßgebliche Studi-en, denen die Sammlung als Grundlage diente.9 Wenigstens bei den Kieler Stücken ist als Ursache der Skelettmalformatio-nen ganz überwiegend eine Rachitiserkrankung auszumachen,10 d. i. eine Mangelernährungser-scheinung, hervorgerufen durch zu geringe Vita-min D-Aufnahme. Dieser Befund fügt sich zu der Tatsache, dass, wie im Folgenden exemplarisch dargestellt, die Knochen

fast ausnahmslos von Frauen aus notleidenden Bevöl-kerungsschichten stammen. Neben dem Studienzweck erfüllten die Sammlungen der noch jungen Universi-tätsgynäkologie – erstmals in deutschen Landen war die Geburtshilfe 1751 in Göttingen Teil des Medizinstudiums geworden – aber zweifellos auch die Funktion von Prestige-objekten der ehrgeizig untereinander konkurrierenden Ärzte.11 Michaelis, der in Göttingen studiert hatte und die dortige Beckensammlung kennengelernt haben dürfte, wird sich, als er in Kiel zum Direktor geworden war, zur Aufwertung seiner Einrichtung ein ähnliches Konvolut gewünscht haben.In den letzten drei Jahrzehnten sind die Accouchierhäuser des 18. und 19. Jahrhunderts verstärkt ins Interesse der Kulturwissenschaften gerückt. Davon zeugt eine Fülle von Veröffentlichungen aus medizinhistorischer, sozialge-schichtlicher und volkskundlicher Perspektive.12 Versucht

9 Gustav Adolf Michaelis, Das enge Becken nach eigenen Beobachtungen und Untersuchungen, hrsg. v. Carl Conrad Theodor Litzmann, Leipzig 1851; Carl Conrad Theodor Litzmann, Die Geburt bei engem Becken nach eigenen Beobachtungen und Untersuchungen, Leipzig 1884.

10 Vgl. Wellhausen, S. 4 und passim.11 So hob etwa Georg Wilhelm Stein d. Ä. während seiner Tätigkeit

in Marburg die dortige Sammlung als besonders rühmlichen Aspekt des Hauses hervor, nicht ohne seinen eigenen Beitrag mit Nachdruck zu unterstreichen: „Bekanntlich zeichnet sich durch Instrumenten- wie auch Beckensammlung (diese letztere freilich erst, aber da auch umso mehr, durch die dermalige Verbindung mit meinen eigenen Sachen) unsere Anstalt vor allen andern in Deutschland aus […]“. Georg Wilhelm Stein, Annalen der Geburtshülfe überhaupt und der Entbindungsanstalt zu Marburg ins besondere, Bd. 4, Leipzig 1811, S. 10.

12 In Auswahl: Hans-Christoph Seidel, Eine neue „Kultur des Gebärens“. Die Medikalisierung von Geburt im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland, Stuttgart 1998 (allg.); Jürgen

Kieler Hebammenanstalt in der Fleethörn, errichtet 1811, Ölgemälde, anonym, um 1840, Landes-bibliothek Schleswig-Holstein.

AfF 4/2013 145t

Ab osse ad os

Institution strömten.19 Und ebenso wie in anderen Städten war die Zahl der Geburten in der Kieler Einrichtung an-fangs auffallend niedrig, was darauf schließen lässt, dass sie, wiederum ganz in Einklang mit den überregionalen Gegebenheiten, unter der Bevölkerung lange Zeit in einem denkbar schlechten Ruf stand.20

Während für manch andere Stadt in den einschlägigen Veröffentlichungen neueren Datums mittlerweile auch Patientenbiogramme in Form familien- und sozialge-schichtlicher Verortung einzelner Accouchieranstalt-Pati-entinnen vorliegen, ist für Kiel kaum etwas Vergleichbares vorhanden.21 Diesem Mangel Abhilfe zu schaffen, war Ziel des Forschungsunternehmens, das im Hintergrund dieses Beitrags steht. Ausgehend von den erhaltenen Stücken der Beckensammlung, sollten biographische Skizzen der Frauen angelegt werden, die im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Kieler Anstalt verstorben waren und deren Körper daraufhin zu medizinischen Zwecken verwendet und in Teilen konserviert wurden. Dass dieser ungewöhnliche Ausgangspunkt für personengeschichtliche Forschungen tatsächlich fruchtbar gemacht werden konnte, verdankt sich dem Umstand, dass auf den Knochenpräparaten

– möglicherweise von Michaelis und Litzmann selbst angebracht – Nummern zu finden sind, die mit den Ord-nungsziffern der historischen Patientenakten korrespon-dieren. Diese Akten umfassen Aufnahme-, Anamnese- und Visitenprotokolle sowie Berichte über den Geburtshergang wie auch Sektionsprotokolle, wobei das erhaltene Material von Fall zu Fall sehr unterschiedlich umfangreich ist. Von mancher Patientin ließen sich im Archiv des Klinikums überhaupt keine Spuren ausmachen,22 bei anderen bot das Vorhandene keine ausreichenden Anhaltspunkte zur wei-teren Recherche, da etwa kein Familienname verzeichnet war. Manches vergessene Schicksal aber konnte auf dieser Basis und ergänzt durch zahlreiche weitere, hauptsächlich personenstandsbezogene Quellen wieder ans Tageslicht befördert werden.

19 S. Stadtarchiv Kiel, Akten der Stadtverwaltung – Historisches Archiv – 1945, Bestand 3819.

20 Zum allgemein sehr niedrigen Anteil der Gebärhaus-Entbindungen an der Gesamtzahl der Geburten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts s. Seidel, S. 175–177. Kieler Zahlen im Vergleich mit anderen Städten ebd., S. 206. – Zum schlechten Ruf der Häuser s. Metz-Becker, passim.

21 Eine Ausnahme stellt die Geschichte der Anna Margaretha Adametz aus Wilster dar, die 1836 eine vierte Kaiserschnittgeburt überlebte und somit als medizinischer Sonderfall Aufmerksamkeit erregt. S. Volker Lehmann, Die vier Kaiserschnitte an Anna Margaretha Adametz, in: Hamburger Ärzteblatt 2/2008, S. 28f.

22 Das unzureichend geordnete und modernen konservatorischen Anforderungen nicht genügende Archiv der Kieler Universitätsfrauenklinik findet sich im Keller des alten Pathologiegebäudes. Es scheint ‚semi-öffentlichen‘ Charakter zu haben. – Transkriptionen eines Teils, bei weitem aber nicht aller jener Schriftstücke, die sich mit den ‚Beckenschrank-Patientinnen‘ in Verbindung bringen lassen, machen den Hauptteil der Arbeit von Wellhausen (wie Anm. 4) aus.

stehen dieser Auffassung schwer anfechtbare Erhebungen entgegen, die eine wesentlich höhere Rate von oftmals tödlichen Kindbettfieber erkrankungen von Wöchnerinnen in Accouchieranstalten, verglichen mit den traditionellen Hausgeburten oder gar sogenannten ‚Gassengeburten‘, belegen,16 nichtsdestoweniger hängt ein Teil der histori-schen Forschungslandschaft in Sachen Geburtshilfe auch heute noch einem unkritischen Fortschrittsglauben an.In die zuletzt genannte Kategorie fallen auch die bisher einzigen Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Kieler Gebäranstalt, die aufs Heftigste am Positivismus der Ei-gengeschichtsschreibung kranken.17 So wird die Geschichte der Gebäranstalt unter den Händen schreibender Mediziner zum Heldenepos ihrer akademischen Vorsteher, die Ge-schichte der Institution gleichgesetzt mit den – selbstredend stets herausragend erfolgreich verlaufenden – Biographien ihrer Direktoren. Dass sich aber die grundsätzliche Situati-on des Kieler Hauses im 19. Jahrhundert in nichts von den Institutionen anderer Städte unterschied, belegen zahlrei-che Details und Episoden ihres Entwicklungsganges, die exakt denjenigen der Kliniken andernorts widerspiegeln. Dies betrifft beispielsweise die hygienischen Verhältnisse. Wie sich in Marburg der Direktor Carl Christoph Hüter (1803–1857) über stinkende Gase beschwerte, die aus dem benachbarten Labor Robert Wilhelm Bunsens in die Räumlichkeiten des Gebärhauses eindrängen,18 so legte auch Litzmann 1857 beim königlichen Ministerium für die Herzogtümer Holstein und Lauenburg Beschwerde darüber ein, das von der benachbarten städtischen Gas-anstalt Rauch und Schwefelgeruch in das Gebäude seiner

der historischen Erforschung von Geburtshilfe im 18. und 19. Jahrhundert unterliegt somit stets dem Risiko, zum Gegenstand eines ‚Geschlechterkampfes‘ zu werden. Dass die Konfliktsituation zwischen Hebammen und Ärzten aber tatsächlich eine gewichtige Gender-Komponente hatte, ist ebenso wenig in Abrede zu stellen. – Einen plausiblen Kompromiss zwischen den verhärteten Deutungsfronten schafft Seidel (wie Anm. 12). Demgegenüber transportiert Wellhausen unkritisch die vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse kaum haltbare alte Meinung weiter, dass vor Etablierung der Gynäkologie als universitäre Disziplin „die Geburtshilfe in Händen nicht oder unzureichend unterrichteter Frauen mit entsprechenden negativen Folgen für Mutter und Kind gelegen“ habe (Wellhausen, S. 6).

16 Vgl. Carl Müller, Volksmedizinisch-geburtshilf l iche Aufzeichnungen aus dem Lötschental, Bern/Stuttgart/Wien 1969, S. 115. Zum „Kindbettfieber als Folge der Hospitalisierung“ vgl. auch das so überschriebene Kapitel bei Metz-Becker, S. 220–229, sowie Seidel, S. 204–217.

17 S. zuletzt: Walter Jonat/Christian Andree/Thoralf Schollmeyer, Universitäts-Frauenklinik Kiel und Michaelis-Hebammenschule 1805–2005. Eine medizinhistorische Studie zum 200-jährigen Bestehen, Stuttgart/New York 2005 (s. dazu auch die Besprechung von Karen Nolte: Publikationen zur Geschichte von Frauenkliniken in Erlangen und Kiel (Rez.), in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 3 [15.03.2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/03/9693.html (zuletzt aufger. 14.12.2013)). S. außerdem: Ernst Philipp/Georg Hörmann, Die Kieler Universitäts-Frauenklinik und Hebammen-Lehranstalt, Stuttgart 1955.

18 Vgl. Metz-Becker, S. 224.

AfF 4/2013146 u

Christian Hoffarth

Drei Fallbeispiele

1. Magdalena Johannsen (* 12. November 1813 Friedrichsholm (bei Hohn), † 24. Februar 1844 Kiel)

Die Klinikakten bieten über Magdalena Johannsen zunächst folgende nicht-medizinische Informationen: Sie wurde am 12. Februar 1844 30-jährig in die Klinik aufgenommen und am 16. Februar von einem gesunden Knaben entbunden, der am 19. Februar auf den Namen August Friedrich Lausen getauft wurde. Acht Tage später verstarb die Wöchnerin. Des Weiteren lässt sich aus den Aufzeichnungen folgern, dass sie bis wenige Wochen vor ihrer Niederkunft als Dienstmädchen in der Landwirtschaft ohne feste Bindung an einen Dienstherrn, also als wandernde Tagelöhnerin, tätig war. Dies verrät folgende Aktennotiz:

„L[aut]. Dienstb[uch]. (prod[uziert]. Cappeln, Polizei, 21. Oct. 1842) diente sie vom 15. Oct. 42 bis 22. April 43 (irrthüml[ich] Sept 42.) bei Claus Schumacher in Cappeln. – Nach ihrer Aussage ging sie darauf sogleich nach Hül-lerup, zu Wilhelm Grafersen, und blieb daselbst über vier Wochen, später war sie nach Hohndorp (Kirchsp[iel] Hohn) zu Hans Johannsen gegangen u. s. w. Kiel d. 13. Feb. 44 [gez.] GAMichaelis und H.L.Ahrenz“.

Bei dem genannten Dienstbuch handelte es sich um ein Gesindedienstbuch, das laut Gesindeordnung für Schleswig-Holstein von 1840 jede zu ebendieser Gruppe gehörende Person ordentlich zu führen hatte und das auch als Ausweispapier diente.23 Darin wurden neben den Per-sonalien und äußeren Erkennungsmerkmalen des Inhabers Dienstorte sowie Antritts- und Abtrittszeiten dokumentiert. Bei Aufnahme in die Kieler Gebäranstalt war es üblich, die in jenem Papier vorhandenen Informationen ins Patien-tenjournal zu übertragen.Die weitere Rekonstruktion der familiären Verhältnisse sowie des Lebensweges der Magdalena Johannsen kann ausgehend von ihrem Sterbeeintrag sowie dem Taufeintrag ihres Sohnes in den Büchern von St. Nikolai, Kiel, erfolgen.24 Darüber hinaus liefern die Kirchenbücher des Amtes Hohn sowie

23 S. Die Schleswig-Holsteinische Gesinde-Ordnung vom 25. Februar 1840 […], hrsg. v. W. Frormann, 2. verb. Aufl., Kiel 1913, § 33, S. 63: „Alle zur Zeit, wann diese Verordnung in Kraft tritt, konfirmierte Personen, sowohl männlichen als weiblichen Geschlechts, welche zum ersten Male einen Dienst anzutreten beabsichtigen, so wie alle bereits in Dienst stehenden Dienstboten, haben sich vor Antritt eines neuen Dienstes bei der Polizeibehörde ihres Aufenthaltsorts mit einem Dienstbuche zu versehen.“ – Zu den Lebensumständen des Gesindes in Schleswig-Holstein s. Silke Göttsch-Elten, Beiträge zum Gesindewesen in Schleswig-Holstein zwischen 1740 und 1840 (= Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, 3), Neumünster 1978.

24 Wertvoll waren überdies die Forschungen von Rolf Funck, Kiel (s. URL: http://www.rolf-funck.de, zul. aufger. 10.12.2013), sowie Peter Freundt, Tarp, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei.

die Schleswig-Holsteinischen Volkszahlregister wertvolle Daten.25 Insgesamt ergibt sich so das folgende Bild:Magdalena wurde am 12. November 1813 in Friedrichs-holm im Kirchspiel Hohn geboren. Sie war das älteste Kind des Heuerlings Jürgen Johannsen und seiner Ehefrau Anna Maria, geb. Sauter. Ihre vier jüngeren Brüder waren Jacob, Jürgen, Detlev und Peter. Die Familie stammte sowohl müt-terlicher- als auch väterlicherseits von Kolonisten aus der Gegend um Heilbronn in Württemberg ab. Ihre Vorfahren waren zur Zeit der Kolonisation des Hohner Moors Mitte des 18. Jahrhunderts in die Gegend gekommen.26 Am 7. Mai 1833, Magdalena war 19 Jahre alt, verstarb ihre Mutter. Der Vater konnte diesen Schicksalsschlag wohl nicht verkraften und nahm sich acht Tage später „vermittels des Stranges“ das Leben. Magdalena wird erst neun Jahre später wieder greifbar. Laut Angaben im entsprechenden Geburtenbuch der Kieler Gebäranstalt diente sie von Oktober 1842 bis April 1843 bei Claus Schumacher in Kappeln, der in den Volkszahlregistern von 1845 greifbar ist. Danach war sie vier Wochen lang in Hüllerup bei einem Wilhelm Grafersen tätig. In diese Zeit müsste der Beginn ihrer Schwanger-schaft fallen. Zu einem ungewissen späteren Zeitpunkt kam sie schließlich bei Hans Johannsen in Hohn unter. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um den Ehemann der Halbschwester ihrer Mutter. Am 12. Februar 1844 wurde Magdalena in die Kieler Klinik aufgenommen und vier Tage später von einem gesunden Knaben entbunden. Dessen Taufpatin war die Hebamme Anna Klein. Ein ausführliches Visitenprotokoll gibt Auskunft über die acht Tage zwischen Niederkunft und Tod Magdalenas. Im Wesentlichen geht daraus hervor, dass sie insbesondere an den drei letzten Ta-gen an starkem Fieber mit Anzeichen von Halluzinationen und heftigen Unterleibsschmerzen litt und ungewöhnliche Ausbrüche zähflüssigen Schweißes hatte – deutliche Sym-ptome von Puerperalfieber. Sie starb am frühen Morgen des 24. Februar und hinterließ laut Geburtenbuch „an Geld 14 Mark – außer guten Kleidern einen neuen Regenschirm,

25 Mit den Volkszahlregistern aus den Jahren 1769, 1803, 1835, 1840, 1845, 1855, 1860, 1864 stehen für die Herzogtümer Schleswig und Holstein umfängliche Quellen zur Gesamtbevölkerung zur Verfügung. In den Volkszählungen wurden die Einwohner jedes Ortes nach Familien- bzw. Hausgemeinschaften erfasst, wobei neben reinen Personalien auch Verwandtschaftsverhältnisse und Berufsstand verzeichnet wurden. Die Originale befinden sich heute teils im Landesarchiv in Schleswig, teils im Rigsarkivet (Reichsarchiv) in Kopenhagen. Mehrere Projekte sind mit Transkription und Erfassung in Datenbanken befasst. S. URL: http://www.aggsh.de/german/workgroups/volkszahlregister.php, URL: http://www.akvz.de, URL: http://www.ddd.dda.dk (alle zul. aufger. 11.12.2013)

26 Zur Hohner Harde i. A. s. Die Verwaltungsgeschichte der Hohner Harde, hrsg. v. Amt Hohner Harde, Kiel 2007. Zur Kolonisation im 18. Jahrhundert, die eine große Zahl von Süddeutschen nach Norden lockte, s. Christian Voigt, Die Kolonisierung der schleswigschen Heiden 1760–65, in: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte 26 (1896), S. 209–256; Otto Clausen, Chronik der Heide- und Moorkolonisation im Herzogtum Schleswig (1760–1765), Husum 1981.

AfF 4/2013 147t

Ab osse ad os

feinen goldenen (?) Ring“. Noch an ihrem Todestag wurde sie in Kiel bestattet. Laut Anamnese lagen bei ihr während der Schwangerschaft keine besonderen gesundheitlichen Komplikationen vor und auch die Entbindung selbst verlief offensichtlich relativ problemlos und auf natürliche Weise. Todesursache war eine Infektion – zu jener Zeit noch eine alltägliche Gefahr in den Geburtshäusern.Der Sohn August Friedrich Lausen ist in den Volkszahl-registern des Jahres 1845 ausfindig zu machen. Einjährig war er zu diesem Zeitpunkt als Pflegekind in Hohn bei der Tagelöhnerin Margaretha Thomsen untergebracht. Die 23-jährige Frau lebte in einem Haushalt mit ihrer gleichnamigen verwitweten Mutter, einem unehelichen leiblichen Kind sowie August Lausen. Zu jenem bemerkt das Volkszahlregister: „aus der Kieler Hebammenanstalt, wird von der Armencasse unterhalten“. Die Aufnahme eines Pflegekindes war zu dieser Zeit aufgrund der Unterstützung von öffentlicher Hand eine attraktive Möglichkeit zur Auf-wertung der Lebensumstände. Bemerkenswert ist außerdem, dass die Familie Thomsen in Hohn im „Hebammenhaus“ wohnte. Möglicherweise war Margaretha Thomsen sen. selbst Geburtshelferin, und vielleicht war Magdalena mit der Familie befreundet und durch diese Kontakte zur Geburt ihres Sohnes in der Kieler Klinik untergebracht worden. Dies bleibt aber freilich reine Spekulation.August jedenfalls heiratete 1872 in Wesselburen im Dith-marscher Land die aus Schweden stammende Maria John-son. Diese war zunächst in Kiel bei einem Bäcker Hübsch angestellt gewesen. Daher drängt sich der Verdacht auf, das Paar habe sich hier kennengelernt. Möglicherweise war August also in seine Geburtsstadt zurückgekehrt. In späteren Kirchenbucheinträgen wird er als „Arbeitsmann“ bezeichnet, was auf eine Tätigkeit außerhalb der Landwirt-schaft schließen lässt. Denkbar wäre etwa eine Beschäfti-gung im Industrie- oder im Hafenbereich – Branchen, die gerade zu jener Zeit in Kiel einen starken Boom erlebten.27 Mit seiner Frau lebte August später in Schülp, wo sie ge-meinsam sieben Kinder bekamen.Der uneheliche Vater Augusts, Hans Lausen, ist nicht ein-deutig identifizierbar. Ein späterer Zusatz zu Augusts Tauf-eintrag im Kirchenbuch von St. Nikolai zeigt an, dass er die Vaterschaft trotz Illegitimität nachträglich anerkannte. Raum für Spekulationen geben die Hinterlassenschaften Magda-lenas, darunter eine für ihre Verhältnisse ungewöhnlich hohe Summe Geldes und „ein feine[r] goldene[r] (?) Ring“. Zudem weist der Eintrag im Geburtenbuch der Klinik aus, dass die Kosten für Behandlung und Beerdigung sowie Taufe des Kindes bar entrichtet worden seien. Ordnet man dies dem Kindsvater zu, müsste es sich um einen Mann höheren Standes als Magdalena gehandelt haben. Hierzu passt eine

27 In die 1870er und 80er Jahre fällt die rapide Expansion des Werftbetriebes in der Fördestadt. Vgl. dazu etwa Christian Ostersehlte, Von Howaldt zu HDW. 165 Jahre Entwicklung von einer Kieler Eisengiesserei zum weltweit operierenden Schiffbau- und Technologiekonzern, Hamburg 2004.

Textstelle aus den „Allerhöchst privilegirten Schleswig-Holsteinischen Anzeigen für das Jahr 1838“, wo ein Hans Lausen erwähnt ist, der in Stoltebüll – laut Kirchenbuch der exakte Heimatort des Vaters August Friedrichs – bei Töstrup Besitzungen hatte.28 Sollte es sich bei ihm um den Gesuchten handeln, könnte er Magdalena entsprechend ausgestattet haben. Letztlich sind aber auch dies bloße Mutmaßungen.

2. Elisabeth Heimann (* 9. Mai 1819 Eiderstede (jetzt Bordesholm), † 23. Juni 1847 Kiel)

Auch bei der zweiten Probandin ist Ausgangspunkt der Recherchen die Patientenakte samt einer darin befindli-chen Abschrift aus ihrem Dienstbuch. Weitere Puzzlestücke finden sich in den Kirchenbüchern der Ämter Bordesholm und St. Nikolai, Kiel, sowie wiederum in den Volkszahl-registern.Maria Elisabeth Margarethe Heimann stammte aus Eider-stede, einem bis 1906 eigenständigen Dorf am Ostufer des Bordesholmer Sees, das dann nach Bordesholm eingemein-det wurde und heute nur noch durch einen Straßennamen als ehemals topographisch abgeschlossene Siedlung ge-kennzeichnet ist.29 Sie war die zweite Tochter des Insten Johann Detlev Heimann und dessen am 13. April 1817 verlobten Ehefrau Cathrina Margaretha, geb. Mordhorst. Elisabeth wurde am 16. Mai 1819 in Bordesholm getauft. Ihre Patinnen waren Maria Sophia Jensen, Elisabeth Becker und Margaretha Köbke. Sie hatte vier Geschwister, nämlich die ältere Schwester Maria Dorothea Christina und die jüngeren Anna, Christian und Magdalena. Als Elisabeth neun Jahre alt war, starb ihre Mutter am 23. Dezember 1828 in Bordesholm-Hoffelde und wurde „still beigesetzt“. Der Terminus ‚stille Beisetzung‘ oder ‚stille Beerdigung‘ bezeichnet eine Bestattung ohne Gesang und Geläut. Sie war als einzige Beisetzungsmethode kostenfrei und kann als Indiz für die Armut der Angehörigen gelten. Über die Situation der Instleute im Amt Bordesholm ist aus einer zeitgenössischen Darstellung Folgendes zu erfahren:

„Die dritte Classe sind die Besitzlosen, welche von der Arbeit ihrer Hände leben sollen, die Insten oder Häuerlinge. Von diesen befindet sich die Mehrzahl in den drückendsten Umständen […] Die Frauen der Tagelöhner sind durch die Sorge für ihren Hausstand, durch Wochenbette und Kinder-

28 Allerhöchst privilegirte Schleswig-Holsteinische Anzeigen für das Jahr 1838. NF, 2. JG, Glückstadt o. J., S. 427: „In Gewährung der hieselbst vorgebrachten Bitte des Nicolai Beeck aus Grünholz, um Erlassung eines Proclams über die von ihm angekaufte, dem Hans Lausen zugehörig gewesene, in den Stoltebüllerlücken belegene Freiparcelenstelle […].“

29 S. Bordesholm und Eiderstede: 100 Jahre vereinigt. Bürgerinnen und Bürger dokumentieren Zeitgeschichte (= Bordesholmer Hefte, 8), hrsg. v. d. Arbeitsgemeinschaft Heimatsammlung im Kultur- und Verschönerungsverein Bordesholmer Land e.V., Bordesholm 2007.

– Lesen Sie bitte weiter auf S. 150 –

O R I G I N A L

AfF 4/2013148 u

aus der Patientenakte der Elisabeth Margarethe Heimann, Seite 1 von 3, Handschrift Gustav Adolf Michaelis

AfF 4/2013

T R A N S K R I P T I O N

t149AfF 4/2013

314701. Heimann 5

a, 27 J. b, Rhachitis c, 16 J, d, 0, f, 0 g, […],h, 0, i, unter mittelgroß, kurze dicke Beine.

1, Leib etwas in d Breite gezogen, 2, mäßig, 3. in derNabelhöhe, 4 in d rechten Seite, 5, rechts im Mttgrunde7, schwer, 8, rechts u hinten, 9 fest verstrichen, 11, obengeöffnet, 12. keine […], 14, links vom Nabel,15, links u. rechts in d. Inguinalgegend.

17) 7.1 – 10.7 – 10.8 – 11.10

7.2 – 10.6 – 10.6 – 11.10 7 – 10.4 – 10.4 – 11.10

16) 3" 5"' (3.5) 3. 5 (3.5)

Man fühlt den Kopf vorliegen –In der Nacht vom 17 und hinderten allen Schlaf

den 18 Junius vormittags begannen die Wehen.. Abends d.18 Juni7 Uhr kam sie aufs Geburtslager. Sie hatte schonxxxxx Äußl. der Leib ungleich, stark nach rechtsvorragend; GM. sehr beweglich. MM. 1 Zollweit geöffnet. – Die Nacht verging abermalsschlaflos unter Wehen, die bis vormittagsd. 19 Juni 11. Uhr den MM. 2" weit öffneten.Dann sprang die Fruchtblase; und da der überKopf noch hoch auf dem Eingang stand,fiel der MM. ganz wieder zusammen.Die Nacht v 19–20 abermals schlaflos unterstärkeren Wehen. Erst gegen Morgenden 20 Jun. senkte sich der Kopf aufden Muttermund, der anfing allmählichanfing sich zu spannen, und gegenAbend 3 Zoll weit geöffnet war. Bis zum 20 Juni. Morgens war derStand des Kopfes nicht zu erkennen.Jetzt fand sich: Das Hinterhaupt linksdie Stirn rechts. Das nach hinten, gegendas Promontorium gerichtete Scheitelbeinlag fast allein. vor; die kleine Fontanellelag links hinter dem über dem linkenforam. obdurat; die große Fontanelleauf dem Beckenrand über demrechte foram. obdurat; die Pfeilnathverlief dicht hinter dem Schambeinkamme. Gegen Abend versuchteich zum 1. Mal mit halber Hand dem

Enges Becken

Trockenes BeckenD.B = 5"10"'Sp.T = 9" 8 "'Cr.T = 9" 6"'C.d. = 3" 5"'C.v. = 2" 6"'Diam. transv. intr = 4" 11"'fast grade - rechts etwasverengt.Ausgang außerordtlweit.Rhachitisch.

10 6.

Erste Schädellage

Scheitelbeinstellung!

Perforation.

AfF 4/2013150 u

Christian Hoffarth

pflege, oft auch durch den Mangel an Arbeitsgelegenheit einen großen Theil des Jahres abgehalten, den Verdienst des Mannes zu vermehren, und können mit der ihnen bequemsten Arbeit, dem Spinnen für die Bauerfrauen nur wenige Schillinge täglich verdienen. Der Nebenverdienst der Kinder beschränkt sich darauf, daß die erwachseneren den Sommer über von den Bauern im Amte selber oder in der Nachbarschaft, namentlich im Amte Rendsburg, zum Gänsehüten u. dergl. gemiethet werden, wofür sie denn freie Beköstigung erhalten und, von Oben bis Unten neu gekleidet, im Spätherbste zu der väterlichen Hütte zurück-kehren. […] Im Ganzen kann man den jährlichen Verdienst einer Instenfamilie (Mann, Frau und Kinder) an Geld nicht höher als für 300 Arbeitstage durchschnittlich à 5 bis 5½ Sch. gleich 100 Mrk. anschlagen, wozu dann noch die freie Beköstigung des Hauptes der Familie in etwa 200 bis 250 Tagen kommt. Wie diese Einnahme […] zur Ernährung einer Familie z.B. von Frau und 4 bis 5 Kindern ausreichen kann, ist völlig unbegreiflich, da fast Alles, was zur Nahrung und Bekleidung erforderlich ist, neben der Miethe für baares Geld angeschafft werden soll. […] Die Erfahrung zeigt indessen freilich, daß ein tüchtiger Arbeiter, wenn er eine eben so tüchtige Frau hat, seine Familie, wenn sie auch aus 4 bis 6 Kindern besteht, so lange nicht außerordentliche Unglücksfälle eintreten, zu ernähren im Stande ist, und der Armenkasse nicht zur Last zu fallen braucht.“30

Diese Ausführungen dürften die Lebensumstände der Elisabeth Heimann und ihrer Familie äußerst trefflich beschreiben, bis hin zu dem „außerordentlichen Un-glücksfall“, der sie mit dem frühen Tod der Mutter ereilte. Nach 1828 ist der Witwer Johann Detlev Heimann in den Kirchenbüchern der Gemeinde Kloster Bordesholm nicht mehr direkt greifbar. Seine Name erscheint noch bei den Konfirmationseinträgen der Kinder, so 1834 bei Elisabeths Einsegnung in Blumenthal. Ein Sterbeeintrag des Vaters indes ist in Bordesholm nicht auszumachen. Ob dies da-rauf hindeutet, dass er mit seinen Kindern den Wohnort wechselte – denkbar bei einer Tagelöhner-Bindung an einen auswärtigen Bauern – oder anderswo hinzog und die Sprösslinge sich selbst, mithin der Bordesholmer Ar-menkasse überließ, bleibt unklar. In den Volkszahlregistern des Jahres 1835 jedenfalls erscheint eine 15-jährige Maria Heimann im Dorf Mühbrook, nur knapp zwei Kilometer von Eiderstede entfernt, als Mitglied des Haushalts eines Marx Lucht und dessen Frau Maria, geborene Först. Hierbei könnte es sich um die Probandin handeln, deren Logis im fremden Haus zu diesem Zeitpunkt im Zusammenhang mit einer Dienstmädchenstelle gedeutet werden müsste.In ihrem Gesinde-Dienstbuch, das bei der Aufnahme in die Gebäranstalt auszugsweise ins Geburtsbuch übertra-gen wurde, wird Elisabeth jedenfalls als „arm“ bezeichnet.

30 Georg Hanssen, Das Amt Bordesholm im Herzogthume Holstein. Eine statistische Monographie auf historischer Grundlage, Kiel 1842, S. 128–131.

Diese Attributierung im polizeilichen Dokument basierte nicht auf Gutdünken, sondern verweist auf eine behörd-lich erfasste Abhängigkeit von der Armenkasse. Aus dem Übertrag des Dienstbuches ins Klinik-Geburtsbuch geht außerdem hervor, dass Elisabeth „vom 1. Mai 1844 bis 8. Februar 1847 in Neu-Bockhorst bei Fr. Martens“ diente.

„Neu-Bockhorst“ lässt sich als zu Bothkamp, einem Gut im Besitz derer von Bülow gehöriger Meierhof Neu-Bokhorst bei Schillsdorf identifizieren.31 In den Volkszahlregistern aus den Jahren 1845 und 1855 ist hier ein Friedrich Mar-tens als Pächter auszumachen. Beide Einträge verzeichnen jeweils eine größere Zahl von Dienstmädchen, unter denen sich Elisabeth aber auch 1845, also zu einem Zeitpunkt, als sie laut Geburtsbuch dort gedient haben soll, nicht findet. Dies lässt entweder auf unkorrekte Angaben im Dienstbuch schließen oder darauf, dass sie nicht dem Haushalt des Hofes angehörte und anderswo – freilich in unmittelba-rer Nähe – ihre Wohnstatt hatte. Diese Fakten eröffnen jedenfalls zwei wenig überraschende Details. Zum einen führte das Halbwaisentum zur vollständigen Verarmung der ohnehin am Existenzminimum lebenden jungen Frau, zum anderen scheint ihr geografischer Radius entsprechend klein geblieben zu sein; Eiderstede und Neu-Bokhorst lie-gen etwa 6 km Luftlinie voneinander entfernt. Auch für die Schwester Elisabeth Dorothea Christina (* 24. August 1817, Bordesholm, & 31. August 1817), die am 28. Mai 1847 in der Kieler Gebäranstalt einen Sohn Johann Otto Jöhnke zur Welt brachte, ergibt sich aus den Informationen im Geburtsbuch ein ähnliches Bild. Laut Dienstbuch war sie von 1. November 1845 bis 1. November 1846 beim Hegereuter Detlev Christian Ohrt in Bordesholm-Hoffelde beschäftigt und ebenfalls als „arm“ registriert. Ihr gesund zur Welt gekommener unehelicher Sohn – Vater war laut Kirchenbuch des Klosters Bordesholm ein Johann Jöhnke – starb 16 Wochen alt am 11. September in Bordesholm-Hoffelde und wurde drei Tage später beigesetzt.Die schwangere Elisabeth kam am 31. Mai 1847 in das Klini-kum und wurde am 21. Juni unter Betreuung von Michaelis von einem toten Mädchen entbunden. Wellhausen schreibt: „Im Geburtsbuch des Jahres 1847, der Amtszeit Michaelis’, sind außer den Personalien auch die Beckenmaße sowie eine kurze Beschreibung der Statur der Patientin und der Auffälligkeit des Beckens aufgeführt, jedoch keine näheren Angaben zum Verlauf der Geburt.“32 Das ist korrekt. Aller-dings existiert neben dem Geburtsbuch eine ausführliche Patientenakte der Maria Elisabeth Margarethe Heimann, in der Verlauf von Geburt und Krankheit sowie die Sektion detailliert dokumentiert sind.33 Daraus geht hervor, dass bei der Aufnahmeuntersuchung eine Rachitis diagnostiziert

31 Vgl. Johannes von Schröder, Topographie des Herzogthums Holstein, des Fürstenthums Lübek und der freien und Hanse-Städte Hamburg und Lübek, Theil 1: A–H, Oldenburg i. H. 1841, S. 67.

32 Wellhausen, S. 216.33 S. ausschnittsweise Transkription S. 148f.

AfF 4/2013 151t

wurde. Die Patientin sei „unter mittelgroß“ gewesen, habe „kurze dicke Beine“ gehabt. Ihr Leib sei „etwas in die Breite gezogen“ und „stark nach rechts vorragend“ gewesen. Nach Eintreten der Wehen, die zunächst gut verliefen, konnte eine natürliche Geburt nicht eingeleitet werden und auch der Zangeneinsatz schien unmöglich. Deshalb und aufgrund der Enge des Beckens relativ zur Größe des Kindes wurde zunächst ein Kaiserschnitt geplant. Als man die Operation vorbereitete, stellte man jedoch fest, dass das Kind keinen Herzschlag mehr hatte. Daraufhin beendete man die Geburt durch Perforation des Kinderschädels. Die Mutter verstarb am 23. Juni 1847 morgens um sechs Uhr an den Folgen der Operation. Noch für den selben Tag verzeichnet das Sterberegister der St. Nikolai-Kirche ihre Beisetzung.

3. Maria Kahrs geb. Spreckels (* 31. Mai 1850 Düdenbüttel, † 3. Februar 1888 Kiel)

Maria Kahrs aus Estorf bei Stade34 zählt zu den spätesten Fällen, von denen sich Relikte in der Beckensammlung erhalten haben. Sie starb im Jahr 1888 in der Kieler Frau-enklinik. Von der Patientenakte führt der Weg hier zu den Standesamtbüchern im Kieler Stadtarchiv, denn bekannt-lich war in Preußen die Personenstandsdokumentation 1874 von den Kirchen an die Standesämter übergegangen. Geographisch verweisen die dort greifbaren Informationen sodann weiter ins sogenannte „nasse Dreieck“ zwischen Elbe und Weser und dort zum einen ins Staatsarchiv Stade, zum anderen zu den Forschungsergebnissen des Familien-verbandes Spreckelsen/von Spreckelsen.35

Maria Kahrs wurde am 31. Mai 1850 als Tochter des Hinrich Johann Spreckels (auch Spreckelsen) und dessen am 9. November 1843 geehelichten Frau Margaretha Spreckels geb. Kahrs in Düdenbüttel im Stader Geestkreis geboren. Sie war das fünfte von insgesamt acht Kindern, wobei unter den Geburten ihrer Mutter am 10. Mai 1849 und am 17. September 1855 zwei Totgeburten waren und die älteste Tochter Elisabeth, geboren am 15. September 1844, dreijährig am 22. Oktober 1847 verstorben war und damit zum Zeitpunkt der Geburt Marias bereits nicht mehr lebte. Die anderen Geschwister waren Harm, geboren am 9. September 1846, gestorben im Alter von 26 Jahren am 16. Februar 1873, Anna, geboren am 15. Januar 1848, Jürgen, geboren am 16. Dezember 1852, gestorben am 1. Juni 1890 im Alter von 37 Jahren, sowie Margaretha, geboren am 6. Januar 1859, gestorben am 15. September 1873. Marias Vater war Hufner (niedersächsisch: Höfner) und

34 Zur Gemeinde Estorf s. Friedrich Holst, Grupilinga und die Töchter. Die Geschichte der Gemeinde Estorf, ND Estorf 2010.

35 Dokumentiert in dem voluminösen Band: Rolf Spreckelsen/Hermann Spreckels, Genealogische Studien zur Chronik derer von Spreckelsen, Hamburg 2005. – Zum Familienverband s. URL: http://www.pfingsthoege.de (zul. aufger. 13.12.2013). – Dank gilt Herrn Hermann Spreckels, Hammah, für seine Hilfestellungen bei Kirchenbuchrecherchen in den Gemeinden des Landkreises Stade.

Bewirtschafter des Vollhofes Spreckels in Düdenbüttel.36 Damit galt er als Vollmitglied der Gemeinde und nahm in der Dorfgemeinschaft einen gehobenen Rang ein. Laut einer Urkunde des Staatsarchivs Stade war es ihm 1844 gelungen, den Hof von der Grundherrschaft freizukaufen und damit de facto Eigentümer zu werden.37 Als Vollbauer hatte er zudem Nutzungsrecht an der dörflichen Allmen-de und besaß sehr wahrscheinlich Pferde und modernes landwirtschaftliches Gerät. Erst spät, nämlich im Alter von 28 Jahren, heiratete Maria am 15. Mai 1879 in Oldendorf standesgemäß den Estorfer Hufner Harm Kahrs, womit sie zur Bäuerin mit eigenem Hof wurde. Ihre Mutter starb am 9. September 1885 im Alter von 65 Jahren, ihr Vater am 14. Dezember 1886 66-jährig. Den väterlichen Hof übernahm ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Jürgen.Marias Ehemann Harm Kahrs war sechs Jahre jünger als sie und wahrscheinlich ihr Cousin ersten Grades. Das Paar bekam sieben Kinder. In Kombination der Estorfer Kir-chenbuchdaten mit den Anamnese-Aufzeichnungen in den Akten der Klinik lässt sich die Geburtenfolge rekonstruieren. Zum ersten Mal wurde Maria im Jahr 1879 schwanger und brachte ohne besondere Schwierigkeiten und auf natürliche Weise am 3. Juni 1880 in Estorf die Tochter Adelheid zur Welt. Diese überlebte das Kindesalter und wurde am 18. März 1894 in Oldendorf konfirmiert. Etwas über ein Jahr nach der ersten Geburt folgte am 19. Juli 1881 genauso komplikationslos Marias zweite Tochter Margarete. Laut Aufzeichnungen in den Klinikbüchern habe sie während der dritten Schwangerschaft etwa 1882/83 starke Schmer-zen in den Knochen bekommen. Bei der anschließenden Zangengeburt sei sie von einem lebenden Kind entbunden worden, das 14 Tage später gestorben sei. Dies steht in Widerspruch zu den Kirchenbuchaufzeichnungen, die am 30. Mai 1883 die Geburt des Sohnes Detlef dokumentieren (Zusatz: „Die Taufe ist von der Hebamme Gesche Peters Estorf vollzogen und am selben Tag vom Pastor bestätigt worden“), der erst am 17. März 1888, zwei Monate nach dem Tod der Mutter, gemeinsam mit seiner älteren Schwes-ter Margarete bestattet worden sei. Da die Hebammentaufe nur als Nottaufe – also im Falle eines zu erwartenden baldigen Todes des Neugeborenen – zulässig war, läge zunächst nahe, einen fehlerhaften Bestattungseintrag im Kirchenbuch anzunehmen. Wenn das Kind allerdings 14 Tage alt geworden sein soll, müsste es die kurz nach der Geburt vorhandenen Anzeichen für den befürchteten pe-rinatalen Säuglingstod auf jeden Fall vorerst überwunden haben. Somit wird die Nottaufe als Indiz für den frühen Tod des Kindes und damit als Bekräftigung der Version aus den Klinikakten zumindest stark abgeschwächt. Ein Fehler in der Anamnese kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Sollte der Befund aus den Kirchenbüchern zu-treffend sein, dürften hinter der gemeinsamen Bestattung

36 Zu Düdenbüttel s. die Gemeindechronik: 950 Jahre Düdenbüttel, hrsg. v. d. Kreissparkasse Stade, Düdenbüttel 2009.

37 Staatsarchiv Stade, Rep. 74 Himmelpforten Nr. 1860.

Ab osse ad os

AfF 4/2013152 u

Christian Hoffarth

der beiden 6- und 4-jährigen Geschwister kurz nach dem Tod der Mutter gewiss dramatische Umstände vermutet werden. Um die Mitte des Jahres 1884, also etwas über ein Jahr nach der dritten Geburt, wurde Maria ein viertes Mal schwanger. Im letzten Drittel der Schwangerschaft habe sie erneut große Schmerzen, insbesondere im Ober-schenkel- und Wirbelsäulenbereich gehabt. Am 25. April 1885 musste die Geburt von Zwillingen wiederum durch Zangeneinsatz beendet werden, wobei beide Kinder starben. Eine fünfte Schwangerschaft, in deren Verlauf die vorher völlig abgeklungenen Schmerzen verstärkt wiedergekehrt seien, führte am 6. Juli 1886 bei Fußlage des Kindes zu ei-ner sehr komplizierten Entbindung. Zwar kam der Säugling, ein Junge, lebend zur Welt, starb aber – ungetauft – zwölf Stunden danach. Maria gab an, im Laufe der Jahre etwa 15 Zentimeter kleiner geworden zu sein. Außerdem habe sie schon seit Langem an „Husten mit zieml. starkem Auswurf“ gelitten, der sich stets im Herbst gesteigert habe. Trotz der großen Schmerzen während der Schwangerschaften habe sie nie längere Zeit im Bett gelegen, sondern sei immer hinkend weiter „umhergegangen“. Äußerlich beschreibt das Untersuchungsprotokoll sie als „relativ kleine Frau mit verhältnismäßig langen Beinen u. kurzem Oberkörper.“ Sie sei 140 Zentimeter groß gewesen.Da der Beckenausgang durch Osteomalazie stark verengt war, musste die letzte Geburt der 37-Jährigen am 27. Januar 1888 in der Kieler Klinik per Kaiserschnitt beendet werden. Die über eine Stunde dauernde Operation ist in den Akten detailliert dokumentiert. Demnach konnte das Kind, ein Mädchen, lebend zur Welt gebracht werden. Maria selbst lebte noch etwa fünf Tage. Während dieser Zeit litt sie an starken Schmerzen, die mit Campher und Morphium be-handelt wurden. Sie starb um halb sechs Uhr morgens am 3. Februar 1888, laut Akten an Pneumonie. Abschließend findet sich ein Sektionsbericht, in dem eine „krupöse Pleuro-pneumonie“ diagnostiziert wird und die Verformungen des Beckens noch einmal beschrieben sind. Marias Tod wurde am 6. Februar im Kieler Standesamt verzeichnet. Ihre bei dieser letzten Entbindung zur Welt gebrachte Tochter wurde am 9. Februar 1888 in Estorf getauft und bekam den Namen Marie/Maria. Der Vater, Harm Kahrs, starb vier Jahre nach seiner Frau, am 18. Juni 1892, 36-jährig. Sein Testament ist im Staatsarchiv Stade erhalten geblieben.38 Vormund der beiden Töchter Adelheid und Marie wurde der Anbauer Heinrich Peter Kahrs aus Estorf. Das Verwandtschaftsver-hältnis der Mädchen zu diesem konnte bisher nicht ermittelt werden. Naheliegend wäre aber, dass es sich um einen Bru-der des Vaters handelte. Laut Kirchenbuch wurde Marie am 27. März 1902 in Oldendorf konfirmiert. Darüber hinaus gibt eine knapp 300 Seiten umfassende Akte zur Sorgerechts-sache39 detailliert Auskunft über die Entwicklung der beiden Schwestern, über die die eingesetzten Vormünder jährlich beim Amtsgericht Protokoll abgeben mussten.

38 Staatsarchiv Stade, Rep. 72/172 Stade Nr. 10180.39 Staatsarchiv Stade, Rep. 72/172 Stade Nr. 01613.

Ergebnisse

Die drei dargestellten Lebensläufe, die alle in der Kieler Gebäranstalt zu Ende gingen, bilden in exemplarischer Weise die allgemeine Wahrnehmung von Geburt und Ge-bäranstalten sowie deren Transformationen im 19. Jahr-hundert ab. Gehörten die beiden früheren Fälle, Magdalena Johannsen und Elisabeth Heimann, der unprivilegierten Gesellschaftsgruppe des Gesindes an, so spiegelt sich darin die Tatsache wider, dass die akademischen Entbin-dungshäuser bis weit über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus fast ausschließlich für unehelich schwangere Frauen als Zufluchtsorte infrage kamen. Restriktive Heiratstra-ditionen und -gesetzgebungen sowie die Notwendigkeit häufiger Ortswechsel machten es diesem Personenkreis zeitweise nahezu unmöglich, feste Bindungen einzugehen und Familien zu gründen.40 Eine Schwangerschaft war unter diesen Umständen prinzipiell katastrophal, zumal sie in Schleswig-Holstein laut Gesindeordnung für die Herrschaft einen legitimen Kündigungsgrund darstell-te.41 Mit Lockmitteln wie finanzieller Vergütung, nicht-öffentlichem Ablegen der Kirchenbuße usw. konnten die illegitim Schwangeren in ihrer ausweglosen Situation dazu gebracht werden, in den gefürchteten Einrichtungen niederzukommen, wo sie zu Studienzwecken gebraucht wurden.42 Erst gegen Ende des Säkulums hob sich das Ansehen der Gebäranstalten, insbesondere wohl durch die Verbesserung der hygienischen Bedingungen und damit einhergehende Zurückdrängung des Kindbettfiebers. Diese Entwicklung konnte erst ihren Lauf nehmen, nachdem die über Jahrzehnte unterdrückten Entdeckungen des Ungarn Ignaz Semmelweis (1818–1865) über den Zusammenhang zwischen der Hygiene der Geburtshelfer und Infektionen der Wöchnerinnen allgemein Anerkennung gefunden hat-ten.43 Jetzt konnte die ‚Medikalisierung der Geburt‘ nach und nach auch auf privilegierte Gesellschaftsschichten übergreifen, die Kliniken wurden auch von Begüterten und Gebildeten mehr und mehr als Option bei zu erwartenden Geburtskomplikationen angesehen. Hierzu passt der Um-stand, dass die dritte und späteste Probandin, Maria Kahrs, als verheiratete Frau in ökonomisch gesicherten Verhält-nissen lebte. Nur tatsächliche medizinische Schwierigkeiten scheinen sie im vorletzten Dezennium des 19. Jahrhunderts in die Gebäranstalt geführt zu haben. Als eines der letzten wurde ihr stark malformiertes Becken, ausnahmsweise samt Wirbelsäulenskelett, in die Michaelis-/Litzmann’sche Sammlung aufgenommen. n

40 Zur sozialen Situation der in den Acchouchieranstalten Gebärenden insgesamt s. Metz-Becker, S. 145–191.

41 S. Gesinde-Ordnung (wie Anm. 23), § 18, S. 33.42 Vgl. Hampe, S. 16.43 S. dazu Seidel, S. 211–217.

Christian Hoffarth, M. A.Königsweg 50, 24114 [email protected]