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Philosophische Fakultät I
Institut für Geschichtswissenschaften
Masterarbeit
Erstprüfer: Prof. Dr. Thomas Mergel
Zweitprüfer: Prof. Dr. Thomas Sandkühler
Wintersemester 2012/13
Baptismus in der Bundesrepublik (1945 - 1968).
Identitätskonstruktionen eines freikirchlichen Milieus
Andreas Bruns Master of Education
Maximilianstraße 23 6. Fachsemester
48147 Münster Matrikelnummer: 534837
andreasbruns2001@yahoo.de 22. April 2013
And if they all, kneeling with poised palms,
millions, billions of them, ended together with their illusion?
I shall never agree. I will give them the crown.
The human mind is splendid; lips powerful,
and the summons so great it must open Paradise.
Czeslaw Milosz aus Throughout Our Lands
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................................................... 1
2. „Sprechende Zahlen“? – Realitätseffekte der Quantifizierung .............................................. 7
3. Die „Verweltlichung der Jünger Jesu“ – Identität in der Krise ............................................ 16
4. Identitätstransformationen .................................................................................................... 26
4.1 Von der Abgrenzung gegen „die Kirche“ … .................................................................. 26
4.2 …zur Abgrenzung gegen „die Welt“ .............................................................................. 35
4.3 Von Exklusion und Inklusion: Ghettoisierung und evangelikale Integration ................ 38
4.4 Von Pluralisierung, Demokratisierung und Politisierung ............................................... 46
4.5 Von der Negation von Tradition zur Erfindung von Tradition ...................................... 52
4.6 Von Schuld und Verantwortung: der Umgang mit dem „Dritten Reich“ ....................... 55
5. Fazit ...................................................................................................................................... 59
6. Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 63
7. Appendix .............................................................................................................................. 66
1
1. Einleitung
Die sogenannten „klassischen Freikirchen“ entstanden in Deutschland überwiegend zwischen
den 1830er und 1850er Jahren.1 Die quantitativ größte dieser „klassischen Freikirchen“ in
Deutschland sind die Baptisten – seit 1941 Bund Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden
(BEFG),2 die sich 1834 mit gerade einmal sieben Mitgliedern in Hamburg konstituierten.
3 Bis
1948 wuchsen die deutschen Baptisten durch die sogenannte „Gläubigentaufe“ oder, etwas
unschärfer, „Erwachsenentaufe“ kontinuierlich auf über 100.000 Mitglieder an.4 Vor allem im
religionsfreundlichen Klima Nachkriegsdeutschlands erfuhren die Baptisten eine Phase des
für ihre Geschichte beispiellosen absoluten Wachstums – deutschlandweit gesehen ihre letzte.
Daraufhin verloren sie jedoch in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre leicht an
Mitgliedern und stagnieren bis heute in ihrem Mitgliederbestand.5
Wie erlebten die deutschen Baptisten die Revitalisierung ihres Bundes Ende der 1940er Jah-
re? Wie nahmen sie dann die in den 1950er Jahren einsetzende Rezession und Stagnation
wahr? War diese ihnen überhaupt bewusst und mündete in eine Art Krisenbewusstsein oder
erfreute man sich der bis 1950 hinzugewonnenen „Brüder und Schwestern“ und erlebte ange-
nehme Kontinuität?
Falls ersteres der Fall sein sollte, könnte man festhalten, dass der Trommelschlag der
„religious crisis of the 1960s“6, der Krise der westlichen Christenheit, die Hugh McLeod in
den 1960er Jahren verortet, partiell schon Anfang der 1950er Jahre zu hören war. Zwar nicht
im Katholizismus und den evangelischen Landeskirchen, wohl aber im deutschen Baptismus.
Der deutsche Baptismus hat im Vergleich zu den „großen“ Kirchen in Deutschland einen zah-
lenmäßig eher marginalen Charakter. Er stellt nichtsdestotrotz, als bisher im Diskurs um die
Krise von Religion im 20. Jahrhundert nicht beachtetes Phänomen, einen neuen Referenz-
punkt dar.
1 Karl Heinz Voigt, Freikirchen in Deutschland (19. und 20. Jahrhundert) (III/6 Kirchengeschichte in
Einzeldarstellungen), Leipzig 2004. Beispielsweise ist die Herrnhuter Brüdergemeine zwar eine Freikirche. Sie
ist aber älter und wird daher nicht zu den klassischen Freikirchen gezählt. 2 VEF, Wer wir sind, <http://www.vef.de/wer-wir-sind/> , letzter Aufruf 16. März 2013. Die Vereinigung Evan-
gelischer Freikirchen (VEF) in Deutschland hat zehn Mitglieder sowie vier Gastmitglieder. Mit aktuell 86.100
Mitgliedern ist der BEFG das mit Abstand zahlenstärkste Mitglied. 3 Günter Balders, Kurze Geschichte der deutschen Baptisten, in: ders. (Hg.), Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe.
150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland 1834-1984. Festschrift im Auftrag des Bundes Evangelisch-
Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, Wuppertal und Kassel 19893, 18ff.
4 Vgl. 8. Appendix, Diagramm 1 & 2. Während die Einwohnerzahl Deutschlands beispielsweise von 1914 bis
1948 stagnierte (zwischen 67 und 69 Millionen), hatte sich die Mitgliederzahl der Baptisten in Deutschland im
selben Zeitraum mehr als verdoppelt (1914: 46.293, 1950: 101.506). 5 Ebd.
6 Hugh McLeod, The Religious Crisis of the 1960’s, Oxford 2010.
2
Für Hugh McLeod markieren die „langen 1960er Jahre“ (Arthur Marwick), einer Periode von
1958 bis 1974, einen Traditionsbruch in der westlichen Christenheit, der vergleichbar sei mit
dem Bruch, der durch die Reformation entstanden ist.7 Unter Historikern und Soziologen wird
kaum bestritten, dass die „religious crisis of the 1960s“ im Christentum der westlichen Welt
stattgefunden hat. Strittig ist einzig und allein die Frage nach den Gründen für die Krise bzw.
wann genau sie einsetzte. Dabei wird zum einen differenziert zwischen langfristigen (evoluti-
onärer Prozess der Säkularisierung), mittelfristigen (z.B. wachsender Wohlstand) und kurz-
fristigen (Zweites Vatikanisches Konzil oder Vietnamkrieg) Erklärungsansätzen, zum anderen
zwischen monokausalen (Gender oder Arbeiterklasse als „Masterfaktoren“) und multikausa-
len Ansätzen, so z.B Hugh McLeod, der alle Erklärungsansätze bündelt und in ein Verhältnis
setzt.8 McLeod hebt darüber vor allem auch zunehmende Alternativen zum Christentum, ei-
nen Mentalitätswandel (Perzeption der Gesellschaft als christlich in den 1950ern, als „säku-
lar“ in den 1960ern), abnehmende christliche Sozialisierung von Kindern (was auch für einen
Rückgang des konfessionellen Bewusstsein sorgte) und die Ablösung konfessioneller Kon-
flikte von konfessionsinternen Konflikten hervor.9
Für das Verhältnis von Religion und Moderne beschränkte sich ein Großteil der Studien in der
deutschen Zeitgeschichtsschreibung für die Nachkriegszeit bisher auf den deutschen Katholi-
zismus. Bezogen auf eine etwaige Renaissance des Religiösen konstatiert Klaus Große Kracht
eine „katholische Welle der ‚Stunde Null‘, die bereits in den 1950er Jahren wieder verebbte,
letztlich nur von kurzer Dauer war und Europa wieder auf die alten, seit dem 19. Jahrhundert
sich abzeichnenden Pfade der Säkularisierung zurückkehrte.“10
Obwohl demnach beispiels-
weise die katholischen Kirchgangszahlen in Nachkriegsdeutschland als wichtiger Religiosi-
tätsindex nicht mehr das Niveau der 1930er Jahre erreichten, genossen katholische Kirchen-
führer wie Kardinal von Galen und Kardinal Frings in der Bevölkerung und bei den Alliierten
hohe moralische Autorität und aus der subjektiven Perspektive des katholischen Milieus
schienen überfüllte Kirchen und Wallfahrtsbegeisterung die Rechristianisierungshoffnungen
ihrer Kirchenführer zunächst zu bestätigen.11
Ein allgemeines Krisenbewusstsein entstand in
der Katholischen Kirche erst im Zuge des zweiten Vatikanischen Konzils.12
Auch der deut-
7 McLeod, 1.
8 McLeod.
9 Ebd.
10 Klaus Große Kracht, Die katholische Welle der „Stunde Null“. Katholische Aktion, missionarische Bewegung
und Pastoralmacht in Deutschland, Italien und Frankreich 1945-1960, in: AfS 51 (2011), 163-186, 164. 11
Ebd. 12
Doch schon für 1952 dokumentiert Wilhelm Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum
Münster und in den Niederlanden 1945-1980, Paderborn 1997, 184-191 ein vereinzeltes Problembewusstsein in
der katholischen Kirche bzgl. eines Mangels an Kandidaten für die Priesterordinationen und zu wenig Priestern
3
sche Protestantismus war trotz intrakonfessionellen Reorganisationsproblemen nach dem En-
de des Krieges geprägt von Rechristianisierungshoffnungen,13
die auch genährt wurden durch
die Unterstützung der amerikanischen und britischen Militäradministration in den jeweiligen
Zonen.14
Die evangelischen Kirchentage wurden in den 1950er Jahren zu Massenveranstal-
tungen. Ein Krisenbewusstsein geht auch hier erst einher mit den sozialen und politischen
Umwälzungen der 1960er Jahre bzw. mit den damit verbundenen Kirchenaustritten.
Abgesehen davon, ob Säkularisierung de facto passiert, ob Religion des Weiteren mit der
Moderne unvereinbar ist,15
gar überwunden werden müsse, damit Modernisierungsprozesse
launciert werden können oder ob Religion kompatibel ist mit der Moderne16
und sogar als
Katalysator der solchen fungiert,17
lässt sich Säkularisierung auch als Prozess der Selbstwahr-
nehmung und Selbstzuschreibung verstehen. So liest Friedrich Wilhelm Graf in seiner Mono-
graphie Wiederkehr der Götter Säkularisierung.18
Voraussetzung dafür ist ein „dynamisch-
prozesshafter Begriff von Wirklichkeit“, welche demnach „in alltäglicher Interaktion durch
interpretative Leistungen“ produziert werden kann.19
Solch eine theoretische Verortung
scheint gerade für den Baptismus geeignet, der nach Andrea Strübind ein „dynamisches Kir-
chenverständnis“ aufweist, das in einem „prozesshaften ‚Kirche-Sein‘“ resultiere. Nicht die
eigene Tradition, die für den Baptismus keinen „substanziellen Wert“ darstellen würde, son-
dern vielmehr das gegenwärtige „‚Commitment‘ der einzelnen Mitglieder“ sei dafür grundle-
gend.20
In Anlehnung an Friedrich Wilhelm Grafs Verständnis von Säkularisierung und vor
dem Hintergrund des baptistischen Kirchenverständnisses wird hier daher nicht primär der
und Kapellen am Niederrhein. So fürchtete man beispielsweise der durch Arbeitsmigration bedingten Masse an
neuen Katholiken am industrialisierten Niederrhein nicht mehr begegnen zu können (173-184). Wilhelm
Damberg, Milieu und Konzil: Zum Paradigmenwechsel konfessionellen Bewusstseins im Katholizismus der
frühen Bundesrepublik Deutschland, in: Olaf Blaschke, Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800
und 1870: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2001, 335-350, 343 bemerkt dass es zwar im bundes-
weiten Katholizismus seit 1950/51 einen rückläufigen Kirchenbesuch zu verzeichnen gibt, der allerdings (noch)
kein breites Krisenbewusstsein hervorrief, denn die absoluten Zahlen konnten gesteigert werden durch Flüchtlin-
ge und Vertriebene. 13
Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945. Weichenstellungen in
der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002, 310-314. 14
Greschat, 30ff. 15
Peter L. Berger, The Sacred Canopy. Elements of a Sociological Theory of Religion, Doubleday 1969. 16
José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994. 17
Peter L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Grand Rap-
ids 1999. 18
Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2003 und
ders., Friedrich Wilhelm Graf über die Herausforderungen der Religionen, Goethe Institut,
<http://www.goethe.de/ges/phi/dos/her/for/de2141838.htm>, letzter Aufruf 20. März 2013. 19
Michael Meuser, Konstruktion der Wirklichkeit, in: Lexikon zur Soziologie5, Wiesbaden 2011, 367. Mit einem
ähnlichen Konzept von Realität, allerdings mit Rückgriff auf Foucault, geht in etwa auch Hedwig Richter, Pie-
tismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR, Göttingen 2009 vor, die von „Wirklichkeits-
produktionen“ spricht. 20
Andrea Strübind, Vorwort, in: dies. & Martin Rothkegel (Hg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göt-
tingen 2012, VII-IX, hier VIIf.
4
Frage nachgegangen, warum die Baptisten gerade bzw. in einem solchen Ausmaß in der
Nachkriegszeit in ihrer Mitgliederzahl wuchsen und dann wiederum seit den 1950er Jahren
stagnierten bzw. zurückgingen, sondern wie die Baptisten sich und ihre Umwelt innerhalb
dieses Prozesses selbst wahrnahmen und dabei schließlich „Wirklichkeit“ produzierten.
Anhand eines solchen kulturkonstruktivistischen Ansatzes, der davon ausgeht, dass gesell-
schaftliche Zustände gemacht, ja konstruiert werden,21
soll untersucht werden, welche Bilder
die deutschen Baptisten in Abhängigkeit von einer dynamischen Umwelt von sich selbst und
eben dieser Umwelt konstruierten, denn in genau solchen Interaktionsprozessen wird Identität
generiert.22
Hier wird Identität verstanden als die Kontinuität und Konsistenz „des Selbsterle-
bens eines Individuums“ oder aber einer Gruppe, als eine Art roter Faden der Existenz.23
Da-
bei wird hier davon ausgegangen, dass das „Normale“ erst durch das „Andere“ Gestalt an-
nimmt (E. Kosofsky-Sedgwick) und dass Identitätsbildung und –konstruktion demnach durch
Abgrenzungsprozesse passiert.24
„Kollektive Identitäten“25
wie z.B. gesellschaftliche Gruppen
bilden dabei in Abgrenzung von out-groups in-groups. Mitglieder der in-group identifizieren
sich stark mit ihrer „Bezugsgruppe“ und fühlen sich ihr zugehörig.26
Die out-group wird dabei
zur negativen Bezugsgruppe bzw. dem ‚Anderen‘.27
Wovon grenzten sich also die deutschen
Baptisten ab, um sich selbst zu sehen? Wer war für die Baptisten ‚das Andere‘ und wie wurde
es in ihren Diskursen repräsentiert, ja konstruiert?
Letztlich soll in dieser Arbeit untersucht werden, wie der deutsche Baptismus zwischen 1945
und 1968 durch die diskursive Produktion von Selbst- und Fremdbildern baptistische Identitä-
ten konstruierte und welche Rückschlüsse dieser Prozess zunächst auf Kontinuitäten und Brü-
che des baptistischen Milieus und schließlich auf ein etwaiges Krisenbewusstsein der Baptis-
ten erlaubt. Die Analyse diskursiver Konstruktionen baptistischer Identität erfolgt im weiteren
Verlauf anhand der Hypothese verschiedener, teilweise sich überlappender, teilweise wider-
strebender Entwicklungsphasen im deutschen Baptismus von 1945 bis 1968.
21
Hanns Wienold, „Konstruktivismus“, in: Lexikon zur Soziologie5, Wiesbaden 2011, 367f.
22 Hans-Ulrich Wehler, Erik Erikson. Der unaufhaltsame Siegeszug der „Identität“, in: ders., Die Herausforde-
rung der Kulturgeschichte, München 1998, 130-135, 130. Der wissenschaftlich eher unpräzise Begriff der „Iden-
tität“ sei nichtsdestotrotz en vogue und habe ältere Begriffe wie „Mentalität, Klassenbewußtsein, Tradition“ in
der geschichtswissenschaftlichen Forschung ersetzt, so Wehler. Der Begriff der „Identität“, der zurückgeht auf
den deutsch-US-amerikanischen Psychoanalytiker Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus (1966), Frankfurt
a. M. 1973 und sein Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung (Erikson transzendiert dabei die Phasenlehre
Sigmund Freuds zu einer psychosoziale Dimension der Entwicklung des Menschen vom Frühkind bis zum Er-
wachsenenalter)und ist Wehler zu Folge demnach auch übertragbar auf soziale Kollektive. 23
Edgar Hörnig & Rolf Klima, Identität, in: Lexikon zur Soziologie5, Wiesbaden 2011, 292.
24 Rüdiger Lautmann, othering, in: Lexikon zur Soziologie
5, Wiesbaden 2011, 493f.
25 Michael Meuser, kulturelle Identität, in: Lexikon zur Soziologie
5, Wiesbaden 2011, 292.
26 Waldemar Lilli & Rolf Klima, Eigengruppe, in: Lexikon zur Soziologe
5, Wiesbaden 2011, 155.
27 Waldemar Lilli, Fremdgruppe, in: Lexikon zur Soziologie
5, Wiesbaden 2011, 215f.
5
a) Konfessionalisierungsphase
Die Wahrnehmung des revitalisierten Gemeindelebens und des Wachstums direkt
nach dem Krieg – durch Evangelisation aber auch durch Migration (ein Drittel der
deutschen Baptisten wurde aus den verlorenen Ostgebieten vertrieben)28
resultierte in
Superioritätserfahrungen und einer Verstärkung des konfessionellen Bewusstseins im
baptistischen Milieu. Das ‚Andere‘ war für die Baptisten in den 1940er Jahren noch
traditionell „die Kirche“, von der man sich in Diskursen als „Gemeinde“ bewusst ab-
grenzte.
b) Abschottungsphase
In den 1950er Jahren ersetzte „die Welt“ aufgrund der akzelerierenden Modernisie-
rung im Zuge wirtschaftlicher Erholung „die Kirche“ als das ‚Andere‘ im Baptismus.
Das führte in den 1950er Jahren zu Abschottungstendenzen des baptistischen Milieus
von der sich zunehmender Säkularisierung ausgesetzten Gesellschaft.
c) Krisenphase
Die erstmals in der Geschichte der deutschen Baptisten einsetzende Stagnation des ei-
genen Wachstums führte zu einem früheren Krisenbewusstsein der religiösen Akteure
im bundesrepublikanischen Baptismus (Anfang der 1950er Jahre) als bei jenen in der
EKD bzw. der katholischen Kirche (Ende der 1950er, in den 1960er Jahren). Konfes-
sionelle Superioritätserfahrungen nahmen ab, konfessionelle Inferioritätserfahrungen
nahmen zu.
d) Evangelikalisierungsphase
Auf Grundlage verschiedener Kommunikationsplattformen wie der Evangelischen Al-
lianz wurden seit den 1950er Jahren alte Allianzen erneuert mit „theologisch konser-
vative[n] Christen“ aus anderen Freikirchen aber auch aus den Landeskirchen, welche
„sich überwiegend zu der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz bekennen.“29
So
transformierte sich das Selbstbild innerhalb des Baptismus: die konfessionelle Identität
wurde langsam abgelöst durch eine überkonfessionelle evangelikale Identität. Baptis-
ten fühlten sich weniger als Baptisten denn als „wiedergeborene“ Christen.
e) Framingphase
Eine öffentliche Stellungnahme zur Rolle der deutschen Baptisten im NS-Staat gab es
im deutschen Baptismus nicht, ganz im Gegensatz zur EKD, die 1945 mit der Stuttgar-
28
Balders, 126. 29
Friedhelm Jung, Die deusche evangelikale Bewegung. Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie, Frankfurt
a.M. 1992, 4. Demnach wird für diese Kreise seit den 1960er Jahren der Begriff „Evangelikale Bewegung“ be-
nutzt.
6
ter Schulderklärung weitgehend auf Unverständnis in der deutschen Bevölkerung
stieß.30
Mit dem einsetzenden Krisenbewusstsein im bundesrepublikanischen Baptis-
mus in den 1950er Jahren verbanden sich dann vermehrte Konstruktionen von Traditi-
on. Doch erst in den 1960er Jahren fand eine öffentliche Auseinandersetzung in bap-
tistischen Diskursen über die Rolle der Baptisten im „Dritten Reich“ statt. Diese war
erst möglich geworden durch zunehmende Pluralisierung und Demokratisierung seit
Ende der 1950er Jahre.
f) Demokratisierungs- und Politisierungsphase
Seit Mitte der 1950er Jahre, der Zeit der Identitätskrise innerhalb des Baptismus, lässt
sich in der Gemeinde eine zunehmenden Pluralisierung feststellen, die sich vor allem
durch unterschiedliche Meinungen in Leserbriefen ausdrückt. Das Forum der Leser-
briefe bot ab Ende der 1950er Jahre Raum für einen Wandel hin zum transparenten
und demokratischen Meinungsaustausch, der so auch einen einsetzenden Wandel im
Zusammenleben vieler Ortsgemeinden widerzuspiegeln scheint.
Als Analysegegenstand für die Selbstbilder der deutschen Baptisten, die qualitative Untersu-
chung der Konstruktion von subjektiven Sinnstrukturen wurden als Quellen die Jahrbücher
der Baptisten, ihre Bundesrats- und Bundeskonferenzprotokolle, Akten aus dem Evangeli-
schen Zentralarchiv über das Verhältnis von Freikirchen und Landeskirchen und als Haupt-
quelle Die Gemeinde (folglich einfach Gemeinde) selektiert. Die Gemeinde ist im Untersu-
chungszeitraum das zentrale Magazin der Baptisten, die „Wochenschrift für Gemeinde und
Haus + Organ des Bundes Ev.-Freikirchlicher Gemeinden“ wie es im Untertitel der ersten
Ausgabe vom 1. April 1946 heißt, und existiert bis heute.31
Trotz ihrer Deklaration als „Wo-
chenschrift“ erscheint die Gemeinde zunächst monatlich, später zweiwöchentlich32
und
schließlich wöchentlich im Oncken-Verlag mit einer bis Anfang der 1960er Jahre steigenden
Auflage von ca. 20.000 Exemplaren.33
Sie ist das Nachfolgemagazin des Wahrheitszeugen,
30
Martin Greschat, Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005) (IV/2 Kirchenge-
schichte in Einzeldarstellungen), Leipzig 2010, 17. 31
Die Gemeinde, 1.4.1946. Wobei man wohl sagen kann, dass die seit 1979 bei der Evangelischen Nachrichten-
agentur idea e.V. (besteht seit 1970) erscheinende Zeitschrift ideaSpektrum, einer überkonfessionellen Zeitschrift
der evangelikalen Bewegung, der Gemeinde bald Konkurrenz machte und wohl den Rang ablief. Auch das ein
eindeutiger Fingerzeig für die Erosion des baptistischen Milieus und die damit einhergehende Integration in das
sich formierende evangelikale Milieu. 32
AdS, 29.7.1948, in: Die Gemeinde vom 1.9.1948, 69. Von der amerikanischen Militäradministration geneh-
migt, auch aufgrund amerikanischer und schwedischer Papierspenden. Die Gemeinde liegt im Oncken-Archiv
vor als gebundene Ausgabe für jeweils ein Jahr, die durchlaufend nummeriert ist. Daher werden im Folgenden
immer auch Seitenangaben angeführt, die dann aber im Laufe des Jahres natürlich die übliche Seitenzahl einer
Einzelausgabe übersteigen. Des Weiteren ist die Rubrik AdS oftmals mit einer eigenen, der Ausgabe der Ge-
meinde vorzeitigen Datierung versehen, die dann immer mitangegeben wird. 33
Die Gemeinde vom 7. Mai 1978 ist eine Sonderausgabe ganz dem 150jährigen Jubiläum des Oncken-Verlages
gewidmet, darin: Günther Balders, 150 Jahre Oncken Verlag. Ein geschichtlicher Überblick, 5-19, hier 18. Da-
7
der bis zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gedruckt wurde. Die Rubrik „Aus der Schmiede“
(im Folgenden AdS), eine Art Editorial mit Kommentarfunktion, die immer im Anschluss an
eine anfängliche geistliche Reflexion angewandt wurde, ist eine der Traditionen, die vom
Wahrheitszeugen in der Gemeinde übernommen wurden.34
Der Autor von AdS, zumeist der
bzw. einer der Schriftleiter der Gemeinde, nennt sich selbst auch „Schmied“.35
Wie ein
Schmied Metall verarbeitet, ihm Form und Richtung gibt, so nahm auch der „Schmied“ der
Gemeinde die für den BEFG wichtigen Themen auf und kommentierte sie, gab Orientierung
in den für den Baptismus entscheidenden Diskussionen oder stieß diese an. Durch eine Analy-
se von AdS werden Stimmungen, Perspektiven und Mentalitäten im Baptismus lebendig. Da-
neben werden auch andere Berichte in der Gemeinde ausgewertet sowie ab Ende der 1950er
Jahre die erstmalig auch abgedruckten Leserbriefe. Alle weiteren Quellen werden in den ent-
sprechenden Kapiteln kurz charakterisiert. Zunächst wird nun im ersten Kapitel die Bedeu-
tung von Daten und Statistiken für die Konstruktion baptistischer Identität thematisiert.
2. „Sprechende Zahlen“? – Realitätseffekte der Quantifizierung
„Sprechende Zahlen“ seien es, die er, der Bundesdirektor des BEFG Paul Schmidt, der Kir-
chenkanzlei der Evangelischen Kirche im Sommer 1947 da angesichts eines „Zusammen-
schluss[es] christlicher Kirchen und Freikirchen in Deutschland“ zukommen lasse.36
Damit
bezog er sich auf eine erste statistische Erhebung über den BEFG in der Nachkriegszeit. Sol-
che Erhebungen hatten eine lange Tradition im Baptismus und wurden seit der Entstehung des
modernen Baptismus in Deutschland jährlich durchgeführt. Nach bestimmten Kategorien
wurde zunächst auf der Ebene der Ortsgemeinden differenziert, deren Daten dann gesammelt
und gebündelt wurden, um schließlich die Entwicklung der baptistischen Vereinigungen und
des Bundes vermessen zu können. In den baptistischen Jahrbüchern wurden so zumeist die
Daten des Vorjahres publiziert. Thematisiert werden soll in diesem Kapitel, dass die Erfas-
sung von institutionellen Daten und Statistiken sowie ihre Perzeption im Untersuchungszeit-
raum eine entscheidende Bedeutung für Identitätskonstruktionen im Baptismus hatte. Wie
nach „erhielt der Oncken Verlag“ am 26.10.1945 „als einer der ersten eine amerikanische Lizenz“ und konnte
seine Arbeit wieder aufnehmen. 34
Die Gemeinde, 1.4.1946, 4. Die Umbenennung von Wahrheitszeuge auf Gemeinde erfolgte aufgrund des Zu-
sammenschlusses mit den Brüdern 1942 im BEFG. Diese hatten zuvor ihr eigenes Magazin, die Botschaft. Mit
dem neuen Namen wollte man dann auch der neuen Einheit gerecht werden, Zeitschrift und Name symbolisieren
somit den Konstruktcharakter des BEFG. 35
Die Gemeinde 19, vom 7. Mai 1978 ist eine Sonderausgabe ganz dem 150jährigen Jubiläum des Oncken Ver-
lages gewidmet, darin: Günther Balders: 150 Jahre Oncken Verlag Ein geschichtlicher Überblick, 5-19, 17f. Für
die Gemeinde generell verantwortliche „Schriftleiter“ waren 1936-1954 Otto Muske, darauf dann zunächst Karl
Schütte, Schriftleiter von 1948-1959, nach einiger Einarbeitungszeit dann Walter Paulo von 1954-1963, Dr.
Ekkehard Krajewski 1963-1965, Dr. Willi Grün 1965-1975. 36
EZA, 2/183, Paul Schmidt an die Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche am 26.8.1947.
8
allerdings analytisch und methodisch fundiert umgehen mit Quantifizierungen einer religiösen
Organisation?
Quantifizierung galt lange Zeit als ein Gütesiegel sozialhistorischer Forschung, als präziser
als der Historismus. Damit schien Quantifizierung bestens geeignet für die Analyse von
„kompakten Sozialformen“ wie Milieus.37
Es wurde zwar immer wieder auch darauf hinge-
wiesen, dass Kirchlichkeit nicht immer quantifizierbar erfasst werden könne.38
Doch Benja-
min Ziemann geht mit seiner Forderung nach Historisierung der Daten und Statistiken der
empirischen Forschung weit hinaus über die übliche Kritik an quantitativen Methoden in der
Geschichtswissenschaft. Ziemann zu Folge spiegelt die Erhebung quantifizierbarer Daten,
beispielsweise über den Kirchenbesuch, eher „die inneren Rationalitätskriterien“ der Organi-
sation, die diese Daten erhebt, als eine „Intensität der Kirchlichkeit“.39
Daher seien statistische
Erhebungen zwar unter bestimmten Voraussetzungen analysierbar (dabei läge der Erkennt-
niswert prinzipiell in ihren Kontextinformationen und nicht in der Agglomeration von Zah-
len); allerdings nicht als Quelle und Darstellung, wie dies oftmals Zeithistoriker unter Rück-
griff auf sozialwissenschaftliche Arbeiten täten, um “qualitative Beschreibungen, Fallstudien
oder Trendbehauptungen durch Statistiken abzustützen“,40
sondern nur als Quelle „in einem
ganz eingeschränkten Sinne“.41
Ziemanns Argumentation ist zwar in einigen Punkten inkon-
sistent – vor allem in seiner Reduktion der Nutzbarkeit von Quantifizierungen (nur als Quel-
le).42
Doch die Prämisse, dass Quantifizierungen grundsätzlich „die inneren Rationalitätskrite-
37
Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und Empirische Sozialforschung. Überlegungen zum Kontext und zum
Ende einer Romanze, in: Maeder et al, Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göttingen
2012, 131-149, 132. 38
Vgl. etwa Lucian Hölscher, Möglichkeiten und Grenzen der statistischen Erfassung kirchlicher Bindungen, in:
K. Elm u. H.-D. Look (Hg.), Seelsorge und Diakonie in Berlin. Beiträge zum Verhältnis von Kirche und Groß-
stadt im 19. Und 20. Jahrhundert, Berlin 1990, 39-59. 39
Ziemann, 132. 40
A. Doering-Manteuffel und L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göt-
tingen 2008, 57ff. 41
Ziemann, 137. Dafür führt Ziemann vier Argumente an: 1. Wenig akkurate Daten (132), die eher kirchliches
„Wunschdenken“ als faktische Realität ausdrückten (137) 2. Die Präfigurierung des Materials durch Konzepte
und Begriffe der Sozialwissenschaftler (137ff.) 3. Die daraus resultierende Predeterminierung der „Erwartungs-
horizonte“ zeithistorischer Arbeiten (134) 4. eine sehr spezifische empirische Grundlage der Quantifizierungen,
die für zu allgemeine Aussagen genutzt würde (135). 42
Ziemanns zweites Argument, die Präfigurierung des Materials, erscheint plausibel. Doch nicht die Forscher
allein, sondern auch die faktische Realität, die man mit Erhebungen abbilden möchte, präfiguriert das Material.
Denn die Realität, dass Moslems beispielsweise nicht an Eucharistiefeiern teilnehmen, Katholiken aber schon,
führt dazu, dass die Teilnahme an der Eucharistiefeier eine Erhebungskategorie zur Erforschung des Katholizis-
mus sein kann, sich allerdings komplett erübrigt für den Islam. So erweckt es den Anschein, als seien für Zie-
mann „große Männer“, die als Analysegegenstand der Geschichtswissenschaft ausgedient haben, nun bei der
Erfassung und Darstellung von quantifizierbaren Daten am Werk. Das könnte man ohne weiteres als Sein-
Bewusstseins-Paradox bezeichnen. Angesichts von Ziemanns drittem Argument könnte man meinen, dass sein
eigener „Erwartungshorizont“ prädeterminiert ist von der Prämisse mangelnder bzw. nicht vorhandener reflexi-
ver Fähigkeiten seiner Zunft. Das könnte man auch Prädeterminierungsparadox nennen. Denn Forschungsarbei-
ten liegen und lagen immer Begrifflichkeiten und Konzepte zu Grunde. Ob man solche Konstruktionen nun
9
rien“ der Organisationen widerspiegeln, die sie erheben, wird in dieser Arbeit im Folgenden
auch für den deutschen Baptismus geteilt.
Aus der in diesem Kapitel eingangs erwähnten Korrespondenz zwischen Paul Schmidt und
der Kirchenkanzlei kann man durchaus ableiten, dass im Zuge der Vorbereitung einer Ar-
beitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) die deutschen Baptisten nicht als „quantité
negligeable“ (Strübind) erscheinen wollten, sondern als ernstzunehmender, relevanter Partner
für die Evangelische Kirche in Deutschland;43
daher Paul Schmidt zur quantitativen Vermes-
sung des baptistischen Milieus:44
[…] Die Zahlen können noch keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben und bleiben hinter der
Wirklichkeit zum Teil zurück. Besonders gilt das von der Zahl der Mitglieder. Bei der Mitgliederzahl ist
ausserdem [sic] zu berücksichtigen, dass es sich um Vollmitglieder handelt und der Familienanhang un-
berücksichtigt bleibt. Um ein genaues Bild entsprechend der Zählung in den Landeskirchen zu bekom-
men, muss die Mitgliederzahl mit 3 multipliziert werden. Dass unser Bund zur Baptist World Alliance
gehört, dürfte bekannt sein. Ebenso dürfte bekannt sein, dass die Baptist World Alliance eine Mitglie-
derzahl von rund 12 Millionen in vielen Ländern der Erde meldet.
Damit hätte das Milieu der Baptisten in Deutschland nicht nur ca. 90.000 (Stand der Mitglie-
der 1947), sondern 270.000 Menschen umfasst. Selbst angesichts der hohen Zahl der Kinder
in den Sonntagschulen (57.000 im Jahr 1947) und unter Einberechnung einiger nicht getaufter
aber mit der Gemeinde assoziierter Christen bzw. von Mischehen, dürfte es wohl übertrieben
sein, durch eine Verdreifachung der getauften Mitglieder auf ein mit den Landeskirchen ver-
reflektierend und kontextualisierend übernimmt um sie anwendbar zu machen für den eigenen Untersuchungs-
gegenstand – für Ziemann ein Tabu – oder neue Begrifflichkeiten und Konzepte konstruiert um den eigenen
Untersuchungsgegenstand zu analysieren: worin liegt der Unterschied? Wichtig ist doch primär, dass man dies
im Sinne wissenschaftlicher Redlichkeit darstellt und somit Begrifflichkeiten, Konzepte und Methoden intersub-
jektiv nachvollziehbar sind. Ziemanns viertes Argument, die generelle Tabuisierung von Quantifizierungen als
Darstellung, tätigt er auf einer sehr spezifischen Grundlage. Denn er nennt nur ein Beispiel „unvollkommener
Anwendung durch die zeitgenössischen Akteure“ (133) bei einer Institution: der Katholischen Kirche. Damit
macht Ziemann genau denselben Fehler, den er Ronald Inglehart ankreidet (135), in einem viel gravierenderen
Ausmaß (Ronald Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics,
Princeton 1977 Inglehart nutzt zumindest einige Samples – nicht nur eins – für seine Theorie des Wertewandels
in der westlichen Welt). Daher könnte man hier zur Veranschaulichung vom Ziemann-Inglehart-Paradox spre-
chen. Was in einem Einzelfall gut und richtig ist, kann in einem anderen Einzelfall null und nichtig sein, so ar-
gumentiert Ziemann in etwa gegen die Nutzung von Quantifizierungen als Darstellung in seinem vierten Argu-
ment. Diese argumentative Logik könnte man aber auch auf alle Argumente Ziemanns anwenden. Daher ist der
Autor dieser Arbeit sehr wohl der Meinung, dass Quantifizierungen auch in Darstellungen genutzt werden kön-
nen. Denn, so auch Philipp Sarasin, Sozialgeschichte vs. Foucault im Google Books Ngram Viewer. Ein Alter
Streitfall in einem neuen Tool, in: Maeder et al, Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göt-
tingen 2012, 151-174, 157 unter Rückgriff auf Konrad Jarausch (Hg.), Quantifizierung in der Geschichtswissen-
schaft. Probleme und Möglichkeiten, Düsseldorf 1976: „Quantifizierung“ könne „grundlegend“ sein „für die
Geschichte langer Zeiträume und großer Gruppen von Menschen“. Da dies allerdings nicht dem primären Er-
kenntnisinteresse dieser Arbeit dient, wird im Folgenden weitgehend darauf verzichtet. 43
Die Sorge, nicht ernst genommen zu werden, drückt sich auch im Bericht „Freikirchen ein zu ungewichtiger
Partner?“, in: Die Gemeinde, 1.6.1948, 46 aus. 44
EZA, 2/183. Im Folgenden werden Hervorhebungen nur dann gesondert gekennzeichnet, wenn sie vom Ver-
fasser dieser Arbeit stammen.
10
gleichbares Bild zu kommen.45
Wesentlich erscheint allerdings auch, dass Schmidt für den
BEFG, in Deutschland ein marginales Phänomen, darauf verweist, Teil einer weltweiten Ver-
einigung mit beträchtlicher Größe zu sein. Um die Bedeutung von institutionellen Zahlen für
baptistische Identitätskonstruktionsprozesse zu veranschaulichen, lohnt es sich an dieser Stel-
le einen Blick in die Jahrbücher der Baptisten zu werfen, die schon vor dem Untersuchungs-
zeitraum dieser Arbeit publiziert wurden. Exemplarisch werden hierfür die während des
„Dritten Reiches“ publizierten Jahrbücher analysiert.
Im Jahrbuch 1933 beginnt der damalige Bundesdirektor Otto Nehring seine Übersicht über
das Jahr 1932 wie folgt:46
Trotz der steigenden Wirtschaftsnöte und der politischen Bewegungen stand unser Gemeindewerk im
vergangenen Jahr doch unter dem sichtbaren Segen unseres Herrn. Der äußere Fortschritt zeigt sich in
den 4049 durch Taufe aufgenommenen Gliedern, eine Zahl, wie sie seit langen Jahren nicht zu ver-
zeichnen war.
Im Folgenden bezeichnet er die Taufen als „Ernte“ bzw. „Frucht der Evangeliumssaat“, wofür
„wir dem Herrn danken“. Doch „die Abnahmeziffer durch Streichung und Ausschluß macht
uns immer wieder zu schaffen“, so Nehring weiter. Daher müssten die Baptisten „der Erhal-
tung und Bewahrung des mühsam gewonnenen Mitgliedergutes“ ihre „erhöhte Aufmerksam-
keit zuwenden“. Denn man wolle doch „sagen können, wir haben keinen von denen verloren,
die der Vater uns gegeben hat! Unsere Gesamtzahl ist nun nahe an 70000 herangekommen.“
Vor allem in der angewandten Semantik von Metaphern wie „Evangeliumssaat“, die zur
„Frucht“ wird und dann „Ernte“ hervorbringt, wird Sinn konstituiert: ebenso wie ein Bauer
auf dem Feld den Erfolg und Misserfolg eines Jahres an seiner Ernte abliest, machten die
deutschen Baptisten zumindest auf Bundesebene so den Erfolg ihres Milieus an Taufzahlen
fest. Doch auch für Misserfolg gab es Indikatoren, nämlich die Zahlen der gestrichenen und
ausgeschlossenen Mitglieder.
Für mehr als 100 Jahre stellten aber die Taufzahlen die Ausschluss- und Streichungszahlen in
den Schatten. Das war auch für die Konstruktion des baptistischen Selbstbildes entscheidend.
Charakteristisch hierfür ist eine graphische Darstellung aus dem Jahrbuch von 1934:47
45
Baptistengemeinden hatten und haben sogenannte „Freundeskreise“, zu denen Menschen gehören, die zwar
nicht getauft sind, sonst aber in vielfacher Weise an Gemeindeaktivitäten partizipieren. Erst durch die Addition
der „Freundeskreise“, kommt man wohl zu einer realistischen Verdreifachung des baptistischen Milieus zur
damaligen Zeit. 46
Jahrbuch 1933, Oncken-Archiv, 14. Angesichts der Konjunkturen des Wachstums durch Taufe bei den Baptis-
ten, die von 1914 bis 1949 fast ausschließlich mit wirtschaftlichen und politischen Krisen korrelieren (vgl. 8.
Appendix, Diagramm 2) ist man geneigt, für das „Trotz“ ein „Wegen“ zu setzen. 47
Jahrbuch 1934, Oncken-Archiv, 15.
11
Hier wird schnell ersichtlich: die Baptisten verstanden sich selbst als Erfolgsmodell. Zum
hundertjährigen Bestehen des modernen Baptismus in Deutschland, konnten sie 1934 ein
hundertjähriges Wachstum verzeichnen. Darüber hinaus machten sie aus globaler Perspektive
einen beträchtlichen Anteil des weltweiten Protestantismus aus (12 Millionen von 177 Millio-
nen). Doch vor allem die hundertjährige Wachstumskurve war wohl im Sinne der zuvor dar-
gestellten Semantik zugleich auch die Grundlage für ein positives Selbstbild: Demnach hatte
Gott das Werk bis dato mit einer kontinuierlichen „Ernte“ gesegnet. So mussten sie, die Bap-
tisten, Gott ja ‚wohlgefallen‘. Doch im Jahrbuch 1939 zogen die Baptisten eine eher negative
Bilanz für die bisherige Zeit des „Dritten Reiches“, die einherging mit einer kontinuierlichen
Abnahme der Taufzahlen und einer vergleichsweise konstant hohen Austrittsrate:48
129 Gemeinden mußten reine Abnahmen melden, und 72 Gemeinden hatten keine Taufe. Diese beiden
Zahlen demütigen uns stark und lassen uns nach den Ursachen fragen. Die Zahlen sind höher als im
Vorjahre. Soweit Schuld und Versäumnis unsererseits durch sie ausgedrückt werden, fordern sie von
uns Buße, Erneuerung und stärkeren Glaubenseinsatz. Die Zahlen sind im Verhältnis zu unseren Ge-
samtzahlen unnormal hoch und können gewiß gesenkt werden.
Trotz der Abnahme der Taufzahlen und der Zunahme von Austritten im „Dritten Reich“
wuchs der Bund der Baptisten weiterhin kontinuierlich. Das lag einerseits an den Annexionen
des „Dritten Reiches“ im Osten, andererseits aber auch an der Vereinigung mit der sogenann-
48
Jahrbuch 1939, 16. Nach McLeod, 23 versuchte das NS-Regime Säkularisierung zu forcieren. Das die Mit-
gliedschaft in einer Kirche im „Dritten Reich“ nicht gerade prestigeträchtig war, trug wohl zu den höheren Aus-
trittszahlen bei.
12
ten „Elimbewegung“ und dem Bund der offenen Brüder (BfC). Hieraus ging 1941 der Bund
Evangelisch Freikirchlicher Gemeinden hervor, für den 120000 Mitgliedern angegeben wer-
den.49
Die Abnahme der Taufzahlen mahnte zwar zur „Buße, Erneuerung und stärkere[m]
Glaubenseinsatz“. Doch man ging davon aus, dass die negativen Taufzahlen „gewiß gesenkt
werden können“.50
Nach dem Zweiten Weltkrieg äußerte man sich in den Jahrbüchern erstmals 1948 wieder,
allerdings unter „Vorbehalt“, zu den Zahlen des baptistischen Milieus, mit welchen die „all-
gemeine Übersicht“ über „das Bundeswerk“ beginnt. Da „noch immer Rückwanderungen und
Anmeldungen von Flüchtlingen und Rückwanderern“ zu verzeichnen seien, aktualisierten
sich auch permanent die Mitgliederzahlen.51
Doch im Gegensatz zum Rückgang bei den
Taufzahlen und der Stagnation bei der Zahl der Sonntagschüler im „Dritten Reich“, durchlebe
man derzeit eine „Aufwärtsentwicklung“:52
Hocherfreulich ist die Neubelebung in den Gemeinden, die trotz aller Not und allen äußeren Elends zu
erkennen ist. So bezeugten im Jahre 1946 4595 Personen durch die Taufe ihre erlebte Wiedergeburt und
das in Christus empfangene Heil. Diese Zahl ist um wenigstens 70% höher als der Durchschnitt der letz-
ten 10 Jahre. […] Die Zahl der Sonntagschulkinder ist heute schon um etwa 20% größer als vor dem
Kriege, trotz der Schrumpfung der Zahl der Gemeinden, Zweiggemeinden und Mitglieder [durch den
Verlust der Gebiete östlich von Oder und Neiße, in denen ein Drittel der deutschen Baptisten beheima-
tet war]. Eine gute weitere Aufwärtsentwicklung dürfen wir erwarten.
Diese optimistische Einschätzung steigerte sich noch im Jahrbuch 1948 (August):53
Im Jahre 1946 konnten die Gemeinden 4595 Glieder durch die Taufe aufnehmen. Im Jahre 1947 gab
uns der Herr in diesem Stück noch reichere Frucht. In unserer bisherigen Geschichte hatten wir eine
solche Zahl [6280] noch nicht. […] Hocherfreulich sind die Zahlen der Sonntagschüler und der Jugend.
Gemessen an den Zahlen von 1939 haben sie sich verdoppelt.
In der Gemeinde berichtete man erstmals im April 1949 von einem „Fortschritt“ des Bundes-
werkes. „Erfreuliches“ sei passiert, wofür man „Dank“ empfinde.54
Was war passiert? Im
Rahmen der Bundesleitungstagung im März 1949 hatte der Bundesdirektor Paul Schmidt die
Wachstumszahlen des Bundes für das Jahr 1948 bekanntgegeben.55
7456 Taufen stellten bis
dato die höchste Zahl an Taufen in der Geschichte der Baptisten dar.56
Auch das „Jahr 1949
stand wie das Jahr vorher im Zeichen besonderen Gottessegens für unsere gesamte Bundesar-
beit.“ Obwohl die Taufzahlen leicht rückgängig waren, waren sie „aber noch auf der Höhe des
49
Balders, 106ff. Davon kamen aus den Brüdergemeinden des BfC 40.000 und aus der Elimbewegung ca. 5000
Mitglieder. 50
Jahrbuch 1939, 16; Jahrbuch 1940, 19. 51
So seien Anfang des Jahres 1947 79230 Mitglieder festgestellt worden, was im Laufe des Jahres durch die
„Bruderhilfe“ mit einer Zählung von 89285 schon wieder revidiert worden sei. 52
Paul Schmidt und Hugo Hartnack im Oktober 1947, Allgemeine Übersicht, Jahrbuch 1948 (April), 3. 53
Paul Schmidt und Hugo Hartnack, Allgemeine Bemerkungen, Jahrbuch 1948 (August), 38. 54
AdS, in: Die Gemeinde, 15.4.1949, 122. 55
Ebd. 56
Jahrbuch 1949.
13
Jahres 1947.“ So bilanzierte man, dass „die Nachkriegsjahre auf diesem Gebiet für unsere
Bundesgemeinden besonders fruchtbar“ gewesen seien.57
Aus dem Jahrbuch 1952 (Zahlen von 1951) wird erstmals in der Nachkriegszeit eine negative
Perzeption der institutionellen Zahlen ersichtlich. Zwar sei für die Nachkriegszeit insgesamt
„dieselbe Beobachtung zu machen wie nach dem ersten Weltkrieg.“ Doch damals wie heute
sei der Anstieg der Taufzahlen mit zunehmender politischer und wirtschaftlicher Beruhigung
verebbt. „Diese allgemeine Beobachtung“ gelte „auch leider für die Bereitschaft zum Hören
und Annehmen des Evangeliums.“ Denn „sehr schnell nach dem Zusammenbruch ist vieles
vergessen, was wenige Jahre vorher die Herzen der Menschen bewegt hat.“58
Auch im Jahr-
buch 1953 erachtete man die Abnahme der Taufzahlen zwar als bedauerlich, aber nahm sie
noch als normale Entwicklung wahr, die auf quantitatives Wachstum nach Kriegen nun ein
Mal folgt: „Unsere Generation hat nun zweimal diese Erfahrung gemacht.“59
Doch schon im Jahrbuch 1954 (Zahlen 1953) realisierte man, dass die Abnahme der absoluten
Taufzahlen und der Taufziffer allmählich nicht mehr vergleichbar war mit der Situation nach
dem Ersten Weltkrieg und deshalb „größte Aufmerksamkeit sowohl in der DDR wie auch in
der Bundesrepublik und in Berlin“ erfordere. „Die Sprache der Zahlen fordert auf zu beten-
dem Überlegen der Tatbestände und zu völligerem Zeugnisdienst der einzelnen Glieder in
allen Gemeinden. Sicherlich schafft vermehrteres [sic] Einzelzeugnis reichere Frucht.“60
Spä-
testens seit 1954 wurden die statistischen Krisensymptome im deutschen Baptismus ernstge-
nommen, nachdem man sie noch 1953 als natürliche Entwicklung abtat. Bezogen auf die
Taufziffer sah man zwar im Jahrbuch von 1955 den Negativtrend gestoppt. Doch „fast noch
wichtiger ist die Beobachtung der Verhältniszahl der Ausgeschlossenen, Ausgetretenen und
aus dem Mitgliederverzeichnis Gestrichenen zur Taufzahl. Diese Verhältniszahl dürfte für die
Seelsorge von besonderer Bedeutung sein. Sie ist ein starkes Ausrufungszeichen.“ Und auch
die „rückläufigen Zahlen“ in der Sonntagschul- und Jugendarbeit wurden mit großer Sorge
zur Kenntnis genommen.61
Im Jahrbuch 1956 scheint sich der positive Trend von 1955 bei den Taufzahlen zwar zu bestä-
tigen: „Nach 6jährigem Abgleiten der Taufzahlen ist zu unserer Freude im Jahre 1955 eine
leichtes Ansteigen zu verzeichnen.“ Doch die Zahl der Sonntagschüler sei „weiter rückläufig,
57
Unser Bundeswerk im Jahre 1949, Jahrbuch 1949, 129. 58
Jahrbuch 1952. In der Gemeinde, 25.6.1951, 236 verzeichnete man schon 1951 einen Rückgang der Taufzah-
len um „etwa 25 Prozent“. 59
Jahrbuch 1953, 64. 60
Jahrbuch 1954, 67. Hervorhebung des Autors. 61
Jahrbuch 1955, 68. So auch in AdS, in: Die Gemeinde, 17.6.1956, 6f und Die Not der Sonntagschule: zu weite
Wege, in Die Gemeinde, 9.3.1958.
14
und zwar in Westdeutschland wie in Ostdeutschland. Mit verringerten Geburtenzahlen dürfte
die Erklärung dafür nicht mehr zu geben sein. Ob die Liebe und die Hingabe für die Sonntag-
schularbeit nachgelassen haben?“62
Im Jahrbuch 1957 war der leicht positive Trend der bei-
den vergangenen Jahre allerdings schon wieder umgekehrt worden: „Die Zahlenangaben für
das Jahr 1956 stimmen uns zur Besinnung.“ Die Mitgliederzahl wie die der Taufen sank wäh-
rend die Zahl der Ausgeschlossenen und Gestrichenen stieg:63
Auch das will beachtet sein. Die Gemeinde steht mitten in den Gefahren der aufreibenden Kräfte des
überhitzten Tempos und einer beängstigenden Menschenverherrlichung. Sie muß wieder mehr lernen
gegen den Strom zu schwimmen und göttliche Maßstäbe gelten zu lassen. […] Haben wir acht auf die
Sprache der Zahlen.
Dieser Negativtrend forciert sich nochmals im Jahr 1956 – ebenso seine Perzeption im Jahr-
buch 1957/58:64
Die Zahl der Taufen hat sich noch einmal schmerzlich verringert, […]. Am schmerzlichsten berührt uns
die sinkende Taufziffer. Ist die missionarische Kraft und Lebensfülle der Gemeinden so viel schwächer
geworden, daß nur 37 Prozent der guten Taufzahl des Jahres 1948 erreicht werden konnte und nur 2,82
Prozent der Mitglieder von heute? Zahlen bleiben Zahlen. Wir sehen auch nur was vor Augen ist; aber
Merkzeichen sind die Zahlen doch.
Zwar nicht in den Jahrbüchern, doch in der Gemeinde wird 1957 erstmals der Versuch unter-
nommen sich von den Zahlen zu emanzipieren: „Natürlich geben Zahlen kein zuverlässiges
Bild“ für den Erfolg und Misserfolg des Bundes; „den echten Ertrag unserer Arbeit für ihn
sieht allein der Herr.“65
Diese Emanzipationsversuche wurden in der Gemeinde bis zum Ende
des Bearbeitungszeitraums dieser Arbeit fortgeführt.66
Im Jahrbuch 1958/59 werden letztma-
lig für den Bearbeitungszeitraum statistische Erhebungen kommentiert. Gefragt wird nach den
Ursachen für den Negativtrend seit Anfang der 1950er Jahre:67
Mögen wir auch einige gute Gründe dafür nennen können, die Frage nach der entscheidenden Ursache
ist damit nicht beantwortet. Sie bleibt weiterhin für uns offen. Sollte die Antwort bei der verringerten
Zeugnisfreude und Zeugniskraft der einzelnen nicht doch zu suchen sein? Nichts kann voll den Zeug-
nisdienst des einzelnen Christen ersetzen. Wenden wir ruhig den Blick von den Zahlen weg, aber wen-
den wir ihn stärker zum Herrn mit der Bitte: Herr, hilf mir, dir wenigstens einen Jünger zuzuführen.
Die Verantwortung für das Ende der Erfolgsgeschichte um 1950 wird vermutet bei den Indi-
viduen und ihrer „verringerten Zeugnisfreude“.
Wohl um die Misserfolgsgeschichte seit Anfang der 1950er Jahre nicht weiter zu betonen,
werden die Indices wie Taufzahl, Taufziffer, Zahl der Sonntagschüler, Zahl der Austritte,
Streichungen und Ausschlüsse68
seit dem Jahrbuch 1959/60 nicht mehr direkt kommentiert.
62
Jahrbuch 1956, 70. 63
Jahrbuch 1957, 72. Hervorhebung des Autors. 64
Jahrbuch 1957/58, 74. Hervorhebung des Autors. 65
AdS, in: Die Gemeinde, 4.8.1957, 6. 66
AdS, in: Die Gemeinde 33, 1960, 10f.; Vom Schriftleiter. Was uns das neue Jahrbuch des Bundes bedeutet, in:
Die Gemeinde 34, 1965, 10f ; Die Gemeinde 31, 1966, 10. 67
Jahrbuch 1958/59. Hervorhebung des Autors. 68
Vgl. 8. Appendix, Diagramm 2-5.
15
Diese von den Baptisten spätestens seit 1954 bewusst wahrgenommenen Indikatoren deuten
auf eine vor allem zunehmend quantitative Erosion des freikirchlichen Milieus der Baptisten
hin. Hier wird besonders deutlich, warum bisher ein so großes Augenmerk auf die Zahlen in
den Jahrbüchern gelegt wurde: Sie dokumentierten über jeden Zweifel erhaben die (fast) line-
are Erfolgsgeschichte der Baptisten bis 1950, die bis dato auch die Grundlage der Konstrukti-
onen positiver baptistischer Identität war.
In den Jahrbüchern der Baptisten, die primär für die Mitglieder des Bundes geschrieben wur-
den, werden die Zahlen des Bundes nicht nur erfasst, sondern auch kommentiert. In der vo-
rangegangenen Analyse konnte so verdeutlicht werden, dass a) die von den Baptisten erfass-
ten Daten nicht nur nach außen, sondern auch nach innen wirken sollten – von der Bundes-
ebene auf die Ebene der Ortsgemeinden, in die Köpfe der Gemeindeglieder; b) Zahlen in den
Jahrbüchern als Seismograph für den ‚Segen Gottes‘ im Bund der Baptisten verwandt wurden
und damit für die Baptisten eine unermessliche Relevanz auch für ihre Identitätskonstrukti-
onsprozesse besaßen; c) dass a) und b) nicht nur ein Phänomen der Nachkriegszeit waren,
sondern eine langjährige Tradition hatten.
Die Baptisten verstanden sich als Zuwachskirche. Damit war die sogenannte
„Gläubigentaufe“, das zugleich signifikanteste Alleinstellungsmerkmal der Baptisten, dass
sich sogar in ihrem Namen widerspiegelt, bei der Erfassung von Daten die wohl zentrale Ka-
tegorie. Die Anfang der 1950er Jahre einsetzenden Negativtrends in den Kirchlichkeitsindices
der Baptisten, vor allem bei den Taufzahlen, wurden zunächst als normale Entwicklungen
verortet, allerdings ab 1954 als handfeste Krisensymptome gedeutet. Doch hatte man zunächst
noch Hoffnung auf eine Trendwende. Bezogen auf einen leichten Zuwachs der Taufzahlen in
den Jahren 1954 und 1955 schien diese in der Wahrnehmung der Baptisten auch eingesetzt zu
haben. Nichtsdestotrotz forcierte sich der Negativtrend schon 1956 wieder, was auch das
schon im Jahrbuch von 1954 dokumentierte Krisenbewusstsein im Jahrbuch 1957 wieder her-
vorrief; das Krisensymptom einer einbrechenden Sonntagschularbeit war allerdings in der
Perzeption der Quantifizierungen in den Jahrbüchern nie verschwunden. Letztmalig kommen-
tierte man im Jahrbuch 1958/59 die Zahlen der Baptisten.
Doch schließlich sah man ein, dass aus der Erfolgsgeschichte bis Anfang der 1950er Jahre
nunmehr eine Misserfolgsgeschichte geworden war, die nicht noch der Verstärkung bedurfte.
Zahlen hatten wohl für die Baptisten nicht ihre Bedeutung verloren. Man versuchte sich aller-
16
dings seit 1957 von ihnen zu emanzipieren.69
Zu diesem Zweck wurden Quantifizierungen bei
baptistischen Identitätskonstruktionsprozessen nunmehr relativiert oder verdrängt; vor allem,
um weiterhin – oder: wieder – positive Selbstbilder generieren zu können. Doch damit
schwand auch ein entscheidender Baustein für die Konstruktion eines positiven baptistischen
Kollektivsubjekts, was bis Anfang der 1950er entscheidend auf den Realitätseffekten basierte,
die aus der Quantifizierung der Baptisten und ihrer Perzeption resultierten. Die besagten
Emanzipationsversuche seit 1957, die bis zum Ende des Untersuchungszeitraums anhielten,
unterstreichen jedoch unzweideutig, dass baptistische Quantifizierungen nach wie vor auch in
den 1960er Jahren die „inneren Rationalitätskriterien“ im BEFG widerspiegelten und ihre
Bedeutung für die Selbstverortung innerhalb des Baptismus nicht verloren hatten. Im folgen-
den Kapitel werden exemplarisch die Bundesrats- und Bundeskonferenzprotokolle unter dem
Aspekt der Krisenwahrnehmung untersucht.
3. Die „Verweltlichung der Jünger Jesu“ – Identität in der Krise
Die Exekutive des BEFG besteht in der Nachkriegszeit aus Bundesleitung und Bundeshaus
samt Bundesdirektor. Der Bundesrat besteht aus Vertretern aller Gemeinden des Bundes und
findet traditionell im Rahmen der Bundeskonferenzen statt, die von 1951 bis 1960 alle drei
Jahre und schließlich jährlich stattfanden. Bundesleitung und Bundeshaus erstatteten dem
Bundesrat zu seinen Beratungen Bericht.70
Über die Beratungen des Bundesrates wurde dann
mit einiger Verzögerung wiederum ein Bericht für die Gemeinden verfasst.71
Auch über die
Bundeskonferenzen entstanden Berichtshefte, die nur für Gemeindemitglieder bestimmt wa-
ren. In absteigender Reihenfolge kann man so die Quellen in ihrem intendierten Maß an Öf-
fentlichkeit klassifizieren: Die Gemeinde, Bundeskonferenzberichte, Bundesratsberichte, Be-
richte der Bundesleitung an den Bundesrat. Je exklusiver die Quellen bezogen auf ihre inten-
dierte Öffentlichkeit sind, desto offener konnte in der Regel in ihnen geschrieben werden. Wie
verorteten sich daher Baptisten im vertraulicheren Rahmen des Bundesrates und der Bundes-
konferenz?
69
Auch Ziemanns erstes Argument, das der wenig akkuraten Daten, dass er mit „Wunschdenken“ erklärt, macht
bezogen auf den deutschen Baptismus demnach kaum Sinn. Denn die Datenerhebungen der Baptisten seit den
1950er Jahren entsprachen allem anderen, aber nicht ihrem „Wunschdenken“ (Ziemann, 137). Darüber hinaus
kann man für den Baptismus nicht wie Ziemann für den Katholizismus (132) von einer intendierten Prestigeer-
weiterung derer, die diese Daten erheben, durch das Aufbessern der Daten sprechen. Denn die baptistischen
Ortsgemeinden waren und sind in kongregationalistischer Manier autonom. Datenmanipulation in Baptistenge-
meinden ist weiterhin eher unwahrscheinlich, da es nur Klassifikationen der Datenerhebung gab und gibt, die
auch namentlich erfasst werden. Somit wurde nicht nur an einigen Zählsonntagen im Jahr ihre Prozentzahl ano-
nym gemessen und dann gemittelt wie im Fall der Katholischen Kirche. So kann man davon ausgehen, dass die
Zahlen für den Baptismus relativ verlässlich sind. 70
Bericht der Bundesleitung und des Bundeshauses an den Bundesrat 1949. 71
Bundesratstagungsbericht 1947.
17
In Berichten über Bundesratstagungen und Bundeskonferenzen in der Nachkriegszeit benutzte
man mitunter eine blumige, mit positiven Attributen überfrachtete Sprache. Einer der ersten
Berichte der Nachkriegszeit über die Bundesratstagung in Düsseldorf 1947 ist dafür exempla-
risch.72
Er wurde ein gutes halbes Jahr nach der Bundesratstagung veröffentlicht – viel Zeit
also, um sich als Verfasser seine Formulierungen genau zu überlegen und sie der Absicht, die
mit der Publikation verfolgt werden sollte, anzupassen. Die „Hingabe“ in Düsseldorf sei „
offensichtlich“ gewesen, die „brüderliche Liebe war herzlich, die ‚Gemeinschaft des Geistes‘“
sei „vertieft und gefestigt worden.“ „In ernster Beratung fanden die Abgeordneten zusammen
und im glücklichen Sichfinden und Einswerden klang diese harmonische Tagung aus“. Sie sei
geprägt gewesen von „brüderlicher Eintracht“, in der „die für eine gedeihliche Fortentwick-
lung unserer Bundesgemeinschaft notwendigen Beschlüsse gefaßt“ worden seien.
Die schon charakterisierte Sprache täuschte damit über handfeste Konflikte hinweg, die es vor
allem zwischen den deutschen Baptisten und der Brüderbewegung gab; wohl auch auf dieser
Tagung in Düsseldorf, die Kontaktmöglichkeiten und Raum schuf für Auseinandersetzun-
gen.73
Doch eine solche Semantik wurde aus noch einem weiteren Grund angewandt. Eindeu-
tig verortet der Verfasser des Berichts das Schicksal in den Wirren und der Unbestimmtheit
der Nachkriegszeit teleologisch. Die Baptisten sind demnach Teil der Heilsgeschichte, die
„der Herr der Gemeinde“ mit den „Seinen“ trotz aller „nachtdunklen Umschattungen“ und
„‚durch Täler und über Höhen‘ zum Ziel ihrer himmlischen Vollendung bringen wird.“ Es
scheint so als wolle, ja müsse die Führung der Baptisten auf Bundesebene auch starke Füh-
rung für die Glieder der Ortsgemeinde sein und vorgeben, deren Identitäten sich noch im
Niemandsland der Nachkriegszeit befanden, einer Art „Schützengraben“ der Ungewissheit.
Schließlich konzedierte man noch zunehmenden Konfessionalismus und eine leichte Verbes-
serung der internationalen Kontakte.74
Vor allem in der Rubrik „Fragen der Statistik“ verbrei-
tete man großen Optimismus: „Die Taufzahlen des Jahres 1946 seien „70% höher als der
Durchschnitt der letzten 10 Jahre.“75
In diesem Kontext bedauerte man jedoch, dass „es noch
nicht gelungen“ sei, „die Zeltmission zum Anlaufen zu bringen“.76
72
Ebd. 73
Dabei ging es primär darum, ob die Brüder die sich 1942 unter Druck des NS-Regimes mit den Baptisten
zusammenschlossen, nicht doch wieder den BEFG verlassen sollten, was auch viele aber nicht alle Gemeinden
nach und nach taten. 74
Ebd. 10. 75
Ebd. 11. 76
Ebd. 10. Die Zeltmission war für den deutschen Baptismus der Nachkriegszeit die wesentliche Evangelisati-
onsmethode.
18
Zwei Jahre später schien sich die Identität der Baptisten gefestigt zu haben. Die Sprache ist
wesentlich nüchterner, sachlicher verfasst. Aus dem Bericht der Bundesleitung und des Bun-
deshauses an den Bundesrat zur Tagung des Bundesrates in Kassel 1949, einem für eine ex-
klusivere Öffentlichkeit bestimmten und daher wohl auch vertraulicherem Dokument, geht
hervor, dass man sich neben wachsender Ökumene und trotz eines starken Konfessionalismus
in einer „Periode besonderer missionarischer Fruchtbarkeit“ befände, deren quantitative Ve-
rmessung dezidiert vorgestellt wird.77
Wiederum zeigt sich: positive Selbstbilder der Baptis-
ten sind gekoppelt an missionarische Erfolge, die mit Statistik dokumentiert werden. Zu den
außergewöhnlichen Erfolgszahlen des Jahres 1948 hat wohl auch entscheidend die Zeltmissi-
on beigetragen, die 1947 noch schmerzlich vermisst wurde. Schon 1951 fragte man sich, ob
man „von einer Rückläufigkeit der Zeltmission sprechen“ könne – zunächst im vertrauliche-
ren Bericht der Bundesleitung und des Bundeshauses an den Bundesrat78
und dann, einige
Zeit später, im öffentlicheren, da für alle Gemeindemitglieder erstellten Bericht über die Bun-
deskonferenz in Dortmund.79
Hier wird auch noch mal unterstrichen, was weiter oben schon
angedeutet wurde: 1947 in Düsseldorf gab es de facto Streitigkeiten, die mit der angewandten
Semantik bloß überspielt werden sollten. So konstatiert man nämlich in Dortmund, dass „die
unter uns in den letzten Jahren aufgebrochene Vertrauensstörung […] in guter, brüderlicher
Weise überwunden werden“ konnten.80
Eine Gefahr schien gebannt, eine andere bahnte sich jedoch an. Schon in Dortmund 1951 war
eine deutliche Säkularisierungswahrnehmung erkennbar:81
„Die Echtheit und Kraft unserer
Gemeinschaft werden gegenwärtig auf eine harte Probe gestellt. Neben kostbaren Beweisen
der selbstlosen, christlichen Gesinnung wuchern in unserer Zeit Ichsucht und Rücksichtslo-
sigkeit und bedrohen auch unseren Zusammenhalt.“ So könne man „als echte christliche Ge-
meinschaft […] nur bestehen, wenn wir unsere irdischen Sorgen dem Trachten nach dem
Reich Gottes unterordnen.“82
Auch die Bundesleitung sah sich „besonderen Belastungsproben
ausgesetzt.“ Doch es sei „dem Satan nicht“ gelungen, „uns auseinander zu reißen.“83
Säkulari-
sierung wurde als massive Bedrohung wahrgenommen, als eine Kraft, die eine homogene
baptistische Identität schon 1951 unterwandert. Konfessionalismus thematisierte man nicht
77
Ebd. 11. 78
Bericht der Bundesleitung und des Bundeshauses an den Bundesrat 1951 79
Bundeskonferenzbericht 1951 80
Ebd., 4. 81
Zwar ging es schon bei der Bundesratstagung in Düsseldorf 1947 auch um die „Gemeinde Jesu“ und „ihre
Beziehung zur Umwelt“. Doch war dies nicht vielmehr als eine theologische Vergewisserung in pietistischer
Tradition – man sei als „Gemeinde Gottes“ zwar „in der Welt“, aber nicht „von der Welt“ – als ernstzunehmende
Angst vor Säkularisierung. 82
Ebd, 13. 83
Ebd.
19
mehr. Vielmehr wurde davon berichtet, wie sogar landeskirchliche Bischöfe die Verkündi-
gung in der Zeltmission übernahmen, bei der auch „die Tauffrage aus Liebe zu den Geschwis-
tern aus der Kirche zurückgestellt“ worden sei.84
Das Jahr 1954 markiert einen gravierenden Umbruch. Schon im Bericht der Bundesleitung an
den Bundesrat, also vor der Bundeskonferenz in Hamburg 1954, wird von „Schwierigkeiten
mannigfacher Art“ berichtet. Diese „erschweren unsere Missions- und Gemeindetätigkeit“.85
Demnach waren alle Zahlen, die der Taufen, der Sonntagschüler etc. rückläufig, mit Ausnah-
me der Anzahl der Studenten am Predigerseminar in Hamburg, was auf eine zunehmende
Professionalisierung und Institutionalisierung im Baptismus schließen lässt.86
Finanziell war
man noch abhängig „von der Hilfe unserer Geschwister im Ausland“.87
Vornehmlich ameri-
kanische Baptisten waren es, die beispielsweise ein Drittel der Finanzierung des neuen Ver-
lagshauses des Oncken Verlags übernahmen.88
Hier wird noch ein weiteres Indiz der Institu-
tionalisierung angedeutet: architektonische Konsolidierung.89
Zunehmende Investitionen in
Stein und Stahl gingen einher mit abnehmenden Investitionen in Menschen – zumindest jener
evangelistischer Art. So wurde im Bericht der Bundesleitung an den Bundesrat auch die Ent-
wicklung der Zeltmission seit 1950 skizziert. Die Besucherzahl habe sich kontinuierlich von
einer Million im Jahr 1950 auf knapp eine halbe Million im Jahr 1953 halbiert.90
Auch die
Sonntagschularbeit ist von der quantitativen Rezession des baptistischen Milieus nicht ver-
schont geblieben.91
Eine zunehmende Dichotomisierung zwischen „der Welt“ außerhalb und
„der Gemeinde“ innerhalb der schützenden Mauern von Kapellen wird plakativ im Jahresmot-
to der Sonntagschularbeit von 1953/54 ausgedrückt: „‚Draußen sind Kinder – Holt sie her-
ein.‘“
Die Themen für die Vorträge der Bundeskonferenz waren im Bericht der Bundesleitung an
den Bundesrat schon festgelegt: „Montag: Ist unter uns wirklich Bereitschaft zum Dienst vor
Gott?“, „Dienstag: Ist unter uns wirklich Gestaltung des Lebens nach dem Wort der Schrift?“,
„Mittwoch: Ist unter uns wirklich Vollmacht zum Zeugnis im Auftrage Christi?“92
Drei rheto-
rische Fragen, dreimal lautet die von der Realität in vielen Gemeinden ableitbare Antwort
84
Ebd., 64. 85
Bericht der Bundesleitung und des Bundeshauses an den Bundesrat 1954, 3 86
Ebd., 17. 87
Ebd., 43. 88
Ebd., 23. 89
Ebd., 55. „Der Bau des geistlichen Hauses soll auch in der Zukunft unser Hauptanliegen bleiben.“ 90
Ebd., 63. 91
Vgl. auch 7. Appendix, Diagramm 5. 92
Ebd., 5-7.
20
nein. Die Identitätskrise des Baptismus war zu offensichtlich und äußerte sich in den Vorträ-
gen auf der Bundeskonferenz 1954.
In der Nachkriegszeit standen die baptistischen Ortsgemeinden mit dem Bund in einem Span-
nungsverhältnis. Es ging zum Einen um Verfassungsfragen. Zum Anderen spielten allerdings
bis 1952 auch die aus der Sicht des Bundes zu geringen Geldeingänge von den Ortsgemein-
den eine Rolle.93
Ferner kam es vermehrt zu Spannungen auf Ebene der Ortsgemeinden, über
die in der Gemeinde seit Anfang der 1950er Jahre berichtet wurde. So gäbe es vermehrt „Un-
pünktlichkeit“ und daraus entstehende „Unruhe“ bei Gottesdiensten,94
teilweise sehr geringen
Gottesdienstbesuch,95
inaktive Gemeindeglieder,96
einen Mangel an „seelsorgerliche[n] Men-
schen, die zu Christus führen können“,97
generell „mangelnde Kraft zum Dienst und Zeugnis
und fehlenden Ernst in der Heiligung“,98
weniger Engagement der Jugend99
und schließlich
die Gefahr der „Verkirchlichung“, die einherginge mit mangelnder Sehnsucht nach „Erwe-
ckung“.100
Daher war man sich in der Gemeinde bewusst, dass „ernste Fragen auf der Konfe-
renz“ aufkommen würden bzgl. der „Müdigkeit“, die „die Gemeinde Jesu bedroht“ und „da
Lauheit und Weltsinn mancher Gemeindeglieder das Voranschreiten hemmen.“101
Im ersten Vortrag von Georg Würfel auf der Bundeskonferenz von 1954 wird der BEFG als
„Organismus“ beschrieben, in dem sich „immer noch starke und gesunde Lebensäußerungen“
fänden:102
Und doch! Wir haben Sorgen! Wir spüren den geistlichen Substanzverlust! Das Genußleben nimmt zu!
Die satte Selbstgenügsamkeit macht sich breit! Die willige Bereitschaft zum rückhaltlosen Dienst ist im
Schwinden begriffen. Dazu wirft auch die Statistik grelles Licht auf unsere Lage. Zwei Zahlenreihen
beunruhigen uns. Einmal die Streichungen und Ausschlüsse. Sie zeugen von so vielem erstorbenen und
erfrorenen Leben, von Gleichgültigkeit und VERWELTLICHUNG, aber auch von großen Sündenfäl-
len, ja vom Verharren in schwerer Sünde. Dann die Zahlen der Neugetauften. Diese Zahlen liegen
anormal niedrig. Kaum, daß sie den Abgang auszugleichen vermögen.
Wieder ein Mal zeigt sich: Selbstverortung im Baptismus, die Perzeption von Erfolg und
Misserfolg, war eng an Zahlen geknüpft. Die Baptisten sehen sich in der Krise, spüren „den
geistlichen Substanzverlust“, da die Taufzahlen sänken und die Zahl derer, die gestrichen und
93
AdS, in: Die Gemeinde, 15.11.1949, 348; AdS, in: Die Gemeinde, 1.1.1951, 12; Aus der Bundesleitung, in:
Die Gemeinde, 15.7.1951, 236. Nach AdS, in: Die Gemeinde, 25.1.53, 28 konnte der „Haushaltsplan“ des Bun-
des erstmals in der Nachkriegszeit 1952 erfüllt werden. 94
AdS, in: Die Gemeinde, 15.10.1949, 314; AdS, in: Die Gemeinde 9.9.1951, 299; AdS, in: Die Gemeinde,
28.6.1953, 204. 95
AdS, in: Die Gemeinde, 27.7.1952, 235. 96
AdS, in: Die Gemeinde, 9.9.1951, 298f; AdS, in: Die Gemeinde 22.8.1954, 267. 97
AdS, in: Die Gemeinde, 9.3.1952, 75. 98
AdS, in: Die Gemeinde, 27.7.1952, 235; AdS, in: Die Gemeinde, 16.5.1954, 156. 99
AdS, in: Die Gemeinde, 16.5.1954, 156. 100
AdS, in: Die Gemeinde, 24.8.52, 267; AdS, in: Die Gemeinde, 8.3.1953. 101
AdS, in: Die Gemeinde, 8.8.1954. 102
Georg Würfel, Ist unter uns wirklich Bereitschaft im Geist zum Dienst vor Gott? in: Vorträge zur Bundeskon-
ferenz Evang.-Freikirchlicher Gemeinden 1954 in Hamburg, 3-18, 4 & Zitat 5f.
21
ausgeschlossen würden, stiegen.103
Das schreibt man Tendenzen von „VERWELTLI-
CHUNG“ und, als Resultat, „großen Sündenfällen“ zu. Würfel fragt daher, ob „Unpünktlich-
keit, Trägheit, Schläfrigkeit, Sattheit, falsche Sicherheit, Selbstzufriedenheit, Geschwätzigkeit
aus unseren Gottesdiensten verbannt“ seien.104
Ebenso kennzeichneten „schwache Bibelstun-
den“ sowohl „in der Wortdarbietung“ wie „im Besuch“ das Gemeindeleben. Sie seien „wie
die matten und stockenden Pulsschläge eines kreislaufgestörten Menschen“. Auch „die Ge-
betsversammlungen“ stünden sowohl bezogen auf „ihre Besucherzahl“ wie auch „ihre Glau-
benskraft […] weithin in einem umgekehrten Verhältnis zu den Vorbildern des Neuen Tes-
taments“. Bzgl. der „Gemeindezucht“ sei „zu befürchten“, so Würfel weiter, dass die im Jahr-
buch verzeichneten Streichungs- und Ausschlussziffern „nur die äußersten Fälle sind.“ Denn,
so fragt er, „nimmt bei offenbaren Sünden das Bekennen der Schuld vor der Gemeinde, das
Ermahnen oder Strafen vor allen, auf daß die andern sich vor der Sünden fürchten lernen, den
ihm gebührenden Raum ein?“
Ebenso stände es auch nicht gut um die „Seelsorge“ und die „missionarische Einsatzfreudig-
keit“ – vornehmlich der großen Gemeinden. Dabei differenziert er auch zwischen „neuge-
wonnenen Glieder(n)“, welche „zumeist auch die eifrigsten Träger missionarischer Aktionen“
seien, „während andere sich nicht selten lieber der Pflege des Organisatorischen, des Traditi-
onellen, des Kultischen und Schöngeistigen wie auch des Gesellschaftlichen zuwenden.“
Wehmütig wagt Würfel daher die historische Rückschau: „Es gab in unserer Bewegung ein-
mal eine Zeit, da konnte ganz ehrlich bekannt werden: Jeder Baptist ein Missionar! Aber das
ist wohl schon lange her.“ Auch Endzeithoffnungen hätten abgenommen unter den Baptisten.
Doch dieses „sehnsüchtige Warten auf die baldige Wiederkunft unseres Herrn“, sei doch ge-
rade ein Kitt der Zusammenhalt schaffe, der „uns klein das Kleine und Vergängliche, groß
aber das bleibende Große“ mache. Eschatologische Erwartung sei der Motor, „ein mächtiger
Antrieb zur Bereitschaft im Geist und zum Dienst vor Gott“.105
Analog zur wirtschaftlichen Erholung nach dem Zweiten Weltkrieg schien der106
Baptismus
in Deutschland in die Krise zu geraten, die sich nach Gründung der Bundesrepublik und im
103
Vgl. 7. Appendix, Diagramm 5 wird allerdings ersichtlich, dass man die Bedeutung der Ausschlüsse wohl
überschätzte. Vielmehr waren es Streichungen, wohl der sich zunehmend von der Gemeinde entfremdenden
Glieder, die die 1950er Jahre prägten. 104
Würfel, Vorträge, 6ff. 105
Würfel, Vorträge, 6-10. 106
Die durch Artikel wie der (Baptismus) repräsentierte Homogenität des Baptismus wird hier als Konstruktion
verstanden. Der Konstruktcharakter der kollektiven Subjektivierung des Baptismus wird mit zunehmenden Kri-
senbewusstsein unter den Baptisten in den 1950er Jahren und dem damit in einer reziproken Beziehung stehen-
den Wandel der Selbstwahrnehmung immer offensichtlicher. Die Metamorphose der Selbstwahrnehmung er-
möglicht den Übergang vom Kollektivsubjekt Baptismus zu einer Art Pluralismus im Baptismus, zu Baptismen.
22
Zuge wirtschaftlicher Erholung nach 1949 kontinuierlich forcierte. Allmählich ist nicht mehr
„die Kirche“, sondern „die Welt“ ‚das Andere‘ und dabei weitaus gefährlicher: nichts anderes
skizziert Würfel in seinem Vortrag, „die Welt“ infiltriere „die Gemeinde“. Plötzlich werden
pejorative Selbstbilder konstruiert. Selbstbilder scheinen mit Fremdbildern zu verschmelzen.
Das baptistische Selbstbild scheint hier alles andere als homogen. Würfel repräsentiert den
deutschen Baptismus als „Organismus“ mit einer Identitätsstörung. Der eine „Organismus“
scheint mit sich selbst zu ringen: auf der einen Seite „starke und gesunde Lebensäußerungen“,
auf der anderen Seite offensichtliche „Sünde“ und „VERWELTLICHUNG“. Säkularisierung
wird repräsentiert als eine Art Krankheit, die „die Gemeinde“ erfasst und zu Dissoziationsten-
denzen führt.
Der zweite Vortrag geht noch einen Schritt weiter in der Abgrenzung „der Gemeinde“ und
„der Welt“ und wird konkreter bezogen auf das Verständnis von Welt das man als Baptist
haben konnte.107
„Die Gemeinde Jesu“, so Herbert Gudjons, „hat ihren Standort mitten in
einer dämonisierten Kultur, einem Diesseitsrausch ohnegleichen, mitten in Widerständen und
Versuchungen.“ Daher müssten sich die Gemeindemitglieder „bewähren“. Denn „bei einer
geschichtlichen Bewegung, wie sie das deutsche Freikirchentum und in ihm die taufgesinnten
Gemeinden“ darstellten, käme „es nicht darauf an, wie alt oder jung, groß oder klein sie ist,
sondern welchen Wahrheitsgehalt sie in sich birgt, welche formenden Kräfte von ihr ausge-
hen, vor allem, welche bleibende Frucht sie wirkt.“108
„Ein einheitliches Bild der Lage in un-
seren Gemeinden zu zeichnen“ sei kaum möglich – ein Eingeständnis des Konstruktionscha-
rakters des Bundes bzw. ein Indiz für die Erosion des baptistischen Milieus. Es gäbe zwar
Ausnahmen, doch die „Not“ sei vordergründig.109
Das untermauert Gudjohns zum einen, ähn-
lich wie Würfel, wiederum „statistisch“: „Die Gruppe der Ausgeschlossenen, Gestrichenen
und Ausgetretenen macht in den letzten Jahren im Durchschnitt 50-55% der in denselben
Zeiträumen Getauften aus! Das Normale müsste sein, daß eine Gemeinde im Jahr um die Zahl
der Bekehrten, der Neugetauften, wächst.“ Die Ursache sieht er dabei vornehmlich in man-
gelnder „Gemeinschaft“, aber auch in einer zu laxen „Aufnahmepraxis“ und mangelnder
„brüderlicher Kritik“.110
107
Herbert Gudjons, Ist unter uns wirklich Gestaltung des Lebens nach dem Wort der Schrift? in: Vorträge zur
Bundeskonferenz Evang.-Freikirchlicher Gemeinden 1954 in Hamburg, 19- 45. 108
Ebd. 19. 109
Ebd. 20. 110
Ebd. 20f.
23
Im Folgenden schematisiert Gudjohns die Mitglieder der Baptistengemeinden in drei von ihm
sogenannten „Lebensräumen“:111
a) In der Mitte ein Kern von aktiven, echten, fruchtbringenden Menschen; b) um diese Mitte herum ein
Kreis politischer Glieder, die die Versammlungen besuchen, Beiträge bezahlen und ihr eigenes Glau-
bensleben führen, bei denen man aber nicht mehr von Gemeindeaktivität reden kann; c) um diesen
Raum herum die Gruppe der Randleute, die alle getauft sind und zur Gemeinde gehören, aber nicht
mehr viel oder gar kein eigenes geistliches Leben mehr haben.
Vor allem „diese Randleute“ verursachten „Schwierigkeiten“, da sie sich geistlich seit der
Taufe nicht entwickelt hätten. „Je größer die Gemeinde zahlenmäßig ist, um so größer ist der
Rand. Er wächst beinahe in einer gesetzmäßigen Reihe!“ Es sei daher offensichtlich:112
Wir erfassen unsere Leute nicht mehr! Manche Gemeinde ist auch viel zu groß. Die verderbliche Jagd
nach der Zahl hat etliche von uns ergriffen. So haben wir in unseren Gemeinden ein ganzes Heer von
denen, die verwelkt sind und untergehen. Wir haben im Allgemeinen nicht die geistliche Kraft, die
Randleute zurückzugewinnen.
Auch Gudjohns spricht von einem „Substanzverlust“, vor allem da „unsere Predigt weithin
Verstandespredigt geworden ist“.113
Mit „Verstandespredigt“ spielt Gudjohns auf die Predig-
ten in den evangelischen Landeskirchen an.114
Mit anderen Worten konzediert er eine Art
Verkirchlichung des Baptismus. Das muss als besonders schlimmes Krisensymptom gewertet
werden, denn von den Landeskirchen hatte man sich doch immer auch und gerade wegen der
„Verstandespredigt“ abgegrenzt, die als Speerspitze des das kirchliche Leben infiltrierenden
Rationalismus gedeutet wurde. Baptismus in Deutschland war im 19. Jahrhundert erst in Ab-
grenzung gegen den die Kirche erfassenden Rationalismus entstanden.115
Nun würde der Ra-
tionalismus also auch Baptistengemeinden infiltrieren und ihre Verkündigung ‚verwässern‘.
Man könnte logisch folgern: Baptismus macht sich selbst überflüssig oder schafft sich ab.
Die Identitätskrise der Baptisten ist eine Sinnkrise, ein Zweifeln an der eigenen Relevanz.
Nach einer Bestandsanalyse des BEFG skizziert Gudjohns nun ‚das Andere‘, „die Welt“ und
erörtert die Haupteinbruchsstellen des Weltgeistes in unsere Gemeinden heute“.116
Da ist zu-
nächst „der heutige Film“ – nicht der Film an sich – als „eine grelle Demonstration des Zer-
falls und der Dämonisierung.“ Aufgezählt werden die „Untaten“ in den Filmen des vergange-
nen Jahres. Sie enthielten demnach „360 Morde, 84 Selbstmorde, 34 Meineide, 167 Diebstäh-
le, 236 Ehebrüche, 85 Brandstiftungen, 48 Spionageakte, 98 bewaffnete Einbrüche, 37 Aus-
brüche aus dem Gefängnis usw.“ „9 von 10 Filmen spiegeln uns eine Welt vor, die aus Genuß
111
Ebd. 22ff. 112
Ebd. 113
Ebd. 114
In der traditionellen Abgrenzung der Baptisten als „Gemeinde“ von „der Kirche“ war die „Verstandespre-
digt“, neben beispielsweise der „Kindertaufe“ eine entscheidende Kategorie. 115
Balders, 17. 116
Gudjons, Vorträge, 25.
24
und Vergnügen besteht: Autofahren, Sekttrinken, Zigarettenrauchen und Flirten sind die
Hauptbetätigungen der Filmgötter.“ Doch „Entartung und Dämonisierung“ träten „aber an
keiner Stelle so kraß in Erscheinung wie in der Verherrlichung des Sexuellen. Die Schamlo-
sigkeit ist immer ein Kennzeichen des Dämonischen.“117
Das hätte auch Einfluss darauf, „wie
leichtfertig und gedankenlos Verlobungen und Ehen unter uns geschlossen werden und wie
unwürdig sie wieder auseinandergehen.“ Denn der Film sei „ein dämonischer Miterzieher
unter uns geworden.“118
Des Weiteren gäbe es „einen umfassenden Abbau des Respektes.“119
Damit ist vor allem „ei-
ne gesunde Hierarchie in den Familien“ gemeint, an der es mangele:
Die Neuwerdung der christlichen Familie fängt bei der Erweckung der Frauen an! Sie müssen durch ih-
re Haltung, ihren Wandel, ihre geistliche und sittliche Erneuerung die Familie neu schaffen. Dadurch
wird die Gemeinde neu. […] Ihr Männer und Väter aber seid und bleibt verantwortlich als Hauspriester
für den Hausaltar. Daran ändert auch ein neues Gesetz nichts.
Damit spielt Gudjohns auf die in den 1950er Jahren die bundesrepublikanische Öffentlichkeit
bewegende Debatte um die Gleichberechtigung von Mann und Frau an, die im Grundgesetz in
Artikel 117 gefordert und bis 1957 auch durchgesetzt wurde, wogegen sich aber die Regie-
rung Adenauer im Bündnis mit den Kirchen zunächst stemmte.120
Für Gudjohns ist die wahre
Rollenverteilung aber durch die Bibel vorgegeben. Gerade die Ehe sieht er in Gefahr nicht nur
durch den Film, sondern auch durch ‚Mischehen‘. Denn „aus schwerwiegenden inneren
Gründen ist eben die Ehe mit einem Ungläubigen nicht möglich“.121
Gerade die „Randleute“
lebten oft in Ehen „mit einem Ungläubigen“. Durch solche Ehen werde jedoch „die Gemeinde
im Innern zersetzt und dadurch kraftlos.“122
Indem Gudjohns eine Ehe zwischen einem christlichen (baptistischen) Partner und einer säku-
laren Partnerin (und umgekehrt) ächtet, übernimmt er das Konzept einer weltanschaulich ho-
mogenen Ehe, die im freikirchlichen Milieu zumindest im Bearbeitungszeitraum erwünscht
war und zumeist wohl auch heute noch erwünscht ist. Unerwünscht waren demnach „Misch-
ehen“.123
Dieser Terminus wird eigentlich für eine Ehe verwandt, die zwischen zwei Partnern
unterschiedlicher Konfession geschlossen wird bzw. wurde.124
Dass allerdings Gudjohns nicht
117
Ebd. 26. 118
Ebd., 28. 119
Ebd., 34. 120
Christine Franzius, Bonner Grundgesetz und Familienrecht. Die Diskussion um die Gleichberechtigung von
Mann und Frau in der westdeutschen Zivilrechtslehre der Nachkriegszeit (1945-1957), Frankfurt a.M. 2005. 121
Gudjons, Vorträge, 34. 122
Ebd., 35. 123
Ebd. 124
Tillmann Bendikowski, Eine Fackel der Zwietracht. Katholisch-protestantische Mischehen im 19. und 20.
Jahrhundert, in: Olaf Blaschke, Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1870: ein zweites
konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, 215-241.
25
die Ehe mit einem kirchlichen Partner (z.B. Lutheraner), sondern „mit einem Ungläubigen“
als Gefahr konstruiert bzw. dass der potentielle kirchliche Partner nicht mehr als „ungläubig“
angesehen wurde, deutet auf die neue sich in den 1950er Jahren abzeichnende Wirklichkeit
hin: „die Welt“ hatte „die Kirche“ als Fremdbild abgelöst.
Aufgrund der „Verweltlichung der Jünger Jesu“ entspreche „die Kraft unserer Gemeinden“
nicht mehr „der Zahl ihrer Glieder“.125
Dazu sage „der Herr Jesus“, dass „die Entwicklung der
Gemeinde, der Kirche, des Christentums […] viel bedenklicher“ sei „als der Geschichtsfor-
scher und Geschichtsphilosoph ahnen.“ Seinen „Geschichtspessimismus“ begründe Jesus „in
den drei Gleichnissen, die von der Entartung des Reiches Gottes handeln“: dem Gleichnis
vom Senfkorn, dem Gleichnis von der Ernte und dem Gleichnis vom Sauerteig. Das Senfkorn
ist bedroht „von außen“, nämlich „durch die großen Kultureinflüsse, durch Wissenschaft,
Kunst, Politik, Wirtschaft, soziale Strömungen u.a.m. […] Gleich vielen Vögeln ziehen sie in
großem Schwarm ein, um sich mit ihren Nestern häuslich im Baum einzurichten.“ Die Ernte
sei bedroht „von unten“ durch den „Einfluß des Satans, der eine dämonische Ersatzreligion
mit dämonischen Charismata einschmuggelt.“ Und „von innen“ wirke „der Sauerteig (des
Fleisches) an der Vermehrung des Teiges – Gesetzlichkeit, Ehrgeiz, Mißgunst, Diplomatie,
Politik, Gewaltanwendung.“126
Im dritten Vortrag prangert Walter Paulo an, dass man „ungehorsam“ geworden sei gegenüber
„dem Auftrag zum persönlichen Zeugnis“ und diesen ersetzt hätte „durch Aktivität in der
Gemeinde und durch eine gewaltige unpersönliche Organisation.“127
Das „zehrt unsere Kräfte
derart aus, daß wir zum persönlichen Zeugnis unfähig werden.“ „Aktivität“ und „unpersönli-
che Organisation“ meinen nichts anderes als eine Institutionalisierung, die zu einer Statik ge-
führt habe, die den Baptismus als dynamische Bewegung, so nahm man sich in der unmittel-
baren Nachkriegszeit wahr, ablöste. Doch diese negative Bestandsaufnahme gelte allerdings
nur „bei den aktiven Gemeindegliedern.“ Viel schlimmer sei es noch „bei der großen Masse
[…], die nur noch als Mitläufer bezeichnet werden“ könne.128
Exemplarisch berichtet Paulo über „eine Schwester, die von einer Tagung der Evangelischen
Akademie kommt“ und die er gefragt hätte, „ob sie dort die Schwester X kennengelernt habe,
von der ich wußte, daß sie auch zu den Teilnehmern gehörte. ‚Ja‘, sagt die Gefragte, ‚aber
denken Sie, die wollte doch meine Kollegin bekehren. Aber es ist ihr nicht geglückt.‘“ Die
125
Gudjons, Vorträge 37. 126
Ebd., 37f. 127
Walter Paulo, Ist unter uns wirklich Vollmacht zum persönlichen Zeugnis im Auftrage Christi, Vorträge zur
Bundeskonferenz Evang.-Freikirchlicher Gemeinden 1954 in Hamburg, 46-64, 49f. 128
Ebd.
26
Bekehrungsversuche von „Schwester X“ sind ein Ausdruck von vergehendem Konfessiona-
lismus.129
Paulo entsetzt diese Anekdote: „Ich kenne die Schwester X als eine taktvolle und
treue Christin. Sie hat also ihr Zeugnis ausgerichtet. Aber unserer Schwester war das sehr
peinlich.“ Dass die „Schwester“, die von „Schwester X“ berichtet, dies in abfälliger Weise tut,
deutet auf einen von Paulo wahrgenommenen Mentalitätswandel „bei der großen Masse“ der
Baptisten Anfang der 1950er Jahre hin. Die Hervorhebung baptistischer Alleinstellungs-
merkmale schien zu Gunsten ökumenischer Eintracht nicht mehr gefragt zu sein. Es gab sie
allerdings noch und einige Baptisten kehrten sie auch noch nach außen. Paulo konstruiert hier
eine Art innere Dichotomisierung, eine gegenseitige Abgrenzung zweier Gruppen innerhalb
des Baptismus: „aktive Mitglieder“ auf der einen und „Mitläufer“ auf der anderen Seite. Er
persönlich zählt sich zu den „aktiven Mitgliedern“, denn er grenzt sich von den „Mitläufern“
durch seine Anekdote der zwei „Schwestern“ ab. Die „Mitläufer“ werden für ihn zum Fremd-
bild. Doch auch die von ihm als „Mitläufer“ bezeichneten Baptisten scheinen sich abzugren-
zen gegen die von Paulo als „aktive Mitglieder“ stilisierten Baptisten. Allen Ernstes unter-
nähmen sie noch Bekehrungsversuche und gäben „Zeugnis“. Die „Mitläufer“ hatten von sich
selbst wohl ein wesentliches positiveres Selbstbild, verstanden sich als progressiv, als modern
und gebildet. Für sie schienen die „aktiven Mitglieder“ einen rückständigen Baptismus zu
verkörpern. So scheint es, dass Baptismus in Deutschland sich schon seit Mitte der 1950er
Jahre zu pluralisieren begann. Baptisten können Selbstbilder verkörpern, aber auch Fremdbil-
der – je nach Perspektive des Betrachters – und grenzen sich gegenseitig voneinander ab.
4. Identitätstransformationen
4.1 Von der Abgrenzung gegen „die Kirche“ …
Allein der Name des Vorgängers der Gemeinde, des Wahrheitszeugen, impliziert schon eine
traditionelle Form der Abgrenzung christlicher Gemeinschaften: Konfessionalismus.130
Eine
andere religiöse Gemeinschaft wird konstruiert als das ‚Andere‘. Denn wenn im Wahrheits-
zeugen die „Wahrheit“ bezeugt wurde, mussten Zeitschriften anderer religiöser Gemeinschaf-
ten die „Unwahrheit“ oder zumindest nicht die ganze „Wahrheit“ bezeugen. Gerade die Um-
benennung 1946 in Gemeinde konkretisiert die für Baptisten relevante Referenzgröße, vor
allem für Abgrenzungsprozesse bzw. die Konstruktion des ‚Anderen‘: die (Evangelische) Kir-
che. Abgrenzung wird sprachlich konstruiert, durch (bedeutungsschwangere) Semantik, die
129
Beispielsweise in Bad Boll kamen jedoch seit Ende der 1940er Jahre zumeist Christen verschiedener Kirchen
zu akademischen Tagungen zusammen, was zum Abbau von Konfessionalismus beitrug. 130
Olaf Blaschke, Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1870: ein zweites konfessionelles
Zeitalter, Göttingen 2002.
27
Konnotationen impliziert, also bei genauerer Analyse Bilder, Selbst- und Fremdbilder als
identitätsstiftende Elemente oder Identitätsbausteine des Baptismus offenbart.
Zunächst wird also die „Gemeinde“, ἐκκλησία, die auch Luther in seiner Bibelübersetzung als
„Gemeinde“ übersetzt hatte und nicht als „Kirche“,131
in AdS von „der Kirche“ abgegrenzt.
Damit fühlte man sich auf dem Boden der Heiligen Schrift. Es schien wichtig zu betonen,
dass baptistische Lehre im Einklang mit der Bibel stehe, „schriftgemäß“ sei, die Kirche sich
jedoch in gewissen Unterschieden, die zwischen der Evangelischen Kirche bzw. den Landes-
kirchen und den Baptisten bestünden, irre, die Reformation nicht wirklich zu Ende gebracht
habe und daher eben nicht die „Wahrheit“ für sich beanspruchen könne. In dieser Hinsicht
war die Gemeinde noch ganz Wahrheitszeuge.132
Die Dichotomisierung oder Konstruktion
eines komplementären Begriffspaares zur strukturellen Abgrenzung des Baptismus vom lan-
deskirchlichen Protestantismus führte auch zur Demarkation der „Freikirche“ auf der einen
und der „Volkskirche“ auf der anderen Seite.133
So werden die Baptisten als „Freikirche“ cha-
rakterisiert, als religiöse Gemeinschaft ohne Staatsbindung und daher als territorial nicht loka-
lisierbar wie die in Parochien manifestierten Landeskirchen.134
Neben der oftmals schon vorhandenen Dichotomisierung von Begrifflichkeiten, auf die der
„Schmied“ zurückgreifen konnte, bestand eine weitere Technik des „Schmieds“ in der Stili-
sierung von Selbst- und Fremdbildern darin, Stimmen aus der Evangelischen Kirche aufzu-
nehmen. Oftmals dokumentierten diese Zitate innerkirchliche Kritik, teils direkte aber auch
indirekte in Form von Lob für die Freikirchen. Lob als Kritik? In AdS wirkt Lob für die Aus-
nahme – Freikirchen – als die Offenbarung von Defiziten an der Regel – der Volkskirche. So
131
AdS, in: Die Gemeinde, 15.9.1946, 44. Nach Christian Möller, Gemeinde I: Christliche Gemeinde, in: Theo-
logische Realenzyklopädie Online , <http://www.degruyter.com/view/TRE/TRE.30_511_30>, letzter Aufruf 18
April 2013 habe Luther, obwohl er ἐκκλησία „fast ausschließlich“ mit „‘Gemeinde‘“ wiedergab, in seinen eige-
nen Schriften aber in Anlehnung an den 3. Glaubensartikel „niemals darauf verzichtet, das undeutliche Wort
‚Kirche‘“ zu benutzen, um es a) nicht der römisch katholischen Kirche allein zu überlassen, noch den Begriff „in
einem personalistischen Verständnis von Gemeinschaft aufgehen zu lassen“. Durch das landesherrliche Kirchen-
regiment kam allerdings das Verständnis auf, dass es sich bei der „Gemeinde“ nur um „eine Filiale der übergrei-
fenden Institution ‚Kirche‘“ handele. Doch der Begriff „Kirche“ (griechisch) umfasst „die rechtliche, institutio-
nelle, geschichtliche und räumliche Gestalt der christlichen Gemeinde“. Demgegenüber komme im Begriff
„Gemeinde“ „die personale, als Versammlung und Gemeinschaft im Evangelium sich ereignende, lokal begrenz-
te Gestalt von ‚Kirche‘“ zum Ausdruck. 132
Der neue Name war in der Tat auch eher einer Konzession an die mit den Baptisten seit 1941 im BEFG ver-
einigten Brüder. 133
Die Gemeinde, 1.6.1946, 21. Der wissenschaftlichen Redlichkeit halber sollte aber erwähnt werden, dass der
Begriff „Volkskirche“ auf den durch das Ende von Thron und Altar 1919 ‚toten‘ Begriff der „Staatskirche“ folg-
te. Zuweilen räsonierte man in der Gemeinde darüber, dass mit dem Ende des Bündnisses, der Freikirche jetzt
das Pendant Staatskirche fehlen und daher der Begriff Freikirche sich eigentlich erübrigt hätte Vgl. Voigt, 33.
Doch in der Abgrenzung von der „Volkskirche“, der in dieser Hinsicht die Nachfolge des Begriffs „Staatskirche“
antrat, hatte man zumindest für Dichotomisierungen ein neues Pendant gefunden. 134
AdS, in: Die Gemeinde, 1.6.1948, 46. Hier wird in AdS ein Artikel von Dr. Reinhold von Thadden aus der
Monatsschrift Die Zeichen der Zeit (Heft 2/3) aufgenommen, der Freikirchen in den beiden genannten Punkten
charakterisiert.
28
wird Prälat Dr. Hartenstein zitiert, der in einem Vortrag in Stuttgart herausgestellt habe, dass
„Kirche“ ursprünglich „Gemeinde“ war. Solche Zitate aus kirchlichen Kreisen werden dann
in AdS immer abschließend kommentiert, hier folgendermaßen: „Wir können der Kirche nur
von ganzem Herzen wünschen, daß der Gemeindegedanke in ihr immer klarer hervortrete und
greifbare Gestalt annehme.“135
Die abschließenden Kommentare haben einen resümierenden
und auch stark konfessionellen Charakter: im Baptismus habe man die „Wahrheit“, den „Ge-
meindegedanke[n]“ schon verinnerlicht, die „Kirche“ hingegen habe hier noch klaren Nach-
holbedarf. Des Weiteren ist bei der Anwendung der erwähnten Zitationstechnik auf das Krite-
rium hinzuweisen, das der Selektion der Zitate zu Grunde liegt: fast alle zitierten Personen
haben einen pietistischen und stehen damit Freikirchen aus Tradition nahe oder zumindest
näher als Lutheraner.136
Strukturelle Abgrenzung in AdS erfolgt auch durch Kritik an der „vorläufigen Verfassung der
EKD“. In dieser seien nach Kriegsende wieder „zentrifugale Kräfte“ zu Tage getreten.137
Die
schon erwähnte Technik der Zitation innerkirchlicher Kritik wird auch in diesem Fall wieder
angewandt. Zu Wort kommt „Lic. Wilh. Niesel, der Moderator des reformierten Kirchenbu-
ches“, der die Reorganisation der EKD „in herzerfrischender Deutlichkeit“ beschreibe. Er
hebt hervor, dass man die „‚staatliche Art der Kirchenleitung […] endlich abstreifen‘“ müsse.
Doch, so echauffiert sich Niesel, „‚der erste Schritt, den manche Landeskirchen zur Neuord-
nung getan haben, war eine Bischofswahl! Das Führerprinzip [sic] ist noch nicht erstorben!‘“
Der Begriff „Führerprinzip“ wird hier unkommentiert stehen gelassen als eine negativ konno-
tierte, undemokratische Form von Zentralismus. So erscheint der Begriff „Führerprinzip“ in
AdS als Kulminationspunkt für „kirchenregimentliches Handeln“, wie es an anderer Stelle
heißt,138
der kirchlichen Hierarchie von oben nach unten. Darüber hinaus wird die „Volkskir-
che“ faktisch noch als „Staatskirche“ dargestellt, zumindest in organisatorischer Hinsicht,
indem auf die „staatliche Art der Kirchenleitung“ hingewiesen wird. Demgegenüber wird in
AdS an anderer Stelle die Ortsgemeinde bzw. die „autonome Einzelgemeinde“ gestellt, die
eine Hierarchie von unten nach oben, eine Art basisdemokratischen Dezentralismus verkörpe-
re.139
135
Die Gemeinde, 15.9.1946, 44. 136
Voigt, 134. Zum einen kann man Freikirchen generell als außerkirchlich pietistisch geprägte Religionsge-
meinschaften kennzeichnen, die aber auf dem Boden der 1846 gegründeten Evangelischen Allianz traditionell
auch in Verbindung standen mit innerkirchlichen, pietistisch geprägten Gruppen, oftmals auch „Allianzchristen“
genannt. Prälat Dr. Karl Hartenstein war Missionsinspektor der pietistisch geprägten Basler Mission. 137
AdS, in: Die Gemeinde, 1.5.1947, 37. Erwähnt wird z.B. die Gründung der VELKD. 138
AdS, in: Die Gemeinde, 1.6.1946, 21. 139
AdS, in: Die Gemeinde, 1.6.1946, 21.
29
Schließlich wird in struktureller Hinsicht noch der Gegensatz zwischen dem Baptismus als
einer Laienbewegung und des landeskirchlichen Protestantismus als einer durch Klerikalis-
mus gekennzeichneten Institution hervorgehoben. So werden die „theologischen“ Streitigkei-
ten innerhalb der EKD, die „Laien“ als „belanglos“ erachteten erwähnt. Es wird gefragt, ob
die „‚Laien‘ in diesem Stück nicht ein gesünderes Urteil haben als manche Schriftgelehr-
te?“140
Baptismus in Deutschland ist traditionell eine Laienbewegung, die sich immer ab-
grenzte gegen den Klerikalismus der Kirche.141
Das reformatorische Prinzip des Priestertums
aller Gläubigen sah man damit erfüllt.142
Wie kann man also besser abgrenzen gegen Klerika-
lismus als mit dem im Neuen Testament extrem negativ konnotierten Begriff des „Schriftge-
lehrten“, der zwar alles weiß oder wissen müsste, aber nicht wirklich glaubt?143
Theologen,
studierte Intellektuelle, hatten traditionell eher einen schweren Stand im deutschen Baptismus.
Im Vordergrund standen der praktizierte Glaube samt Glaubenserfahrungen und eben nicht
„theologische“ Spitzfindigkeiten, Theologie per se. Das hängt wohl auch damit zusammen,
dass Baptisten eine ursprünglich eher kleinbürgerliche Bewegung waren.144
Angesichts der
„theologischen“ Streitigkeiten, von der man sich als Laienbewegung abgrenzen wollte, wer-
den in AdS allerdings nicht die eigenen theologischen Unterschiede und daraus resultierenden
Streitigkeiten innerhalb des BEFG zwischen Baptisten und Brüdern erwähnt, die in der unmit-
telbaren Nachkriegszeit neu aufflammten.145
Demnach spielten auch im deutschen Baptismus
„theologische“ Spitzfindigkeiten eine nicht unbedeutende Rolle.
Doch vor allem 1947 wird in AdS teilweise auch noch auf Gemeinsamkeiten zwischen Frei-
kirchen und der gesamten Evangelischen Kirche hingewiesen – die Verbindung, in der man
sich mit pietistischen Christen bzw. „Allianzchristen“ innerhalb der Kirche wähnte, wurde ja
schon angeführt. Gemeinsam sähe man sich doch „christusfeindlichen Kräfte[n]“ gegenüber,
welche „früher oder später […] zu einem Großangriff antreten“ würden. „Und in diesem
Kampf werden alle Christen gefordert sein, Lutheraner und Reformierte, Kirchen und Freikir-
chen“. In diesem Kampf ginge es dann „nur um die eine Frage: Für Christus oder wider
Christus!“146
Darüber hinaus hätte man doch als Gemeinschaft evangelischer Christen „ange-
sichts des gewaltigen Baues der katholischen Kirche“ auch religiöse Konkurrenz und könne
140
AdS, in: Die Gemeinde, 15.10.1948, 93. 141
So auch im Falle des Bischofs Wurm, der kein „‚Kirchenfürst‘“ und dem „kirchliche Enge […] fremd“ gewe-
sen sei. Vgl. AdS, in: Die Gemeinde, 1.1.1949, 12. Wieder wird hier die Technik des Lobs für die so verstandene
Ausnahme als Kritik an der Masse angewandt. 142
In AdS, in: Die Gemeinde, 15.7.1949, 219. 143
Weiß, Hans-Friedrich, Schriftgelehrte, in: Theologische Realenzyklopädie Online ,
<http://www.degruyter.com/view/TRE/TRE.30_511_30>, letzter Aufruf 18 April 2013 144
Balders, 24. Bei der Verbreitung des Baptismus spielten auch reisende Handwerker eine große Rolle. 145
Balders, 138ff. 146
AdS, in: Die Gemeinde, 1.5.1947, 37. Ähnlich in AdS, in: Die Gemeinde, 1.7.1949, 203.
30
sich daher nicht „aufspalten und auseinanderreden wegen organisatorischer Differenzen, we-
gen zweitrangiger Lehranschauungen oder liturgischer und agendarischer Liebhabereien“.147
Das gemeinsame ‚Andere‘ ist hier in pietistischer Tradition die Welt, in allgemeinprotestanti-
scher Tradition jedoch auch die Römisch-katholische Kirche.
Im September 1947 wird in AdS ein Auszug vom evangelischen Stadtpfarrer G. Lang aus
Stuttgart abgedruckt, der im „Evang. Gemeindeblatt für Württemberg“ von Erfahrungen be-
richtet, die kirchliche Christen gemacht hätten im Krieg mit freikirchlichen Christen, „die sie
durch ihren Bekennermut und ihre klare Haltung anfeuerten und oft auch beschämten.“ Mit
anderen Worten: freikirchliche Christen hätten einen lebendigen Glauben, kirchliche Christen
einen toten oder zumindest nicht so lebendigen, der sich daher unter dem Druck des Krieges
oftmals nicht bewährt habe. Auch hier wieder kommt eine innerkirchliche, vermutlich pietisti-
sche Stimme zu Wort,148
wird Lob an den Freikirchen verbunden mit Kritik an der Evangeli-
schen Kirche, werden Selbst- und Fremdbilder konstruiert anhand eines komplementären Be-
griffspaares: toter Glaube/ lebendiger Glaube. Von diesen „sogenannten Freikirchen“, so
Lang weiter, „trennt uns ja nicht ein wesentlicher Unterschied der Lehre, wie bei den soge-
nannten Sekten.“149
Man stehe doch „einer geschlossenen Welt des Unglaubens gegenüber“.
Das gemeinsame ‚Andere‘, die säkulare Welt, die schon einige Monate zuvor in AdS konstru-
iert wurde, wird erneut heraufbeschworen. Man müsse daher angesichts der geringen Unter-
schiede und der gemeinsamen Bedrohung aktiv die Verbindung mit den Freikirchen suchen,
was ja global in Mission und Ökumene schon geschehe. „Am Ort“ könne man auch ange-
sichts der Arbeit im Hilfswerk „unmöglich nebeneinander hergehen“.150
So wird Jung in AdS
zum innerkirchlichen Sprachrohr für die Forderung der Kommunikation auf Augenhöhe mit
der Evangelischen Kirche in Deutschland, die in der globalen Ökumene schon passiere, wo-
rauf nun jedoch auch die nationale ökumenische Zusammenarbeit folgen müsse.
Die Hervorhebung von Gemeinsamkeiten mit der Kirche, die hier nicht verschwiegen werden
sollte, erfolgt über die Konstruktion noch bedrohlicher ‚Anderer‘. Angesichts dieses Bedro-
hungspotenzials und des nur im ökumenischen Geist zu erfüllenden Auftrags im Hilfswerk
wird an die Überwindung „organisatorischer Differenzen“, „zweitrangiger Lehranschauun-
gen“ und „liturgischer und agendarischer Liebhabereien“ in der gesamten Evangelischen
147
AdS, in: Die Gemeinde, 1.5.1947, 37. 148
Aufgrund des abgekürzten Vornamens kann G. Lang biographisch nicht eindeutig verortet werden. Doch als
Stuttgarter Pfarrer Mitglied der Württembergischen Landeskirche zu sein, macht einen einen pietistischen Hin-
tergrund wahrscheinlich. 149
Seitens der Kirche stiegen die Freikirchen in ihrem Prestige in der Nachkriegszeit und wurden nur noch selten
als „Sekten“ bezeichnet. 150
AdS, in: Die Gemeinde 1.9.47.
31
Christenheit, also auch inklusive der Freikirchen, appelliert. Das führt allerdings geradewegs
in einen Widerspruch. Denn insbesondere in AdS werden Selbst- und Fremdbilder konstruiert
auf Grundlage „zweitrangiger Lehranschauungen“, so könnte man meinen. Im Zentrum steht
dabei die Form der Taufe. Die Taufe hatte für die Baptisten traditionell eine zentrale Bedeu-
tung für die Konstruktion ihrer kollektiven Identität. Schon der Name Baptisten leitet sich
vom griechischen βαπτίζειν ab und bedeutet „untertauchen“ bzw. „taufen“. Den Namen „Bap-
tisten“ nahmen die deutschen Baptisten anfangs nur widerwillig an, da er eine spöttische
Fremdbezeichnung zumeist kirchlicher Kreise war. Doch neben dem Prinzip des Kongrega-
tionalismus ist die Taufe das wohl zentrale theologische Merkmal baptistischer Identitätsstif-
tung.151
Daher wird die Auseinandersetzung um die Taufe in AdS bald zum dominierenden
Thema der Abgrenzung gegen die Evangelische Kirche.
Erwähnt wird die Tauffrage schon 1946. Die Erwähnung einer sich in Arbeit befindlichen
Abhandlung Prof. Johannes Schneiders, eines baptistischen Neutestamentlers und Hochschul-
lehrers in Berlin, der damit auf den Vortrag Karl Barths über „‚Die kirchliche Lehre von der
Taufe‘“ reagiere, hat aber eher den Charakter einer Meldung denn einer polemischen Abgren-
zung.152
Schneider wird in AdS zitiert. Er lobt Barth dafür, dass er „‚die Wiederherstellung der
Taufe im urchristlichen Sinne fordert und sich zur Erwachsenentaufe als der einzigen und
ordnungsmäßigen Taufe bekennt.‘“ Das sei eine „‚auf kirchlichem Gebiet geradezu revolutio-
näre Tat‘“, so Schneider. So lehne Barth die Kindertaufe ab, da ihr nicht der Glaube des Täuf-
lings vorausgehen könne.153
Damit ist eigentlich schon der entscheidende Unterschied zwi-
schen der Taufauffassung der Baptisten und der Evangelischen Kirche herausgestellt: Der
Taufe muss der Glaube des Täuflings nach baptistischer Auffassung vorausgehen, daher ver-
fechten sie die „Taufe der Gläubigen“ bzw. „Gläubigentaufe“. Die Taufe ist damit ein Gehor-
samsschritt des mündigen Gläubigen, in dem Gott zuvor den Glauben bewirkte. Subjekt des
Taufgeschehens ist daher der Täufling. Bei der Kindertaufe steht ein Taufpate stellvertretend
für den Glauben des zu taufenden Kindes ein. Gott ist damit Subjekt des Taufgeschehens.154
Die 1947 erschienene, scheinbar auch in der Evangelischen Kirche polarisierende Abhand-
lung Karl Barths über die Taufe intensivierte dann allerdings mehr als ein Jahr später die
Taufkontroverse auch in AdS.155
Für Barth sei die Kindertaufe zwar „eine ‚Wunde am Leibe
151
John David Hughey & Rudolf Thaut, Baptisten, in: Theologische Realenzyklopädie Online ,
<http://www.degruyter.com/view/TRE/TRE.30_511_30>, letzter Aufruf 18 April 2013 152
Karl Barth, Vortrag 1943??? 153
AdS, in: Die Gemeinde, 1.9.1946, 44. 154
Bryan D. Spinks, Taufe IV: Neuzeit, in: Theologische Realenzyklopädie Online ,
<http://www.degruyter.com/view/TRE/TRE.30_511_30>, letzter Aufruf 18 April 2013. 155
AdS, in: Die Gemeinde, 1.11.1947, 85.
32
der Kirche‘“, eine „‚verdunkelte‘, ‚unordentliche‘ Taufe“, doch trotzdem die „‚wahre, wirkli-
che und wirksame‘“ Taufe und in jedem Fall besser als „‚irgendeine jämmerliche Winkel- und
Wiedertaufe‘“. Diese Polemik wird in AdS als widersprüchlich erklärt. Als Reaktion wird
gleichsam Polemik angewandt. Die Kindertaufe sei von der Kirche, die in sie „ein magisches
Element hineinlegt“, als „selbstwirksam“ erklärt worden, als „unzerstörbares Siegel des
Heils“. Nur mit einer solchen Auffassung könne man sich mit „Barth auch zu der grotesken
Behauptung versteigen: ‚Auch Hitler und Stalin, auch Mussolini und der Papst stehen unter
diesem Zeichen.‘ (!)“. Dies sei eine „überspitzt sakramentale Auffassung“, die dazu verleite
„seelenruhig“ zu bleiben, „wenn die Taufe eines Täuflings zwar nicht ‚Zeichen seiner Gläu-
bigkeit‘, sondern Zeichen keiner Gläubigkeit ist!“156
Die Kindertaufe nennt der Schmied da-
her „Taufe der Unmündigen“ und stellt sie der „Taufe der Gläubigen“ gegenüber. Dabei han-
dele es sich niemals um „Wiedertaufe“, denn „niemals würden wir z.B. einen
Gläubiggetauften, der aus einer anderen Gemeinschaft zu uns kommt, noch einmal taufen.“
Wieder bedient man sich in AdS Dichotomisierung, reagiert damit aber auch auf Fremdstig-
matisierung kirchlicherseits: Gott als Subjekt/ Mensch als Subjekt, „Winkel- und Wiedertau-
fe“/ „Taufe der Unmündigen“, „Zeichen keiner Gläubigkeit“/ „‚Zeichen seiner Gläubigkeit‘“.
Um die baptistische Haltung zu unterstreichen, bedient sich der „Schmied“ wieder der schon
erwähnten Technik der Zitation innerkirchlicher Stimmen. Zu Wort kommt Pfarrer Rudolf
Weckerling,157
der in der evangelischen Wochenschrift Die Kirche (Nr. 33/1947) einen Arti-
kel über Apg. 8,26 (Geschichte vom Kämmerer aus dem Morgenland) veröffentlicht hatte. Er
resümiert: „‚Die Art, wie der Diakon Philipus bei der Taufe des Kämmerers vorgeht, ent-
spricht dem Taufbefehl des auferstandenen Herrn, während die Art, wie wir taufen, nicht aus
dem Gehorsam kommt, sondern die ganze Not der Volkskirche und der volkskirchlichen Kon-
firmation mit sich bringt.‘“ Denn ursprünglich gehörten „das sichtbare Zeichen (das Sakra-
ment) und der Glaube des Empfangenden unlöslich zusammen‘“, so Weckerling.158
So wird
wieder auf den Glauben des mündigen Täuflings, der der Taufe vorangehen müsse, die wiede-
rum ein Gehorsamsschritt sei, verwiesen. In AdS wundert man sich daher über „baptistische
Gedanken von geradezu revolutionärer Wucht und Offenheit“ und fragt sich ob, „das wirklich
ein evangelischer Pfarrer geschrieben“ habe, ob „das wirklich in einem angesehenen Kirchen-
blatt“ stünde. Baptisten seien zwar „freikirchlich, aber wir sind auch evangelisch.“ Folglich
156
AdS, in: Die Gemeinde, 1.11.47, 85. Hier wird auch verwiesen auf eine schriftliche Auseinandersetzung des
baptistischen Seminarlehrers Hans Rockel mit Karl Barths Publikation, die in der gleichen Ausgabe der Gemein-
de erschien. 157
Zur damaligen Zeit war Pfarrer Weckerling Studentenpfarrer, im „Dritten Reich“ Mitglied der Bekennenden
Kirche, die in mancherlei Hinsicht theologische Nähe zu den Freikirchen zeigte. 158
AdS, in: Die Gemeinde, 1.12.1947, 93ff.
33
meinten sie „es gut mit der evangelischen Kirche, wenn wir ihr von ganzem Herzen wün-
schen, daß die Wahrheit von der biblischen Taufe immer mehr Raum in ihr gewinne.“159
Hier
wird zum einen die Kindertaufe als angebliche „Not der Volkskirche“, sogenannte „Taufnot“,
thematisiert, die künftig immer wieder als Argument angeführt wird. Gemeint ist damit, dass
viele der unmündigen Täuflinge sich im Laufe ihres Lebens von ihrem Glauben entfernen
würden, einen toten Glauben hätten oder wie Martin Niemöller angeblich gesagt habe, „‚Mil-
lionen getaufter Heiden!‘“ seien.160
Auf der anderen Seite wird auf „die Wahrheit von der
biblischen Taufe“ verwiesen, die die Freikirchen schon erkannt hätten und in der für die
Evangelische Kirche der Ausweg aus der „Taufnot“ bestünde.
Wiederum ein halbes Jahr später, im Mai 1949, berichtet der „Schmied“ von einer Begeg-
nung mit einem Nichtbaptisten im Anschluss an einen Gottesdienst, der sich wunderte, dass
die Taufe nicht thematisiert wurde. Das habe er, der „Schmied“, damit begründet, dass „unse-
re Mitglieder von ihrer biblischen Begründung und Richtigkeit völlig überzeugt sind“, dass
„wir auf die Empfindlichkeit lieber gläubiger Brüder Rücksicht nehmen, die in der Tauffrage
anderer Meinung sind“ und dass „weil uns Christus A und O, ein und alles ist“ sie „in den
Taufakt beim besten Willen nicht so viel Sakramentales, undefinierbar Geheimnisvolles hin-
einlegen“ könnten, „daß schließlich der Herr Christus so gut wie überflüssig wird.“161
Diese
Anekdote erscheint unter der Überschrift „Baptismata“, einer neuen Rubrik in AdS, die aus-
schließlich die Taufe thematisiert – weniger argumentativ, vielmehr polemisch, indem sie
ziemlich exotische Einzelfälle oder hypothetische Überlegungen in den Vordergrund stellt.
Was würde beispielsweise mit „Flüchtlingskindern“ geschehen, „deren Eltern und Taufpaten
tot seien. Wer bezeugt sodann ihre Taufe?“ Daher sei die Kindertaufe komplizierter und Gott
nicht (so) wohlgefällig wie die „Gläubigentaufe“.162
In „Baptismata“ wird des Weiteren er-
neut auf die „‚Taufnot‘“ in der Evangelischen Kirche verwiesen, die, wie schon erwähnt,
mangels der persönlichen Entscheidung des Täuflings entstehe.163
Daher sei die Kindertaufe
trotz Taufpaten unbiblisch.164
Die erwähnte Anekdote, die Begegnung des „Schmieds“ mit
einem Nichtbaptisten, erscheint als Rechtfertigung für die nun folgende, vermehrte Themati-
sierung der Taufe. Nach dem Motto: Wenn sogar Nichtchristen erwarten, regelrecht fordern,
dass wir von der Taufe sprechen, müssen wir das auch tun – sonst kommen wir unserem Auf-
trag nicht nach. Mit der vermehrten Thematisierung der Taufe widerspricht sich der
159
AdS, in: Die Gemeinde, 1.12.1947, 93ff. 160
AdS, in: Die Gemeinde, 18.6.1950, 202. 161
AdS, in: Die Gemeinde, 15.5.1949,155. 162
AdS, in: Die Gemeinde 1.6.1949, 171f. 163
AdS, in: Die Gemeinde 15.5.1949, 155. 164
AdS, in: Die Gemeinde, 15.6.1949, 187.
34
„Schmied“ allerdings in allen drei angeführten Punkten für die Nichtthematisierung der Taufe
selbst.
Die Rubrik „Baptismata“ erscheint vom 15. Mai 1949 an in drei aufeinanderfolgenden Aus-
gaben bis zum 15. Juni 1949. In der Folgeausgabe wird zwar auch die Taufe thematisiert, aber
nicht unter „Baptismata“.165
In der Ausgabe vom 15. Juli 1949 wird von der „‚Ökumene zu
Hause‘“ berichtet die gestärkt werden müsse und „von der in den Richtlinien der Arbeitsge-
meinschaft christlicher Kirchen in Deutschland die Rede ist“.166
Sie wird in der gleichen Aus-
gabe der Gemeinde auch abgedruckt. Die sogenannten „Richtlinien“ werden noch thematisiert
werden. Vorab sei jedoch gesagt, dass sie zur Austarierung konfessioneller Gegensätze im
protestantischen Nachkriegsdeutschland beitrugen (die Katholische Kirche war nicht Teil der
ACK) und von den beteiligten Konfessionen als bindend erachtet wurden. Dass die Rubrik
„Baptismata“ im nächsten Heft nicht und letztmalig Mitte August 1949 erscheint scheint in
Verbindung mit dem Erlass der „Richtlinien“ zu stehen.
Die Kindertaufe wird noch einige Male im Jahr 1950 thematisiert,167
teilweise auch ihre Ab-
schaffung gefordert.168
Dabei wird auch auf die Spaltung der Evangelischen Kirche in dieser
Frage hingewiesen.169
Doch es scheint als sei seit Ende 1949 ein tiefgreifender Wandel bezüg-
lich der Abgrenzung gegenüber der Kirche im Gange. Die Thematisierung der Kindertaufe
erscheint viel defensiver als noch 1949 – als Kritik an kirchlicher Polemik in kirchlichen Zeit-
schriften gegen die „Gläubigentaufe“. Man beruft sich bei der „Gläubigentaufe“ auf die doch
auch von Luther verfochtene „Gewissenspflicht“.170
Parallel scheint die Betonung von Allein-
stellungsmerkmalen wie der Taufe im Leserkreis der Gemeinde auf weniger Akzeptanz zu
stoßen. In AdS wird in diesem Zusammenhang ein Leserbrief erwähnt, der allerdings nicht
abgedruckt wird,171
und in dem gefragt worden sei, ob man nicht im Baptismus „zuviel Wert
auf die Taufe“ lege. In Beantwortung des Leserbriefes hebt der „Schmied“ trotzig hervor, dass
es die Pflicht der Baptisten sei, auf die „Gefahr“, die der Kindertaufe anheimfällt, hinzuwei-
sen, auf die „‚Millionen getaufter Heiden!‘“, wie Martin Niemöller schon treffend gesagt ha-
be. Alles andere sei „verantwortungslos“. Denn „mag es dem einen oder anderen“ auch „nicht
gefallen, mag man es als eine Überbetonung der Glaubenstaufe bezeichnen, das soll uns nicht
165
AdS, in: Die Gemeinde 1.7.1949, 243. 166
AdS, in: Die Gemeinde 15.7.1949, 219. 167
Die Gemeinde, 20.1.1950, 27; Die Gemeinde, 12.2.1950, 21ff.; AdS, in: Die Gemeinde, 8.10.1950, 331. 168
Die Gemeinde, 20.1.1950, 27. 169
Die Gemeinde, 12.2.1950, 21ff. 170
Die Gemeinde, 12.2.1950, 21ff. 171
Leserbriefe wurden erst ab Anfang der 1960er in der Gemeinde abgedruckt.
35
weiter beirren.“172
Heterogenisierungstendenzen im deutschen Baptismus werden sichtbar.
Die Abgrenzung des baptistischen Selbstbildes vom Fremdbild Evangelische Kirche durch die
Thematisierung der Tauffrage scheint, wie der Leserbrief andeutet, vermehrt in Frage gestellt,
weniger akzeptiert worden zu sein.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzung um die Taufe langsam bis 1949
akzeleriert und in diesem Jahr ihren Höhepunkt erreicht. Die Jahre 1950 und 1951 erscheinen
nach dem sich qualitativ (semantisch) und quantitativ ausdrückenden Zenit 1949 retardierend.
Der Bruch scheint auf die „Richtlinien“ der ACK zurückzugehen aber auch auf ein zuneh-
mendes Bedrohungsgefühl durch Säkularisierung. Die punktuellen Gegenreaktionen der Jahre
1950 und 1951 erscheinen eher als Trotzreaktionen des „Schmieds“, der die „Richtlinien“
akzeptieren muss, aber aus seinem traditionellen Selbstverständnis als Baptist nicht akzeptie-
ren möchte. Generell ist bei der Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern in AdS, jenen, die
auf die Abgrenzung gegen die Kirche rekurrieren, aber auch auffällig, dass historische Rück-
griffe, die eine Art kollektives Gedächtnis der Baptisten andeuten könnten, kaum eine Rolle
spielen. Nur ein Mal, angesichts des hundertjährigen Jubiläums der Revolution von 1848,
wird darin erinnert, dass es nicht die Kirche war, die den Freikirchen zu Freiheit verhalf als
die Glocken in Frankfurt erklangen.
Ferner spielen neben begrifflichen, strukturellen und dogmatischen Abgrenzungen jene des
praktischen Lebens keine Rolle. So wird die Friedhofsfrage, die Frage der Räumlichkeiten,
die Frage der Befugnis von Freikirchlern für die Erteilung des evangelischen Religionsunter-
richts nicht thematisiert. Schließlich ist noch auffällig, dass die in AdS verwendete Zitations-
technik fast ausschließlich den Freikirchen nahe stehende Personen aus der Evangelischen
Kirche – Pietisten, „Allianzchristen“ etc. – in den Fokus rückt. Verbindungen zwischen diesen
Milieus der Evangelischen Kirche und freikirchlichen Milieus waren zwar Konjunkturen von
Nähe und Distanz unterworfen, doch konnten sie in der Nachkriegszeit auf eine schon gut
hundertjährige Tradition zurückblicken.
4.2 …zur Abgrenzung gegen „die Welt“
Politische, soziale und wirtschaftliche Not konstituierten die unmittelbare Nachkriegszeit. In
dieser Zeit prägte Angst die Wahrnehmung der Baptisten in der Gemeinde, Angst vor der
Atombombe und Angst vor moralischem Verfall.173
Man sah angesichts der allgemeinen Not
172
AdS, in: Die Gemeinde, 18.6.1950, 202. 173
Die Gemeinde, 1.4.1947; Die Gemeinde, 1.7.47, 52; AdS, in: Die Gemeinde1.7.1948, 54.
36
die „Zeit des Säkularismus“ gekommen,174
einer Art pragmatischen Diesseitigkeit.175
Die
Währungsreform 1948 nahm man in AdS als Katalysator dieser Entwicklungen wahr.176
Schon 1947 fragte man sich in AdS, ob „das Antlitz unserer Zeit schon apokalyptische Züge“
trage.177
1948 war man davon überzeugt: „Unsere Zeit hat ein apokalyptisches Gesicht.“178
Dieser Veränderung der Umwelt gedachte man unter den deutschen Baptisten mit Mission zu
begegnen, um möglichst viele Menschen vor dem drohenden Weltgericht zu retten. Daher war
man beispielsweise enttäuscht, dass auf der Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam der
Fokus nicht klarer auf Mission gelegen habe.179
Im Laufe des Jahres 1949 nahm man allerdings auch die steigenden Mitglieder- und vor allem
Taufzahlen im Baptismus wahr. Am 15. Juli 1949 wurde darüber mit Rückgriff auf das Jahr-
buch für 1948 genauer berichtet. Man konstatierte eine prozentuale Zunahme der Mitglieder-
zahl wie in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, die einer nie dagewesenen Zunah-
me in absoluten Zahlen gleichkam.180
Aus diesem gesteigerten Selbstbewusstsein heraus
grenzte man sich zunächst verstärkt gegen die Landeskirchen ab, vor allem in der Tauffrage.
Doch nach dem kontinuierlichen Abflauen der konfessionellen Abgrenzungen, die wohl auch
zusammenhing mit den „Richtlinien“ der ACK,181
wandte man sich gegen andere Alternati-
ven zum eigenen Glauben. Rasante Veränderungen der Gesellschaft im Zuge forcierter Säku-
larisierung trieben die deutschen Baptisten zu einer verstärkten Abgrenzung gegen „die Welt“
– zumindest in der Gemeinde. Der „Himmelsbürger“ wurde dem „Weltbürger“ gegenüberge-
stellt, der dem „Säkularismus“ fröne.182
Was machte die Welt für die Baptisten aus? Humanismus z.B. anlässlich des Goethejahres
1949,183
aber auch Existentialismus184
und Szientismus,185
Sport,186
Sportwetten187
und
174
AdS, in: Die Gemeinde,15.11.1948, 110. 175
Johannes Mundhenk, Der Säkularismus unserer Zeit und unsere Christusverkündigung, Teil 1 & 2, in: Die
Gemeinde, 1.2.1949 & 15.2.1949. 176
AdS, in: Die Gemeinde, 15.11.1948, 110. 177
Die Gemeinde, 1.9.1947, 69. 178
AdS, in: Die Gemeinde, 1.5.1948, 37. 179
AdS, in: Die Gemeinde, 15.11.1948, 110. 180
Die Gemeinde, 15.7.1949, 220. 181
Abgedruckt in AdS, in: Die Gemeinde, 15.7.1949, 220. 182
Die Gemeinde, 1.3.1949. 183
AdS, in: Die Gemeinde, 1.9.1949 265f. Man erkennt seine „dichterischen Leistung[en] durchaus an, bedauert
aber, „daß Goethe trotz aller christlichen Bemühungen nicht über das ‚beinahe Christ‘ hinausgekommen ist […]
Aber – und das ist die demütigende und zugleich erhebende Gewißheit der kämpfenden, leidenden und an den
Endsieg [sic] glaubenden Gemeinde – es geht immer nach dem göttlichen Grundsatz, wie ihn Paulus in 1. Kor. 1,
27-29 darlegt“. Strübind, Freikirche zu Folge waren Baptisten im Bearbeitungszeitraum eher kleinbürgerlicher
Herkunft. Auch das könnte für natürliche Antipathien mit allem Bildungsbürgerlichen gesorgt haben. 184
AdS, in: Die Gemeinde, 14.12.1952, 396. Der bei Hemingway porträtierte „moderne Mensch fragt nicht nach
persönlicher Erlösung“ – für Baptisten nach dem Krieg das A und O „, sondern nach dem Sinn oder der Sinnlo-
sigkeit der Existenz.“
37
Glücksspiel188
– alles Aktivitäten, die auch zur Entheiligung des Sonntags führten,189
Fa-
sching,190
Fernsehen, Film und Kino,191
Tanzen,192
Mischehen mit „Ungläubigen“193
, eine
„Flußpferdtaufe“ oder eine „Tigertaufe“ im Zoo,194
Kontaktanzeigen195
, Okkultismus196
,
Schlager,197
Spiritismus und Astrologie,198
die Wahl von Schönheitsköniginnen“199
und nicht
zuletzt die „Schmutzflut der Schundliteratur“,200
die man mitverantwortlich machte für die
185
AdS, in: Die Gemeinde, 19.1.1954, 44. Abgrenzung gegen Evolution. 186
Wort des Schriftleiters, in: Die Gemeinde 29 (1964), 2. Als Christ wolle man gar „nicht sportfeindlich sein“.
Doch „heute“ stände nicht mehr „Erholung“ und „die Schulung des Charakter“ im Vordergrund, sondern „viel-
eicht gar der Personenkult.“ In Fußball oder Völkerschlacht? In: Die Gemeinde 36 (1966) kritisierte man den
Zusammenhang von Fußball und Nationalismus im Rahmen der WM 1966. 187
AdS, in: Die Gemeinde, 15.9.1949, 283. 188
AdS, in: Die Gemeinde, 5.4.1953, 108. 189
AdS, in: Die Gemeinde, 15.9.1949. 190
AdS, in: Die Gemeinde, 1.3.1949, 75; AdS, in: Die Gemeinde, 25.2.1951, 74; AdS, in: Die Gemeinde,
23.3.1952, 91; AdS, in: Die Gemeinde, 6.3.1955, 76. Hier sei der Karneval sogar noch von der katholischen
Kirchenzeitung in Köln verteidigt worden. 191
AdS, in: Die Gemeinde, 1.3.1949, 75; AdS, in: Die Gemeinde, 25.2.1951, 74; AdS, in: Die Gemeinde,
13.7.1952, 219f. Hier fehlt für das „Kirchenkino“ in Essen „jedes Verständnis“; AdS, in: Die Gemeinde,
22.2.1953, 60 Fernsehen sei eine Gefahr für ein intaktes Familienleben, da es Kommunikation unterbinde; AdS,
in: Die Gemeinde, 31.5.1953, 172; AdS, in: Die Gemeinde, 30.10.1955, 347. Hier wird die „unberechenbare
Wirkung“ des Films „auf das Unterbewußtsein und die Triebe“ angeprangert, wodurch „das Gebetsleben“ zer-
setzt würde; Die Gemeinde, 16.11.1958, 12; Christ und Welt: Wer prägt wen?, in: Die Gemeinde 11 (1963), 7f.;
Zeichen der Zeit, in: Die Gemeinde 13 (1963), 13. Hier wurden Leserbriefe ausgewertet. Noch nie habe es so
viele Leserbriefe zu einem Thema gegeben. Hier wird allerdings deutlich, dass Baptismus pluraler geworden ist
– auch in seiner Stellung zur „Welt“. Denn ungefähr die Hälfte der Leserbriefverfasser lehne den Film komplett
ab währende die andere Hälfte Filme – vor allem christliche – befürwortete. 192
AdS, in: Die Gemeinde, 2.12.1951, 396; AdS, in: Die Gemeinde, 20.2.1955, 59; Die Stunde der Familie,
„Tanzen- ja oder nein?“, in: Die Gemeinde 4 (1963), 9. Tanzen sei keine „harmlose Sache“, denn man würde
dabei „Versuchungen aller Art ausgesetzt sein und vielleicht in Sünde und Schande geraten.“ 193
AdS, in: Die Gemeinde 30.10.1955, 347; AdS, in: Die Gemeinde, 17.6.1956. Der „Schmied“ hatte in seiner
Kasseler Gemeinde anhand von Mitgliederverzeichnissen festgestellt, dass es 78 Mischehen gab und damit die
Erwartungen der befragten „Geschwister“ um ein Vierfaches überstieg. Der Schmied folgerte daraus, dass die
sorgfältige Perzeption der Zahlen des Jahrbuchs so wichtig sei, um solche Trends nicht zu verpassen. AdS, in:
Die Gemeinde, 7.7.1957, 6; AdS, in: Die Gemeinde, 6.10.1957,6; Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Zur
Frage der Eheschließung zwischen Gläubigen und Ungläubigen, Teil 1-4, in: Die Gemeinde, 20.10.1957,
27.10.1957, 10.11.1957, 15.12.1957. Demnach würde angesichts der hohen Zahlen an Mischehen ein „geistli-
cher Notstand“ deutlich; Unsere Leser schreiben; in: Die Gemeinde 49 (1968). Demnach lebte 1968 in der Ge-
meinde Darmstadt ein Sechstel der Mitglieder in einer Mischehe. 194
AdS, in: Die Gemeinde, 7.3.1954, 76; AdS, in: Die Gemeinde, 23.3.1952, 91. 195
AdS, in: Die Gemeinde, 15.10.1949, 315. 196
AdS, in: Die Gemeinde, 20.2.1955, 59. „Wir wundern uns schon lange nicht mehr, daß in unserer modernen
Welt der berechenbaren Technik, der glasklaren Rationalisierung und der nüchternen Planung soviel wildes
Gestrüpp von Aberglauben und okkulten Bräuchen wuchert.“ 197
Der Christ und der Schlager. Wir dürfen nicht neutral bleiben, in: Die Gemeinde 8 (1960), 6f. 198
AdS, in: Die Gemeinde, 15.7.1951, 234f. 199
AdS, in: Die Gemeinde 15.6, 1952, 187. Demnach sei die Wahl von Schönheitsköniginnen „lächerlich und
sehr bedenklich“. 200
AdS, in: Die Gemeinde, 25.2.1951, 74; Die Gemeinde 36 (1959), 12; Inge-Regine Brandt, Zeichen der Zeit,
Dürfen Jugendliche „alles“ lesen?, in: Die Gemeinde 43 (1960), 11 Da manche Eltern „gute Gründe“ hätten,
„Kitschroman, ‚Krimi‘, Groschenheft oder ein literarisch anerkanntes, aber sittengefährdendes Erzeugnis“ zu
verbieten, läsen ihre Kinder heimlich. Seit 1953 untersuche die Bundesprüfstelle „die ‚jugendgefährdende‘ Wir-
kung von Büchern.“ Bücher die „als Kunstwerk ausgewiesen“ sind, dürfe man aber nicht auf den „Index“ setzen.
Es gelte des Weiteren als „‘prüde‘“ populäre Literatur nicht zu lesen. Auch aus Trotz den Eltern gegenüber und
aufgrund von Verboten, würde man allerdings erst recht solche Bücher lesen. Es gäbe aber nicht nur Bücher
voller „Obszönitäten“, „sondern auch die andern, die von makabrer (schaudererregender) Menschenverachtung
und Weltverneinung erfüllt sind und daher geeignet, einem unkritischen und ohnehin zur Schwermut neigenden
38
Zunahme der Jugendkriminalität.201
Man konzedierte zwar Anfang der 1950er Jahre, dass es
„einen christlichen Konservatismus, der sich gegen alle Neuerungen sträubt“ gäbe. Ihre An-
hänger glaubten „für die Wahrheit zu kämpfen, und“ wollten „im Grunde doch nur von alten,
lieben Gewohnheiten nicht lassen.“ So hätte man sich anfangs auch gegen „Sonntagschulen
und Jugendvereine“, gegen die „Wagen- und Zeltmission“ gewandt oder „über die radfahren-
de oder gar ‚motorisierte‘ Diakonisse die Köpfe geschüttelt“.202
Gegen Ende der 1950er Jahre
betonte man eindrücklich, dass man nicht modernisierungsfeindlich sei, sondern die Bewer-
tung von Neuerungen und Veränderungen abhängig mache von ihrer Intention: nutze man sie
um sich gegen Gott aufzulehnen, dann würde man sie ablehnen.203
4.3 Von Exklusion und Inklusion: Ghettoisierung und evangelikale Integration
Angesichts der Bedrohung durch die Welt schrieb man in der Gemeinde gegen individuellen
Eskapismus. Doch Anfang der 1950er Jahre wurde eine Art kollektiver Eskapismus als Leit-
bild konstruiert. Demnach wolle Gott nicht, „daß seine Kinder Säulenheilige oder Eremiten
werden […]. In der Gemeinde“ allerdings sei „der sichere Platz für Gläubige.“204
Es brach die
Phase an, in der man das Wachstum der unmittelbaren Nachkriegszeit konsolidieren wollte
und in der die baptistische „Bewegung“ sich zunehmend institutionalisierte. Das äußerte sich
im florierenden Kapellenbau der 1950er und 1960er Jahre, der durch die nun gefüllten Bun-
deskassen ermöglicht wurde. Die verbesserte Finanzlage war ein Resultat der wirtschaftlichen
Erholung im Zuge des „Wirtschaftswunders“. Aber beispielsweise wuchs auch die Zahl der
Studenten am Predigerseminar,205
was auf eine zunehmende theologische Professionalisierung
im Baptismus schließen lässt. Neben den neu errichteten Mauern, die „die Gemeinde“ nun
nach außen gegen „die Welt“ abschotteten, machte man sich daran die Gemeinde nach innen
zu gestalten.
Die Abgrenzung „der Gemeinde“ von „der Welt“ resultierte in auch selbst in der Gemeinde
wahrgenommenen Ghettoisierungstendenzen. Bibel- und Gebetsstunden, Chorproben, Jung-
schar-, Jugend-, Frauen- und Seniorenarbeit ermöglichten es den Mitgliedern und ihren Fami-
jungen Menschen Glauben und Hoffnung zu zerstören“. Grundsätzlich gelte, dass „ein junger Mensch“ nicht
„von den Klassikern, die er im Deutschunterricht lesen muß, noch von verbotenen Schmökern geprägt“ werde.
„Allein das Vorbild und Beispiel, aber auch der Kommentar seiner Eltern und Lehrer können ihm helfen, ein
geistiges, sittliches oder ein unsittliches Erzeugnis, das er in die Hand bekommt zu verarbeiten und in sein Welt-
bild einzuordnen.“ 201
AdS, in: Die Gemeinde, 10.1.1954, 11; AdS, in: Die Gemeinde, 28.1.1951, 42. 202
AdS, in: Die Gemeinde, 2.12.1951, 395. 203
AdS, in: Die Gemeinde, 5.11.1957, 17.11.1957, 6. 204
AdS, in: Die Gemeinde, 17.6.1951, 203; so auch Helmut Pohl, Absage an die vergehende Welt. Der Mensch
zwischen Weltflucht und Weltliebe, in: Die Gemeinde 47 (1964), 4f. Demnach sind „Weltliebe“ und „Gotteslie-
be“ unvereinbar. 205
Bericht der Bundesleitung und des Bundeshauses an den Bundesrat 1954, 17.
39
lien ihr ganzes Leben in der Gemeinde zu verbringen. Es wurde beispielsweise auch in vielen
Gemeinden der sogenannte „Gemeindesport“ eingerichtet, bei dem sich die Jugend zumeist
unter der Woche oder samstags körperlich betätigen konnte. So wurden Alternativen geschaf-
fen zum regen Vereinsleben „der Welt“. Denn Vereine bargen Gefahren moralischer und sitt-
licher Verweltlichung für die Baptisten, z.B. die Entheiligung des Sonntags aufgrund von
Punktspielen am „Tag des Herrn“. In einer „Zeit der sexuellen Zügellosigkeit“ helfe es nur
„keine Gemeinschaft mit der Finsternis zu haben.“ Daher sei es „für die meisten“ Christen
„gut,“ beispielsweise „bei Betriebsfeiern und sonstigen Veranstaltungen Außenseiter zu sein
[…] um der Sauberkeit ihrer Seele und ihres Leibes willen […].“ Denn „bei aller Aufge-
schlossenheit für die Welt brauchen wir doch eine gesunde Isolierung.“ Solche Exklusions-
konstruktionen verband man auch mit Konsumkritik.206
Solche Ghettoisierungstendenzen
seien ganz normal, so schrieb man in der Gemeinde, denn „Ghettozeiten“ würden sich immer
„mit Erweckungszeiten“ abwechseln.207
Die Abnahme konfessioneller Abgrenzung gegen die Kirche führte aber nicht nur zur Ab-
schottung gegen „die Welt“, sondern auch zu einer verstärkten Hinwendung zu den „entschie-
den christlichen Kreisen“ aus Frei- und Landeskirchen.208
In ihnen sah man „Brüder“, wäh-
rend alle anderen Mitglieder der Landeskirchen kaum als Teil der wahren Gemeinde Christi
wahrgenommen wurden und als „Namenschristen“ galten.209
Nun gab es schon seit Mitte des
19. Jahrhunderts Kontakte unter den „klassischen Freikirchen“ – Baptisten, Methodisten,
Freie Evangelische Gemeinden, Evangelische Gemeinschaftsbewegung. Mittlerweile geht
man davon aus, dass die deutschen Freikirchen aus der britischen und amerikanischen Erwe-
ckungsbewegung hervorgingen, die ihre Mission darin sah, den Siegeszug des Rationalismus
in Kontinentaleuropa durch Rechristianisierung aufzuhalten.210
Die Freikirchengründer des
19. Jahrhunderts waren demnach „eng mit der angelsächsischen Frömmigkeit, den Institutio-
nen und den missionarischen Initiativen des ‚Evangelicalism‘“, Erneuerungsbewegungen in-
nerhalb des Protestantismus verbunden.211
Ihre Aufgabe war es, den „evangelicalism“ in Kon-
tinentaleuropa zu verbreiten. Dabei nutzten die späteren Freikirchengründer wie Oncken zu-
nächst die sogenannten „societies“, überkonfessionelle Netzwerke mit sozial-caritativer, aber
206
Wilhard Becker, Die Bedrohung der gesunden Gemeinde, in: Die Gemeinde 33 (1962), 4f. „Der moderne
Götzendienst heißt: Anschaffung“, so Becker. 207
Wenn das Ghetto der Gemeinde sich öffnet. Ein Nachwort zum Jahr der Evangelisation – Zugleich ein Jah-
resbericht der Gemeinde Kassel-Möncheberg, in: Die Gemeinde 24 (1960), 7f. 208
AdS, in: Die Gemeinde, 6.5.1951, 156. 209
Wer ist mein Bruder in der Allianz, in: Die Gemeinde, 11.7.1954, 214. 210
Andrea Strübind, „Mission to Germany“. Die Entstehung des deutschen Baptismus in seiner Verflechtung mit
der internationalen Erweckungsbewegung und den Schwesterkirchen in den USA und in England, in: dies. &
Martin Rothkegel (Hg.), Baptismus. Geschichte und Gegenwart, Göttingen 2012, 163-200, 164. 211
Strübind, „Mission“, 165.
40
vor allem missionarischer Intention, bevor sie ihre eigenen Kirchen gründeten. So bestanden
schon Mitte des 19. Jahrhunderts Kontakte zu „erweckten“ und „pietistischen“ Kreisen in den
Landeskirchen.
Für solche Kontakte bot die 1846 gegründete Evangelische Allianz eine Grundlage. Vor-
nehmlich traf man sich auf einigen überregionalen Konferenzen, z.B in Bad Blankenburg.
Aber auch auf lokaler Ebene begegneten sich die unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften
seit 1861 alljährlich Anfang Januar zur beliebten Allianzgebetswoche. Hier kamen nicht nur
die Leiter der Glaubensgemeinschaften zusammen. Allianzgebetswochen waren und sind
bottom-up-Zusammenkünfte.212
Diese Kontakte wurden nach 1945 intensiviert. So fand bei-
spielsweise die baptistische Zeltmission oftmals „auf Allianzboden“ statt.213
Dabei kam es
zwar immer wieder auch zu Konflikten – welcher Gemeinschaft sollten die „Bekehrten“ im
Rahmen der sich an die Evangelisationen anschließenden „Nacharbeit“ zugeführt werden,214
war die „urchristliche[n] Botschaft, einschließlich Taufe“ wirklich unverkürzt[en]“ –215
doch
grundsätzlich schien es Priorität zu haben, dass „Seelen gerettet werden.“216
Die Intensivierung der Kontakte auf Ebene der Evangelischen Allianz spiegelte sich auch in
der Gemeinde wieder. Die Zitationstechnik, die bei der konfessionellen Abgrenzung immer
wieder „Allianzchristen“ zu Wort kommen ließ wurde oben schon angedeutet. Nun wurden
vermehrt Artikel aus den verschiedenen Zeitschriften der sogenannten „Allianzchristen“, z.B.
dem Gnadauer Gemeinschaftsblatt veröffentlicht. So wurde 1953 ein Bericht von Pastor Zilz
über „Die gegenwärtige Situation in Kirche, Freikirche und der Gemeinschaftsbewegung“
abgedruckt.217
Darin beschreibt der Pietist Zilz wie „die Welt“ geprägt sei von „Verwirrung
und Verblendung“, „Totalität“ und „Rationalismus“. In der Presse sei man auf „‚Sensatio-
nen‘“ ausgerichtet und die Politik befände sich in einer Sackgasse. So würde „denen, die dem
Herrn Jesus angehören, ihre Fremdlingschaft [sic] immer deutlicher (1. Petr. 1,1).“ Man sei
zwar „‚in der Welt‘“ aber „nicht ‚von der Welt‘“. Hier zeigen sich in der pessimistischen
Wahrnehmung „der Welt“ starke Parallelen zu den Baptisten. Doch für den kirchlichen Pietis-
ten Zilz wurde nicht nur „die Welt“, sondern auch „die Kirche“ zu einer negativen Folie.
212
Joachim Cochlovius, Evangelische Allianz, in: TRE 10, 650-656. 213
AdS, in: Die Gemeinde, 6.5.1951, 156. 214
Ebd. 215
AdS, in: Die Gemeinde, 4.11.1951, 364. Aber auch die unterschiedlichen Einstellungen zur Taufe und der
Übertritt von einer Landeskirche in eine Baptistengemeinde seien vereinzelt noch aufgetaucht. Wer ist mein
Bruder in der Allianz, in: Die Gemeinde, 11.7.1954, 214. 216
AdS, in: Die Gemeinde 6.5.1951, 156. 217
Die Gemeinde, 17.5.1953, 149.
41
Man sei gespalten durch die Frage der „‚Wiederaufrüstung‘“ – für traditionell eher apolitische
Pietisten eine Verfehlung des Auftrags der Kirche. Die „‚Predigt‘“ sei „‚Vortrag […] aber
weit weniger Zeugnis, das sie doch sein sollte.‘“ Vor allem würde der Pietismus mittlerweile
„‚als eine Fehlentwicklung‘“ angesehen. Das führte Zilz auf die Frontstellung des Pietismus
„‚gegen die Theologie Bultmanns‘“ zurück, dessen „‚Gedanken‘“ noch „‚an Einfluß‘“ ge-
wönnen, vor allem unter dem theologischen Nachwuchs, aber sogar „,bis in Anstalten der
Inneren Mission hinein. Hier liegt eine ganz große Not.‘“218
Diese „‚Not‘“ der Pietisten schrie
geradezu nach der Stärkung alter Allianzen mit allen (protestantischen) „bibelgläubigen“
Christen. Zu den „bibelgläubigen“ Christen gehörten auch die Baptisten, deren Bibelausle-
gung zum damaligen Zeitpunkt noch fast ausschließlich durch Biblizismus geprägt war.219
Wie nahmen sie Bultmann wahr und was hatte er überhaupt für ein Programm?
Rudolf Bultmann, Professor für Neues Testament an den Universitäten Marburg und Tübin-
gen, hielt 1941 einen Vortrag über Neues Testament und Mythologie und löste damit eine von
der Nachkriegszeit bis in die 1960er Jahre geführte Entmythologisierungsdebatte aus.220
Ent-
mythologisierung sei „ein Versuch – so sagt man – die geistlich-zeitlosen und die geschicht-
lich bedingten Elemente der neutestamentlichen Botschaft voneinander zu trennen, um dem
Menschen der Gegenwart die ersteren leichter zugänglich zu machen“, so der Schriftleiter
1952 in der Gemeinde.221
Für „bibelgläubige“ Christen kam dies einer Wiederbelebung der
„modernen“ Theologie gleich, wissenschaftlicher Bibelkritik, die die Bibel historisch-kritisch
las. Aus ihrer Sicht machte man so aus dem Heiligsten (der Bibel) etwas Profanes.
In der Gemeinde grenzte man sich seit Anfang der 1950er Jahre entschieden gegen Bultmann
ab: „Für uns gibt es hier keine Verständigung. […] Eine Theologie, die die Auferstehung Jesu
durchstreicht, erklärt damit Erlösung und ewiges Lebens für Täuschung. […] Wer sich ihr
anvertraut, stürzt zuletzt in den Abgrund.“222
Die „Legenden“ des Neuen Testaments, prak-
tisch alles, was im Glaubensbekenntnis ausgedrückt wird, „könne“ man „dem modernen Men-
schen nicht zumuten“, so Bultmann aus der Perspektive des Schriftleiters in der Gemeinde.
Doch „daran hängt unser Heil.“ Die Theologie Bultmanns sei ein weiterer Beleg dafür, dass
218
Ebd. 219
Andrea Strübind, Die unfreie Freikirche. Der Bund der Baptistengemeinden im‚DrittenReich‘, Neukirchen-
Vluyn 1991, 40ff. „Biblizismus“ war demnach die Radikalisierung des reformatorischen Schriftprinzips. 220
Bultmann, Rudolf. Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutesta-
mentlichen Verkündigung (1941), in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos, Band 1, Hamburg 19604, 15-
48. Vgl. Gisa Bauer, Evangelikale Bewegung und evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland. Ge-
schichte eines Grundsatzkonflikts (1945 bis 1989), Göttingen 2012, 268ff. 221
AdS, in: Die Gemeinde 15.6.1952, 188f. 222
AdS, in: Die Gemeinde, 25.3.1951, 108.
42
Theologie generell Christen von Gott eher abbrächte, als ihren Glauben zu stärken.223
Dass sei
im vergangenen Jahr „drei junge[n] Theologiestudenten […] allein in einer Stadt“ passiert.224
So erklärte man schließlich1952 angesichts einer „Erklärung zur Lehre Bultmanns […] von
einer Arbeitsgemeinschaft der Bekennenden Kirche im Siegerland“, die auch in der Gemeinde
abgedruckt wurde: „Wir möchten uns vielmehr offen in die Abwehrfront derer stellen, welche
die ganze Gefährlichkeit einer Theologie erkennen, die uns die Schrift fragwürdig macht, da-
mit aber alle Fundamente unseres Glaubens unterhöhlen will und die letzten Endes zu einem
Christentum ohne Christus führen muß.“225
Auf die Abgrenzung gegen „die Kirche“ folgte nicht nur die Abgrenzung gegen „die Welt“,
sondern auch eine erneuerte Abgrenzung gegen die „moderne“ Theologie. Dabei spielt die
Theologie Rudolf Bultmanns die entscheidende Rolle. Anfang der 1960er Jahre begrüßte man
die Entstehung der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“, eine Verbindung aus
dem „theologisch-konservativen kirchlichen Lager und dem Pietismus“.226
Doch selbst die
Perzeption der Bultmannschen Entmythologisierungsthesen schien im Baptismus in den
1960er Jahren heterogener zu werden. Wenn von der „momentan etwas gespannten theologi-
schen Situation im Bunde“ die Rede sei, dann „schüttele ich den Kopf“, so Ewald Goetze aus
Robertson, Südafrika 1966 in einem Leserbrief. Man bräuchte sich im Baptismus mit der
„‚modernen Theologie‘“ gar nicht zu befassen, denn „wir haben doch als Baptisten nur eine
Theologie, und die hat uns Jesus so klar gemacht.“227
Neben Bultmann hatte noch eine andere Person entschiedenen Einfluss auf die Konstruktion
von kollektiven Sinnstrukturen im freikirchlichen Milieu während der 1950er und 1960er Jah-
re: der amerikanische Evangelist Billy Graham. Erstmals wurde er in der Gemeinde Anfang
1954 erwähnt. Er erinnere in seiner „Wirksamkeit an Dr. R. Moody“, den charismatischen
amerikanischen Evangelisten und Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, so schreib man
in der Gemeinde. Graham sei des Weiteren „aus Überzeugung Baptist“. Habe eine „unge-
wöhnliche Kenntnis der Bibel […], in der er lebt und deren Autorität ihm über jeden Zweifel
erhaben ist.“ Damit wurde Billy Graham als der ziemlich genaue Gegenentwurf zu Bultmann
konstruiert. Seine persönlichen Tugenden wurden dabei hervorgehoben: „Trotz seines schar-
223
AdS, in: Die Gemeinde, 2.11.1952, 347f. Gegen wissenschaftliche Theologie wandte man sich im Untersu-
chungszeitraum auch schon in AdS, in: Die Gemeinde, 1.12.1949, 363. 224
AdS, in: Die Gemeinde, 3.4.1955, 107f. 225
AdS, in: Die Gemeinde, 2.11.1952, 347f. Hervorhebung durch den Verfasser. 226
Bekenntnisbewegung „Kein Anderes Evangelium“, Geschichte und Ziele der Bekenntnisbewegung,
<http://www.bekenntnisbewegung.de/was/geschichte.php>, letzter Aufruf am 20. April 2013. 227
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 44 (1966).
43
fen Verstandes“ zeichne er sich vor allem durch „Bescheidenheit im persönlichen Umgang“
aus. Er habe „sich ganz dem Herrn ausgeliefert und ganz dessen Auftrag hingegeben“. Man
sehe „an ihm keine Selbstzufriedenheit, sondern eine echte Demut, verbunden mit einem töd-
lichen Ernst um der Sache willen.“ Ihm sei „an der Zusammenarbeit aller Kirchen gele-
gen.“228
Billy Graham betrat die religiöse Bühne Deutschlands im Sommer 1954, einer Zeit der Krise
für den Baptismus. Man hatte von seinen Erfolgen in den USA gehört. Bis zu 60.000 Men-
schen würden bei seinen Evangelisationsveranstaltungen erscheinen.229
Daher waren große
Hoffnungen mit ihm verbunden. Bereits bevor er deutschen Boden betrat, wurde er als eine
Art tugendhafter Heilsbringer überhöht, der der modernen Theologie entschieden und selbst-
bewusst entgegentrat und dabei eine überkonfessionelle „Allianz“ einforderte, um eine „blei-
bende Wirkung der Evangelisation“ zu erzielen.230
In der Gemeinde hoffte man auf „eine
starke Bewegung“.231
Und Graham schien die Hoffnungen zu erfüllen. Er redete nicht von Krise, sondern nährte
Rechristianisierungshoffnungen mit Verweis auf die hohen Auflagenzahlen christlicher Bü-
cher, überfüllte theologische Schulen und vermehrten Kirchenbesuch. „Gottes Erntezeit“ sei
„angebrochen“232
und die „Wiederkunft des Herrn“ rücke näher, so Graham 1954 in Berlin.233
Seine Evangelisationen wurden entscheidend auch durch die Evangelische Allianz vorberei-
tet. Neben Paul Deitenbeck war der baptistische Bundesdirektor Paul Schmidt Vorsitzender
der Evangelischen Allianz. Er leitete 1954 die mit der Grahamevangelisation einhergehenden
Gebetsversammlungen.234
Auch in der Öffentlichkeit rief Graham ein großes Echo hervor.
Neben der Tagespresse, die Graham zum Stadtgespräch habe werden lassen, erschien Graham
beispielsweise auch auf der Titelseite des Spiegel, der zudem auf sechs Seiten über ihn berich-
tete.235
Insgesamt habe Billy Graham „Zuversicht und gläubige Erwartung der Gemeinde Jesu
[…] in Bezug auf die Evangelisation […] neu gestärkt,236
so die offizielle Verlautbarung in
AdS.
228
Wilhelm Brauer-Dillbrecht, Billy Graham kommt nach Deutschland, in: Die Gemeinde, 7.2.1954, 37f.; Die
besondere Tugendhaftigkeit Grahams wird auch hervorgehoben in Glenn Daniels, Streiflichter aus Billy Gra-
hams Leben, in: Die Gemeinde 23 (1963), 9-11. 229
Brauer-Dillbrecht, Graham, in: Die Gemeinde, 7.2.1954, 37f. 230
Ebd. 231
AdS, in: Die Gemeinde, 13.6.1954, 188. 232
Die Gemeinde, 8.8.1954, 227-229. 233
Jakob Meister, Billy Graham in Berlin, in: Die Gemeinde, 25.7.1954, 245f. 234
AdS, in: Die Gemeinde, 27.6.1954, 204. 235
Paul Schmidt, Billy Graham in Düsseldorf, in: Die Gemeinde, 8.8.1954, 227-229. 236
AdS, in: ebd.; Nach AdS, in: Die Gemeinde, 25.7.54, 250 seien vor allem die Zeltmissionare ermutigt worden
von den Grahamevangelisationen.
44
Billy Graham funktionierte im Kontext des Kalten Krieges und des Wirtschaftswunders.237
Beschreibungen seiner Evangelisationen erscheinen jedoch verklärend. So habe es geregnet
bis „Sonntagmittag. Als Billy Graham zum Podium schritt, brach der erste Sonnenstrahl durch
die Wolken hindurch. Bald darauf wölbte sich über uns ein wolkenloser Himmel.“238
Bei ei-
nem Erfahrungsaustausch Berliner Baptistenprediger äußerte Otto Soltau, ein Pastor aus Wei-
ßensee, allerdings seine Zweifel an der Wirkung Grahams innerhalb des Baptismus. Er fragte
sich „ob unsere Gemeinden, unsere verantwortlichen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen dafür
innerlich wach und willens seien, oder ob diese Erweckungsbewegung an den Pforten unserer
Gemeinde vorbeigeht, weil wir nicht mehr wie früher dem Trachten nach dem Reich Gottes
den ersten Platz in unseren Herzen einräumen.“ Zu stark schienen die ernüchternden Krisen-
symptome, die vor dem Advent Billy Grahams in Deutschland immer sichtbarer, Soltaus Be-
wusstsein schon geprägt zu haben.239
Kritik an Stil und „Methode“ Grahams,240
seiner moralischen Integrität241
und einer Art Per-
sonenkult,242
die man um ihn wahrnahm, wies man in der Gemeinde entschieden zurück.243
Doch Zweifel regten sich Anfang der 1960er Jahre auch im Baptismus. Graham sei zu ameri-
kanisch, ohnehin gingen nur Fromme zu seinen Veranstaltungen und generell überforderten
solche Massenevangelisation die Gemeinden. Dem entgegneten „die Brüder des Vorstandes
der ‚Deutschen Evangelischen Allianz‘“, dass Gott ihnen eine „innere Gewißheit darüber“
gegeben hätte, dass der Sittenverfall des Volkes besonderer Maßnahmen bedürfe, dass baptis-
tischen Gemeinden „der Neubelebung“ bedürften und dass man „gewiß“ sei, „daß Billy Gra-
ham mit dem vollen Segen des Evangeliums kommt.“244
Auch war eine Ausgabe der Gemein-
de 1960 eine „Billy-Graham-Nummer“245
– ein bis dato einzigartiger Vorgang, der den Spe-
237
Uta Balbier, Billy Graham in West Germany. German Protestantism between Americanization and
Rechristianization, 1954–70, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe,
7 (2010), H. 3, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Balbier-3-2010>, letzter Aufruf 15. April
2013 sowie dies., Billy Grahams Crusades der 1950er Jahre. Zur Genese einer neuen Religiosität zwischen me-
dialer Vermarktung und nationaler Selbstvergewisserung, in: Frank Bösch & Lucian Hölscher (Hg), Kirchen –
Medien – Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009,
66-88. 238
Meister, Graham, in: Die Gemeinde, 25.7.1954, 245f. 239
Langfristig haben sich Soltaus Befürchtungen zwar bestätigt. Doch kurzfristig scheinen die Graham-
Evangelisationen der Jahre 1954 und 1955 einen Mobilisierungseffekt im freikirchlichen Milieu ausgelöst zu
haben, der möglicherweise auch das leichte Ansteigen der baptistischen Taufzahlen in dieser Zeit erklärt (vgl. 7.
Appendix, Diagramm 2). 240
AdS, in: Die Gemeinde, 26.10.1960; Otto Johns, Billy Graham in Berlin, in: Die Gemeinde 47 (1966), 12-14. 241
AdS, in: Die Gemeinde, 20.2.55, 60. 242
AdS, in: Die Gemeinde, 5.9.1954, 283f; AdS, in: Die Gemeinde, 23.1.1955, 27. 243
Zeichen der Zeit, in: Die Gemeinde 1 (1964), 10. Graham wies man aber durchaus auch die Fähigkeit zu,
durch sein Charisma im persönlichen Kontakt auch ehemalige Kritiker wie den Theologen Helmut Thielicke zu
Fürsprechern zu machen. 244
Fr. Müller, Warum muß es Billy Graham sein?, in: Die Gemeinde 35 (1960), 8. 245
Die Gemeinde 45 (1960).
45
kulationen bezüglich eines etwaigen Personenkults um Graham gewiss vielerorts Nahrung
gab. Doch kann man wohl konstatieren, dass die Mobilisierungskraft Grahams schon Anfang
der 1960er Jahre an Zugkraft im freikirchlichen Milieu verloren zu haben schien.246
In einer Zeit der Krise des baptistischen Milieus wurde Billy Graham zu einer Art Scharnier,
der das vormals konfessionelle Milieu der Baptisten verband mit anderen Milieus von „gläu-
bigen“ Christen, wie den theologisch-konservativen Kirchenkreisen und pietistisch geprägten
Gruppen. Konfessionsübergreifend liefen diese Kreise 1954, 1955, 1960, 1963 und 1966 in
Scharen zu Billy Graham und füllten so nicht nur die bis zu 20.000 Menschen fassenden
Evangelisationszelte, sondern auch den Hamburger Stadtpark oder das Berliner Olympiasta-
dion.247
So werden Grahams „crusades“ zum größten protestantischen Massenspektakel der
1950er und 1960er Jahre in Deutschland neben den evangelischen Kirchentagen. Und er
selbst wurde zu einer Integrationsfigur für die evangelikale Bewegung, die sich um ihn und in
Abgrenzung zur Theologie Rudolf Bultmanns sammelte.
Vor allem Berichte über das Verhältnis der Baptisten zur Ökumene, Allianz und zum Pietis-
mus Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre verdeutlichen, dass die Konstruktion von
Identität sich für die Baptisten angesichts eines sich einerseits ausdifferenzierenden, anderer-
seits aber auch enger zusammenrückenden religiösen Feldes in der Bundesrepublik verkom-
pliziert hatte und die Erosion konfessioneller Grenzen schon fortgeschritten war.248
Gegen-
über der Ökumene war man eher zurückhaltend, da ihr nicht nur Religionsgemeinschaften im
für die Baptisten „neutestamentlichen Sinn“ angehörten.249
Gemeinsamkeiten sah man fast
ausschließlich auf dem Boden der Evangelischen Allianz. „Nur gläubige, wiedergeborene
Christen, also wirkliche Gotteskinder, können und dürfen sich den Brudernamen geben […].“
Dafür waren ein Schuldbewusstsein, eine Bekehrungs- und Vergebungserfahrung, anschlie-
ßende Heiligung bzw. Nachfolge, aber auch eine Art geistliche Toleranz, die über Bekennt-
nisunterschiede hinwegsehen kann, wenn denn die zuerst genannten Punkte erfüllt sind, es-
sentiell.250
Doch gab es auch Kritik, wenn auch nur vereinzelt, an der Verbindung mit Christen anderer
Glaubensgemeinschaften auf dem Boden der Evangelischen Allianz. Anlässlich eines gekürzt
246
Auch die Taufstatistik scheint dies widerzuspiegeln, denn in den 1960er Jahren gab es keinen ähnlichen Ef-
fekt durch Grahams Evangelisationen wie 1954 und 1955 (vgl. 7. Appendix, Diagramm 2). 247
Balbier, Graham, 2010, 4ff. 248
Karl Schütte, Unsere Stellung zur Ökumene, in: Die Gemeinde, 17.3.57, 2;Hans Luckey, Pietismus und Bap-
tismus (I) & (II), in: Die Gemeinde 21 & 22 (1962), 4f. 249
Ein Beitrag zu unserem Gespräch über die ‚Oekumene‘ von Dr. Rudolf Thaut, in: Die Gemeinde, 9.6.1957, 2f. 250
Wer ist mein Bruder in der Allianz, in: Die Gemeinde, 11.7.1954, 214; Rudolf Thaut, Die Stellung der Baptis-
ten zur Allianz und Ökumene in Deutschland, in: Die Gemeinde 28, 1965, 4ff,
46
in einer Art Fortschrittsgeschichte abgedruckten Briefwechsels zwischen zwei Freunden – der
eine Mitglied einer Landeskirche, der andere Baptist – der eine seitens der Schriftleitung un-
vorhergesehene Resonanz an Leserbriefen hervorrief,251
schreibt W. Dücker, dass man als
„Bibelchrist nicht ohne weiteres jemand die Bruderhand reichen“ könne, der die Kindertaufe
als „eine sakrale Handlung“ verstehe. Die Krise des Baptismus müsse man vielmehr durch
„Gemeindezucht“ lösen. „Bruder B“ hatte in dem besagten Briefwechsel geschrieben, dass „in
unseren Gemeinden so vieles ist, worüber man sich schämen muß.“ Das wollte J. Loboda
nicht akzeptieren. Man könne nach wie vor „selbstbewußt auftreten“, denn „vertrocknete
Bäume“ gäbe es nur vereinzelt. Vielmehr wolle er gar nicht mit Kirchenleuten zusammenge-
hen, denn „in meiner Umgebung wird von seiten der Kirchen kräftig auf uns geschimpft.“
Dazu schrieb dann aber Helmut Dahms: „Ich habe den Eindruck, als ob viele unserer Brüder,
besonders die älteren, nur die Kirche in ihrem Zustand um 1900 kennen und von den positi-
ven Veränderungen, die zweifellos in ihr Raum gewinnen, immer noch nichts wissen wollen.“
Darüber hinaus fand er J. Lobodas Einschätzungen zum Stand des geistlichen Lebens in den
Gemeinden „zu optimistisch“: „Das trifft weder für das innere Leben und Wachstum des ein-
zelnen zu noch für das zahlenmäßige Leben und Wachstum wie uns ein Blick in das Jahrbuch
unseres Bundes zeigt.“252
4.4 Von Pluralisierung, Demokratisierung und Politisierung
Seit Mitte der 1950er Jahre, einer Zeit der Identitätskrise innerhalb des Baptismus, lässt sich
in der Gemeinde eine zunehmenden Pluralisierung feststellen, die sich vor allem durch unter-
schiedliche Meinungen in Leserbriefen ausdrückt. Diese wurden in zunehmendem Maß von
der Schriftleitung abgedruckt, die unterschiedliche Meinungsäußerungen explizit begrüßte.253
Dabei werden Mitte der 1960er Jahre auch vermehrt die vollen Namen der Verfasser genannt.
Die Leserbriefe wurden für viele Leser schnell zur interessantesten Rubrik in der Gemein-
de.254
Deutlich werden in den Leserbriefen sehr unterschiedliche Einstellungen u.a. zum poli-
tischen Geschehen aber auch zur Hierarchie in den Gemeinden. Baptistische Selbstbilder er-
scheinen nicht mehr homogen. Doch durch das Forum, das die Leserbriefe boten, traten die
unterschiedlichsten Ansichten miteinander in einen Diskurs.
251
Zwischen Kirche und Gemeinde. Ein Briefwechsel, der uns alle angeht!, in: Die Gemeinde, 5.5.1957, 3; Die
Gemeinde, 12.5.57, 4; Die Gemeinde, 19.5.57, 4. 252
Zwischen Kirche und Gemeinde. Weitere Stimmen aus unserem Leserkreis, in: Die Gemeinde, 14.7.57, 2. 253
AdS, in: Die Gemeinde, 1.1.1956, 6; AdS, in: Die Gemeinde 9 (1962), 12; Leserbriefe, in: Die Gemeinde 17
(1967). 254
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 5 (1959), 10.
47
Eine Konfliktlinie verläuft zwischen den Generationen. Monika Grebe schreibt dazu: „Die
ältere Generation sollte sich klar machen, daß man einen jungen Menschen nicht mit christli-
chen Ansichten, Zeitschriften und Büchern überhäufen sollte, da der junge Christ dadurch
sehr leicht einseitig, fanatisch und gesetzlich würde, und der junge ungläubige Mensch abge-
stoßen wird.“ Solch „einseitige, fanatische und gesetzliche junge Christ[en]“ würden dann
„weltfremd“ werden. Johann Sandersfeld schreibt in der gleichen Ausgabe, dass ein Fernseher
für ihn „ein Teufelsinstrument“ sei „,welches möglicherweise Dämonen ins Haus bringt“, es
sei „ein Propagandagerät“, das „in naher Zukunft der falsche Prophet und der Antichrist be-
nutzen wird, wenn er seine Herrschaft antritt.“255
Hier wird auch ersichtlich, dass ganz unter-
schiedliche, geradezu voneinander divergierende Thematiken für einzelne Baptisten relevant
waren. Gerhard Mikosch versuchte solche klaffenden Gräben - zu überbrücken und plädierte
für ein echtes „Gespräch zwischen den Generationen“, denn die Umwelt wandle sich so ra-
sant, dass viele Ältere diese nicht mehr verstünden. Beide Seiten müssten allerdings von Vor-
urteilen Abstand nehmen wie „Haltlosigkeit und Verkommenheit der Jugend“ oder „Spieß-
bürgerlichkeit der Alten“.256
Neben den Leserbriefen lässt sich ein Wandel der Hierarchien auch in der Forderung von
Hans Bruns, einem pietistisch geprägten Theologen aus der Landeskirche, nach der Gründung
von Hausbibelkreisen erkennen.257
Hier wurde neben dem sonntäglichen Gottesdienst eine
Alternative geschaffen. In solchen Hausbibelkreisen bildeten sich eigene Hierarchien heraus.
Das damit allerdings auch Probleme verbunden waren wird 1962 ersichtlich. „Aus Gemein-
degliedern, die Jahre und Jahrzehnte hindurch nur Hörer waren, werden nicht von heute auf
morgen gute Gesprächspartner. Und aus Brüdern, die bisher nur Predigten und Reden gehal-
ten haben, werden nicht im Handumdrehen gute Gesprächsleiter.“258
Die neuen Kommunika-
tionsprobleme unterstreichen dabei allerdings, dass alte Strukturen sich zu wandeln begannen.
Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung wird erstmals 1963 in der Gemeinde zum Thema
gemacht.259
Dabei steht ein Mann im Vordergrund: „Dr. Martin Luther King. […] Er ist
Geistlicher. Wir wollen es noch genauer sagen: er ist unser Bruder, er ist baptistischer Predi-
ger. Und Millionen der amerikanischen Neger sind Baptisten.“260
Er wird in der Gemeinde
zum Vorbild stilisiert. Interessant ist daran, dass dabei nicht nur, wie bei Billy Graham, christ-
255
Unsere Leser schreiben, in: Die Gemeinde 3 (1960),12f. 256
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 4 (1967). 257
Die Gemeinde 7 (1959), 7. 258
AdS, in: Die Gemeinde 9 (1962), 11. 259
Amerikas Kirchen und die Neger. Die Trennung der Rassen geht weithin auch durch die Kirchen, in: Die
Gemeinde 37 (1963), 6f. 260
Günter Lorenz, Unser Bruder: Martin Luther King, in: Die Gemeinde 41 (1963), 4f.
48
liche Tugenden herausgestellt werden. „Der junge Prediger“ kenne nämlich neben seiner „Bi-
bel […] auch die Lehren der großen Philosophen und die Wahrheiten von Gandhis Wir-
ken“.261
Martin Luther King sei ein Vorbild für die „soziale und politische Verantwortung in
einem Christen“.262
Zum Streitthema wird dann, ob man sich mit der Bürgerrechtsbewegung solidarisieren solle
oder nicht. Rudolf Thaut mahnt aufgrund des Holocaust zur Vorsicht. Man habe im „Dritten
Reich“ selbst versagt und könne jetzt nicht den Amerikanern Ratschläge erteilen, auch da man
in Europa „die Probleme nicht nachvollziehen“ könne.263
Demgegenüber wendet sich die
Baptistengemeinde Münster in einem offenen Brief an den Baptistischen Weltbund und an die
Südlichen Baptisten in den USA.264
Aufgrund des Holocaust „ist unser Gewissen immer noch
voller Anklagen gegen uns selbst.“ Daher wolle man in Liebe warnen. „Aber wo immer Eure
Kirchen, Eure Gemeindeglieder auf der Seite des Hasses gegen eine rassische Minderheit ste-
hen, können wir nicht mehr auf derselben Seite sein, sondern auf der anderen.“265
In der glei-
chen Ausgabe wird dann die Antwort von K. Owen White, dem Präsidenten der Südlichen
Baptisten abgedruckt, der die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung relativiert. Doch zeugt der
Leserbrief von T.A. aus V. in Kalifornien auch davon wie der Brief der Münsteraner, der in
The Baptist World abgedruckt wurde, eine positive Wirkung erzielte. So schreibt T.A. über
die Veränderung seiner Einstellung: „Jetzt hasse ich nicht mehr, weil ich nun erkannt habe,
wie verkehrt das war, und wie Gott mit mir unzufrieden gewesen sein muß, als Er sah, was
ich dachte.“266
Die „klassischen Freikirchen“ in Deutschland sind de facto aus traditioneller Nähe zum Pie-
tismus unpolitisch;267
ganz anders beispielsweise als die britischen Freikirchen, die entschei-
dend mitwirkten an der Gründung der Labour Party.268
So konstatierte man auch noch 1951in
der Gemeinde, dass man sich „grundsätzlich von politischen Erörterungen stets ferngehalten“
habe. „Nicht, daß wir über keine blaue, rote oder schwarze Tinte verfügten und über dieses
oder jenes Problem nicht eine eigene subjektive Meinung hätten […].“ Doch sei „es nicht
261
Ebd. 262
Otto Johns, Martin Luther King in Berlin. Soziale und politische Verantwortung in einem Christen, in: Die
Gemeinde 40 (1964), 6f. 263
Rudolf Thaut, Die amerikanischen Baptisten und die Rassenkämpfe, in: Die Gemeinde 41 (1963), 8-10. 264
Rassenstreit – dürfen wir mitreden?, in: Die Gemeinde 41, 1963, 10f. 265
Ebd. 266
Briefe an den Schriftleiter, in: Die Gemeinde 45, 1964, 2. 267
Strübind, Freikirche, 34. 268
Edward Palmer Tompson, The Making of the English Working Class, London 1963 beschreibt die enge Ver-
flechtung von Freikirchen und Arbeiterklasse.
49
unser Auftrag […] in den politischen Sprechsaal einzutreten.“269
1958 sprachen sich die Vor-
sitzenden der Evangelischen Allianz, der Bundesdirektor der Baptisten Paul Schmidt und der
pietistische Pfarrer und Evangelist Paul Deitenbeck, entschieden gegen die „Politisierung der
Gemeinde Jesus“ aus, denn diese brächte die „Gefahr der Ablenkung von der eigentlichen
Aufgabe der Gemeinde Christi“ [Evangelisation], die „Gefahr ungeistlicher Sortierung der
Gemeinde Christi“ und die „Gefahr gegenseitiger Verketzerung.“270
1962 sei durch einen Le-
ser der Gemeinde die Frage aufgekommen, „warum unser Blatt nicht zum aktuellen Ta-
gesgeschehen Stellung nimmt […]“, so der Schriftleiter, der daraufhin entgegnete, dass „eine
christliche Stellungnahme“ schwer zu verwirklichen sei. „Ein russischer Christ wird zum Ku-
ba-Konflikt anders Stellung nehmen als ein amerikanischer.“ Vielmehr sollten Christen „mit
ihrem Urteil sehr vorsichtig und zurückhaltend sein“ und „beten und Christus verkündigen
[…] erst recht in Krisenzeiten.“271
Erst 1966 kann man durch das Forum der Leserbriefe politische Äußerungen in der Gemeinde
finden. So kritisiert beispielsweise Gerhard Mikosch aus Worms, dass noch vor kurzer Zeit
„von der Regierungsseite zu hören“ gewesen sei, dass „in unserer hochgelobten pluralisti-
schen Gesellschaft für jeden Platz wäre.“ Doch „jetzt auf einmal müssen Gammler raus. Da-
bei kommt mir ein unheimlicher Gedanke: Heute die Gammler, morgen mal wieder Juden und
Freimaurer und Zigeuner und übermorgen vielleicht Baptisten?“272
Daraufhin entgegnete Hil-
degard Grodd aus Hamburg, dass „die Gammler […] uns eine Menge Steuergelder kosten.“
Denn „für jeden Gammler“ müssten „ein bis zwei Fremdarbeiter angeworben werden“.273
Vor allem 1967/68 erreichte dann die „Politisierung“ in der Gemeinde ihren Höhepunkt. Zum
polarisierenden Thema wurde auch bei den Baptisten der Vietnamkrieg. Auslöser einer länge-
ren Debatte war ein Bericht von P.C. Allen, einem amerikanischen Baptisten, über den Viet-
namkrieg in der Gemeinde.274
Die Mehrheit der schreibenden Leser lehnte den Vietnamkrieg
entschieden ab. Der Sonderschullehrer Hans-Peter Fröhlich, für den der Krieg in Vietnam vor
allem kein „gerechter Krieg“ war, forderte von P.C. Allen, dass er „seine Meinung für sich
behalten oder im Sinne des Evangeliums noch einmal überprüfen, oder […] den Dienst des
Evangeliums aufgeben“ solle. Dr. Robert Kohl aus Berlin schrieb, dass „dem Leser weisge-
269
AdS, in: Die Gemeinde, 14.1.1951, 26. 270
Politisierung der Gemeinde Jesus, Bericht aus dem Evangelischen Allianzblatt, in: Die Gemeinde,
30.11.1958, 6. Dabei war Paul Schmidt von 1930 bis 1932 selbst Reichstagsabgeordneter für den CSVD gewe-
sen. Vgl. Strübind, Freikirche, 339. 271
AdS, in: Die Gemeinde 46 (1962), 10. 272
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 31 (1966). 273
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 35 (1966). 274
P.C. Allen, Kann man das Vorgehen der USA in Vietnam gutheißen, in: Die Gemeinde 20 (1967).
50
macht werden soll, es handle sich bei dem Vietnamkrieg um Bekämpfung des Kommunismus.
Davon, daß das vietnamesische Volk Frieden, Freiheit, Einheit sucht, steht in dem Bericht
nichts.“275
Dr. med. Traugott Schostak aus Berlin war da ganz anderer Meinung. Ihn habe die
„Vietnam Demonstration in Berlin am 21.10.1967“ empört. Er fragte sich, „warum der Berli-
ner Senat sie gestattet“ habe und somit „den Möchtegern-Partisanen und Mitläufern im Verein
mit Berufsrevolutionären“ eine „weitere Gelegenheit gab“, die „demokratische Ordnung nach
allen demokratischen Regeln und Genehmigungen auf den Kopf“ zu stellen. Die Demonstran-
ten verglich er mit den Nationalsozialisten Anfang der 1930er Jahre. Auch Arnold Göhring
aus Seattle, Washington befürwortete den Vietnamkrieg und befand ihn sogar als „gerecht“.
Er schrieb, dass es „von vielen deutschen Baptisten als unvermeidliches Übel akzeptiert“
würde, dass „sowohl DIE GEMEINDE als auch die JUNGE MANNSCHAFT zum Pazifis-
mus neigen“. „DIE GEMEINDE sollte sich jedoch vor einer Degradierung zum Sprachrohr
des Kommunismus hüten“, denn die Stellungnahme Dr. Robert Kohls hätte „ohne weiteres
einer kommunistischen Zeitung entnommen worden sein“ können.276
Peter Eisenblätter aus
Hamburg schrieb in Reaktion auf Göhring, dass ihm „in der letzten Zeit bei vielen Leserbrie-
fen eher das rechte (!) Gegenteil der Fall zu sein“ scheine.277
E. Hornbacher aus Hamilton, Kanada empfahl den „Gläubigen“ angesichts solcher Polarisie-
rungen, „die Politik den Großen dieser Welt zu überlassen.“278
Helene von Brodorotti aus
Neviges versuchte die Auseinandersetzung zu versachlichen. Doch zugleich forderte sie, „daß
die Redaktion uns die Möglichkeit offen läßt, an Hand der gegebenen Nachrichten und Noti-
zen eine eigene Meinung zu bilden und nicht, wie es in mancher wenig ‚demokratischen Wei-
se‘ der Fall ist, versucht, den Gemeindegliedern eine Einheitsmeinung aufzuprägen (nach
Möglichkeit unfehlbar vom christlich-baptistischen Standpunkt aus!).“279
Heinrich
Schuirmanns aus Duisberg forderte weniger Politisierung, sondern vielmehr eine Art heilsge-
schichtliche Kontextualisierung der politischen Ereignisse in die Gemeinde.280
Gustav Rex
forderte die Abschaffung aller Beiträge über Vietnam: „Setzen Sie doch so dummes Zeug gar
nicht hinein! Es gibt doch bestimmt etwas über ernste Frage zu sagen: Können unsere Ge-
schwister vom Fernsehen, von der Zigarette und vielem anderen befreit werden?“ Das löste
bei Helene von Brodorotti aus Neviges Empörung aus: „‚Wir können und dürfen uns nicht
von der Welt zurückziehen und isolieren […]‘“. Das habe sie selbst jüngst „aus dem Munde
275
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 25 (1967). 276
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 51 (1967). 277
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 4 (1968). 278
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 41 (1967). 279
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 48 (1967). 280
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 5 (1968).
51
eines 81jährigen Predigers“ gehört.281
Auch Albert Katenkamp aus Leer in Ostfriesland282
und
Hans-Peter Fröhlich aus Lülsdorf gaben zu bedenken, „wie gefährlich es ist, wenn sich Chris-
ten abkapseln und so tun, als wäre die ganze Welt verloren.“
Die hitzige und polarisierende Auseinandersetzung um den Vietnamkrieg in der Gemeinde,
bei der man Baptisten absprechen wollte, Baptisten zu sein oder seine „Brüder“ beschimpfte,
Kommunisten zu sein, führte zu einer neuen Debatte. Paul Schmidt aus Berlin, lange Zeit
Bundesdirektor des deutschen Baptismus, forderte 1968, dass die Leserbriefe entweder abge-
schafft oder „auf das Gebiet der neutestamentlichen Gemeinde“ beschränkt werden sollten. Es
sei „besonders in Berlin deutlich geworden, daß durch diese Art öffentlicher und dann auch
persönlicher Behandlung solcher politisch, humanistisch-sozialen Aufgabengebiete wesent-
lich mehr Störung als Förderung entsteht.“283
Dem stimmten auch Wilhelm Grob aus
Holzgerlingen („‚Gezänke‘“) 284
und Jan Müller aus Emden („Tummelplatz der verschiedenen
Meinungen“)285
sowie Richard Gerth aus München zu.286
Sie alle stehen für eine traditionalis-
tische Richtung im Baptismus, die weiterhin apolitisch bleiben und sich auf Evangelisation
beschränken wollte.
Doch Schmidts Forderung erntete auch entschiedenen Widerspruch, z.B. von Dr. Günter
Wagner aus Rüschlikon: „Die Zeilen von P.S. aus Berlin“ würden „zum ersten schädlichen
Leserbrief, den DIE GEMEINDE veröffentlicht hat, wenn sie nicht die nötige Empörung her-
vorrufen. Das Ansinnen ist ja nun wirklich nicht mehr harmlos.“ Denn „Gängelbänder und
Maulkörbe“ würden zwar „zur Entmündigung überall feilgehalten, in der ‚neutestamentlichen
Gemeinde‘ aber nicht!“ Auch Edgar Lüllau aus Hamburg wendet sich gegen Schmidts Forde-
rung:287
Gerade nach dieser Regel, daß die Gemeinde Jesu Christi keine politische, humanistisch-soziale Frage
(kritisch!) behandeln darf, hat unser Bruder Paul Schmidt ja selbst im Dritten Reich die Geschicke der
Baptistengemeinden geleitet. […] Dies darf sich in unserer Bundesgemeinschaft nicht noch einmal wie-
derholen, denn wir sind gefragt, was wir als Christen zu den politischen und sozialen Fragen unserer
Zeit zu sagen haben.
Die leidenschaftliche Befürwortung der Leserbriefe entstammt einer modernistischen Rich-
tung im deutschen Baptismus, die neben Evangelisation auch die politische und soziale Ver-
antwortung der Gemeinden betonen und gerade vor dem Erfahrungshintergrund des „Dritten
281
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 33 (1968). 282
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 33 (1968). 283
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 7 (1968). 284
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 11 (1968). 285
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 16 (1968). 286
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 30 (1968). 287
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 11 (1968).
52
Reiches“ für Transparenz und Meinungsfreiheit, Pluralisierung und demokratischere Struktu-
ren eintrat.
H. N. Rose aus Holland wies darauf hin, dass die Leserbriefe auf keinem Fall abgeschafft
werden sollten, da sie „für den nötigen Humor“ sorgten. Nur so würde man erfahren, dass
manche Leser die Gemeinde abbestellten, weil Inhalte ihrer Meinung widersprechen, um sie
dann wieder zu bestellen, wenn etwas ihrer Meinung entspricht.288
Auch Dr. Bernhard Popkes
aus Essen bricht eine Lanze für die Leserbriefe, denn sie „charakterisieren den Baptismus mit
allen seinen Möglichkeiten und Gefährdungen besser als viele offizielle Verlautbarungen.“289
So auch Ilse Schmidt aus Erlangen, die in den Leserbriefen „ein gutes Spiegelbild des deut-
schen Baptismus“ sieht, dass „die verschiedenen theologischen Richtungen innerhalb der
Gemeinden“ verdeutliche. Denn grundsätzlich handele es sich um einen „so wenig homoge-
nen Leserkreis“.290
Neben der zunehmenden Pluralisierung des Baptismus seit Mitte der
1950er lässt sich auch ein Wandel feststellen bezüglich des Verhältnisses zur eigenen Ge-
schichte.
4.5 Von der Negation von Tradition zur Erfindung von Tradition
Im Gegensatz zur Herrnhuter Brüdergemeine, die bei Identitätskonstruktionsprozessen traditi-
onell auf Tradition rekurriert, sind die deutschen Baptisten aus Tradition eher traditionslos.291
Wie eingangs erwähnt, pflegen die Baptisten ein „dynamisches Kirchenverständnis“, dass in
einem „prozesshaften ‚Kirche-Sein‘“ resultiert. Das habe nach Strübind eine „hohe Anpas-
sungsfähigkeit an unterschiedliche kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten“ zur Folge,
aber auch einen Mangel an „Identifizierbarkeit“.292
Dem liegen neben theologischen wohl
auch sozialstrukturelle Ursachen zu Grunde.293
Die baptistischen Ortsgemeinden intendierten
von Generation zu Generation erneut eine direkte Anknüpfung an die Gemeinde des Neuen
Testaments. Die Konstruktion und Aufrechterhaltung einer Gruppenidentität findet daher im
deutschen Baptismus traditionell unter erschwerten Bedingungen statt.294
Mit Entlehnung
einiger Termini von Maurice Halbwachs könnte man fragen, ob das „kollektive Gedächtnis“
der deutschen Baptisten ein „kommunikatives“, nicht aber ein „kulturelles“ war und wohl
288
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 13 (1968). 289
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 15 (1968). 290
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 22 (1968). So auch in der gleichen Ausgabe Ewald Goetze aus Robertson,
Südafrika und etwas später Vom Schriftleiter. Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen unter
Brüdern, in: Die Gemeinde 35 (1968). 291
Richter, Pietismus. 292
Strübind, Vorwort, VIIf. 293
Das das reformatorische sola scriptura führte zur Negation von kirchlicher Tradition, zur Ausrichtung allein
nach der Bibel. Vgl. Strübind, Freikirche, 40ff. 294
Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 20073.
53
auch heute noch ist.295
Damit ist gemeint, dass Erfahrungen und Traditionen zumeist über
einen Zeitraum einiger Generationen mündlich ausgetauscht, nicht aber schriftlich fixiert
werden, um sie zu konservieren.296
Im Bearbeitungszeitraum dieser Untersuchung kann man
allerdings einen Wandel hin zur vermehrten Konstruktion von Tradition beobachten.
Bis 1953 wird in der Gemeinde kaum Erinnerung konstruiert. Die wenigen Ausnahmen bezie-
hen sich auf punktuelle Erinnerungskonstruktionen, vor allem in der Hochphase des Konfes-
sionalismus nach 1945. Erinnerung dient so 1948 als Stütze für die Abgrenzung gegen „die
Kirche“. Man erinnerte sich z.B. angesichts des Jubiläums von 1848 in AdS daran, dass es
1848 nicht die Kirche, sondern der Staat gewesen sei, der „unsern verfolgten Vorkämpfern
Gerechtigkeit widerfahren ließ“.297
Auch sei man von eben dieser Kirche immer als „sture
unbelehrbare Sekte“ beurteilt worden, wesentlich schlechter als solche Religionsgemeinschaf-
ten, die die Kindertaufe trotz ihrer Trennung von den Staatskirchen noch praktizierten.298
Eine
solche Erinnerungskonstruktion stellt aber Ende der 1940er Jahre eine Ausnahme dar.299
In der sich anbahnenden Krise, Mitte 1953, begann man sich jedoch in der Gemeinde zaghaft
der baptistischen Wurzeln zu erinnern. Diese lägen „in der Vergangenheit, in einer großen,
kämpferischen Vergangenheit! […] Unser Väter […] wußten sehr wohl, daß der Angriff die
beste Verteidigung“ sei.300
Angesichts einer sich verstärkenden Krisenperzeption scheint es,
dass man durch Erinnerung an die „kämpferischen“ Väter Resilienz für die Gegenwart gene-
rieren wollte.
In der Zeit der Bundeskonferenz von 1954 war man sich allerdings bewusst, dass man „wenig
geschichtlichen Sinn entwickelt“ habe. So sei die „übermäßige Verehrung von Männern, die
in unserm Werk einmal einen besonderen Platz eingenommen haben […] noch nie unsere
Gefahr gewesen.“ Doch „Menschen sobald vergessen, die einmal unter Segen von oben einen
besonderen Platz in unserem Werk ausgefüllt haben“ sei „undankbar“ und „töricht. Wir be-
rauben uns dadurch selbst mancher Hilfe.“ Baptisten würden nicht „aus der Geschichte“ ler-
295
Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967. Das Zentrum für Baptismusstudien, das 2012
in Elstal eingerichtet wurde, kann als ein Beleg dafür gedeutet werden; auch dafür, dass sich die Baptisten wie-
der einmal in einer Identitätskrise befinden. 296
Hier muss man allerdings beachten, dass die Baptisten sich selbst Anfang der 1960er Jahre erst in der vierten
Generation verorteten. Dieser sei die „‚Erlebnis-Generation‘ mit dem Motto ‚Jeder Baptist ein Missionar!‘“
vorangegangen, auf die „die Generation der ‚Lehre‘“ und „die des ‚Erbes‘“ gefolgt seien. Vgl. Die Stunde der
Familie, Tanzen- ja oder nein?, in: Die Gemeinde 4 (1963), 9. 297
AdS, in: Die Gemeinde, 1.5.1948, 38. Vgl. auch Kapitel 4.1. 298
Die Gemeinde, 15.5.1949. 299
Die Negation von Tradition veranlasste den „Schmied“ in AdS, in: Die Gemeinde, 15.4.1949, davor zu war-
nen, „eine ‚geschichtslose Sekte‘ zu werden“, denn „die jungen Männer, die nach Hamburg-Horn [damaliger
Standort des Predigerseminars] kommen, haben samt und sonders keine Beziehung zur Vergangenheit.“ 300
AdS, in: Die Gemeinde, 28.6.53, 203.
54
nen, „weil wir uns um die Geschichte gar nicht kümmern. – Soll das so bleiben?“301
Dieser
rhetorischen Frage ließ man nach zwei Wochen Taten folgen. Erinnerung wurde konstruiert
um beispielsweise das strukturelle Verhältnis von Ortsgemeinden mit dem Bund zu erör-
tern.302
Ein Jahr später erinnerte man sich in AdS an „Zwangstaufen“ und andere Formen der
Verfolgung im 19. Jahrhundert. „Wie arm und matt kommen wir uns dagegen vor! Wie wenig
haben wir von dem geistlichen Elan und Schwung und der Bekenntnisfreudigkeit, die unsere
Väter auszeichneten“.303
Hier wird kontrastiert zwischen den ersten Generationen der Baptis-
ten, die als standhafte Vorbilder stilisiert werden und Verfolgung getrotzt hätten und der ge-
genwärtigen Generation der Baptisten – das Ergebnis: ein Ausdruck von Ernüchterung, von
Apathie.
1956 und 1958 wird verwiesen auf die Publikation der „Freikirchengeschichte“ des schwedi-
schen Kirchengeschichtlers Gunnar Westin, eines führenden schwedischen Baptisten und Pro-
fessors an der Universität von Uppsala und auf die Geschichte der deutschen Baptisten in
zwei Bänden von Rudolf Donat.304
1959 und 1964 werden vor allem aus Donats Werk Aus-
schnitte als Fortsetzungsgeschichten veröffentlicht. Dabei stehen Vorbilder der Baptisten aus
dem 19. Jahrhundert wie Jeremias Grimmel, Johann Gerhard Oncken und Julius Köbner im
Vordergrund.305
Neben der Konstruktion von Vorbildern bildeten auch Jubiläen einen Anlass
zur Konstruktion von Tradition in Form kurzer Geschichten des deutschen Baptismus.306
Des
Weiteren gab es Betrachtungen über die Geschichte der amerikanischen und der englischen
Baptisten.307
Auffällig erscheint in einem Kommentar zur „Freikirchengeschichte“ von Gun-
nar Westin, dass man sich gegen die „Münsterer Rotte 1535“ abgrenzt. Damit begründet man
zum einen das baptistische Engagement für die Trennung von Kirche und Staat – sozusagen
aus schlechter historischer Erfahrung. Zum anderen nutzte man die konstruierte Negativfolie
der Münsteraner Täufer um Thomas Müntzer in der Gemeinde, um das Ende der 1950er Jahre
301
Die Gemeinde, 8.8.1954, 229f. 302
W. Klein, Ortsgemeinde und Bundesgemeinde, in: Die Gemeinde, 22.8.1954, 263f. In der ersten Generation
sei der Bund von „oben nach unten“ konstituiert gewesen, wohingegen sich in der zweiten Generation der
„independentistische Gedanke“ durchgesetzt habe. In der dritten Generation sei das Pendel dann wieder umge-
schlagen: „Es kam die Zeit des ‚Führerprinzips‘“. So war man sich sicher, dass zumeist „das politische Leben
der Umgebung […] wesensfremd in das Leben der Gemeinden eingriff“. 303
AdS, in: Die Gemeinde, 4.9.1955, 283. 304
AdS, in: Die Gemeinde, 2.12.1956, 3f. Vgl. Gunnar Westin, Der Weg der freien christlichen Gemeinden
durch die Jahrhunderte. Geschichte des Freikirchentums, Kassel 1956; AdS, in: Die Gemeinde, 23.2.58, 10. Vgl.
Rudolf Donat, Wie das Werk begann. Entstehung der deutschen Baptistengemeinden, Kassel 1958. 305
Die Gemeinde 1-7 (1959); Die Gemeinde 45-52, (1964). 306
Zur Ehre Gottes und zum Wohl des Volkes. 125 Jahre Baptismus in Deutschland, in: Die Gemeinde 16
(1959), 5. 307
Waldemar Gutsche, Einblicke in Leben und Geschichte des amerikanischen Baptismus (I) & (II), in: Die
Gemeinde 49 & 50 (1962), 4-6; John Smyth – Anfänge des modernen Baptismus, in: Die Gemeinde 31, (1964),
6; Die englischen Baptisten seit dem Zweiten Weltkrieg, I. und II. Teil, in: Die Gemeinde 38 & 39 (1967).
55
langsam aufkommende politisches Engagement einzelner Baptisten abzuwerten. „Bedauerli-
cherweise“ würde man nämlich „in manchen Freikirchen […] in verwirrender Weise die
staatsbürgerliche Verantwortung mit einer politischen“ verwechseln.308
Versuche der Selbstvergewisserung durch die Konstruktion von Tradition nehmen im Unter-
suchungszeitraum ab 1953 zu. Die quantitative Rezession der Baptisten und ein daraus resul-
tierendes Krisenbewusstsein auf der einen Seite sowie die Zunahme schriftlicher Konstruktion
von Tradition auf der anderen Seite, scheinen zu korrelieren. In den 1940er wird Erinnerung
primär zum Zweck der konfessionellen Abgrenzung konstruiert. Ab Mitte der 1950er Jahre
erscheinen Erinnerungskonstruktionen als Ausdruck eines sich steigernden Krisenbewusst-
seins. Ende der 1950er werden Erinnerungskonstruktionen auch dazu genutzt, Transformatio-
nen – im dargestellten Fall politisches Engagement – zu beeinflussen. Aus einigen vom
Schriftleiter 1964 in der Gemeinde kommentierten Leserbriefen geht hervor, dass viele Leser
durch die Historisierung baptistischer Vergangenheit „Heiligenverehrung“ und „Personen-
kult“ fürchteten. Andere warnten jedoch davor dass „Geschichtslosigkeit […] für gewöhnlich
das Zeichen von Sekten“ sei und eine Sekte wolle man ja wohl nicht sein. Außerdem sei auch
die Bibel – vor allem das Alte Testament – voll mit „Geschichtsbüchern“. Denn „Die Sache
Gottes aber hat stets Geschichte.“309
4.6 Von Schuld und Verantwortung: der Umgang mit dem „Dritten Reich“
Ende 1967 schrieb Emil Eggert aus Hamburg in einem Leserbrief:„Ich bin jüdischer Ab-
stammung, meine Mutter war Jüdin, mein Vater war kein Jude. Ich habe eine Jüdin zur Frau.
Wir beide sind Baptisten. Was meine Frau und ich am eigenen Leibe erfahren haben, kann
nicht ausgewischt werden.“310
Nach 1945 sah es allerdings lange Zeit so aus, als könne alles
Leid und Unrecht, das im „Dritten Reich“ geschah, sehr wohl „ausgewischt“ werden, sowohl
in der Bundesrepublik als auch im deutschen Baptismus. Einige Monate nach Emil Eggert
schrieb Friedrich Halmos aus Kassel in einem Leserbrief: „Unsere Gemeinden waren in der
fraglichen Zeit des ‚Führerprinzips‘ seitens der Bundesleitung dringend gebeten, alles zu un-
terlassen, was der Partei Anlaß geben könnte, gegen sie einzuschreiten.“ Nach dem Krieg sei
Verantwortung dann „von den maßgeblichen Brüdern abgetan“ worden „mit der ‚Entschuldi-
gung‘: ‚Wir haben nicht anders gekonnt!‘ Damit ging man zur sogenannten Tagesordnung
308
Vom Auftrag der Freikirchen. Zu dem Buch von Gunnar Westin ‚Geschichte des Freikirchentums‘, in: Die
Gemeinde 14, 1959, 4f. 309
Vom Schriftleiter. Mit den Kräften der Geschichte leben – aber kein Personenkult, in: Die Gemeinde 34
(1964), 10f. 310
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 50 (1967).
56
über und freute sich an dem Zustrom zu den Gemeindeveranstaltungen.“ Kritische Stimmen
zur Rolle der Baptisten im „Dritten Reich“ und zum Holocaust und ihrem Umgang damit ge-
nerell finden sich in der Gemeinde tatsächlich erst in den 1960er Jahren.311
Wie von Friedrich
Halmos angedeutet, versuchte man sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit jeglicher Ver-
antwortung am Nationalsozialismus zu entziehen und stilisierte Baptisten in der Gemeinde
kollektiv als Opfer. Damit meinte man jedoch nicht jüdische Baptisten wie Emil Eggert, son-
dern das Gros der nichtjüdischen Baptisten.
1947 reagierte man in der Gemeinde sehr gereizt auf Kritik holländischer Baptisten, die in
ihrer Zeitschrift anführten, dass die deutschen Baptisten dem Führer viel zu verdanken hätten
und dass man ihnen „tiefe Reue über ihr Vertrauen zum Nationalsozialismus“ wünsche. In
AdS entgegnete man trotzig, dass „die überwältigende Mehrheit unsrer Glieder dem national-
sozialistischen Regime innerlich fern, ja feindlich gegenüberstand und darunter unsäglich
gelitten hat.“ Daher könnten die Baptisten „auch ein ‚Vertrauen zum Nationalsozialismus‘
unmöglich bereuen, eben weil wir kein solches hatten.“312
Doch trotz des „Eingeständ-
nis[ses]“, dass man sich zwar „mannhafter und leidenswilliger“ hätte „auflehnen sollen“, soll-
te dies „nicht der breiten Öffentlichkeit und ihrer verständnislosen Kritik ausgeliefert wer-
den“, sondern gehöre vielmehr „in das stille Buß-und Betkämmerlein des einzelnen“, so wei-
ter in der Gemeinde. Und „Einem anderen Reue anzuraten“ würde „gewisse psychologische
Gesetze“ missachten und obendrein seien die Baptisten doch eher Opfer gewesen angesichts
der noch vermissten 26.000 und toten 4.000 Mitglieder.313
Berichtet wurde in dieser Zeit in der Gemeinde von Christen, die auch in Todesgefahr tapfer
ihren Glauben bekannt hätten und deshalb in der Gemeinde quasi zu Helden stilisiert wur-
den.314
Vor dem Hintergrund allgemeinen Hasses, der Deutschland im Ausland entgegen-
schlüge, berichtete man über einen franz. Judenchrist und einen holländischem Baptisten, die
den deutschen Baptisten auf einer Konferenz mit Liebe u Verständnis begegnet seien.315
An-
gesichts der Nürnberger Prozesse berichtete man in der Gemeinde über den evangelischen
Pastor Gericke, der die 21 Hauptschuldigen und in Nürnberg zum Tode verurteilten seelsor-
gerlich betreute. Dabei standen nicht deren Verbrechen im Vordergrund, sondern die Bekeh-
rungserlebnisse von Ribbentrop, Keitel, Sauckel, Speer, Raeder, Fritsche und Schirach.316
311
Kurt Barthel, Kein Platz für „Israel“, in: Die Gemeinde 6 (1960), 8. 312
AdS, in: Die Gemeinde, 1.11.47, 85. 313
AdS, in: Die Gemeinde,1.11.1947, 85. 314
Ads, in: Die Gemeinde, 15.12.48. 315
Ebd. 316
AdS, in: Die Gemeinde, 1.4.1949, 106.
57
Auch ein Bericht aus der Oldenburger Nordwestzeitung vom 3.5.1949 wurde in der Gemeinde
abgedruckt, in dem von einem ehemaligen SA-Mann die Rede ist, der 1933 einen Kommunis-
ten erstach. Nach dem Krieg habe sich „‚das Gewissen des Mörders zu regen‘“ begonnen
„‚durch den Umgang mit Einwohnern, die der Baptistengemeinde angehören‘“. Daraufhin
habe er sich der Polizei gestellt.317
Des Weiteren wurde in AdS über die Monographie „Die
Entehrung der Frauen im erorberten Europa“ des amerikanischen Professors A. J. App berich-
tet, derzufolge „das deutsche Heer in seinem Verhalten den Frauen gegenüber bei weitem die
anständigste und ordentlichste Besatzungstruppe des zweiten Weltkrieges war.“318
Generell war aus Perspektive der Baptisten Geschichte Heilsgeschichte.319
Gott hält demnach
das Schicksal der Welt in seiner Hand, hat einen „Plan“ trotz aller „Zufälligkeiten“. Menschen
sind seine „Werkzeuge“.320
So konstatierte man in AdS zehn Jahre nach Kriegsende: „alle
Fragen nach dem Warum muß verstummen vor diesem Handeln Gottes in geschichtlichen
Entscheidungen“. Die menschliche Verantwortung sah man „in dem vermessenen Hoch-
mutswahn der nationalsozialistischen Regierung“. Dabei wüssten „Jünger Jesus […], daß sie
nicht gerufen sind, andere anzuklagen, sondern sich selbst zu prüfen, wo sie versagten.“ Da
seien „Mangel an Klarheit über die Weisungen unseres Herrn und an Gehorsam gegen Seinen
Willen, an gläubigen Rechnen mit Seiner Macht und an liebendem Mitttragen der Lasten un-
seres Volkes“ gewesen.321
Diese eher revisionistischen Erinnerungskonstruktionen, die keine
Gefahr für ein positives Selbstbild darstellten, nahmen seit Anfang der 1960er Jahre sukzessiv
ab bzw. erhielten Konkurrenz durch kritische Erinnerungsversuche. Das entspricht in etwa der
Haltung der Mehrheitsgesellschaft in den 1950er Jahren zum „Dritten Reich“ bzw. der histo-
riographischen Rezeption.
Angesichts der „antisemitischen Auswüchse der letzten Wochen“ müsse man die „Stimme der
gläubigen Christenheit“ erheben, so Kurth Barthel Anfang 1960,322
denn es sei
doch eine unbestreitbare Tatsache, daß wir, die wir uns gläubig nennen, schon einmal geschwiegen ha-
ben, als Israel mitten unter uns furchtbares Unrecht geschah. Wo wurde öffentlich für die Juden (und all
die anderen Verfolgten und Inhaftierten des ‚Dritten Reiches‘) gebetet? Aber wir haben vergessen, ha-
ben uns weithin selbst entschuldigt und gerechtfertigt. Vielleicht kann Gott heute darum unserm Land
keine Erweckung schenken, vielleicht ist deshalb in unsern Reihen Kraftlosigkeit und Rückläufigkeit.
Hier wird in der Gemeinde erstmals explizit der Holocaust thematisiert. Der mangelnde Wi-
derstand gegen Antisemitismus damals sowie Entschuldigungen und Selbstrechtfertigungen
317
AdS, in: Die Gemeinde, 1.6.1949, 171. 318
AdS, in: Die Gemeinde, 1.11.1949, 331. 319
Strübind, Freikirche, 44. 320
AdS, in: Die Gemeinde, 25.1.1953, 27. 321
AdS, in: Die Gemeinde, 20.3.1955, 91. 322
Kurt Barthel, Kein Platz für „Israel“! in: Die Gemeinde 6 (1960), 8.
58
nach dem Krieg verpflichteten Christen nach Barthel zu einem entschiedenen Einsatz gegen
Antisemitismus in der Bundesrepublik. Dass Barthel allerdings – zumindest spekulativ – eine
gegenwärtig ausbleibende „Erweckung“ sowie „Kraftlosigkeit“ und „Rückläufigkeit“ kausal
mit den Verfehlungen der Baptisten im „Dritten Reich“ verknüpft, ist zum einen ein weiterer
Indikator für ein schon in den 1950er Jahren vorhandenes Krisenbewusstsein der deutschen
Baptisten, dass nun auch Einfluss gewann auf baptistische Erinnerungskonstruktionen bzgl.
des „Dritten Reiches“. Zum anderen können solche Gedankengänge auch als Beginn der
(oftmals unkritischen) Begeisterung des evangelikalen Milieus für Israel gedeutet werden –
gerade angesichts der Perzeption der heilsgeschichtlichen Bedeutung Israels.323
Doch nicht nur eine neue Mission konnte man aus dem Umgang mit der Vergangenheit ablei-
ten. Auch Kritik an bestehenden Hierarchien, die in aktuellen Strukturdebatten und Auseinan-
dersetzungen um die Demokratisierung der Gemeinden aufkam, scheint gestützt worden zu
sein durch Erinnerungskonstruktionen. „Es gab bei uns doch Leute, die das ‚Führerprinzip‘“
begrüßten, so der Schriftleiter in AdS. „Sie halten auch heute die Gemeinde noch nicht für
mündig.“324
Schließlich führten Erinnerungskonstruktionen nicht zuletzt auch zu ungewöhnli-
chen Schulterschlüssen. Anlass dazu bot Rolf Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“,
dem wohl bis dato umstrittensten der Nachkriegszeit,325
dass den damaligen Papst für seinen
mangelnden Widerstand gegen den Holocaust kritisierte. Der Schriftleiter der Gemeinde
kommentierte dazu, dass doch wohl „die entscheidende Frage“ sei, ob nur der Papst die
Pflicht zum Widerstand gehabt habe oder „in Wirklichkeit nicht alle Christen, ohne Ausnah-
me“.326
Doch erst in den 1960er Jahren fing man in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit an, den
Holocaust zu diskutieren. Erst in den 1960er Jahren war auch in der Gemeinde durch die Ver-
öffentlichung von Leserbriefen dafür ein Forum gegeben. So konnte (und musste) Emil Eg-
gert um 1968 selbst dafür sorgen, dass das von ihm und seiner Frau erfahrene Leid nicht
„ausgewischt“ wird. Er bezog sich dabei auf einen Artikel von W. Gutsche, der „den Juden-
haß auf die Gottlosen abschiebt.“ Damit mache es sich W. Gutsche „zu leicht“, so Eggert.
323
Kurth Barthel, Israel – dennoch Gottes auserwähltes Volk (I) & (II). Eine Bibelarbeit über die Kapitel 9 bis
11 des Römerbriefes, in: Die Gemeinde 12 & 13 (1960), 4f. Demnach gäbe es eine „Parallelität der beiden Er-
eignisse, Entrückung der Gemeinde und Bekehrung Israels“. Daher könne „für den bibelgläubigen Christen […]
Israel niemals nur ein Volk sein neben vielen anderen Völkern, sondern es ist das Volk der Erwählung, das Gott
bald völlig erneuern wird, so daß es wieder den Auftrag des Segensvermittlers für alle Völker ausführen kann.“ 324
AdS, in: Die Gemeinde 17 (1963). Das „‘Führerprinzip‘“ sei durch das „‘demokratische Prinzip‘“ ersetzt
worden „- wenigstens grundsätzlich, wenn auch nicht überall praktisch […]. Verdächtig ist bei alledem, daß wir
so anpassungsfähig sind.“ Schon während der Suezkrise wurde Israels zentrale Rolle in der Heilsgeschichte in
AdS, in: Die Gemeinde, 18.11.1956, 6 herausgestellt. 325
McLeod, 69ff. Demnach waren Tabubrüche wie Hochhuths Theaterstück Charakteristika der frühen 1960er. 326
Wort des Schriftleites, in: Die Gemeinde 26 (1964), 2.
59
Seine damals noch Verlobte sei nämlich „von einer christlichen Schwester vier Treppenstufen
hinuntergestoßen“ worden „mit den Worten: ‚Was hast du Judenweib hier zu suchen?‘“ Das
hätte ihren Tod zur Folge haben können, wenn „meine Braut mir nicht in die Arme gefallen“
wäre. Das sei zwar „ein Einzelfall“ gewesen. „Aber es waren Baptisten in der Partei, die Zahl
war nicht klein, auch leitende Brüder gehörten dazu.“ Sie seien daher „mitverantwortlich für
das, was diese Organisation [die NSDAP]“ ausgeführt habe. „Schweige ich dazu, wenn sie
Menschen ausrottet, weil sie einer anderen Rasse angehören, so mache ich mich mitschuldig.“
Bezogen auf Gutsches indirekte Rehabilitation von Christen, schreibt Eggert schließlich, dass
es „Tatsache“ gewesen sei, „,daß die Gottlosen mehr Juden gerettet haben als die Brüder und
Schwestern in Christus. In Berlin sind ungefähr dreitausend Juden gerettet worden, daran be-
teiligten sich sechzig Prozent Gottlose. Sie hatten alles auf eine Karte gesetzt.“327
5. Fazit
Vor dem Hintergrund der „religious crisis of the 1960s“ wurde in dieser Untersuchung danach
gefragt, ab wann es im Baptismus in der Bundesrepublik (1945-1968) ein Krisenbewusstsein
gab. Darüber hinaus stand im Fokus wie eine solche Krise in Diskursen des freikirchlichen
Milieus gemacht und wahrgenommen wurde. Grundlegend für die Untersuchung war die
Prämisse, dass die Konstruktion baptistischer Identität durch die Abgrenzung vom ‚Anderen‘
generiert wurde und dass ein Wandel in den Abgrenzungsprozessen auch Rückschlüsse er-
laubt auf die Datierung eines Krisenbewusstseins. Die diskursive Konstruktion von Selbst-
und Fremdbildern wurde daher in verschiedenen Entwicklungsphasen untersucht.
So konnte nachgewiesen werden, dass die Wahrnehmung eines kontinuierlichen über hundert-
jährigen Wachstums für die Konstruktion positiver baptistischer Selbstbildern quasi
präformativ war. Die Anfang der 1950er Jahre einsetzende und mit der Verzögerung von ei-
nigen Jahren im Baptismus bewusst wahrgenommene quantitative Rezession des baptistischen
Milieus war demnach ebenso präformativ für die vermehrte Wahrnehmung von Krisensymp-
tomen bis zur Bundeskonferenz von 1954. Die Bundeskonferenz von 1954 wurde als Höhe-
punkt der sich akzelerierenden Krisenwahrnehmung ausgemacht. Vor allem von der zeitgleich
stattfindenden ersten großen Evangelisation mit Billy Graham erhoffte man sich im baptisti-
schen Milieu einen Aufschwung. Tatsächlich setzte der quantitative Negativtrend nun auch
bezogen auf die Entwicklung der Taufen Mitte der 1950er Jahre aus. Doch nachdem er wieder
einsetzte, gab es ab 1957 erstmals Versuche, sich von der Quantifizierung des Milieus zu
327
Leserbriefe, in: Die Gemeinde 50 (1967).
60
emanzipieren. So erscheint es, dass im deutschen Baptismus der Zweck (die Konstruktion
positiver Weltbilder) die Mittel (Quantifizierungen) heiligte. Als jedoch die Mittel den Zweck
nicht mehr erfüllten, stellte man sie generell in Frage. Durch solche Emanzipationsleistungen
erhoffte man sich im deutschen Baptismus weiterhin positive Selbstbilder konstruieren zu
können, relativierte damit aber auch sich selbst bzw. die Selbstbilder die bis dato konstruiert
wurden. Somit erfolgte in dieser Hinsicht im deutschen Baptismus ein entscheidender Traditi-
onsbruch.
Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder aufblühende Abgrenzung des baptistischen
Milieus gegen „die Kirche“ trug entscheidend zur konfessionellen Identitätsstiftung im deut-
schen Baptismus bei und ging auch einher mit einer Phase exzeptionellen absoluten Wachs-
tums. Die Abgrenzung gegen „die Kirche“ schwand merklich Anfang der 1950er Jahre. Die-
ser Wandel ging zum einen zurück auf eine protestantische Ökumenisierung in der Nach-
kriegszeit „von oben“ durch die Zusammenarbeit der verschiedenen Glaubensgemeinschaften
im Hilfswerk und durch die Entstehung der ACK. Zum anderen macht aber auch die nun ver-
stärkte Einsetzung der Abgrenzung gegen die sündhafte „Welt“ deutlich, dass ein als viel ge-
fährlicher wahrgenommenes ‚Anderes‘ nun „die Gemeinde“ bedrohte. Pluralisierungsprozes-
se innerhalb des Baptismus werden in dieser Phase, der „Verweltlichung“ „der Gemeinde“
zugeschrieben. Die Exklusion nach außen ging dabei einher mit einer inneren Differenzierung
bzw. eines Ausbaus gemeindlicher Alternativangebote zur Welt. Grundsätzlich konsolidierte
der Baptismus sich in dieser Zeit auch zunehmend architektonisch.
Parallel dazu erinnerte man sich bei der Abgrenzung gegen „die Welt“ verstärkt an alte Alli-
anzen mit pietistischen Kreisen auf dem Boden der Evangelischen Allianz.328 Dabei wurde aus
der Abgrenzung gegen „die Kirche“ nun gemeinsam mit pietistisch-kirchlichen Kreisen auch
die Abgrenzung gegen „die Theologie“ Bultmanns. Darüber hinaus wirkte der Baptist Billy
Graham als Gegenentwurf zu Rudolf Bultmann mit seinen überkonfessionellen Massenevan-
gelisationen auf dem Boden der Evangelischen Allianz wie ein Scharnier für das sich in der
Erosion befindliche baptistische Milieu in seinem Übergang zu zunehmender evangelikaler
Integration.
328
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es durch die Evangelische Allianz solche Kontakte. Und sogar vor der
Gründung der „klassischen Freikirchen“ Mitte des 19. Jahrhunderts waren ihre Gründerväter schon in überkon-
fessioneller Mission bei der Verbreitung des „evangelicalism“ unterwegs. Vor diesem Hintergrund kann man
nicht behaupten, wie es Gisa Bauer tut, dass die evangelikale Bewegung sich erst in den 1950er Jahren formiert
hätte. Die Netzwerke der sogenannten evangelikalen Bewegung bestanden zu diesem Zeitpunkt schon über 100
Jahre. Man kann sie als Formen von Protoevangelikalismus deklarieren. Man kann den Terminus evangelikale
Bewegung aber auch als künstliche Haube oder Neologismus erkennen. Vielmehr wird hier der Begriff der
evangelikalen Integration vorgeschlagen, der verdeutlichen soll, dass es Evangelikale schon gab, sie aber erst in
den 1950er Jahren wieder an Oberwasser gewannen in ihren Religionsgemeinschaften.
61
Seit Mitte der 1950er Jahre fand eine zunehmende Identitätspluralisierung des Baptismus
statt. Dafür sind die ab Ende der 1950er Jahre in der Gemeinde abgedruckten Leserbriefe ein
entscheidendes Forum. Die Konfliktlinie verläuft zunächst zwischen den Generationen (unter-
schiedliche Bewertungen der technischen Entwicklung, Erziehungsfragen etc.). Sukzessive
erweitern sich dann aber in den 1960er Jahren auch die Diskussionsfelder auf die Politik und
das Zeitgeschehen. Hier werden neue Konfliktlinien erkennbar zwischen rechter und linker
politischer Orientierung, aber auch zwischen einem traditionell evangelistisch ausgerichtetem
Teil im deutschen Baptismus und einem zunehmend an der Wahrnehmung sozialer und politi-
scher Verantwortung interessierten Teil.
Schriftlich fixierte Traditionen sind dem deutschen Baptismus im Untersuchungszeitraum
zunächst traditionell suspekt, gewinnen dann aber in der Krisenzeit ab ungefähr 1953 an sinn-
stiftender Bedeutung. Dabei spiegeln baptistische Erinnerungskonstruktionen das baptistische
Krisenbewusstsein. Analog zum Umgang in der gesamten BRD wird das „Dritte Reich“ (und
damit die Frage nach der eigenen Schuld) in der Nachkriegszeit zunächst tabuisiert, nach Re-
lativierungstendenzen beginnt dann erst in den 1960er Jahren eine Aufarbeitung „von un-
ten“.329 Dabei kommt es auch zu einer kausalen Verknüpfung der Krise des Baptismus bzw.
der ausbleibenden „Erweckung“ mit dem Holocaust.
Die „religious crisis of the 1960s“ führte bei den Baptisten schon Anfang der 1950er Jahre zu
einem einschneidenden Krisenbewusstsein. Das Krisenbewusstsein war die Folge eines Men-
talitätswandels in der Wahrnehmung der Umwelt. „Die Welt“, die „die Kirche“ als das ‚Ande-
re‘ abgelöst hatte, konstruierte man im deutschen Baptismus als derart bedrohlich, dass man
sich gegen sie abzuschotten versuchte. Als die Welt jedoch in einem zunehmenden Maße in
der Wahrnehmung der Baptisten auch die Mauern der Gemeinde infiltrierte, löste das die Kri-
se des Baptismus aus. Für die Selbstwahrnehmung der Baptisten war dabei die negative Ent-
wicklung der institutionellen Daten und Zahlen entscheidend, die präformativ wirkte für die
Perzeption aller weiteren Krisensymptome. Die Transformationen des baptistischen Milieus
werden in der Perzeption der Baptisten teilweise kausal mit der wahrgenommenen Krise ver-
knüpft.
329
Eine offizielle Schulderklärung hat es erst 1984 gegeben.
63
6. Literaturverzeichnis
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EZA/183
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66
7. Appendix
Diagramm 1:330
Diagramm 2:
330
Alle hier verwendeten Diagramme sind eigene Darstellungen nach Zahlen aus den Jahrbüchern der Baptisten
(Oncken-Archiv). Da während des Krieges keine Jahrbücher erschienen und nach dem zweiten Weltkrieg zu-
nächst Lizenzen eingeholt werden mussten, Papier knapp und die Lage des Baptismus in Deutschland aufgrund
der Kriegswirren unübersichtlich war, sind für die Jahre 1940 bis 1945 keine und für 1946 kaum Zahlen verfüg-
bar. Baptistengemeinden, die nach 1933 durch die Osterweiterung des „Dritten Reiches“, in den Bund der Bap-
tisten aufgenommen wurden, gehören nicht zur Grundlage der hier abgebildeten Darstellungen, da es sich nicht
um die deutschen Baptisten handelt und sie so das Bild unnötig verzerren würden. Ebenso sind Elim- und Brü-
dergemeinden nicht Gegenstand dieser Arbeit und daher nicht Teil dieser Darstellungen. Des Weiteren wurden
sie für den Untersuchungszeitraum erst gar nicht in den Statistiken der Baptisten erfasst.
0
20000
40000
60000
80000
100000
120000
19
14
19
17
19
20
19
23
19
26
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29
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32
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35
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41
19
44
19
47
19
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53
19
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65
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68
Mitglieder (1914-1969)
0
1000
2000
3000
4000
5000
6000
7000
8000
Taufen in absoluten Zahlen (1914-1969)
67
Diagramm 3:
Diagramm 4:
0,00%
1,00%
2,00%
3,00%
4,00%
5,00%
6,00%
7,00%
8,00%
19
14
19
16
19
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20
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24
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30
19
32
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36
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40
19
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19
48
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50
19
52
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54
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58
19
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19
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66
19
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Taufziffer (1914-1969)
0
250
500
750
1000
1250
1500
1750
2000
2250
2500
19
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19
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Mitgliederverluste
Austritt/ Streichung
Ausschluss
Auswanderung
68
Diagramm 5:
0
10000
20000
30000
40000
50000
60000
70000
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19
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19
32
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38
19
40
19
42
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19
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Sonntagschüler (1914-1969)
Humboldt-Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät I
Institut für Geschichtswissenschaften
Name: ______________________________ Vorname: ________________________
Matrikelnummer: _________
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG zur
o Hausarbeit o Magisterarbeit o Bachelorarbeit o Masterarbeit
Ich erkläre ausdrücklich, dass es sich bei der von mir eingereichten schriftlichen Arbeit mit dem Titel:
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__________________________________________________________________________________
um eine von mir erstmalig, selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasste Arbeit handelt.
Ich erkläre ausdrücklich, dass ich sämtliche in der oben genannten Arbeit verwendeten fremden Quellen, auch aus dem Internet (einschließlich Tabellen, Grafiken, u.Ä.) als solche kenntlich gemacht habe. Insbesondere bestätige ich, dass ich ausnahmslos sowohl bei wörtlich übernommenen Aussagen bzw. unverändert übernommenen Tabellen, Grafiken u. Ä. (Zitaten) als auch bei in eigenen Worten wiedergegebenen Aussagen bzw. von mir abgewandelten Tabellen, Grafiken u. Ä. anderer Autorinnen und Autoren (Paraphrasen) die Quelle angegeben habe.
Mir ist bewusst, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Selbstständigkeit als Täuschung betrachtet und entsprechend der Prüfungsordnung und/oder der Allgemeinen Satzung für Studien- und Prüfungsangelegenheiten der HU (ASSP) geahndet werden.
Datum: ____________ Unterschrift: __________________________