Kleists Talsperre. Geschichte eines Zusammenbruchs

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Corso di Laurea in Lingue e Civiltà Moderne e Contemporanee Prova finale di Laurea Kleists Talsperre -La diga di Kleist- Relatrice Dott.ssa Stefania Sbarra Correlatrice Prof.ssa Andreina Lavagetto Laureando Moreno Caronello Matricola 820748 Anno Accademico 2010 / 2011

Transcript of Kleists Talsperre. Geschichte eines Zusammenbruchs

Corso di Laurea in

Lingue e Civiltà Moderne e

Contemporanee

Prova finale di Laurea

Kleists Talsperre

-La diga di Kleist-

Relatrice

Dott.ssa Stefania Sbarra

Correlatrice

Prof.ssa Andreina Lavagetto

Laureando

Moreno Caronello

Matricola 820748

Anno Accademico

2010 / 2011

Inhaltverzeichnis

Vorwort – Kleists Talsperre Seite 1

Kapitel 1: Verneinungspartikeln Seite 5

Kapitel 2: Gedankenstriche Seite 10

Kapitel 3: Polarverhältnis: + und – Seite 16

Kapitel 4: Daß-Komplex Seite 24

Kapitel 5: Zukunft Seite 28

Kapitel 6: Talsperre Seite 35

Bibliographie Seite 40

1

„ Solche Mißgriffe, setzte er abbrechend

hinzu, sind unvermeidlich, seitdem wir von

dem Baum der Erkenntnis gegessen haben.

Doch das Paradies ist verriegelt und der

Cherub hinter uns; wir müssen die Reise

um die Welt machen, und sehen, ob es

vielleicht von hinten irgendwo wieder offen

ist. […] Es scheine, versetzte er, indem er

eine Prise Tabak nahm, daß ich das dritte

Kapitel vom ersten Buch Moses nicht mit

Aufmerksamkeit gelesen; und wer diese

erste Periode aller Menschlicher Bildung

nicht kennt, mit dem könne man nicht

füglich über die folgenden, um wie viel

über die letzte, sprechen.“ (SW III, 557-558)

Über das Marionettentheater

Kleists Talsperre

Vorwort

László F. Földényi vergleicht Heinrich von Kleists Welt

mit einem Netz. Mindestens findet er in der Form des

Netzes ein gutes Beispiel, um die Gesamtheit dieser Welt

zu beschreiben: Ein Netz besteht aus Schnüren, die in

Knoten geschlungen sind und alle Knoten sind

miteinander verbunden. Jeder Knote stellt etwas

Unverständliches dar, das Kleist nicht erklären konnte und

worüber er sich Fragen stellte. Die Knoten sind aber auch

verbunden. Besser gesagt: Sie existieren, weil die anderen

Knoten ihre Schnüre freilassen. Genau wie Fangarme

greifen sie andere Schnüre und formen sie andere Knoten.

Diese Verbindungen machen das Netz so gefährlich: Ein

Haufen von Knoten wäre vollkommen harmlos, aber ein

so gewebter Netz ist vollkommen tödlich.

Einem Knoten folgt ein anderer: Der Zweite existiert,

weil der Erste geschlungen wurde. Hätte man sich nichts

gefragt (schon am Anfang), würden keine Knoten

existieren. In der Geschichte der Menschheit wollte man

alles am Anfang wissen. Der Mensch wollte die Frucht von

dem Baum der Erkenntnis essen, sogar wenn Gott ihn

gewarnt hatte. Hätte man Gottes Warnung befolgt, würde

man nichts wissen und noch im Eden wohnen. Der

Mensch hat das Kostbarste verloren, weil er wissen

wollte. Er hat sich eine Frage gestellt und alles war

verloren. Jetzt muss man sich Fragen stellen, weil man

diese Welt nicht kennt. Um diese Welt zu erklären, muss

man sich ein Netz weben.

Földényi hat Kleists Versuch das Leben zu überleben als

2

ein Netz beschrieben. Einerseits hat sich Kleist Fragen gestellt auch wenn er wusste, dass er das

nicht tun sollte; anderseits braucht Kleist diese Fragen, um sich eine Talsperre zu schaffen. Diese

Talsperre stoppt den Fluss von Fragen in einem See und ermöglicht andere fast geordnete

Gedanken. Kleist sucht eine Theorie, eine Denkart, die ihm erlaubt, seinen Platz in dieser Welt zu

finden. Mit anderen Worten: In der Welt zu leben –das Leben zu überleben. Die Talsperre

funktioniert aber nur provisorisch: Die Fragen fließen in ein Meer, das sich in Wolken verwandelt

und wieder als Regen in die Talsperre fallen.

Die Talsperre ist aber auch ein Versuch, den Kleist nicht übernehmen möchte. Diese Limitation

zwingt ihn, einen Mittelweg zu entscheiden, sogar wenn er alle Mittelstraßen hasst. Das ist was er

in seinem ersten, 1799 entstandenen Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, und

ungestört, auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen mitteilt:

„Sosehr ich jetzt noch die Mittelstraßen aller Art hasse, weil ein natürlich heftiger Trieb im

Innern mich verführt, so ahnde ich dennoch, daß Zeit und Erfahrung mich einst davon überzeugen

werden, daß sie dennoch die besten seien“ (SW III,522).

Zeit und Erfahrung werden ihn 1810 zu einem Allerneuesten Erziehungsplan führen: Hier

schreibt Kleist von einer Schule, die die Tugend durch das Laster lehren sollte. Das Lernen als eine

Gegenreaktion der Erfahrung. Das ist keine Mittelstraße. Das ist die Straße der Opposition. Um

eine Opposition zu schaffen, braucht man zwei gegensätzliche Begriffe. Entweder – oder. Keinen

Mittelpunkt.

Die Talsperre hat einen Riss. Der See von Fragen zerfrisst die Berge um das Tal herum, wo die

Talsperre steht. Kleist glaubt nicht mehr an dem, was er am Anfang zu glauben versuchte.

Vielleicht wusste er es schon am Anfang. Seine Werke sind die Frucht des Bruchs seiner Talsperre:

Kleist kann die Welt nicht als „entweder-oder“ sehen, er findet kein Gleichgewicht. Vielleicht

glaubte aber Kleist, dass die Welt genau aus Oppositionen besteht. Deshalb beschreibt er sie als

zerbrechlich. Die Fluten in der Talsperre zerfressen die Berge (die Teil der Welt sind), weil sie von

vornherein zerbrechlich sind. Alles hängt von der Gebrechlichkeit ab. Die Welt selbst.

Wahrscheinlich ist sie einfach unerklärlich. Man soll sie einfach so hinnehmen. Ohne Fragen, ohne

Mittelstraße, ohne Talsperre. Das wäre kein Mittelweg, deshalb könnte ihn Kleist durchlaufen.

Fragen sind das, was Kleist nicht vermeiden kann. Er muss einen Weg entscheiden, er muss eine

Antwort finden. Dennoch weiß er, schon am Anfang seines Werkes, dass es sehr gefährlich ist. Alle

3

VI

“Icicles filled the long window

With barbaric glass.

The shadow of the blackbird

Crossed it, to an fro.

The mood

Traced in the shadow

An indecipherable cause.”

Wallace Stevens

Thirteen Ways of Looking at a Blackbird

Figuren in seinen Erzählungen und Dramen sind paradox, sie enthalten zwei Pole, einen positiven

und einen negativen Pol. Beide Pole sind essentielle Bestandteile aller Figuren (und auch Kleists).

Kleists Werk ist paradox, wie Földényi unterstreicht:

„Seine ganze Dichtung ist eine gewaltige Öffnung, durch die er diesem Ideal (dem der

bürgerlichen Kultur) entkommen will – ein Tunnel, in den er seine Figuren als nüchterne,

besonnene, umsichtige Menschen, also als Musterschüler der bürgerlichen Ideale, hineinführt,

und den sie am anderen Ende alle als unverständliche, entsetzliche, unbegreifliche, verzweifelte

Wesen, als „lebendige Leichen“ wie Penthesilea verlassen“.1

Kleists Werk existiert dank dieser Spannung. Seine Erzählungen, seine Figuren, seine Dramen,

seine Briefe und Aufsätze, sein ganzes Denken enthalten und stellen einen Riss in der Talsperre

(oder einen Knoten im Netz) dar. Kleist versucht, einen Mittelweg zu wählen, aber er kann das

nicht ertragen. Seine Helden können das nicht ertragen. Unvermeidlich werden sie das Gegenteil

von dem, was sie sind: es scheint, als ob sie einer mathematischen Regel folgten. Der Regel des

Plus und Minus. Kleist beschreibt sie als eine physische Regel der Elektrizität. Wir werden sehen,

wie sie auswirkt und ob Kleist diese Idee schon am Anfang seines Werkes im Kopf hatte. Die

Bestandteile unserer zerbrechlichen Talsperre werden als Stichworte vorgestellt, genau wie sie die

Knoten eines Netzes in Földenyis Wörterbuch Im Netz der Wörter darstellen.

* * *

In dieser Arbeit befinden sich einige Auszüge am Rande

des Textes. Sie stehen dort, um Zitate des Textes zu

vervollständigen, oder um den Text selbst zu integrieren.

Manchmal sind sie im Einklang mit dem, was gesagt wird.

Manchmal stellen sie sein Gegenteil vor, sie sind wie die

andere Seite derselben Medaille. Die Quelle dieser Auszüge

folgt der des amerikanischen Schriftstellers Wallace Stevens

in seinem Gedicht von 1917, Thirteen Ways of Looking at a

Blackbird, wo keiner Ausblick kann wahrer als die andere

sein. Alle dreizehn Ausblicke zusammen wären nicht wahrer

als nur einer von der dreizehn. Es ist möglich, dass die wahre

1 László F.Földényi, Heinrich von Kleist – Im Netz der Wörter, Budapest, 1999, S.319

4

Amsel nur in unseren inneren Augen gesehen werden kann, und das wäre der vierzehnte Blick, der

alle anderen enthält. Das geschieht auch mit Kleists Werken: Sie behaupten etwas und ihren

Gegensatz, sie geben Raum für weitere –manchmal entgegengesetzte- Gedanken. Gleichzeitig

schaffen sie neue Luft und ersticken sie uns. Wir werden in Kleists Netz ergriffen, und mit dem

Wasserfall seiner Talsperre fortgerissen.

5

„Sie warf sich ihm, der ihr den

Rücken zugekehrt hatte, eben

zu Füßen, und umfaßte

zitternd seine Kniee, als ein

Pistol, das er ergriffen hatte, in

dem Augenblick, da er es von

der Wand herabriß, losging,

und der Schuß schmetternd in

1

Verneinungspartikeln

„Er gefällt und mißfällt mir“ (SW III, 157). Das ist, was die

Marquise von O… vom Grafen F… denkt. Sie kann sich nicht genauer

ausdrücken, sie kann diese Dualität nicht verstehen. Sie ist

schwanger geworden, aber sie weiß nicht wie und von wem. Den

Augenblick der sexuellen Freude hat sie verdrängt, in diesem

Augenblick war sie in Ohnmacht gefallen.

Wie könnte sie klare Ideen über den Grafen haben? Wie könnte

sie diese Ideen deutlich ausdrücken? Das ist das Unaussprechliche.

Es kann nicht erklärt werden. Also ist es auch das Unerklärliche. Die

Situation könnte erklärt werden, und doch kann sie es nicht, weil die

Marquise den wichtigsten Augenblick vergessen hat. Sie wollte

diesen Augenblick vergessen. Die Verneinungspartikel „un-“

unterstreicht die Un-Möglichkeit von etwas. Die Bedeutung des

ursprünglichen Wortes wird noch gespürt, und doch ist sie geändert

worden. Vielleicht ist das, was uns am meisten stört: Wir fühlen, dass

wir irgendwelche Erklärung finden können, aber die

Verneinungspartikel zieht uns zurück wie ein Gummiband.

Diese verneinten Worte (unabänderlich, unangenehm, Unart,

unbedacht, unbrauchbar, unerträglich, un…) enthalten Kleists

Paradox. Gleichzeitig bedeuten sie etwas und sein Gegenteil. Sie

enthalten den Plus und Minus, und ihre Bedeutung ist immer

negativ. Das Paradox hat kein Gleichgewicht, es ist wie eine Frage,

die mit „ja“ aber auch mit „nein“ beantwortet werden kann. Die

Marquise hat keine Ahnung davon, was ihr gerade passiert, und

dennoch ist sie beschlossen, nicht mehr mit ihrem Vater zu wohnen,

wenn er an sie nicht glauben will. Sie ist unschuldig, aber sie zieht ins

Landeshaus mit ihren Kindern um. Hier ist, was der Erzähler uns über

sie mitteilt, als sie das väterliche Haus verlassen hat:

6

die Decke fuhr. Herr meines

Lebens! rief die Marquise,

erhob sich leichenblaß von

ihren Knieen, und eilte aus

seinen Gemächern wieder

hinweg. Man soll sogleich

anspannen, sagte sie, indem

sie in die ihrigen trat; setzte

sich, matt bis in den Tod, auf

einen Sessel nieder, zog ihre

Kinder eilfertig an, und ließ die

Sachen einpacken.“ (SW III,

166)

Die Marquise von O…

„Ihr Verstand, stark genug, in ihrer sonderbaren Lage nicht zu

reißen, gab sich ganz unter der großen, heiligen und unerklärlichen

Einrichtung der Welt gefangen.“ (SW III, 167)

Sie spürt, dass etwas Falsches mit ihrer Geschichte passiert ist,

aber sie stellt sich keine Frage darüber. Sie folgt ihrem Schicksal. Die

Welt wurde unerklärlich eingerichtet, warum sollte sie die rechte

Einrichtung finden? Alles das, was sie interessiert, ist ihre Unschuld.

Sie braucht keine Frage, keine Talsperre für ihren Fragenfluss. Die

Welt ist unerklärlich und sie selbst ist Teil dieser Welt, was sollte sie

dagegen tun? Unbewusst wurde sie schwanger, aber ihre paradoxe

Lage kann sie retten. Sie ist stark genug, dass sie keine Erklärung

braucht.

Die Marquise macht nicht, was Michael Kohlhaas leistet. Er ist

rechtschaffen und entsetzlich. Er weiß schon, was er will. Sein Recht.

Die Situation ist ganz klar in Kohlhaas´ Augen: Er wurde vom Junker

Wenzel von Tronka betrogen und er will zuerst Gerechtigkeit, dann

aber auch Vergeltung. Von dem Augenblick, in dem er versteht, dass

der Junker seine Rappen grundlos und mit schädlichen Folgen auf

dem Land verwendet hat, fasst er seinen Entschluss:

„Das sind die Pferde nicht, die dreißig Goldgülden wert waren!

Ich will meine wohlgenährten und gesunden Pferde wieder haben!“

(SW III, 27).

Von diesem Augenblick an wird er seinen Entschluss nicht

ändern. Er legt Tronkas Schloss in Asche, er steckt Leipzig dreimal in

Brand, mit dem Schwert sucht er nach seiner Vergeltung. Er will

Ordnung in die Welt bringen. Als er in Leipzig den Junker nicht

finden kann, schreibt er ein Mandat, in dem er sich „einen

Statthalter Michaels, des Erzengels“ (SW III, 73) nennt und wo er

behauptet, dass er „mit Feuer und Schwert, die Arglist, in welcher

die ganze Welt versunken sei“ (ebd.) bestrafen will. Er will die

Einrichtung der Welt verbessern, von seinem Standpunkt.

7

„Kohlhaas schäumte vor

Wut, als er diesen Brief

empfing […] und mitten

durch den Schmerz, die

Welt in einer so

ungeheuren Unordnung

zu erblicken, zuckte die

innerliche Zufriedenheit

empor, seine eigene Brust

nunmehr in Ordnung zu

sehen.“ (SW III, 47)

Michael Kohlhaas

Kohlhaas, wie Kleist, schafft sich eine Talsperre, oder einen Netz:

Zuerst fragen sie sich, ob ein Defekt nicht in ihnen liegt, oder ob die

Welt falsch eingerichtet sei. Kleist sucht die Antwort, Kohlhaas hat

schon beschlossen, dass es die Welt ist, die gegen ihn, den Gerechten,

steht. Von nun an eskalieren Kohlhaas´ Taten. Die Kette seiner Schritte

fesselt ihn am Schafott. Kohlhaas´ Talsperre zerbricht, sobald er seine

Antwort gefunden hat. Die Wassermenge fällt auf die zerbrechliche

Welt und zerstört alles, Kohlhaas selbst. Er verfängt sich in seinem Netz.

Die Marquise ist frei von Talsperren und Netzen aller Art: sie fragt

sich nichts, findet keine Antwort und wird von den Ereignissen vorwärts

getrieben. Deshalb rettet sie sich. Sie kann an keine Erklärung für die

Welt denken, und konsequenterweise sucht sie keine. Hätte Kohlhaas

sich nichts gefragt, hätte er die Welt in ihrer Unbegreiflichkeit

akzeptiert, hätte er vielleicht sein Leben gerettet. Er hätte nicht sein Ziel

erreicht, aber er wäre nicht getötet worden. Ihm geschieht, was Kafkas

Joseph K. passiert ist: Er hat sich gegen den Prozess, gegen das Leben

gestellt. Er hat weder seinen Prozess noch sein Leben akzeptiert. Der

Prozess war sein Leben und er hat sich darüber Fragen gestellt. Die

Antwort, die er gefunden hat, entsprach nicht seinen Erwartungen: Es

war nicht, was er aus seinem Leben wollte. Er hatte ein anderes Ziel.

Kleist bringt sich um, weil er sein Ziel nicht erreichen kann. Er kann

weder einen Entschluss in seinem Leben treffen, noch kann er die Welt

nach seinen Erwartungen erklären. Kleist hat keinen Platz auf dieser

Welt. Er will keine Mittelstraße gehen. Er will sich Fragen stellen, aber

er kann keine befriedigende Antwort finden.

Warum sollte er in der Armée bleiben? Dort findet er nicht, was er

sucht. Er will etwas Anderes werden. Er weiß, dass er eine andere

Bestimmung hat. Wie sollte er seine Vervollkommnung verwirklichen?

Er beschließt, dass er studieren will. Damit hat er schon auf einige

Fragen geantwortet, die er sich gestellt hatte. Er plant sein Leben, um

für den Zufall vorbereitet zu sein.

8

„Tandis que le

gouvernement et les lois

pourvoient à la sureté et

au bien-être des

hommes assemblés, les

Im Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden beschließt er, dass

das Glück sich im Innern gründen muß. „…der Inbegriff aller Dinge muß

die Ursachen und die Bestandteile des Glückes enthalten“ (SW III,

515), und mehr: „…so ungerecht kann Gott nicht sein, es muß ein

Glück geben, das sich von den äußeren Umständen trennen läßt, alle

Menschen haben ja gleiche Ansprüche darauf, für alle muß es also in

gleichem Grade möglich sein.“ (SW III, 516) Diese willkürliche

Entscheidung, die auch die Frucht der deutschen Aufklärung ist, führt

Kleist zur Verneinung anderer Möglichkeiten, nämlich die nach denen

das Glück außer uns liegen kann. Das ist ein Versuch, die ungeordnete

Welt in Ordnung zu bringen. Kleist will seinem Leben eine sinnvolle

Richtung geben, etwas Sicheres für sich planen. Vor dem Zufall fliehen.

Das Studium der Physik, des Rechtes und der Philosophie hätte ihm

das Glück schaffen sollen.

Leider, wie ein verneintes Wort in seiner Bedeutung zurückgezogen

wird, gerät Kleist in seine Kant-Krise. Die Kant-Krise funktioniert in

Kleists Gedanken wie ein Gummiband. Die Welt wird wieder

unerklärlich. Sie ist auch unbeschreiblich: die Mittel, über die wir

verfügen, sind nicht ausreichend, um sie zu verstehen. Was wir sehen

ist kein Inbegriff, es ist kein „Ding an sich“. Das werden wir nie kennen,

eigentlich könnten wir es nicht verstehen, weil wir nur durch

Phänomena denken können, aber die Welt besteht aus Noumena - die

„Dinge an sich“. Selbst unser Denken ist nur ein Phänomenon, deshalb

ist auch jede Wissenschaft etwas, das wir nicht gründlich verstehen

können. Wir können nicht im Innern der Wissenschaften sehen und

diese (die Wissenschaft) sollte uns die Möglichkeit geben, in unser

Inneres einen Blick zu werfen. Man kann nicht prüfen, ob das Glück im

Innern ist.

Mit der Kant-Krise macht Kleist einen Schritt zurück: mit Rousseaus

Discours sur les arts et les sciences macht Kleist zwei Schritte zurück.

Die Welt ist unerklärlich, der Zufall ist unvermeidlich und die

9

sciences, les lettres et

les arts, moins

despotique et plus

puissants peut-être,

étendent des guirlandes

de fleurs sur les chaînes

de fer dont ils sont

chargés, étouffent en

eux le sentiment de

cette liberté originelle

pour laquelle ils

semblaient être nés, leur

font aimer leur

esclavage, et en forment

ce qu’on appelle des

peuples policés.“

Rousseau

Discours sur les sciences

et les arts

Wissenschaften sind nutzlos. Rousseau behauptet, dass die Kunst und

die Wissenschaft unnatürlich sind, sie stellen das Verderben der

moralischen und physischen Kraft des Menschen dar. Wir brauchen

und verwenden die Wissenschaften, um uns ein einfacheres Leben zu

schaffen. Um das Leben zu genießen, existieren die Wissenschaft und

die Kunst, aber sie führen uns nicht zur Tugend, sondern zum Laster.

„Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe.“ (SW III,

522)

Der Mensch ist „weibisch“ geworden: Je mehr er gebildet ist, desto

weniger ist er tugendhaft. Der Mensch ist unmenschlich: Gleichzeitig ist

er eine Person und etwas anderes. Vielleicht kann Kleist diese

Verwandlung nicht ertragen; er spürt, dass das, was er jetzt gerade tut,

studieren, für den Menschen sinnlos ist. Als ob er selber ein verneintes

Wort wäre, versucht sich Kleist auszudrücken und bedient sich des

Wortes „Studium“. Nach Rousseaus Theorie, erschöpft die

Wissenschaft seine Menschlichkeit.

Kleist wollte trotzdem der größte Stückeschreiber seiner Zeit

werden. Er kann nicht ohne Kultur als Mensch existieren, nicht als der

Mensch, der er sein will. Kleist ist paradox, wie alle seine Figuren. Er ist,

genau wie sie, un-etwas. Er kann sich nicht gut erklären, seine Figuren

finden keine geeigneten Worte dazu. Die Welt selbst ist unbegreiflich.

Kleist benimmt sich paradoxerweise, er braucht die Kultur und möchte

sie nicht in seinem Werk benützen, aber es muss so sein. Auch seine

Figuren haben ein widersinniges Benehmen. Sie sind, wie er, allein.

Sein Leben ist wie eine Verneinungspartikel, er will etwas behaupten

und gleichzeitig etwas verneinen. Seine Literatur ist eine Spiegelung

seiner Persönlichkeit, seine Figuren enthalten dasselbe Paradox, das er

enthält. Sie wohnen mit einer Talsperre hinter ihnen, die einen Riss auf

ihrer Oberfläche hat.

10

„Die Hebamme, während

sie sich von demselben

unterrichtete, sprach von

jungem Blut und der

Arglist der Welt; äußerte,

als sie ihr Geschäft

vollendet hatte,

dergleichen Fällen wären

ihr schon vorgekommen;

die jungen Witwen, die

in ihre Lage kämen,

meinten alle auf wüsten

Inseln gelebt zu haben;

2

Gedankenstriche

Kleists Talsperre besteht aus verschiedenen Teilen: Es ist ganz

schwer, eine ausführliche Erklärung für alle Bestandteile zu finden.

Kleist selbst kann sich keine Lösung dafür vorstellen. Woraus besteht

sein Leben? Woraus besteht das Leben? Manchmal sagt er einfach

nichts darüber. Dennoch schreibt er etwas. Die Gedankenstriche, die er

verwendet, unterstreichen einen Gedanken, der nicht durch Worte

formulierbar ist.

Der Gedankenstrich taucht immer im Zusammenhang mit einem

Konflikt auf:

„Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen,

Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut

aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf

zurück.“ (SW III, 14) Dieser Gedankenstrich ist gewalttätig, wie der

Umstand selbst, in dem er erscheint: Es gibt einen Kampf; die Marquise

wird von dem Graf gerettet, der ein Russe (also ein Feind) ist; alles steht

in Brand, außer diesem Teil der Zitadelle; die Marquise ist vom Graf

fasziniert, er sieht wie ein Engel aus und doch vergewaltigt er sie.

Kontraste und Konflikte: Auf ihrer Stelle erscheint der Gedankenstrich.

Er stellt das Dritte der Opposition dar. In diesem Augenblick wird der

Graf gleichzeitig Teufel und Engel, und so kann er sein. Diese sind zwei

Bestandteile seiner Persönlichkeit, aber die Marquise ist nicht in der

Lage, beide zusammen zu akzeptieren. Sie denkt immer nach einem

entweder-oder Muster, wie der Rest ihrer Familie. Deshalb wird sie von

ihrem Vater aus seinem Haus geworfen, deshalb sagt ihr die Mutter:

„Ein reines Bewußtsein, und eine Hebamme!“ (SW III, 162-163)

Niemand will sich eine dritte Möglichkeit überlegen, nämlich dass die

Marquise unschuldig schwanger geworden ist. Das passiert im Raum

des Gedankenstriches. Er funktioniert wie ein Trompe-l´oeil: Die

11

beruhigte inzwischen die

Frau Marquise, und

versicherte sie, daß sich

der muntere Korsar, der

zur Nachtzeit gelandet,

schon finden würde. Bei

diesen Worten fiel die

Marquise in Ohnmacht.“

(SW III, 164-165)

Die Marquise von O…

Erzählung besteht aus Zwei Dimensionen und der Gedankenstrich schafft

die Dritte2. Er ist das Mögliche schlechthin. Er kann nicht leicht

verstanden werden, noch kann er leicht beschrieben werden. Das

geschieht mit der Erzählung der Marquise von O… . Der Autor weiß, was

er schreiben wird. Der Erzähler kann das aber nicht mitteilen: Wir

würden alles sofort erfahren. Kleist wird von seiner Erzählung

gezwungen: Die Narration fällt in Ohnmacht mit der Marquise. Das, was

bleiben kann, ist ein Zeichen dieses Unaussprechlichen, nämlich der

Gedankenstrich.

Buchstaben stellen einen Laut dar. Wenn man „O“ liest, weiß man

schon, wie man den Buchstaben aussprechen soll. Wie sollte man „ - “

lesen? Es gibt keinen Laut, oder besser gesagt: Das Schweigen ist der

„Laut“ des Gedankenstriches. Es ist aber kein Schweigen, das nach einer

Komma oder nach einem Punkt kommt. Diese Schweigen enthalten die

Bedeutung von „Pause“ (Komma), oder „längere Pause“ (Punkt). Diese

Pausen bedeuten nichts besonderes in sich. Das Schweigen des

Gedankenstriches ist bedeutungsvoll: Es bedeutet das Dritte. Dieses

Zeichen ist schöpferisch: Es ist unaussprechlich (es kann nicht gesagt

werden) und doch teilt es eine ganze Welt mit. Das Schreiben wird nicht

nur ein Mittel, das die Wirklichkeit beschreibt (wie der Buchstabe einen

Laut), sondern es ist real, es schafft Wirklichkeit.

Genau wie mit verneinten Worten muss Kleist ein neues Mittel

finden, um seine Welt zu beschreiben. Das Schweigen ist genauso

gewalttätig wie die Worte. Ein Beispiel dafür ist der Dialog zwischen

Kohlhaas und Lisbeth, als der Rosshändler ihr seinen Entschluss mitteilt.

Nach jedem Satz findet man einen Gedankenstrich:

2 László F.Földényi, siehe Anm.1, S. 155

12

„Der Graf fuhr fort, indem er sich die

Stirn rieb, daß wenn irgend Hoffnung

wäre, dem Ziele seiner Wünsche

dadurch näher zu kommen, er seine

Reise auf einen Tag, auch wohl noch

etwas darüber, aussetzen würde, um

es zu versuchen. – Hierbei sah er, nach

der Reihe, den Kommandanten, die

Marquise und die Mutter an.“ (SW III,

153)

Die Marquise von O…

„- Wie? Ich soll nach Schwerin gehen? … Und das

Entsetzen erstickte ihr die Sprache. –Allerdings, antwortete

Kohlhaas, und das, wenn es sein kann, gleich, damit ich in

den Schritten, die ich für meine Sache tun will, durch keine

Rücksichte gestört werde. – «O! ich verstehe dich!» rief sie.

«Du brauchst jetzt nichts mehr, als Waffen und Pferde; alles

andere kann nehmen, wer will!» Und damit wandte sie sich,

warf sich auf einen Sessel nieder, und weinte. –„ (SW III, 55)

Es ist, als ob nach jedem Satz Lisbeth und Kohlhaas

atmeten, schwierig atmeten. Jede Frage und jede Antwort

wird überlegt im Zeitraum des Gedankenstriches. Während

dieser Momente wird Lisbeths Tod festgesetzt. Kohlhaas

Gedankenstriche meinen seinen Entschluss: Er wird nichts

gegen ihn leisten, er wird keinem Wort von seiner Frau

zuhören. Lisbeths Gedankenstriche verstecken ihre

Verzweiflung und allmählich wird sie bereit, ihrem Mann zu

helfen. Das sagt sie ihrem Mann noch nicht, sie weiß noch

nicht gerade, was sie für ihn tun kann. Noch entschlossener

wird sie, als sie ihres Mannes längeres Schweigen hört:

„Kohlhaas sagte betroffen: liebste Lisbeth, was machst

du? Gott hat mich mit Weib und Kindern und Gütern

gesegnet; soll ich heute zum erstenmal wünschen, daß es

anders wäre? - - -„ (ebd.).

Nach drei Gedankenstrichen hat Lisbeth verstanden,

dass sein Mann während dieser Zeit über seine ganze Heirat

mit ihr nachgedacht hat, jetzt hat sie Angst vor seinem

Entschluss. Sie kann nicht mehr sprechen.

13

DER PRINZ VON HOMBURG: „Schlug meiner Leiden letzte Stunde?“

STRANZ: „Ja! – Heil dir und Segen, dass du bist es wert!“

([…]Der Prinz fällt in Ohnmacht.)

„…was soll ich tun? Soll ich meine Sache aufgeben? Soll ich

nach der Tronkenburg gehen, und den Ritter bitten, daß er mir

die Pferde wieder gebe, mich aufschwingen, und sie dir herreiten?

– Lisbeth wagte nicht: ja! ja! ja! zu sagen – sie schüttelte weinend

mit dem Kopf, sie drückte ihn heftig an sich, und überdeckte mit

heißen Küssen seine Brust.“ (ebd.)

Auf die drei Gedankenstriche antwortet sie mit keinem „ja!“,

sie sagt kein „nein!“, sondern sie schweigt. Wie Földényi

geschrieben hat, ist das ein bedeutungsvolles Schweigen.3 Das hört

Kohlhaas, er versteht „nein!“, aber seine Frau meinte „ja!“. Der

Gedankenstrich (hier in der Form eines ungesagten „ja!“), ändert

die Bedeutung und das Wort bleibt unberührt. Jetzt weiß Lisbeth,

wie sie ihrem Mann helfen kann. Und sie hat ihr Todesurteil

unterschrieben. Sie hat beschlossen, etwas zu tun. Würde sie mit

ihren Kindern bleiben, würde ihr nichts geschehen. Sie kämpft

gegen das Schicksal seines Mannes, und wird, wie er, sterben.

Das Unaussprechliche des Lebens der Figuren von Kleist wird

also nicht nur durch einen „graphischen“ Gedankenstrich

dargestellt, sondern auch durch etwas Umformuliertes. Das

geschieht in der Verlobung in Santo Domingo: Als Gustav mit Toni

schläft, wird sie Szene nicht explizit beschrieben.

„Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es

jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst liest.“ (SW III, 238)

Kleist erzählt nicht, was geschieh, und doch ist dieses Ereignis

für die Erzählung entscheidend: Beide Figuren haben sich ihren

Tod versichert. Genau wie Lisbeth und Kohlhaas.

Der Gedankenstrich liegt in der Mitte aller Konflikte und

Oppositionen: Mann und Frau, Recht und Unrecht, weiß und

schwarz, Wahrheit und Unwahrheit. Der Gedankenstrich ist immer

das Dritte. Er ist der Riss in der Talsperre. Er könnte Kleists Version

3 László F.Földényi, Heinrich von Kleist – Im Netz der Wörter, Budapest, 1999

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NATALIE: „Himmel! die Freude tötet ihn!“

*…+ (Augenblickliches Stillschweigen)

DER PRINZ VON HOMBURG: „Nein, sagt! Ist es ein Traum?“

KOTTWITZ: „Ein Traum, was

sonst?“ (SW II, 643-644)

Prinz Friedrich von Homburg

von Kants Noumenon sein: Er kann nicht verstanden werden,

doch existiert er und ist das einzige Ding, das sein kann. Manchmal

stellt er für Kleists Figuren die einzige Möglichkeit dar: Der

Gedankenstrich ist die Ohnmacht, in die sie fallen, wenn sie keine

Erklärung mehr finden können, wenn sie Keine Lösung in Sicht

haben. Das, was den Figuren passiert, ist nur das Phänomenon,

was wir sehen und verstehen können. Manchmal verstehen wir

noch die Ereignisse, die dem „Gedankenstrich“ folgen.

„Piachi traute seinen Sinnen nicht; durch diese unerhörte

Frechheit wie entwaffnet, *…+ lief augenblicklich zu seinem alten

Rechtsfreund, dem Doktor Valerio, klingelte eine Magd heraus, die

ihm öffnete, und fiel, da er sein Zimmer erreicht hatte, bewußtlos,

noch ehe er ein Wort vorgebracht hatte, an seinem Bett nieder.“

(SW III, 281)

Dieses Ereignis ist das Ergebnis der Szene von dem Findling, als

Piachi Nicolo aus dem Haus werfen will. Elvire sagt Piachi etwas,

das gerade nicht mitgeteilt wird. Warum fällt Piachi in Ohnmacht?

Was hat Elvire ihm gesagt? Földenyi hat einige Vermutungen4, die

eigentlich Fragen sind: Verhöhnt Elvire ihren impotenten Mann?

Lässt sie ihn wissen, dass es sie von ihm schon immer geekelt hat?

Kündigt sie an, dass sie mit Nicolo fliehen will? Diese Fragen stellt

sich Földenyi, aber alles ist möglich, weil das Dritte nicht gesagt

wird. Auch diese sind Gedankenstriche. Der Leser fällt mit den

Figuren in diese Löcher.

Das Wasser fließt durch den Riss, und endlich zerbricht die

Talsperre. Die Figuren können nicht erklären, was diese

Gedankenstriche bedeuten oder was in ihnen gerade passiert.

Dennoch suchen sie alle eine Antwort – und sterben fast alle.

Die einzige, die sich rettet, ist die Marquise. Warum rettet sie

sich? Weil sie nichts von dem „Gedankenstrich“ wissen will. Sie

4 László F.Földényi, Heinrich von Kleist – Im Netz der Wörter, Budapest, 1999

15

weiß, dass sie unschuldig ist. Das ist das einzige Ding, das sie braucht. Sie nimmt ihr Schicksal an,

nämlich das kommende Kind, und wird damit leben. Kein nutzloser Kampf gegen das Schicksal. Sie

fürchtet sich vor dem 3. Tag, an dem sie den Vater ihres Kindes kennen lernen wird. Hätte sie

gegen ihren Vater gekämpft, um nicht aus dem Haus geworfen zu werden, würde sie von ihrem

Vater erschossen worden.

Die Marquise braucht keine Talsperre, um sich vor ihren eigenen Fragen zu schützen: Sie will

sich keine stellen. Kleist brauchte eine riesige Talsperre für seine Fragen zur Zeit des Aufsatzes des

Glücks, er hat durch seine Fragen über das Dritte (über die Gedankenstriche) den tiefsten Riss

gegraben. Die Talsperre bricht zusammen, weil er keine geeignete Erklärung für die heilige und

unerklärliche Einrichtung der Welt formulieren konnte. Er hatte das selbst in Die Marquise von O…

geschrieben: sie ist unerklärlich. Kant und Rousseau haben ihm Worte und Wissenschaft

genommen, um sie zu erklären. Wie kann Kleist sich retten? Er weiß schon, dass er eine Antwort

nicht finden kann. Er hat das durch seine Figuren erfahren, durch sein eigenes Leben. Und doch

versucht er immer wieder zu verstehen, was für ein Ziel sein Leben haben kann. Keine Antwort,

keine Bestimmung. Er kann keinen Plan formulieren, wie er sich in seinem Aufsatz, den sichern

Weg des Glücks zu finden, und ungestört, auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu

genießen! gewünscht hatte. Als die Talsperre bricht, wird alles durch das Wasser zerstört.

16

„Nicht, als ob sie es mir, im eigentlichen Sinne sagte *…+. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte Frage auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt, *…+. Aber weil ich doch irgend eine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.“ (SW III, 535)

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden

3

Polarverhältnis: + und -

Oppositionen und Kontraste. Zufall und Physik. Kann eine

Verbindung zwischen dem Moralischen und dem Physischen

entstehen? Kann die Welt durch eine universalgültige Regel

beschrieben werden? Das wäre ein großes Ergebnis. Die

unerklärliche Welt würde noch durch den Zufall geregelt, aber

dieser könnte erklärt werden. Der Zufall wäre akzeptabler.

Kleist macht einen Versuch, eine Regel zu finden. Das

beschreibt er in seiner Schrift Über die allmähliche Verfertigung

der Gedanken beim Reden und wird noch stärker in seinem

Allerneusten Erziehungsplan. Kleist glaubt auch, dass Plus und

Minus auch Teile unseres Seins sind. Alle Wesen haben zwei

Pole.

Nach Kleists Theorie kommen wir in verschiedenen

Situationen in Berührung mit entgegengesetzten Polen und

reagieren dementsprechend. In Kleists Schrift hat Dominik Paß

sechs Kontexte gefunden, die Kleist durch die Erklärung der

entgegengesetzten Pole zu beschreiben versucht5. Kleist

konstruiert sechs Beispiele: Die ersten zwei Beispiele stellen

eine inszenierte Dialogsituation dar, nämlich das Beispiel von

Kleist und seiner Schwerster und das von Molière und seiner

Magd. Hier sind die „Dialog-Partner“ nicht aktiv. Kleists

Schwester „kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den

Euler, oder den Kästner studiert“ (SW III, 535), sie ist nicht in

5 Dominik Paß, Die Beobachtung der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden in „Kleist-Jahrbuch“, 2003,

Stuttgart, S. 112-113

17

der Lage, Kleist „durch geschickte Fragen auf den Punkt“ (ebd.) hinzuführen. Dasselbe passiert mit

Molière und seiner Magd: Sie guckt einfach in sein Gesicht an und sagt nichts. Dennoch findet

etwas in diesem „falschen Dialog“ statt:

„ein Blick, der uns einen halbausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt, schenkt

uns oft den Ausdruck für die ganze andere Hälfte desselben.“ (SW III, 536)

Kleist und Molière reagieren nicht auf etwas Gesagtes, sondern ihr Gespräch wird durch eine

Opposition geführt. Sie kommen in Berührung mit einem anderen Pol und dieses elektrische

Verhältnis verfertigt die Gedanken. Noch zwei Beispiele stehen zusammen: der „Donnerkeil“ des

Mirabeaus und die Fabel Lafontaines. Hier reagieren die „Dialog-Partner“ einfach gegen das

Gespräch, das sie beide führen. Mirabeau und der Fuchs in der Fabel wissen noch nicht am

Anfang, was sie sagen sollen. Beim Sprechen und während des Wortwechsels leuchtet ihnen

plötzlich ein, was sie sagen sollen. Der Fuchs muss seine Haut retten, Mirabeau vernichtet den

Zeremonienmeister und damit fängt die Revolution an. Die letzten zwei Beispiele, die Rede in der

„Gesellschaft“ und die Examenssituation sind „Beispiele für eine nicht gelingende Verfertigung der

Gedanken beim Reden“6. Hier ist „der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig“ (SW

III, 538). Hier gibt es kein elektrisches Wechsel, die Pole sind beide positiv oder negativ. Ein

Student soll in einer Prüfung sagen, was der Professor erwartet, zum Beispiel.

Interessant ist das, worauf Mirabeau reagiert. Kleist nennt das „ein Zucken einer Oberlippe“

(SW III, 537), oder ein „zweideutiges Spiel an der Manschette, was in Frankreich den Umsturz der

Ordnung der Dinge bewirkte.“ (ebd.) Die Revolution wäre also eine zufällige Reaktion, die ganze

Geschichte der Menschheit sollte von einem Zucken abhängen. Er gibt eine physische Erklärung:

Mirabeau ist wie ein elektrischer Körper, der Null aus dem elektrischen Standpunkt ist, und er

kommt in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre. Plötzlich wird die entgegengesetzte erweckt

und steigert Mirabeaus Mut bis zur Vernichtung seines Gegners (des Zeremonienmeisters).

6

Dominik Paß, siehe Anm.5, S. 112

18

„ Die Experimentalphysik, in dem Kapitel von den Eigenschaften elektrischer Körper, lehrt, daß wenn man in die Nähe dieser Körper, oder, um kunstgerecht zu reden, in ihre Atmosphäre, einen unelektrischen (neutralen) Körper bringt, dieser plötzlich gleichfalls elektrisch wird, und zwar die entgegengesetzte Elektrizität annimmt. Es ist als ob die Natur einen Abscheu hätte, gegen alles, was, durch eine Verbindung von Umständen, einen überwiegenden und unförmlichen Wert angenommen hat; und zwischen je zwei Körpern, die sich berühren, scheint ein Bestreben angeordnet zu sein, das ursprüngliche Gleichgewicht, das zwischen ihnen aufgehoben ist, wieder herzustellen.“ (SW III, 545)

Allerneuester Erziehungsplan

Kleist bezeichnet das als „eine Merkwürdige

Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der

physischen und moralischen Welt“ (ebd.). Beide Welten

können beschrieben werden, Kleist hat für sie eine

allgemeine Regel gefunden. Noch weiter geht er mit

seinen Versuchen: was könnte geschehen, wenn wir diese

Regeln ausnutzen würden? Sein Versuch verkörpert sich

im Allerneuesten Erziehungsplan.

Weil wir das Dritte in unserem Leben erfahren, ohne es

zu verstehen, sollten wir unsere Aktion über die zwei

Elemente konzentrieren, die wir schon verstehen können.

Das schlägt Kleist im Erziehungsplan vor: Man kennt das

Laster schon, und auch die Tugend. Das Laster ist der

negative Pol, die Tugend ist der Positive. Man muss die

Tugend lehren, d.h. den positiven Pol stimulieren. Negativ

gegen positiv, Kleist denkt an eine Schule, dessen Motto

„Tugend durch Laster“ ist. Dieser Versuch sollte gelingen,

weil die Welt mit ihrer Polarität sich im Menschen

befindet.

Der Erziehungsplan, auch als literarische Schöpfung,

sollte „die Schöpfungsprinzipien der äußeren Natur im

Innern des Menschen“ reproduzieren. „Dies ist Aufgabe

und Zielsetzung der Poesie“, schreibt Jürgen Daiber

darüber7. Er sollte die Aufgabe der Poesie des 18.

Jahrhunderts verwirklichen, wie der Rest der Dichtung von

Kleist. Noch mehr: Die Welt der Meinungen und

Begierden, von Gefühlen, Affekten, Eigenschaften und

Charakteren wird hier beschreibbar. Man kann diese

Gefühle usw. zur Kontrolle bewegen, man kann sie

7 Jürgen Daiber, “Nichts Drittes… in der Natur?“, in Kleist-Jahrbuch, 2005, Stuttgart, S.57

19

„C’est ici le dernier terme de l’inégalité, et

le point extrême qui ferme le cercle et

touche au point d’où nous sommes partis :

c’est ici que toutes les particuliers

redeviennent égaux, parce qu’ils ne sont

rien, et que les sujets n’ayant plus d’autre

loi que la volonté du maître, ni le maître

d’autre règle que ses passions, les notions

du bien et les principes de la justice

s’évanouissent derechef : c’est ici que tout

se ramène à la seule loi du plus fort, et par

conséquent à un nouvel état de nature

différent de celui par lequel nous avons

commencé, en ce que l’un était l’état de

nature dans sa pureté, et que ce dernier est

le fruit d’un excès de corruption.“

Rousseau

Discours sur l’origine de l’inégalité

reproduzieren. Der ganze Prozess wird durch ein „höchst

merkwürdige[s] Gesetz“ (SW III, 546) geregelt, nämlich

das der Elektrizität. Ein Wesen nimmt den Zustand + an,

wenn es von dem Zustand - ist, und den Zustand -, wenn

es von dem Zustand + ist.

„…Um uns auf den Gipfel unserer metaphysischen

Ansicht zu schwingen, erinnern wir den Leser bloß an den

Ursprung, die Geschichte, an die Entwickelung und Größe

von Rom“ (SW III, 549).

Als Rom ihren Gipfel erreicht hatte, war die Stadt

durch Laster vergiftet: Ein negativer Pol (der Laster) hat

irgendwie einen positiven Pol (die Macht des Römischen

Reichs) verursacht. Kleist stellt Rousseaus Theorie des

„guten Naturmenschen“ auf den Kopf. Nach Rousseau

setzt der Untergang von Rom in dem Augenblick

angefangen, wo die Hauptstadt ihren Gipfel erreicht, d.h.

als ihre Einwohner die zivilisiertesten auf der Erde waren

und als sie sich am fernsten vom guten Naturmenschen

befanden.

Vielleicht glaubt Kleist an diesen Erziehungsplan nicht.

Wahrscheinlich ist diese Schrift nur eine Provokation. Das

lässt sich in den Anmerkungen des Verfassers lesen, der

Verfasser kritisiert sich selbst: „So! – Als ob die

pädagogischen Institute nicht, nach ihrer natürlichen

Anlage, schwache Seiten genug darböten!“ (SW III, 550).

Der fingierte Kommentator behauptet noch, dass die

gewöhnlichen Schulen nichts für den Fortschritt der

Menschheit geleistet haben. Dafür schreibt er auch eine

Anmerkung: „In der Tat! - - Dieser Philosoph könnte das

Jahrhundert um seinen ganzen Ruhm bringen.“ (ebd.)

20

„In Erwägung, sagen wir, aller dieser

Umstände, sind wir gesonnen, eine

sogenannte Lasterschule, oder

vielmehr eine gegensätzische Schule,

eine Schule der Tugend durch Laster,

zu errichten †).

*…+

†) Risum teneatis, amici! (Die Redakt.)“

(SW III, 550)

Allerneuester Erziehungsplan

„Kohlhaas löste sich *…+ die Kapsel von

der Brust; er nahm den Zettel heraus,

ent siegelte ihn, und überlas ihn:

Was meint denn Kleist damit?

Sollte man diese Schule öffnen, würde man nur einen Pol

stimulieren: Das ist keine lineare Entwicklung, die sich Kleist

in seinem Aufsatz des Glücks vorgestellt hatte. Dort las man:

„Der Tugend folgt die Belohnung, dem Laster die Strafe“ (SW

III, 522). Alles wirkt regelmäßig aus. Dem Laster folgt kein

Umschwung von Charakter. Kleist weiß schon, als er den

Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden und ungestört,

auch unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu

genießen! schreibt, dass dieser kein Weg sein kann, dem man

folgen kann. Das zerstört seine ursprüngliche

Weltanschauung: Es ist wahr, dass diese Theorie (die des

Erziehungsplans) die Anwesenheit beider Pole in allen

Personen behauptet. Das steht nicht im Gegensatz zu seinem

ersten Aufsatz, man sollte ein Gleichgewicht in sich finden.

Das behauptet Kleist auch im Erziehungsplan: „es *das Kind+

lebt, es ist frei; es trägt ein unabhängiges und eigentümliches

Vermögen der Entwickelung, und das Muster aller

innerlichen Gestaltung, in sich.“ (SW III, 551) Das erschrickt

Kleist: Das Kind hat alle Möglichkeiten in sich, es kann alles

werden. Was es wird, wird von zufälligen Umständen

beschlossen. Kleists natürlicher Charakter enthält beide Pole

und er möchte sie gleichzeitig erfahren, aber er kann nicht. Er

kann nicht Entbehrung und Genießen zusammen erfahren.

Ein Mittelweg muss entschieden werden.

Die Opposition von Polen bleibt trotzdem problematisch,

in ihm und auch in seinen Figuren. Michael Kohlhaas ist

„einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten

Menschen seiner Zeit. -“ (SW III, 13) Nach diesem Satz fügt

Kleist einen Gedankenstrich hinzu, als möchte er die

21

das Auge unverwandt auf den Mann mit

blauen und weißen Federbüschen

gerichtet, der bereits süßen Hoffnungen

Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den

Mund und verschlang ihn. Der Mann mit

blauen und weißen Federbüschen sank, bei

diesem Anblick, ohnmächtig, in Krämpfen

nieder. Kohlhaas aber *…+ wandte sich zu

dem Schafott, wo sein Haupt unter dem

Beil des Scharfrichters fiel. Hier endigt die

Geschichte vom Kohlhaas“ (SW III, 141-142)

Michael Kohlhaas

Ungewöhnlichkeit dieses Charakters unterstreichen.

Kohlhaas ist positiv aus dem elektrischen Zustand, bis

wann er weiß, dass er Recht hat. Er will sich sicher sein,

dass er alles in Ordnung macht, ohne den anderen zu

beschädigen. Alle folgen ihrer Vervollkommnung, und so

er. Als er wirklich und zweifellos weiß, dass er Recht hat,

findet seine „Verwandlung“ statt. Von diesem Augenblick

an wird sein Pol negativ, er wird der Pol der Vergeltung.

Dieser Pol wird wieder neutral, nachdem Kohlhaas sich

auf dem Schafott befindet und das Zettel

niedergeschluckt hat, d.h. nachdem er sein Recht

gefunden hat.

Auch der Graf in der Marquise von O… ist gleichzeitig

ein Teufel und ein Engel. Als er die Marquise rettet, ist er

ein Engel. Als er sie vergewaltigt, wird er ein Teufel. Als er

wiedererscheint, wird er wieder ein Engel. Aber als sie

erfährt, dass er der Vater ihres Kindes ist, ist er wieder ein

Teufel. Die Marquise kann nicht akzeptieren, dass er

beide sein kann. Auch er enthält beide Polen.

Die Liebe der Königin der Amazonen hat gleichzeitig

zwei Seiten: Die Seite der Liebe einer Frau für einen

Mann, und die Seite der Mordlust, als sie Achilles von den

Hunden zerfetzen lässt und selbst in seine Brust beißt. Die

Dualität des Charakters von Penthesilea erscheint

während der ganzen Tragödie. Sie hat gleichzeitig

männliche und weibliche Eigenschaften. Sie ist eine

Führerin und eine Königin. Sie ist auch eine liebende Frau.

22

„Ihr Haar, in dunkeln Locken schwellend,

war ihr, als sie niederknieete, auf ihre

jungen Brüste herabgerollt; ein Zug von

ausnehmender Anmut spielte um ihre

Lippen und über die gesenkten Augen

hevorragenden Augenwimpern; er hätte,

bis auf die Farbe, die ihm anstößig war,

schwören mögen, daß er nie etwas

Schöneres gesehen. Dabei fiel ihm eine

entfernte Ähnlichkeit, er wußte noch selbst

nicht recht mit wem, auf, die er schon beim

seinem Eintritt in das Haus bemerkt hatte,

und die seine ganze Seele für sie in

Anspruch nahm.“ (SW III, 235)

Die Verlobung in St. Domingo

Nicolo ist auch Colino im Findling. Als Piachi ihn fand,

war Nicolo ein unschuldiges Kind: Er antwortete „in

seiner Unschuld“ (SW III, 265) auf Piachis Fragen. Der Ort

selbst, in dem Piachi Nicolo zum ersten Mal trifft, ist das

Land. Nach Rousseaus Denken ist der Mensch

„menschlicher“ auf dem Land. Nicolo war genau ein

Mensch. Sobald er seinen Vater zu verraten anfängt,

wird er ein Teufel. Der Pol wird negativ. Als Elvire ihren

Liebhaber in ihm sieht, wird er in ihren Augen scheinbar

positiv. Er ist beide, er ist Nicolo und Colino, und

dennoch kann er nicht gleichzeitig positiv und negativ

sein. Deshalb rettet er sich nicht. Zwei Personen werden

in ihm gesehen, und das kann nicht herhalten.

Auf eine ähnliche Weise wird auch Toni in der

Verlobung in Santo Domingo durch Gustav anhand von

zwei Polen eingestuft. Sie ist eine Mestize: Das schafft

schon eine Eigenschaft des Mädchens, weil sie

gleichzeitig schwarz und weiß ist. Sie enthält schon in der

Farbe ihrer Haut zwei Pole. Gustav erzählt ihr eine

Geschichte, um ihr seine Angst vor den Negern zu

erklären. Er weiß nicht, ob er ihr vertrauen kann: Die

Negerin dieser Geschichte verrät ihren Meister und

steckt ihn mit der Gelben Fieber an. Als Gegenbild nimmt

er seine ehemalige Verlobte, Marianne Congrève, die ihn

rettet und sich für ihn opfert. Dieses Mädchen war das

Gegenteil der Mestize: blond und mit weißer Haut. Die

Negerin der Geschichte ist der schwarze Pol, Marianne

ist der weiße Pol. Toni kann sich nicht retten, Gustav

erschießt sie, weil er sie nur als das andere Mädchen

verstehen kann. Er kann nicht akzeptieren, dass sie eine

Mestize ist, aber auch dass sie ihn wie Marianne liebt. Er

23

muss sich entscheiden. Das ist seine Talsperre. Die Entscheidung, die er treffen will, ist der Riss auf

der Oberfläche.

Diese Figuren retten sich nicht, weil sie sich unbedingt für einen Pol entscheiden wollen, oder

weil man nur einen Pol in ihnen sehen will. Kleists Problem ist die Unverständlichkeit beider Pole

in einem einzigen Wesen. Kleist hasst alle Mittelstraßen, er möchte sich nur für einen polarisierten

Weg entscheiden können. Dennoch wollte er sich im Aufsatz des Glücks zwingen, tatsächlich einen

Mittelweg zu wählen, der zwischen Genießen und Entbehren liegt. Der Allerneuste[r]

Erziehungsplan ist also nur eine Provokation, Kleist glaubte weder an ihn, noch an den Aufsatz des

Glücks: Hat Kleist den ersten geschrieben, weil ihn die nicht gelungene Theorie des Mittelwegs

enttäuscht hatte, der er 1799 gezwungen hätte folgen sollen –und die Enttäuschung war schon am

Anfang selbstverständlich und unvermeidlich. Das teilt er auch in seinen späteren Briefen mit:

„…ich sterbe,“ schreibt er am 9.11.1811 an Marie von Kleist, „weil mir auf Erden nichts mehr zu

lernen und zu erwerben übrig bleibt.“ (SW IV, 507) Kleist hat schon alles gesehen und versucht,

was er sehen und versuchen konnte. Nicht nur hasst er die Mittelstraßen aller Art, sondern eine

Mittelstraße ist unmöglich, und die Anwesenheit beider Polen in einem Wesen ist unverständlich.

Deshalb will er sterben, er hat gelebt und sucht im Tod, was er auf dieser unerklärlich

eingerichteten Welt nicht gefunden hat. Der Tod ist der entgegengesetzte Pol des Lebens. Einen

Pol hat er schon erfahren, vielleicht steht hinter dem anderen, was er sucht: „Ein Strudel von nie

empfundener Seligkeit hat mich ergriffen, und ich kann Dir nicht leugnen, daß mir ihr Grab lieber

ist als die Betten aller Kaiserinnen der Welt.“ (SW IV, 510). Er mag die schönsten Dinge der Welt

nicht, sie interessieren ihn nicht mehr. Der Tod ist die einzige Opposition (der einzige Pol), die

nicht unmöglich ist, die einzige Opposition, die er in sich verstehen will. Vielleicht ist nur diese

seine mögliche Rettung, weil die Talsperre seines Lebens schon heruntergekommen ist.

24

„Der Graf setzte sich, indem er die Hand

der Dame fahren ließ, nieder, und sagte,

daß er, durch die Umstände gezwungen,

sich sehr kurz fassen müsse; daß er, tödlich

durch die Brust geschossen, nach P…

gebracht worden wäre; daß er mehrere

Monate daselbst an seinem Leben

verzweifelt hätte; daß während dessen die

Frau Marquise sein einziger Gedanke

gewesen wäre; daß er die Lust und den

Schmerz nicht beschreiben könnte, die sich

in dieser Vorstellung umarmt hätten; daß

er endlich, nach seiner Wiederherstellung,

wieder zur Armee gegangen wäre; daß er

daselbst die lebhafteste Unruhe

empfunden hätte; daß er mehrere Male die

Feder ergriffen, um in einem Briefe, an den

Herrn Obristen und die Frau Marquise,

seinem Herz Luft zu machen; daß er

plötzlich mit Depeschen nach Neapel

geschickt worden wäre; daß er nicht wisse,

ob er nicht von dort weiter nach

Konstantinopel werde abgeordnet werden;

daß er vielleicht gar nach St. Petersburg

werde gehen müssen; daß ihm inzwischen

unmöglich wäre, länger zu leben, ohne

über eine notwendige Forderung seiner

Seele ins Reine zu sein; daß er dem Drang

bei seiner Durchreise durch M…, einige

Schritte zu diesem Zweck zu tun, nicht habe

widerstehen können; kurz, daß er den

Wunsch hege, mit der Hand der Frau

Marquise beglückt zu werden, und daß er

auf das ehrfurchtsvollste, inständigste und

dringendste bitte, sich ihm hierüber gütig

zu erklären. –“ (SW III, 150-151)

Die Marquise von O…

4

Daß-Komplex

Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Oder

die Talsperre. In diesem Falle, ein Wasserfall kommt

herunter. Die Talsperre von Verneinungspartikeln,

Polarverhältnissen, Gedankenstrichen und viel mehr

enthält einen See von Fragen und Worten: wenn diese

Worten überlaufen, können sie nicht gut ausgedrückt

werden.

Das passiert dem Graf F… als er, nach seinem

scheinbaren Tod, wiedererscheint. Die Marquise und ihre

ganze Familie glaubten, dass der Graf erschossen wurde,

aber jetzt kommt er ins Hause des Kommandanten und

bittet um die Hand seiner Tochter. Diese merkwürdige

Bitte kommt nach einer Reihe von verwirrten Erklärungen.

Die Obristin fragt ihn, wie er überlebte. Der Graf

beantwortet nicht nur diese Frage, sondern versucht seine

ganze Situation zu erklären; nämlich, dass und warum er

die Marquise heiraten will. Um das in der Erzählung zu

leisten, verwendet der Erzähler nicht weniger als fünfzehn

dass-Sätze. Der Graf wird in den Maschen seines eigenen

sprachlichen Netzes gefangen. Ihm genügte die Zeit eines

Gedankenstriches, um die Marquise zu vergewaltigen.

Jetzt muss er sein Schicksal akzeptieren, wenn er sich

retten will. Das Schicksal wollte, dass er die Marquise in

der Festung rettete; dass er sie in das einzige Gebäude

führte, das nicht im Brande stand; dass sie in Ohnmacht

fiel und dass die Umständen ihm die Möglichkeit gaben,

sein Lustgefühl zu befriedigen. Um das zu erklären,

braucht er mehr als einen einfachen Satz. Die Syntax

25

dieser wiedergegebenen Aussage wird verworren.

Eigentlich sagt der Graf nicht Wort für Wort, was Kleist aufschreibt. Kleist teilt eine indirekte

Rede mit. „Der Graf setze sich, indem er die Hand der Dame fahren ließ, nieder, und sagte, daß…“

(SW III, 150). Hier folgen fünfzehn Sätze, in denen der Konjunktiv verwendet wird. Bernard Schlink

erzählt in Der Vorleser: „In der zweiten Woche wurde die Anklage verlesen. Die Verlesung dauerte

eineinhalb Tage – eineinhalb Tage Konjunktiv.“8 Auch in Kleists „Marquise von O…“ klingt diese

indirekte Rede wie ein Plädoyer, das vor einem Gericht ausgesprochen wird. Und doch ist der

Erzähler, der es mitteilt. Nach Günter Blamberger9 profitiert Kleists Dichtung von seiner

Ausbildung in Königsberg, wo er der juristischen Diskurs geübt hatte. Kleist folgt rhetorische

Regeln, die für die probeweise Zusammenfassung von Zivil- und Strafsachen verwendet wurden.

Diesen Akten sind für die Wahrheitserfindung gemeint: Kleist versucht, gleichzeitig die Welt

nachzuahmen und eine neue Dimension (die der Erzähler) zu schaffen. Er folgt der Königsberger

Kameraltechnik nur partiell, und zugleich parodiert er sie.

Die Dialogen, die er schreibt, werden natürlicherweise durch Gebärden, Blicke, Bewegungen

unterbrochen. Überdies haben genau diese Gebärden, Blicke und Bewegungen ihre eigene

Bedeutung, genau wie im wahren Leben. Im Dialog zwischen Kohlhaas und seiner Frau Lisbeth

sprechen beide nicht nur mit Worten, sondern auch mit Gebärden:

„Er setzte sich zu ihr, die ihm, bei diesen Worten, errötend um den Hals gefallen war, freundlich

nieder. – Sag mir an, sprach er, indem er ihr die Locken von der Stirne strich: was soll ich tun?“

(SW III, 55).

Als Toni und Gustav sich allein in Gustavs Zimmer befinden, führen sie einen wortlosen Dialog:

Der Leser versteht, dass etwas in Tonis Brust gerade geschieht, aber nicht durch die Worte, die

gesagt werden, sondern durch die Gebärden der zwei Figuren. Hier ist, was Gustav „sagt“:

„Die Gedanken, die ihn beunruhigt hatten, wichen, wie ein Heer schauerlicher Vögel, von ihm;

er schalt sich, ihr Herz nur einen Augenblick verkannt zu haben, und während er sie auf seinen

Knieen schaukelte, und den süßen Atmen einsog, den sie ihm heraufsandte, drückte er, gleichsam

zur Zeichen der Aussöhnung und Vergebung, einen Kuß auf ihre Stirn“ (SW III, 236).

Toni „antwortet“ mit einer anderen Gebärde:

8 Bernard Schlink, Der Vorleser, Zürich, 1997, S. 101

9 Günter Blamberger, Heinrich von Kleist – Biographie, Frankfurt am Main, 2011, S. 237

26

„…sie rückte sich gedankenvoll und träumerisch das Tuch, das sich über ihrer Brust verschoben

hatte, zurecht“ (ebd.).

Dieser unausgesprochene Dialog ist voller Bedeutung, obwohl nichts gesagt wird. Im Findling,

wechseln sich „Blässe und Röte“ auf Nicolos Gesicht, als Xaviera ihm mitteilt, wer Colino war.

Xaviera erwidert mit einem „schelmischen Blick“. Nicolo nimmt „unter einem schrecklichen

Zucken seiner Oberlippe seinen Hut,“ (SW III, 279) empfiehlt sich und geht ab. Die Figuren dieser

Szenen sagen eigentlich nicht viel, aber wir können mehr von ihrem inneren Umstand durch ihre

Beschreibung erfahren.

Das wiedergegebene Gespräch des Grafen hat dieselbe Funktion dieser Beschreibungen: Kleist

will eine Idee von Wortwasserfall wiedergeben. Eine spontane Frage wäre: warum lässt Kleist

nicht den Grafen sprechen? Der Graf kann einfach nicht erklären, was hinter dem Gedankenstrich

verborgen liegt, nämlich das Dritte. Das ist das Unaussprechliche, und doch versucht der Graf es

auszusprechen, weil er sich mit ihm versöhnen will. Noch einmal wird das von Földényi

beschrieben: „Der Graf erweckt den Eindruck eines Halbverrückten. Doch auch der Text beginnt

den Verstand zu verlieren“10, wie er früher in Ohnmacht (durch den Gedankenstrich) gefallen war.

Was der Graf sagt ist eine direkte Folge des Gedankenstriches: der dass-Komplex ist eine

Spiegelung, der entgegengesetzte Pol des Gedankenstriches. Michael Kohlhaas wiegt seine Ehe

mit Lisbeth im Raum von drei Gedankenstrichen: „ …soll ich heute zum erstenmal wünschen, daß

es anders wäre? - - -„ (SW III,55); Lisbeth „antwortet“ mit sechs vom Erzähler wiedergegebenen

dass-Sätzen, in denen sie ihre Treue auf die Probe stellt. Der dass-Komplex wird zu einem

ausgesprochenen Gedankenstrich. Oder, besser ausgedrückt, zu einer unaussprechlichen Rede,

weil sie in der indirekten Rede steht.

Alles das lässt Kleist durch seine Schreibart verstehen: die Bedeutung des Komplexes ist durch

den Gedankenstrich, das Spiel von Gebärden und die verneinten direkten Rede zu verstehen. Noch

einmal ist der Graf das beste Beispiel: „Der Graf äußerte, indem ihm ein Röte ins Gesicht stieg,

daß…“ (SW III, 151-152) und noch vierzehn dass-Sätze. Ganz am Ende lässt der Graf die Familie

ratlos mit einer Last von insgesamt vierunddreißig dass-Sätzen zurück. Die Familie hat nichts

verstanden, noch weiß der Graf nicht bestimmt, ob er verstanden werden kann. Nur der Leser ist

in der Lage, die Bedeutung dieser Äußerung zu verstehen. Das kann der tun, weil ihm der Autor

hinter dem Erzähler die Lösung eingibt. Die Bedeutung des Satzes ist unaussprechlich und

10

László F.Földényi, siehe Anm.1, S. 84

27

ungesagt, und gleichzeitig wird sie in der indirekten Rede aufgeschrieben. „Es geschieht das, was

der amerikanische Literaturwissenschaftler Stanley Fish anderthalb Jahrhunderte später so

formulieren wird: der Satz ist etwas, « that happens to, and with the participation of the reader.

And it is this event, this happening – all of it and not anything that could be said about it or any

information one might take away from it – that is, I would argue, the meaning of the sentence. »

(Zitiert nach Freund, 93)“11. So wird dieser Prozess von Földényi erklärt.

Kleist möchte die Zerbrechlichkeit und Unverständlichkeit der Welt durch seine Werke

beschreiben, deshalb ist seine Syntax so verschachtelt– und die Übersetzung in andere Sprachen

fast unmöglich. Er möchte die Natur durch seine Erzählungen und Dramen darstellen. Es entsteht

aber eine unüberbrückbare Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit. Kleist versucht, die „Natur im

Innern des Menschen“ zu beschreiben, wie Daiber schreibt. Weiter in seiner Analyse Nichts

Drittes…in der Natur? wird das Ergebnis dieser Beschreibung „eine neue Welt“, die „offenkundig

eine künstliche Welt“ ist, „ein imaginativ hervorgebrachtes «Machwerk», wie es bei Novalis

heißt“12 genannt.

Kleist versuchte, sich mit der Welt zu versöhnen, er suchte einen guten Grund für seine

Talsperre. Darum wählte er eine Mittelstraße, sogar wenn er alle Mittelwege hasst. Er versuchte

auch einen Kompromiss mit der Philosophie seiner Zeit zu finden und das Ergebnis wurde eine

unvermeidlich herunterkommende Talsperre. Nach Friedrich Schlegel, zum Beispiel: „Der Gedanke

der Welt und des Ichs [sind] eigentlich ein und derselbe“. Das kann Kleist überhaupt nicht

akzeptieren, es würde meinen, dass er das Dritte in sich und in der Welt verstehen kann. Keine

„heilige und zerbrechliche Einrichtung der Welt“ mehr. Kleists Dichtung existiert dank dieser

Spannung, dank des Bruchs seiner Talsperre.

11

László F.Földényi, siehe Anm.1, S. 89

12 Jürgen Daiber, siehe Anm.7, S. 57

28

„Durch einen glücklichen Zufall hatte

Jeronimo hier die Verbindung von

neuem anzuknüpfen gewußt, und in

einer verschwiegenen Nacht den

Klostergarten zum Schauplatze seines

vollen Glückes gemacht. Es war am

Fronleichnamsfeste, und die feierliche

Prozession der Nonnen, welchen die

Novizen folgten, nahm eben ihren

Anfang, als die unglückliche Josephe,

5

Zukunft

Kleists Angst vor der Zukunft hängt von seiner Angst vor

dem Zufall ab. Deshalb will er den Zufall in seinem Aufsatz,

den sichern Weg des Glücks zu finden, und ungestört, auch

unter den größten Drangsalen des Lebens, ihn zu genießen!

verbannen. Schon im Titel kann seine Absicht gelesen

werden: der Weg muss sicher sein, er muss ungestört

genossen werden. Was sollte Kleist stören? Was sind die

„größte Drangsale des Lebens“? Der Zufall zerstört alle

Pläne, er zerstört alle Genussmöglichkeiten.

Im Aufsatz von 1799 klingt das Wort „Zufall“ mit dem

Wort „Unsicherheit“ zusammen:

„Wenn das Glück nur allein von äußeren Umständen,

wenn es also vom Zufall abhinge, mein Freund, und wenn Sie

mir auch davon tausend Beispiele aufführten; was mit der

Güte und Weisheit Gottes streitet, kann nicht wahr sein… es

muß ein Glück geben, das sich von den äußeren Umständen

trennen läßt “ (SW III, 516).

Kleist muss sich ein Projekt für sein Leben schaffen, das

unter der Bedingung „der Tugend folgt die Belohnung, dem

Laster die Strafe“ (SW III, 522) steht. Kleist wählt sich einen

Mittelweg zwischen Entbehrung und Genießen. Hier schafft

er sich eine Talsperre.

In seinen Werken und in seinem Leben wird man

erfahren, das alles vergeblich ist. Am Anfang der

Erzählungen wollen die Figuren nicht nur kein Schicksal

akzeptieren, sondern auch denken sie, dass der Zufall ein

Hindernis ihrem Leben darstellt. Eigentlich hängt ihr ganzes

Leben vom Zufall ab. Jeronimo nimmt im Erdbeben in Chili

29

bei dem Anklange der Glocken, in

Mutterwehen auf den Stufen der

Kathedrale niedersank.“ (SW III, 189)

Das Erdbeben in Chili

„Josephe stürzte sich, unerschrocken

durch den Dampf, der ihr

entgegenqualmte, in das von allen Seiten

schon zusammenfallende Gebäude, und

gleich, als ob alle Engel des Himmels sie

umschirmten, trat sie mit ihm

unbeschädigt wieder aus dem Portal

hervor. Sie wollte der Äbtissin, welche

die Hände über ihr Haupt

zusammenschlug, eben in die Arme

sinken, als diese, mit fast allen ihren

Klosterfrauen, von einem herabfallenden

Giebel des Hauses, auf eine schmähliche

Art erschlagen ward. […] Sie hatte noch

wenig Schritte getan, als ihr auch schon

die Leiche des Erzbischofs begegnete, die

man soeben aus dem Schutt der

Kathedrale hervorgezogen hatte. Der

Palast des Vizekönigs war versunken, der

Gerichtshof, in welchem ihr das Urteil

besprochen war, stand in Flammen, und

an die Stelle, wo sich ihr väterliches Haus

befunden hatte, war ein See getreten,

und kochte rötliche Dämpfe aus. Josephe

raffte alle ihre Kräfte zusammen, sich zu

halten.“ (SW III, 199)

Das Erdbeben in Chili

wieder Verbindung mit seiner geliebten Josephe durch

einen „glücklichen Zufall“ auf. Diese konnte er nicht mehr

sehen und dieser Zufall löst eine Kette von Ereignissen aus.

Josephe wird schwanger, nach der Geburt des Kindes wird

sie zum Tode verurteilt und Jeronimo wird ins Gefängnis

geworfen. Hier will er sich umbringen, und der Zufall

kommt wieder zur Hilfe:

„Das Leben schien ihm verhaßt, und er beschloß, sich

durch einen Strick, der ihm der Zufall gelassen hatte, den

Tod zu geben.“ (SW III, 190)

Hier kommt ein anderer Zufall, der des Erdbebens.

Jeronimo überlebt seinen Selbstmordversuch und auch

den Tod, der mit dem Erdbeben kommen könnte, dank

eines zufälligen Glücks. Plötzlich wird Jeronimos Welt

umgekippt: die festgelegte, allgemeingültige christliche

Prinzipienwelt, die Josephe und Jeronimo verurteilt hatte,

geht in Trümmer. Alle diesen Zufälle waren aber nötig:

Jeronimo brauchte einen Zufall, um seine Geliebte zu

treffen; dann brauchte er einen Strick, wenn er sich an den

Pfeiler hängen wollte; und dann rettet er sich durch das

zufällige Erdbeben. Diese Reihe von Zufällen setzt eine

andere Reihe von Ereignissen in Bewegung: zufälligerweise

hat sich auch Josephe gerettet, zufälligerweise treffen sie

sich auf dem Land. Alle diese Ereignisse verführen sie, sich

Pläne für ihre Zukunft zu schaffen. Jetzt glauben sie, dass

sie sich retten können. Sobald sie ihre Zukunft planen,

machen sie ihren größten Fehler. Sie gehen zur Messe,

weil sie denken, dass sie jetzt sicher sind, und werden

getötet.

Kleist baut alle Zukunftspläne ab. Als die Reihe von

Zufällen aufhört, schmieden Jeronimo und Josephe Pläne

30

nach den scheinbaren Umständen, in denen sie jetzt leben. Sie beginnen, die Welt zu beurteilen

und benehmen sich, als ob nichts passiert wäre: „Und ob sie bloß davon geträumt hätten?“ (SW III,

204) Jetzt, dass sie frei von allen Zufällen sind, treffen sie die falsche Entscheidung. Ihre Welt war

fester, als sie durch den Zufall geregelt wurde. Je zufälliger (zerbrechlicher) ihre Welt war, desto

fester war sie. Der Zufall führte ihre Entscheidungen und ihre Taten. Noch einmal, die Marquise

von O… rettet sich, weil sie nichts plant und bloß den Zufall akzeptiert. Die Verlobung in Santo

Domingo besteht aus einer Reihe von Plänen und Vermutungen, die ein katastrophales Ergebnis

für alle Parteien hat: Babekan und Congo Hoango werden geschlagen, Toni wird von Gustav

erschossen und Gustav bringt sich um. Der Zufall stellt die Wände der Welt dar und die Welt wird

durch ihn geordnet. Kleists Welt ist gleichzeitig zerbrechlich und unstabil, doch ist sie die einzig

mögliche Welt. Wenn man den Zufall akzeptiert, kann man eine Zukunft haben.

Kleist erfährt dasselbe und der grenzenlos zerbrechlicher Zufall wird zum festen Bindemittel

seiner Werke. Er schlägt Wurzeln in „das bloße Nichts“13 (Földényi), genau wie seine Helden:

Kohlhaas` Geschichte beginnt nach einem „Es traf sich“; er kämpft gegen einen Junker, „der aus

einer Ohnmacht in die andere“ (SW III, 71) fällt und der „mit Essenzen und Irritanzen wieder ins

Leben“ (ebd.) zurückgebracht werden muss. Kämpft er gegen das absolut Böse? Warum kämpft

er? Um aufs Schafott anzukommen? Die Rappen interessieren ihn nicht mehr: Er lässt einen

jungen Knecht sie retten, der sich zufälligerweise (Es traf sich) da befand, und dann kümmert er

sich nicht mehr um die Pferde. Die Rappen sind gerettet, „ich will meine wohlgenährten und

gesunden Pferde wieder haben“ (SW III, 27), hatte er gesagt, und jetzt, dass er sie retten kann, ist

er nicht mehr an sie interessiert. Er beschließt, dass er sein Recht haben will. Er beschließt, dass er

nicht mehr unter dem Zufall leiden will. Das Ergebnis ist, dass er zuerst seine Frau un dann sein

Leben verliert. Auch Nicolo im Findling ist glücklich, solange er sicher ist, das er Elvirens Geliebter

ähnlich ist: „Da nun Nicolo die Lettern, welche seit mehreren Tagen auf dem Tisch lagen, in die

Hand nahm, und während er […] damit spielte, fand er – zufällig, […] – die Verbindung heraus,

welche den Namen: Colino bildet“ (SW III, 277). Aus seinem Namen bildet er den Namen Colino.

Der Zufall hat ihm diese Ähnlichkeit geflüstert, aber dann wird Piachi sie nicht akzeptieren.

13

Laszlo F.Földényi, siehe Anm.1, S. 536

31

„Zuweilen stieg ich allein in einen Nachen u

stieß mich bis auf die Mitte des Rheins.

Dann legte ich mich nieder auf den Boden

des Fahrzeugs, u vergaß, sanft von dem

Strome hinabgeführt, die ganze Erde, und

sah nichts, als den Himmel -

Wie diese Fahrt, so war mein ganzes Leben -Und jetzt!- Ach, das Leben des Menschen ist, wie jeder Strom, bei seinem Ursprunge am höchsten. Es fließt nur fort, indem es fällt -In das Meer müssen wir alle- Wir sinken und sinken, bis wir so niedrig stehen, wie die andern, u das Schicksal zwingt uns, so zu sein, wie die, die wir verachten –“ (SW IV, 251-252)

Brief an Adolphine von Werdeck

Paris, den 28. (und 29.) Juli 1801

Die Pläne aller Figuren werden zerstört: vielleicht wusste

Kleist schon, als er den Aufsatz über den sichern Weg des

Glücks schrieb, dass eine Mittelstraße kein Lebensplan

sein konnte. Der Zufall -das Dritte- regelt alle Leben. Als

Kleist den Erziehungsplan schreibt, will er den Zufall

kontrollieren. Denselben Zufall, der die Französische

Revolution veranlasste, wie man in Über die allmähliche

Verfertigung der Gedanken Beim Reden lesen kann. Als

Mirabeau mit dem Zeremonienmeister spricht, weiß er

nicht am Anfang seines Gespräches, was er sagen wird,

und was für Folgen seine Rede haben wird:

„…nun plötzlich geht ihm ein Quell ungeheuer

Vorstellungen auf – «uns hier Befehle anzudeuten? Wir

sind die Repräsentanten der Nation.» - Das war es was er

brauchte! «Die Nation gibt Befehle und empfängt keine.»

-um sich auf den Gipfel der Vermessenheit zu schwingen.“

(SW III, 536-537)

Was brauchte er? Was ist während dieses Augenblickes

geschehen? Kleist gibt uns die Antwort:

„Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken

einer Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiegel an der

Manschette, was in Frankreich den Umsturz der Ordnung

der Dinge bewirkte.“ (SW III, 537)

Die Zukunft einer ganzen Nation hängt vom Zufall ab.

Rousseau hatte ganz andere Stünde für die Revolution

vorgelegt. Kleist ist enttäuscht: auch Rousseaus Plan wird

zerstört. Das liest man in den Briefen Kleists, die er aus

Paris schreibt. Er beschreibt die Stadt Paris als etwas

Schreckliches, und diese sollte die Stadt sein, in der

Rousseaus Pläne für eine Welt des guten Citoyen

verwirklicht werden sollten. Die Menschen hätten besser

32

„Herr Strömli kaufte sich daselbst mit dem

Rest seines kleines Vermögens, in der

Gegend des Rigi, an; und noch im Jahr 1807

war unter den Büschen seines Gartens das

Denkmal zu sehen, das er Gustav, seinem

Vetter, und der Verlobten desselben, der

treuen Toni, hatte setzen lassen.“ (SW III,

260)

Die Verlobung in St. Domingo

werden sollen; der Mensch nach der Revolution hätte

„menschlicher“ werden sollen. Stattdessen sieht Kleist

aus seinem Pariser Fenster „lauter Menschen, die man

vergißt, wenn sie um die Ecke sind. Noch kenne ich

wenige von ihnen, ich liebe noch keinen, und weiß nicht,

ob ich einen lieben werde. Denn in den Hauptstädten

sind die Menschen zu gewitzigt, um offen, zu zierlich, um

wahr zu sein.“ (SW IV, 237)

Nichts von den Plänen bleibt beim Alten, nur der Zufall

ist, paradoxerweise, fest. Auch die Schlussteile der

Erzählungen unterstreichen das. Der Schluss der

Verlobung in Santo Domingo beschreibt ein Denkmal in

Ehre der zwei Verlobten Toni und Gustav, das „noch im

Jahr 1807“ (SW III, 260) unter den Büschen des Gartens

von Gustavs Onkel zu sehen war. Die Geschichte von

Gustav und Toni findet 1803 statt, und Kleist schreibt,

dass das Denkmal noch nach vier Jahren zu sehen war:

das ist keine Ewigkeit. Wozu schreibt Kleist das? Die

Verlobung in St. Domingo stellt auch die Französische

Revolution durch die Revolte der Schwarzen dar. Die

Französische Revolution selbst hat die Ordnung der Dinge

in wenigen Monaten (zufällig) umgeschlagen: Kleist

wohnt in einer Zeit, in der die Ereignisse sehr schnell

geschehen und verschwinden. Vier Jahre sind also genug,

um ein noch zu verdienen. Das Ergebnis dieser ganzen

vom Zufall geleiteten Geschichte ist dieses Denkmal, das

bleiben wird.

Ein „lebendiges Denkmal“ des Zufalls und der

zerstörten Pläne ist auch Philipp im Erdbeben in Chili.

Philipp stellt die Zerstörung der Lebenspläne von

Jeronimo und Josephe dar: Seine Eltern werden beide

33

„Hier endigt dieser Legende. Die Frau, deren

Anwesenheit in Aachen gänzlich nutzlos war,

ging mit Zurücklassung eines kleinen Kapitals,

das sie zum Besten ihrer armen Söhne bei

den Gerichten niederlegte, nach dem Haag

zurück, wo sie ein Jahr darauf, durch diesen

Vorfall tief bewegt, in den Schoß der

katholischen Kirche zurückkehrte: die Söhne

aber starben, im späten Alter, eines heitern

und vergnügten Todes, nachdem sie noch

einmal, ihrer Gewohnheit gemäß, das gloria

in excelsis abgesungen hatten.“ (SW III, 313)

Die Heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik

getötet und er ersetzt Juan in Don Fernandos Familie.

Noch einmal am Ende der Erzählung schreibt Kleist:

„Don Fernando und Donna Elvire nahmen hierauf

den kleinen Fremdling zum Pflegesohn an; und wenn

Don Fernando Philippen mit Juan verglich, und wie er

beide erworben hatte, so war es ihm fast, als müßt er

sich freuen.“ (SW III, 220)

Zufälligerweise hat Don Fernando seinen Sohn

verloren, und zufälligerweise hat seine Frau diese

verhängnisvolle Verwechslung akzeptiert:

„…doch kurzer Zeit nachher, durch einen Besuch

zufällig von allem, was geschehen war, benachrichtigt,

weinte diese treffliche Dame im Stillen ihren

mütterlichen Schmerz aus, und fiel ihm -Don Fernando-

um den Hals und küßte ihn.“ (ebd.)

Don Fernando freut sich, weil er und seine Frau in

der Lage waren, den tragischen Zufall anzunehmen. Hier

stellt Kleist auch die böse Seite Don Fernandos dar: ein

Vater, der mit solchen Umständen zufrieden ist, muss

ein Ungeheuer sein. Es wird wieder eine andere

Möglichkeit repräsentiert.

Auch Kohlhaas´ Kinder stellen etwas Ähnliches dar.

Sie sind Kinder des Zufalls jetzt, dass sie ihren Vater

verloren haben. Und die Taten vom Rosshändler

wurden vom Zufall geführt. Von Kohlhaas´ Schicksal

bleiben nur seine Söhne:

„Von Kohlhaas aber haben noch im vergangenen

Jahrhundert, im Mecklenburgischen, einige frohe und

rüstige Nachkommen gelebt.“ (SW III, 142)

Kleist, wie manche seiner Figuren, fürchtet sich vor

34

dem Zufall. Dennoch weiß er, dass die Zukunft keinen Platz für Pläne hat, weil die Welt

zerbrechlich ist.

„Es ist mir ganz stumpf und dumpf von der Seele, und es ist auch nicht ein einziger Lichtpunkt in

der Zukunft, auf den ich mit einiger Freudigkeit und Hoffnung hinaussähe […]. Wirklich, es ist

sonderbar, wie mir in dieser Zeit alles, was ich unternehme, zugrunde geht; wie sich mir immer,

wenn ich mich einmal entschließen kann, einen festen Schritt zu tun, der Boden unter meinen

Füßen entzieht.“ (SW IV, 505)

Das schreibt Kleist an Marie von Kleist im Oktober 1811. Seine Pläne für ein gleichgewichtiges

Leben im Aufsatz des Glücks haben nichts geschafft. Kleists Talsperre ist vom Anfang an

zerbrechlich, sie hat von vornherein einen Riss auf ihrer Oberfläche, und sie kommt unvermeidlich

herunter.

35

„ Zu welchen abenteuerlichen

Unternehmungen, sei es nun das

Bedürfnis, sich auf eine oder die

andere Weise zu ernähren, oder auch

die bloße Sucht, neu zu sein, die

Menschen verführen, und wie lustig

dem zufolge oft die Insinuationen

sind, die an die Redaktion dieser

Blätter einlaufen: davon möge

folgender Aufsatz, der uns kürzlich

zugekommen ist, eine Probe sein.“

(SW III, 545)

Allerneuester Erziehungsplan

6

Talsperre

Die Talsperre ist ein Bau, das gebaut wurde, um Wasser zu

sperren. Sie schafft einen geordneten und wohl

kontrollierbaren See: Das Wasser fließt unter Kontrolle durch

das Tal, bis es einen größeren Fluss erreicht. Die Talsperre

schafft Ordnung. Wenn man Fragen hat, braucht man

Antworten. Während der Aufklärung hat man versucht, einige

dieser Fragen zu beantworten. Man hat versucht, alles in

Ordnung zu stellen. Genau das Wort „Auf-Klärung“ wirft Licht

auf unverständliche und unerklärliche Dinge, es klärt sie auf.

Nur der Mensch kann das tun, mit seinem eigenen Verstand.

Nach Kant:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner

selbstverschuldeten Unmündigkeit.“14

Kleist gehört zu dieser Zeit. Auch er braucht Ordnung und

er versucht, sie durch seinen Verstand zu schaffen. Aber wie

schafft Kleist diese Talsperre? Genau wie Ingenieure und

Architekten, untersucht er die Welt, die ihn umgibt.

Ingenieure und Architekten verwenden ihren Verstand, und

sie bekommen ihre Folgerungen. Kleist kommt zur Folgerung,

dass die Welt zerbrechlich sei. Auf zerbrechlichen Ufern müsse

er seine Talsperre bauen. Warum aber eine Talsperre?

Andere Schriftsteller und Denker der Zeit haben die Welt

durch andere Mittel geordnet, warum haben wir für Kleist

eine Talsperre gewählt?

14

Immanuel Kant, Kants Werke, Band VIII Abhandlungen nach 1781, 1912/23, Berlin, S. 35

36

„Da ich aber ein Deutscher bin, so denke

ich meinem Sohn einst, besonders wenn er

sich zum Soldaten bestimmen sollte,

folgende Rede zu halten:

Goethe, zum Beispiel, hat alles kategorisiert: Alles ist

Blatt. Nach seinem Denken ist das die einzige günstige

Sache, die man machen kann. Die Welt sollte einfach

beschrieben und kategorisiert werden. Die

Wahlverwandtschaften. Farbentheorie. Morphologie der

Pflanzen. Auch Goethe sucht und braucht Ordnung.

Wenn er die Unerklärlichkeit der Welt nicht mehr

ertragen kann, flieht er nach Italien (Italienische Reise)

oder untersucht noch etwas auf dieser Erde. Goethe

sucht die Ordnung in der Natur: Er sucht ein Ur-etwas

(z.B. „Urpflanze“) und dann versucht er, seine

Entwicklung zu erklären. Die Personen selbst haben eine

Entwicklung. Wilhelm Meisters Lehrjahre ist ein

Bildungsroman. Die Bildung ist ein Prozess, in dem man

eine Entwicklung erfährt. Der Verstand rettet Goethe

durch seine Werke: Die Leiden des jungen Werther sind

ein Beispiel dafür. Goethe lässt Werther sich umbringen,

aber es gelingt dem großen Schriftsteller, sein Leben zu

retten. Goethe hat sein Gleichgewicht gefunden, und

Werther ist seinem Schicksal gefolgt.

Auch Kleist schreibt Der neuere (glücklichere) Werther:

In Kleists Version schießt sich der arme C…, der die Frau

seines Prinzipals liebt, in die Brust. Der Schuss aber geht

durch seine Lunge, ohne ihn zu töten und er trifft den in

dem Nebenzimmer (!) stehenden Prinzipal. Dieser stirbt

und C… (der „glücklichere Werther“) kann die geliebte

Frau heiraten –und bekommt nicht weniger als 15 Kinder.

Kleists Werther ist zufälligerweise Glücklich. Wie wir

wissen, schießt sich Kleist in den Mund (und der Schuss

bohrt seinen Schädel nicht durch -!-). Kleist ist extrem,

deswegen kann er sich nicht retten. Dennoch versucht er,

37

« Die Überlegung, wisse, findet ihren

Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der

Tat. Wenn sie vorher, oder in dem

Augenblick der Erscheinung selbst, ins Spiel

tritt: so scheint sie nur die zum Handeln

nötige Kraft, die aus dem herrlichen Gefühl

quillt, zu verwirren, zu hemmen und zu

unterdrücken; dagegen sich nachher, wenn

die Handlung abgetan ist, der Gebrauch

von ihr machen läßt, zu welchem sie dem

Menschen eigentlich gegeben ist, nämlich

sich dessen, was in dem Verfahren

fehlerhaft und gebrechlich war, bewußt zu

werden, und das Gefühl für andere künftige

Fälle zu regulieren. Das Leben selbst ist ein

Kampf mit dem Schicksal *…] “ (SW III, 554)

Von der Überlegung – Eine Paradoxe

„ – Dem Roßhändler schlug das Herz gegen

den Wams. Es drängte ihn, den

nichtswürdigen Dickwanst in den Kot zu

werfen, und den Fuß auf sein kupfernes

Anlitz zu setzen. Doch sein Rechtgefühl, das

einer Goldwaage glich, wankte noch; er

war, vor der Schranke seiner eigenen Brust,

noch nicht gewiß, ob eine Schuld seinen

Gegner drücke; und während er, die

Schimpfreden niederschluckend, zu den

Pferden Trat, und ihnen, in stiller Erwägung

der Umstände, die Mähnen zurecht legte,

seinen extremen Charakter irgendwie zu stoppen. Auch

er beschreibt die Welt und die Personen, aber er findet

keine Ordnung. Das, was er findet, sind lauter Kontrasten

und Oppositionen. Wegen dieser Oppositionen ist die

Welt zerbrechlich eingerichtet, diese Spannung kann

Kleist nicht vermeiden. Dieselbe Spannung kann Kleist

nicht lösen, sie wird zu einer Talsperre, die die

Unerklärlichkeit dieser Welt enthalten sollte. Dieses

Schlagbau besteht aber aus zerbrechlichen und

unerklärlichen Bestandteilen, wie etwa

Verneinungspartikeln, Gedankenstrichen, Dass-

Komplexen… usw. Das ist das Paradox: das Chaos muss

das Chaos einer chaotischen -zerbrechlichen- Welt

ordnen! Die Zeit der Bestimmung und der

Vervollkommnung drängen Kleist in diese Umstände: Der

Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, und

ungestört, auch unter den größten Drangsalen des

Lebens, ihn zu genießen! ist ein gutes Beispiel, das Kleists

Situation beschreibt. In diesem Aufsatz muss er einen

Kompromiss mit seiner Zeit finden: „der Tugend folgt die

Belohnung, dem Laster die Strafe“ (SW III, 522); „der

Beste ist der Glückliste“ (ebd.). Diese Sätze stellen Kleists

Kompromiss dar, den seine Helden nicht akzeptieren

wollen. Kohlhaas ist einer der rechtschaffensten Männer

seiner Zeit: Man kann nicht sagen, dass er keiner Tugend

folgt. Dennoch stirbt er auf dem Schafott. Das Problem ist

das Paradox mit dem anderen Teil seiner Persönlichkeit,

nämlich dass er auch einer der entsetzlichsten Männer

ist. Kohlhaas selbst versucht, sich zu stoppen: bevor er

das Schloss Wenzels von Tronka in Brand steckt, will er

seinen Knecht hören und mit seiner Frau sprechen. Er will

38

war, vor der Schranke seiner eigenen Brust,

noch nicht gewiß, ob eine Schuld seinen

Gegner drücke; und während er, die

Schimpfreden niederschluckend, zu den

Pferden Trat, und ihnen, in stiller Erwägung

der Umstände, die Mähnen zurecht legte,

fragte er mit gesenkter Stimme: um

welchen Versehens halber der Knecht denn

aus der Burg entfernt worden sei?“ (SW III,

25)

Michael Kohlhaas

DIE OBERPRIESTERIN: „Sprich, Grässliche!

was ist geschehen?“

MEROE: „Ihr wisst, sie zog dem Jüngling, den sie liebt, entgegen, sie, die fortan kein Name nennt – in der Verwirrung ihrer jungen Sinne, den Wunsch, den glühenden, ihn zu besitzen, mit allen Schrecknissen der Waffen rüstend.“ (SW II, 239)

Penthesilea

sicher sein, dass er Recht hat. Später werden die

Ereignisse ihn mitreißen: Die Talsperre zerbricht. Er ist

außer Kontrolle, es gibt Platz nur für die Rache. Kohlhaas

hat seine Bestimmung nicht innerhalb der Welt

gefunden, vielleicht konnte er es nicht schaffen, wegen

seines zweiseitigen Charakters. Er hat nach seiner

Bestimmung in sich selbst gesucht, und ist explodiert. Die

Talsperre, die er geduldig als rechtschaffener Mann in

sich gebaut hat, zerbricht. Das passiert genau mit Kleist:

Nach der Kant-Krise ist er nicht mehr in der Lage, die

äußerliche Welt durch Worte zu beschreiben. Die Welt,

die ihn umgibt, ist außer Kontrolle, weil sie nicht

geordnet werden kann. Deswegen glaubt er, dass sein

Gleichgewicht (und sein Glück) sich im Inneren befinden

müssen. Jetzt bricht das Paradox aus: er muss sein Innere

beschreiben und ordnen, und das nur mit Worten, die

selbst nicht für die äußerliche Welt genügen! Kleist kann

keine Talsperre gegen seine Gedanken bauen, weil er

keine geeigneten Worte zur Verfügung hat. Seine Mittel

sind zerbrechlich und unverständlich. Er sucht immer im

Innersten, bis er ins Nichts gerät, ins Namenlose. Er selbst

wird unaussprechlich, wie die Welt seiner Helden

unbeschreiblich ist. Seine Figuren wenden sich zu ihrem

Inneren, ohne es verstehen zu können: Als sie das bloße

Nichts in sich spüren und nicht beschreiben können,

explodieren sie nach außen in Tausenden verrückter

Splitter.

Goethe findet das Gesetz des Ur-etwas, um die Welt

zu erklären. Seine geordnete Talsperre funktioniert, sogar

wenn sie immer renoviert werden muss. Kleist gerät in

ein Ur-nichts. Seine zerbrechliche Welt besteht aus

39

ODYSSEUS: „Jetzt hebt ein Kampf an, wie er, seit die Furien walten, noch nicht auf der Erde rücken. So viel ich weiß, gibt es in der Natur Kraft bloß und ihren Widerstand, nichts Drittes. Was Glut des Feuers löscht, löst Wasser siedend zu Dampf nicht auf und umgekehrt.“ (SW II, 148)

Penthesilea

zerbrechlichen Bestandteilen, und er hat keine Worte, um

sich genau auszudrücken. Kleist kann die Zerbrechlichkeit

seines Inneres (das auch das Äußerliche enthält) nicht

akzeptieren: Deswegen ist seine Talsperre nicht nur

nutzlos, sondern auch tödlich gefährlich. Sein Inneres ist

nicht in Zusammenklang mit dem Äußerlichem. Er sucht

seine Vollkommenheit außer der Welt, aber hinter seinen

Worten versteckt sich Angst. In dieser Angst versteckt sich

das unbeschreibliche, unverständliche „Dritte“.

Die Mittelstraße seiner Zeitgenossen ist für Kleist

einfach unmöglich -wegen des „Dritten“. Die Ordnung der

Dinge, die die Aufklärung hätte mitbringen sollen, wird

wegen dieses unerklärlichen und unvermeidlichen Un-

etwas/Ur-nichts vernichtet. Keine Talsperre kann diese

Fragen stoppen.

40

Bibliographie

Primärliteratur:

Erzählungen, Dramen, Briefe und andere Schriften von Heinrich von Kleist werden nach diesem

Werk zitiert:

Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hrsg. von Ilse-Marie Barth, Klaus

Müller-Salget, Walter Müller Seidel und Hinrich C. Seeba, Frankfurt am Main, 19871997

(Abgekürzt SW mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl)

Sekundärliteratur:

László F.Földényi, Heinrich von Kleist – Im Netz der Wörter, Budapest, 1999. Aus dem Ungarischen

übersetzt von Akos Doma, herausgegeben von Bettina Best, München, Matthes & Seitz, 1999.

Dominik Paß, Die Beobachtung der Allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden – Eine

systemtheoretische Lektüre in Kleist Jahrbuch, hrsg. von Günter Blamburger, Sabine Doering und

Klaus Müller-Salget, Stuttgart, 2003, S.107-136.

Jürgen Daiber, „Nichts Drittes … in der Natur?“ – Kleists Dichtung im Spiegel romantischer

Selbstexperimentation in Kleist Jahrbuch, hrsg. von Günter Blamburger, Sabine Doering und Klaus

Müller-Salget, Stuttgart, 2005, S. 45-66.

Günter Blamberg, Heinrich von Kleist – Biographie, Frankfurt am Main, 2011.

Jean-Jacques Rousseau, Œvres Complètes, hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond,

Bibliothèque de la Pléiade, Dijon, 1959, Bd. III, Du contrat social – Écrits politiques, S.1-30 u. 131-

194.

Immanuel Kant, Kants Werke, Akademie-Textausgabe, Berlin, 1912/23, Bd. VIII, Abhandlungen

nach 1781, S. 33-42.

Wallace Stevens, The Collected Poems of Wallace Stevens, New York, 1971, S. 92-95.

41

Nicht zitierte Bibliographie:

Regina Ogorek, Adam Müllers Gegegsatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael

Kohlhaas in Kleist Jahrbuch, hrsg. von Hans Joachim Kreutzer, Berlin, 1988-1989; S. 96-132.

Ruth Ewertowski, Das Außermoralische - Nietzsche - Weil - Kleist - Kafka in Frankfurter Beiträger

zur Germanistik 28, Heidelberg, Winter 1994, S. 152-184.

Herta Müller, Von der gebrechlichen Einrichtung der Welt in Kleist Jahrbuch, hrsg. von Hans

Joachim Kreutzer, 2005, Stuttgart, S. 56-71.