Post on 26-Jan-2023
Dieter Pohl, Klagenfurt
Der deutsch-sowjetische Krieg in der geschichtswissenschaftlichen Perspektive des
21. Jahrhunderts
Vortrag aus Anlass der Neueröffnung des Deutsch-russischen Museums Berlin-Karlshorst 24. April
2013
Meine Damen und Herren,
der deutsch-sowjetische Krieg liegt inzwischen sieben Jahrzehnte zurück. Seitdem ist
ein großer Aufwand betrieben worden, um die Hintergründe und Ereignisse dieses
Konflikts, der einen zentralen Platz in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einnimmt,
aufzuhellen. Zugleich hat der Krieg in den Erinnerungskulturen eine immer
wichtigere Rolle gespielt, zunächst in der Sowjetunion, dann auch in Deutschland
und schließlich in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wir steuern gerade auf ein
anderes großes Gedenkjahr zu, der 100. Wiederkehr des Ersten Weltkrieges. Dieser
scheint jedoch inzwischen in weite historische Ferne gerückt zu sein. Mit dem
deutsch-sowjetischen Krieg hingegen gehen wir anders um, es sieht so aus, als ob er
nicht vergessen werden kann. Und dennoch stellt sich die Frage nach seiner
Betrachtung und Analyse immer wieder neu.
In den folgenden 40 Minuten möchte ich nun darlegen, wie die Geschichtswissenschaft
den deutsch-sowjetischen Krieg heute, also zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht.
Dabei meine ich in erster Linie die deutsche und die sogenannte westliche
Forschung, will jedoch auch ein wenig die Geschichtswissenschaften in Russland,
der Ukraine und den anderen Ländern einbeziehen, welche vom Krieg unmittelbar
betroffen waren.
Wie sieht der heutige Kenntnisstand aus, wie die Interpretationen, und wo steht die
Forschung weit fortgeschritten, wo erst am Anfang? Zunächst ist festzuhalten, dass
das Bild, dass die Geschichtswissenschaft in West und Ost vom Krieg lange
Jahrzehnte präsentiert hat, nicht selten unter starken Verzerrungen litt. Im Westen
dominierten lange Zeit die Narrative der deutschen Militärs, die in den Zeiten des
Kalten Krieges oft bereitwillig von Öffentlichkeit und Politik aufgenommen wurden.
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In der Sowjetunion stand die Geschichtswissenschaft unter der Kuratel der
Kommunistischen Partei, die ihr eigenenes einseitiges Bild propagierte. Dennoch hat
sich seit den 1960er Jahren eine Darstellung herauskristallisiert, die um
Objektivierung bemüht ist, vor allem aber seit den 1980ern im Westen und seit den
1990ern in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion.
Beginnen wir mit jenen Bereichen, die als gut erforscht gelten können: Da ist
zunächst der deutsche Weg in den Krieg von 1941.
Die Vorgeschichten des deutsch-sowjetischen Krieges setzen meist bei einem
Provinzpolitiker aus Bayern an, nämlich Adolf Hitler, der 1925/26 in seinem
Propagandabuch „Mein Kampf“ einen Krieg um Lebensraum im Osten forderte,
einen Krieg um Raum und Resourcen, einen Krieg gegen den Bolschewismus.
Freilich stand Hitler nicht ganz allein mit diesen Forderungen, bis 1921 hatte es
immer wieder bewaffnete Interventionen gegen Sowjetrussland gegeben, und
mancher deutscher General träumte noch Ende der 1920er Jahre von der Befreiung
der Sowjetunion mit militärischen Mitteln, ganz zu schweigen von Teilen des
russischen Exils dieser Zeit.
Als Hitler dann um 1930 ins Zentrum der deutschen Politik zu rücken begann, war
von diesen Kriegsvorstellungen relativ wenig zu verspüren. Zwar setzte sich die
nationalsozialistische Führung, zunehmend auch der Rechtskonservatismus dafür
ein, die eher pragmatisch gehaltenen Beziehungen zur Sowjetunion einzufrieren. Zur
eigentlichen Konfrontation kam es jedoch erst um 1936. In diesem Jahr wurde nicht
nur die antibolschewistische Propaganda nach innen deutlich gesteigert, der Kampf
gegen die Sowjetunion galt nun auch als probates Mittel der Außenpolitik. Nicht
zufällig wurde das erste antibolschewistische Bündnis, der sogenannte Anti-
Kominternpakt, mit dem autoritären Japan geschlossen, dessen Truppen bereits in
Nordchina an der sowjetischen Grenze standen. Freilich war auch der
Vertragsabschluss vor allem eine Aktion mit propagandistischem Charakter und ohne
große politische Substanz.
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Hitlers eigentliche Kriegsplanungen richteten sich von 1937 an gegen die
Tschechoslowakei, zugleich erwartete er, dass einem Angriff auf das Nachbarland
ein Krieg mit Frankreich folgen sollte. Erst um die Jahreswende 1938/39 zeichnete
sich eine Konstellation ab, die gegen Polen gerichtet war, und somit eine Vorstufe für
den weiteren Krieg im Osten darstellte. Freilich kam es in der europäischen Krise des
Sommers von 1939 zu einer überraschenden Wende: 1. einigten sich Hitler und Stalin
auf einen Nichtangriffspakt und die territoriale Aufteilung weitere Teile
Ostmitteleuropas, 2. wurde klar, dass Großbritannien zugunsten Polens in einen
Krieg eintreten würde.
Freilich passte sich die nationalsozialistische Führung an diese Wende relativ flexibel
an. Polen war nun weitgehend isoliert und wurde zunächst von Hitler, in seinem
Ostteil schließlich auch von Stalin als Staat ausgelöscht. Die Wehrmacht konnte auf
dem europäischen Kontinent nun einen Sieg nach dem anderen erringen. Auf dem
Höhepunkt der deutschen Euphorie, noch während der deutschen Offensive in
Frankreich im Mai/Juni 1940, wurden nun Angriffsplanungen gegen die Sowjetunion
entwickelt, obwohl der Krieg gegen Großbritannien zu diesem Zeitpunkt noch nicht
beendet war. Ende November/Anfang Dezember 1940 entschied Hitler, im Frühjahr
1941 zur Eroberung der westlichen Sowjetunion zu schreiten.
Dieses Projekt war absolut waghalsig. Zwar galt die Rote Armee nach den
sogenannten Stalinschen „Säuberungen“ als desolat, zahlenmäßig aber immer noch
als stark. Andererseits glaubten Hitler und die Wehrmachtführung, die riesigen
Territorien östlich des Bug mit einer neuen Konzeption, dem „Blitzkrieg“, in die
Hände zu bekommen. Schnelle Panzerverbände sollten durch die Rote Armee
durchstoßen und ihre Armeen einkesseln, die Infanterie würde dann nachfolgen.
Man erwartete, den Großteil der Roten Armee auf diese Weise westlich der Wolga
innerhalb von 8 bis 12 Wochen militärisch niederwerfen zu können. Somit war die
Planung zwar völlig megaloman und riskant, freilich auch einem Präzendezfall nicht
unähnlich, der weitgehend kampflosen Besetzung Südrusslands im Jahre 1918.
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Zugleich war der Krieg gegen die Sowjetunion als imperialer Ausbeutungs- und
Vernichtungsfeldzug gedacht. Einerseits wähnte sich die deutsche Führung im
Kampf gegen den ideologischen Todfeind, von dem man annahm, dass er das
Völkerrecht selbst nicht beachten würde. Andererseits galt das Aushungern von
Teilen der sowjetischen Bevölkerung und die Erschießung bestimmter Gruppen wie
Politoffizieren der Roten Armee, Partei- und Staatsfunktionären und wohl auch aller
Juden im wehrfähigen Alter als Mittel zur Beschleunigung des militärischen Erfolgs.
Hitler und die Wehrmachtführung glaubten, dass man die vermeintliche soziale
Basis des Bolschewismus vernichten und die eroberten Gebiete mit Terror
paralysieren müsse, um sie zugleich beherrschen und maximal ausplündern zu
können. Politische, militärische und – im nationalsozialistischen Sinne – polizeiliche
Strategien griffen hier ineinander und lassen sich nicht voneinander trennen.
Am 22. Juni 1941 griffen drei Millionen deutsche (und auch österreichische) Soldaten
sowie 600.000 Mann ihrer Verbündeten die Sowjetunion an. Den Verlauf des Krieges
brauche ich in diesem Kreis wohl nicht im Detail zu rekapitulieren. Es bleibt jedoch
festzuhalten, dass der ursprüngliche Plan des Blitzkrieges bereits Ende Juli 1941
gescheitert war, der deutsche Historiker Andreas Hillgruber markierte hier den
„Zenit des Zweiten Weltkrieges“. Das „Unternehmen Barbarossa“, wie der Feldzug
von 1941 intern genannt wurde, war im Dezember 1941 schließlich durch die
sowjetische Gegenoffensive gestoppt. Die zweite Offensive, das „Unternehmen
Blau“, das von Juni 1942 an den deutschen Sieg herbeiführen sollte, erreichte
letztendlich keines seiner Ziele, weder die dauerhafte Unterbrechung der
Verkehrslinien in Stalingrad noch die Erlangung der Erdölfelder im Nordkaukasus.
In mehreren Zügen gelang es der Roten Armee von November 1942 an, das Land bis
zum Sommer 1944 weitgehend zurückzuerobern, im Januar 1945 schließlich samt des
Baltikums.
Dies alles hat die militärhistorische Forschung in West und Ost in den letzten sechs-
sieben Jahrzehnten im Detail rekonstruiert. Freilich hat sich der Blick auf den Krieg
vor allem seit den 1980er Jahren stark verändert. Es ist inzwischen nicht mehr so viel
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von Siegen und Niederlagen, von heroischen Leistungen und Fehlentscheidungen
die Rede, sondern vielmehr von der Realität des Krieges für die einzelnen
Gesellschaften, voran natürlich für die ehemals sowjetische, aus heutiger Sicht
russische, ukrainische, belarussische usw., und auf der anderen Seite für die
deutsche, aber auch die österreichische, rumänische, finnische, ungarische usw.
Es ist sogar vor nicht allzu langer Zeit die These aufgestellt worden, dass der
deutsch-sowjetische Konflikt ein Krieg zweier Gesellschaften gegeneinander gewesen
sei. Sicher ist dagegen einzuwenden, dass der Weg, der in den Krieg führte und die
Art, wie er dann geführt wurde, in erster Linie von politischen Entscheidungen einer
vergleichsweise kleinen Gruppe von Menschen entschieden worden ist, dass dies
ohne die spezifischen Organisationsformen nationalsozialistischer Herrschaft nicht
möglich gewesen wäre. Dennoch kam das kulturelle Selbstverständnis, mit dem die
Wehrmacht in den Krieg zog, tief aus der deutschen Gesellschaft. Die Vorstellung,
Slawen seien nur begrenzt zur Zivilisation fähig, kursierte schon viel länger, wurde
jedoch in den Jahren ab 1939, nicht zuletzt durch die brutale Besatzungspraxis in
Polen, immer weiter radikalisiert. Dennoch lässt sich der deutsche Krieg nicht allein
auf einen Antislawismus zurückführen, waren doch diese Vorstellungen recht diffus
und unterlagen starken politischen Wandlungen. So wurden auch etwa die Litauer
oder die Lettgallen als Menschen zweiter Klasse angesehen, während das NS-Regime
gleichzeitig die Kroaten quasi zu Verbündeten machte.
Hingegen kann es kaum einen Zweifel unterliegen, dass der Antikommunismus, hier
speziell der Antibolschewismus eine zentrale Rolle bei der Motivierung des Krieges
spielte; nicht wenige dachten 1941 an die Wiederaufnahme jener Kämpfe, die sie vor
1921 gefochten hatten. Es war jedoch ein extrem autoritärer Antikommunismus, der
sich hier entfaltete, und gerade in den militärischen Eliten dazu beitrug, dass der
Vernichtungskrieg so breite Zustimmung und Beteiligung fand. Auch in weiten
Teilen der deutschen Gesellschaft traf der Krieg auf positive Resonanz, wie etwa
Beifallskundgebungen aus den Kirchen zeigen. Freilich zeigte sich bereits 1941, dass
dies zu einem Krieg ohne Ausweg wurde. Nachdem der hochriskante Feldzugsplan
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gescheitert war, mussten sich die Deutschen und ihre Verbündeten darauf einrichten,
dauerhaft Krieg gegen die Sowjetunion zu führen. Diese Unsicherheit hat sicher den
Zusammenhalt der Deutschen in den letzten Jahren des Nationalsozialismus, aber
auch ihre Bereitschaft zur Gewaltausübung erheblich gefördert.
Schließlich sei auf die Bedeutung eines dritten Syndroms hingewiesen, welches die
Wahrnehmung des Krieges unter den Deutschen maßgeblich gestaltete: den
Antisemitismus. Dieser stand für die Nationalsozialisten im Kern ihrer
Weltanschauung, wenn auch die Formel vom sogenannten Judeo-Bolschewismus
nur die eine Seite des Hasses gegen die Juden darstellte, die andere richtete sich
bekanntermaßen gegen eine vermeintlich jüdische Plutokratie im Westen und auch
im Reich. Innerhalb der deutschen Bevölkerung und noch mehr im Militär galten die
sowjetischen Juden als besonders verachtenswert und gefährlich; die antijüdische
Gewalt gegen diese traf auf deutlich mehr Zustimmung als die Maßnahmen gegen
jene Juden, die aus dem eigenen Kulturkreis kamen.
Schließlich war ein erheblicher Teil der deutschen Gesellschaft am Krieg gegen die
Sowjetunion direkt beteiligt, sicher die Mehrheit der insgesamt 18 Millionen Soldaten
der Wehrmacht, die wiederum die Mehrheit der deutschen Männer im Alter
zwischen 18 und 45 Jahren ausmachten. Erst in den letzten Jahrzehnten ist versucht
worden, das Gesicht dieser Armee – über militärische Führungsorganisation und
Generalität hinaus – zu erforschen. Gerade die Generalität entstammte eher einem
nationalkonservativen Milieu und ist nur in eingeschränktem Maße als nazifiziert
anzusehen. Dennoch zeigte sie sich im Krieg gegen die Sowjetunion nicht nur
militärisch, sondern auch politisch hoch motiviert und gestaltete den
Vernichtungskrieg in erheblichem Ausmaß selbst.
Es ist erstaunlich, wie wenig wir bis heute über die breite Militärelite, das
Offizierskorps in Erfahrung gebracht haben. Insbesondere die
Truppenkommandeure waren von entscheidender Bedeutung, sie verfügten oft über
Handlungsspielräume nicht nur in der Kriegsführung, sondern auch bei der
Anwendung von Gewalt gegen Kriegsgefangene und Zivilisten. Die meisten
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Mordaktionen wurden von Truppenführern angeordnet. Selbst die Leutnante und
Hauptmänner waren nicht nur Vorgesetzte, sondern meist auch Leitbilder für das
Verhalten der Mannschaften, im Guten wie im Schlechten.
Die überwiegende Mehrheit der Soldaten äußerte sich kaum politisch, wie man nach
den neuen Analysen der Aussagen deutscher Kriegsgefangener in westlicher Hand,
annehmen kann. Dies hieß freilich nicht, dass sie vom Nationalsozialismus
unberührt geblieben seien. Vielmehr wurden der öffentliche Diskurs und oftmals
auch die Gewalt gegen sowjetische Kriegsgefangene und Zivilisten bereitwillig
akzeptiert, in den rückwärtigen Gebieten auch praktiziert. Gerade die Mannschaften
waren Teil der deutschen Gesellschaft, auch unter ihnen gab es einen erheblichen
Prozentsatz bekennender Nationalsozialisten. Freilich darf man nicht außer Acht
lassen, dass die deutschen Männer in diesen Krieg ziehen mussten, ob sie nun wollten
oder nicht, und letztlich dafür auch einen hohen Preis zahlten, 3,5 bis 4 Mio. von
ihnen starben im Kampf gegen die Rote Armee.
Über die Rote Armee, die Verteidiger, wissen wir deutlich weniger als über die
Angreifer. Zwar hat sich auch in der Sowjetunion eine breite militärhistorische
Forschung entwickelt, die heute weitergeführt wird. Doch bleibt das Bild von den
Rotarmisten und Rotarmistinnen oft schemenhaft und impressionistisch, wir haben
kaum systematische Kenntnisse von Strukturen, Weltbildern und Alltag jener fast 40
Mio. Männer und Frauen, die von 1941 bis 1945 im Einsatz waren, und von denen
fast jeder Vierte den Tod fand, auf dem Schlachtfeld, im Lazarett oder in der
mörderischen deutschen Kriegsgefangenschaft.
Die Rote Armee geriet in den ersten eineinhalb Jahren des Krieges in eine
katastrophale Situation, nicht zuletzt durch Stalins Fehlkalkulationen im Frühjahr
1941 und durch eine Reihe von Fehlentscheidungen. Die Soldaten und Soldatinnen
litten aber nicht nur unter der schwierigen militärischen Lage, sondern auch unter
Versorgungsproblemen und nicht zuletzt unter dem stalinistischen Gewaltsystem,
das bis weit in die Armee hineinreichte. Die Exekutionen oder Einweisung in
Strafeinheiten wegen angeblichen Versagens oder Verweigerung nahmen exorbitante
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Ausmaße an. All dies ist bereits ein wenig näher erforscht worden, wir sind jedoch
noch weit von einem Gesamtbild der Roten Armee entfernt, das der modernen
Forschung entspricht. Gerade hier besteht die Hoffnung auf neue grundlegende
Aktenfunde in der nächsten Zukunft.
Während die deutsche „Heimatfront“, also die Gesellschaft im Reich, teilweise bis ins
Detail ausgeleuchtet worden ist, bestehen aus westlicher Sicht nur vage
Vorstellungen von der sowjetischen „Heimatfront“, vom Schicksal jener Gesellschaft,
etwa ein Drittel der Bewohner, die jenseits der Front lebten oder rechtzeitig ins
unbesetzte Gebiete gelangt waren. Dieses Thema hat zwar weiterhin Konjunktur in
den einzelnen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, wird hier und andernorts im
sogenannten Westen kaum wahrgenommen. Also bestehen hier doch eklatante
Ungleichgewichte.
Dagegen stehen im Zentrum der westlichen Forschung seit nahezu drei Jahrzehnten
die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft und ihrer Verbrechen. Obwohl
diese Okkupation nur vergleichsweise kurze Zeit andauerte, in den einzelnen
Regionen im Durchschnitt etwa zweieinhalb Jahre, zeitigte sie verheerende Folgen.
An erster Stelle ist natürlich der Massenmord an den Juden zu nennen, der von Juni
bis Oktober 1941 zur totalen Ausrottung eskalierte und bereits nach einem Jahr, etwa
im November 1942, zum überwiegenden Teil vollendet war. Bis Kriegsende wurden
etwa 2,5 Mio. Menschen jüdischer Herkunft ermordet, die aus der Sowjetunion in
ihren Grenzen von 1941 stammten. Dieses Megaverbrechen stand zunächst im
Sommer 1941 noch im Kontext der rassistischen Kriegführung, entwickelte sich dann
jedoch zu einem eigenen Gewaltkomplex, der von nahezu allen Besatzungsbehörden
forciert wurde. Der Mord an den Juden in der besetzten Sowjetunion bleibt – trotz
aller Forschungsanstrengungen im einzelnen – immer noch jener Teil des Holocaust,
über den wir am wenigsten wissen. Dies liegt nicht nur an der geringen Zahl der
Überlebenden, sondern auch an der Ignorierung des Themas nach 1945. Da nach
dem Krieg kaum Zeugenbefragungen vorgenommen wurden, ist das Schicksal der
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Opfer, ihr Alltag und ihre Wahrnehmungen, heute nur noch unter größten
Anstrengungen zu rekonstruieren.
In noch eklatanterem Ausmaß muss man dies freilich für die Verbrechen an den
sowjetischen Kriegsgefangenen konstatieren. Über das Schicksal dieser zweiten
großen Opfergruppe, momentan liegen die Schätzungen bei einer Zahl von 2,5 bis 3
Mio. Toten, gibt nur noch eine vergleichsweise geringe Zahl von Quellen Auskunft.
Dieser Mangel gilt insbesondere für jene Kriegsgefangenen, die innerhalb der
besetzten Gebiete starben, und dies macht die Mehrzahl der Opfer aus. Hier steht die
Geschichtswissenschaft heute, nach 70 Jahren, zumeist erst am Anfang. Zu manchen
der Kriegsgefangenenlager, die in ihrer Opferzahl durchaus größeren deutschen
Konzentrationslagern gleich kamen, verfügen wir über fast gar keine Quellen.
Die Wehrmacht plante anfangs Morde an bestimmten sowjetischen
Kriegsgefangenen, den Politkadern und den Juden unter ihnen. Freilich lag auch ein
Massensterben bereits in der Logik der militärischen Besatzungspolitik, durch die
Entrechtung der Gefangenen, die Hungerpläne und die menschenverachtenden
Rahmenbedingungen. Im Oktober/November 1941 wurde entschieden, alle jene
Gefangenen, die vermeintlich arbeitsunfähig erschienen, sowohl im Reich als auch in
den besetzten Gebieten verhungern zu lassen; diese Radikalisierung traf innerhalb
der Wehrmacht nicht auf ungeteilte Zustimmung. Dennoch überlebte jeder zweite
Gefangene Winter und Frühjahr 1941/42 nicht. Fast mehr als alle anderen
Opfergruppen waren die überlebenden Kriegsgefangenen nach dem Krieg zum
Schweigen verurteilt, nicht wenige mussten vielmehr Diskriminierung und
Repression über sich ergehen lassen. Von einer Entschädigung blieben sie
ausgeschlossen.
Schließlich sind noch drei andere Gruppen zu nennen, die unter Besatzung gezielt
Opfer von Massenmorden wurden. Die hilflosesten aller Opfer des
Nationalsozialismus waren die Kranken und Behinderten in den Anstalten. Ihr
Schicksal entschied sich meist in einem Zusammenspiel von deutschen Militär- und
Polizeibehörden. Zeigten deutsche Militärmediziner Interesse an den Gebäuden der
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sowjetischen Psychiatrie, so arrangierten sie nicht selten Massenmorde an den
Insassen. Eine ähnlich große Bedeutung hatten die Initiativen einzelner
Wehrmachtstellen für die Ermordung der Roma im Besatzungsbiet. Schließlich zeigt
die Geschichtswissenschaft relativ wenig Interesse an den Verbrechen, die gegen
echte oder vermeintliche Kommunisten verübt wurden. Ich würde sogar sagen, hier
tappen wir noch weitgehend im Dunkeln.
Weniger zielgerichtet, aber noch verheerender gestalteten sich andere mörderische
Bereiche der Besatzungspolitik, so zunächst die Hungerpolitik. Die Hungerszenarien,
die deutsche Funktionäre im Frühjahr 1941 diskutierten, mit bis zu 30 Mio.
Verhungerten oder Geflüchteten, wurden im Besatzungsgebiet nur bedingt realisiert.
Sie richteten sich vor allem gegen Städte in Frontnähe, und hier zunehmend gegen
jene Gebiete, die von Russen gegenüber anderen Nationalitäten dominiert wurden.
Im Vorfeld von Leningrad, in Bereichen der Heeresgruppe Mitte, aber auch in der
Ostukraine und auf der Krim wurde die Mehrheit der Bevölkerung nicht
ausreichend ernährt und hungerte. Wir wissen nicht, wie viele Menschenleben auf
das Konto dieser Politik gingen; lediglich für das belagerte Leningrad, dessen
Bevölkerung systematisch von der Versorgung abgeschnitten wurde, lässt sich dies
genauer feststellen. Unter den Besatzern herrschte zwar Einigkeit darüber, dass man
die Bevölkerung nur minimal versorgen würde, eine gezielte Aushungerung im
besetzten Gebiet war jedoch umstritten und wurde zusehends als kontraproduktiv
angesehen.
Die zweite ungezielte Vernichtungspolitik hing mit dem exzessiven Anti-
Partisanenkrieg zusammen. Ab August 1941 trat bewaffneter Widerstand gegen die
Besatzung auf, ein Jahr später entfaltete sich eine größere koordinierte
Partisanenbewegung. Die deutschen Besatzer gingen dagegen mit hemmungslosem
Terror vor, im Jahre 1941 noch eher ungerichtet, 1942 bis Frühjahr 1943 dann in
sogenannten Großunternehmungen, die jeweils Tausenden oder gar Zehntausenden
Einwohner der Partisanengebiete das Leben kostete, von Frühjahr 1943 nutzte man
die „Großunternehmungen“ zur Deportation in die Zwangsarbeit. Diese
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flächendeckende Strategie in den Partisanengebieten wie großen Teilen
Weißrusslands oder der RSFSR kostete wohl 400-500.000 Menschen das Leben. Nur
ein kleiner Teil davon sind als Widerstandskämpfer anzusehen, vielmehr wurden
gerade in den westlichen Zivilverwaltungsgebieten auch Juden unter dem Vorwand
von Partisanenaktionen massenhaft ermordet.
Und auch das Finale der deutschen Herrschaft war von extremer Gewalt begleitet,
zwangsweisen Massenevakuierungen, Massakern an Gefängnisinsassen beim Abzug
und von der systematischen Zerstörung nicht nur der militärischen, sondern auch
der zivilen Infrastruktur bis hin zu Wohngebäuden. Es war in vielerlei Hinsicht
tatsächlich ein Vernichtungskrieg.
Die exzeptionelle Bedeutung der Besatzungsverbrechen für die Geschichte des
deutsch-sowjetischen Krieges hat das Schicksal der gesamten Bevölkerung, die unter
deutscher Besatzung lebte, etwas in den Hintergrund gedrängt. Etwa 50-70 Millionen
Menschen gerieten zeitweise unter deutsche Herrschaft. Diese
Besatzungsgesellschaft ist allein schon von der Einwohnerzahl her, vergleichbar jener
Deutschlands oder Frankreichs, schwer zu fassen. Das heißt, dass wir hier von einer
enormen Komplexität ausgehen können, die zudem noch starken geographischen
Veränderungen unterlag, da die Front ja ständig in Bewegung blieb.
Immerhin lässt sich feststellen, dass die Besatzungsgesellschaft vor allem aus Frauen,
Kindern und älteren Personen bestand, dass viele Fachkräfte, aber auch die lokalen
Eliten zu einem erheblichen Teil abgezogen waren. Zum anderen war das
Wirtschaftssystem, das allein schon durch die Schwäche der Sowjetökonomie und
die Zerstörungen beim Rückzug der Roten Armee in Mitleidenschaft gezogen
worden war, unter deutscher Herrschaft noch weiter zurückgefahren.
Betriebsschließungen und absichtliche Geldentwertung drängten weite Teile der
Einheimischen an den Rand ihrer Existenz, insbesondere natürlich in den Städten.
Dennoch kann man davon ausgehen, dass zumindest noch 1941 erhebliche Teile der
Bevölkerung Hoffnung in das neue Regime setzten. Zu frisch war noch die
Erinnerung an die stalinistische Terrorherrschaft, an die Kollektivierung und den
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Massenhunger von 1933 im Süden. Insbesondere in jenen Westgebieten, die Stalin
1939/40 annektiert hatte, waren die Erwartungen an die deutschen Besatzer hoch.
Einheimische antikommunistische Untergrundgruppen traten offen auf die deutsche
Seite, beteiligten sich teilweise sogar an der neuen Besatzungsgewalt.
Doch auch die Mehrheit der Bevölkerung wurde zusehends vor die Entscheidung
gestellt, wie sie ihr Überleben unter den neuen Gewaltherrschern gestalten sollte. In
der Zeit bis Ende 1942 musste man davon ausgehen, dass man sich auf eine
dauerhafte deutsche Anwesenheit einrichtet. Eine begrenzte Form der
Zusammenarbeit mit der Besatzungsherrschaft war unumgänglich, um das
öffentliche Leben aufrecht zu erhalten, so in den Stadtverwaltungen, in den
Fachverwaltungen oder in der Landwirtschaft. Darüber hinaus schien die
Zusammenarbeit mit den Besatzern ein gesichertes Leben zu garantieren, durch
Bezahlung, schließlich durch den Schutz vor etwaiger Deportation zur Zwangsarbeit.
Freilich musste jedem klar sein, dass man sich mit einem extremen Gewaltregime
einließ. Insbesondere die einheimische Hilfspolizei, die in allen besetzten Gebieten
eingerichtet wurde, war zunehmend an Mordaktionen beteiligt, besonders gegen
Juden, aber auch gegen Kommunisten und andere Gruppen. Nicht selten begannen
die Hilfspolizisten fern deutscher Kontrolle in Dörfern und Kleinstädten ihr eigenes
kleines Regime zu errichten. Etwas anders sah es mit den einheimischen Kräften der
Wehrmacht aus, den sogenannten Hiwis, die aus Kriegsgefangenen rekrutiert
worden waren. Die Wehrmacht versuchte alsbald, aus Gefangenen bestimmter
Nationalitäten auch kleinere Hilfsverbände aufzustellen, 1943 trat dann die Waffen-
SS hinzu, die ganze Divisionen aus einheimischen Zivilisten rekrutierte. Diese
Hilfskräfte kämpften nicht nur auf deutscher Seite, sondern waren teilweise auch bei
der Bekämpfung der Partisanen eingesetzt, so dass der Partisanenkrieg von Mitte
1942 zusehends auch Elemente eines Bürgerkrieges in sich trug.
Die Partisanen selbst sind heute wieder ein Thema, das heiß umstritten ist. Anfangs
noch relativ unkoordiniert und zusammengewürfelt, entwickelten sie sich immer
mehr zu einem militärischen Gegner der deutschen Besatzung, wenn auch ihre
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Effektivität vor 1943 recht unterschiedlich bewertet wird. Zugleich unterlagen die
Partisaneneinheiten immer stärker der Führung und Kontrolle durch das
stalinistische System und gingen gegen echte oder vermeintliche Kollaborateure
gewaltsam vor. Oft manövrierten sie vor allem die Landbevölkerung in eine
schwierige Lage, nutzten diese für ihre Versorgung und setzten sie dem Teufelskreis
von Gewalt und Repressalien aus.
In den Partisanengebieten war das Leben der Einwohner streckenweise kaum mehr
erträglich. Nicht selten ging ein Riss durchs Dorf, weil ein Teil der Jugend bei der
Hilfspolizei arbeitete, ein anderer zu den Partisanen gewechselt war. Insbesondere ab
1943 war der Wechsel von der einen zur anderen Seite keine Seltenheit mehr. Im
übrigen besetzten Territorium versuchten die Menschen sich, so weit es ging,
einzurichten. Insbesondere die Jugendlichen mussten von 1942 an fürchten, zur
Zwangsarbeit nach Deutschland rekrutiert zu werden, seit Sommer des Jahres in
regelrechten Menschenjagden. Die Mehrheit der Einheimischen suchte ihre kleinen
oder großen Arrangements, mit den Kommunalverwaltungen, der Hilfspolizei, aber
auch mit den Deutschen. Erst mit der Wende von Stalingrad zeichnete sich ab, dass
die Heimat von den Besatzern befreit und zugleich das stalinistische System
zurückkehren würde.
Doch über alle diese Verhaltensweisen haben wir bis heute keine systematische
Kenntnis, weil es an methodisch regulierten Studien, insbesondere auch
Mikrostudien zu einzelnen Städten oder Rajons, weitgehend fehlt. Es besteht jedoch
genauso Bedarf an größer angelegten Synthesen, die alle diese Themen
zusammenführen könnten, Besatzer, Besetzte, Rolle des unbesetzten Gebietes,
Gewalt, Widerstand, Kollaboration und Alltag. Dieser Blickwinkel würde die
Einordnung in einen größeren historischen Rahmen erleichtern, in die Kontinuität
der sowjetischen, aber auch etwa der baltischen, weißrussischen oder ukrainischen
Geschichte.
Ohne Zweifel kann der deutsch-sowjetische Krieg als der gewalttätigste Konflikt der
Geschichte angesehen werden, und dennoch fehlt es an Einordnungen, die diese
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Einschätzung stärker konturieren. So bestehen bis heute erheblich Unsicherheiten bei
der Ermittlung der Kriegsverluste der Sowjetunion. Zwar ergeben die Statistiken
über militärische Verluste das Bild exakter Rekonstruktion, doch auch diese sind zu
hinterfragen. Auf deutlich unsicherem Boden stehen die Statistiken über zivile
Verluste, da diese noch auf den Schätzungen der Außerordentlichen
Staatskommission zur Ermittlung der deutsch-faschistischen Verbrechen von 1943-46
beruhen und teilweise bis heute unkritisch übernommen werden.
Aus analytischer Sicht fehlt es aber auch an komparativen Zugängen, etwa im
Vergleich zur Besatzungsgeschichte Polens oder Jugoslawiens, zwei Länder, die
ebenfalls schwer unter der deutschen Besatzungsherrschaft zu leiden hatten. Gerade
aus dieser Perspektive ließe sich das spezifisch „Sowjetische“ stärker herausarbeiten.
Schließlich ist danach zu fragen, ob der Begriff „Vernichtungskrieg“, der heutzutage
bei der Erwähnung des deutsch-sowjetischen Krieges in aller Munde ist, nicht als ein
Typus anzusehen ist. Schon die Kolonialkriege Mussolinis in Libyen und Äthiopien
deuten eine neue, radikale Variante der Kriegführung und Besatzung an; noch viel
eher gilt dies für den japanischen Eroberungskrieg in China, insbesondere von 1937
an: auch hier lassen sich riesige Massaker, Deportationen, extreme
Widerstandsbekämpfung und schließlich millionenhafter Zwangsarbeitseinsatz
feststellen. Umgedreht stellt sich damit die Frage: war der deutsche
Vernichtungskrieg in der Sowjetunion nur ein Ergebnis des extremen
nationalsozialistischen Systems, oder war er auch unter weniger totalitären
Bedingungen denkbar? Ich meine, für den Mord an den Juden gilt das wohl nicht, für
viele andere Formen der Gewalt bleibt die Frage jedoch offen.
Auf jeden Fall bleibt der deutsch-sowjetische Krieg von 1941-1945 weiterhin ein
zentraler Bezugspunkt der russischen bzw. post-sowjetischen und der deutschen
Geschichtskultur. Freilich verändern sich seit zwanzig Jahren allmählich die
Perspektiven auf diese Explosion von Gewalt. Wir befinden uns jetzt leider in einer
Phase, in der die letzten Zeitzeugen bald nicht mehr ihre Stimme erheben können.
Deshalb erscheint die Verantwortung der Öffentlichkeit, aber auch der
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Geschichtswissenschaft bei der Rekonstruktion und Erinnerung umso gewichtiger zu
werden. Gerade der Geschichtswissenschaft würde es gut anstehen, immer neue
Fragestellungen zu entwickeln und auch vernachlässigte Akteure und Opfergruppen
ins Licht zu rücken, um ein umfassendes Bild dieser Tragödie möglich zu machen. Die
Kriegs- und Gewaltgeschichte kann schließlich nur in einem internationalen
Austausch erforscht werden, in pluralen Zugängen, was Methoden und auch
kulturelle Orientierungen angeht. Die Geschichtswissenschaft kann dadurch auch
einen Beitrag zur Erinnerung und zur gegenseitigen Verständigung leisten. Und das
erscheint mir nicht wenig zu sein.