Wenk 2009, Menschenrechte im 21. Jh. Eine Auseinandersetzung mit Richard Rorty

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Menschenrechte im 21. Jahrhundert Eine Auseinandersetzung mit Richard Rorty von Philipp Wenk Zürich, 8. Arpil 2009

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Menschenrechte im 21. Jahrhundert

Eine Auseinandersetzung mit Richard Rorty

von Philipp Wenk

Zürich, 8. Arpil 2009

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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INHALTSVERZEICHNIS

1 Einleitung ..................................................................................................................................................... 2

2 Pragmatistische Grundlagen ...................................................................................................................... 3

2.1 Solidarität oder Objektivität? .............................................................................................................. 3

2.1.1 Realisten .......................................................................................................................................... 3

2.1.2 Pragmatisten .................................................................................................................................... 4

2.2 Freud und die moralische Reflexion .................................................................................................... 7

2.2.1 Mechanisierung der Welt und Moral ............................................................................................... 7

2.2.2 Selbsterkenntnis als Selbstbereicherung.......................................................................................... 8

2.2.3 Moralische Reflexion ...................................................................................................................... 8

2.3 Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie ............................................................................ 10

2.3.1 Demokratie und Religion .............................................................................................................. 10

2.3.2 Demokratie und Philosophie ......................................................................................................... 11

2.4 Zusammenfassung .............................................................................................................................. 13

3 Menschenrechte, Rationalität und Gefühl............................................................................................... 14

3.1 Zwei verschiedene Vorgehensweisen ................................................................................................. 14

3.2 Vorrang der Kultivierung der Gefühle ............................................................................................... 15

4 Kritik an Rortys Position .......................................................................................................................... 18

4.1 Huber ................................................................................................................................................. 18

4.2 Reuter ................................................................................................................................................. 18

5 Persönliche Stellungnahme ....................................................................................................................... 22

5.1 Ausdehnung des Wir-Gefühls ............................................................................................................. 22

5.2 Sicherheit und Sympathie ................................................................................................................... 23

5.3 Begründung der Menschenrechte ...................................................................................................... 24

5.4 Vielfältige Erziehung der Gefühle ...................................................................................................... 25

6 Bibliographie .............................................................................................................................................. 26

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1 Einleitung

Das Buch Onkel Toms Hütte oder der Film Die Perser tragen

zur Umsetzung der Menschenrechte viel mehr bei als Kants Ka-

tegorischer Imperativ je vermocht hat! Etwa so könnte man

Richard Rortys (1931-2007) provokativen Standpunkt zur Men-

schenrechtsfrage in einem Satz zusammenfassen. Damit setzt er

sich in Kontrast zu einer Jahrtausende alten philosophischen

Linie, die er von Plato bis Kant zieht und die noch heute – wohl

in der analytischen Philosophie – weiterwirkt.

In der vorliegenden Arbeit geht es primär um das Verstehen und Nachvollziehen von Rortys

philosophischer Position. Der erste Teil soll den von ihm vertretenen Pragmatismus eher all-

gemein anhand von drei seiner Essays darstellen – wenn auch die Auswahl der Essays bereits

im Hinblick auf den zweiten Teil geschah.

Der zweite Teil spitzt dann diese Position auf die Menschenrechtsfrage zu, so, wie sie sich für

Rorty stellt. Auch dies geschieht anhand der Darstellung eines seiner Essays. Die daran an-

knüpfende Diskussion seiner Aussagen soll weniger als Beurteilung über die Wahrheit, bzw.

Falschheit seiner Aussagen verstanden werden, sondern vielmehr als ein Versuch, gemeinsa-

me Ausgangslagen für einen erfolgreichen Dialog mit ihm zu finden. Kritiken, die den ersten

Weg wählen, werden seiner Position nicht gerecht, weil sie gar nicht auf sie eingehen. Wes-

halb? – Das hoffe ich, im Folgenden etwas deutlicher zum Vorschein zu bringen.

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2 Pragmatistische Grundlagen

2.1 Solidarität oder Objektivität?

In seinem Essay Solidarität oder Objektivität1 stellt Rorty zwei Wege vor, wie man durch

„Einordnung in einen grösseren Zusammenhang“2 seinem Leben Sinn geben kann. Sie unter-

scheiden sich im „grösseren Zusammenhang“:

Beschreibung3 Dahinterliegender Wunsch4 Bezeichnung5 das Erzählen der „Geschichte des eigenen Beitrags zu einer Gemeinschaft“

Wunsch nach Solidarität Pragmatisten

die Selbstdarstellung als „jemand, der in unmittelbarer Beziehung steht zu einer nichtmenschlichen Realität.“

Wunsch nach Objektivität Realisten

Im Folgenden sollen diese zwei Möglichkeiten der Sinngebung – wie Rorty sie versteht –

ausführlicher dargestellt werden, wobei das Hauptgewicht auf den Pragmatisten liegen wird,

da sie denjenigen Weg gehen, den Rorty vorzieht.6

2.1.1 Realisten

Sehr aufschlussreich ist Rortys Einstieg in die Darstellung der Realisten. Er beschreibt ihren

Ansatz als eine Bewegung weg von der Solidarität hin zur Objektivität.7 Das heisst, dass nach

ihm die Solidarität ursprünglicher ist als die Objektivität. Als Beispiel nennt Rorty die abend-

ländische Kultur und ihre philosophische Tradition – geprägt von den griechischen Philoso-

phen und der Aufklärung. Für sie steht der Begriff Wahrheit – verstanden als Übereinstim-

mung mit der Realität – im Zentrum.8

Typisch für Rortys Position ist – wie noch gezeigt wird -, dass er eine historische Erklärung

dafür liefert, wie es zu dieser Fokussierung auf die Wahrheit gekommen ist, welche an sich

erstrebenswert sei. Nach ihm war es die Erkenntnis der Verschiedenheit der unzähligen Kul-

turen, welche die Philosophen im antiken Griechenland nach und nach kennen lernten, und

damit verbunden der Wunsch, den Beschränkungen der eigenen Gesellschaft zu entkommen.

Die treibende Kraft hinter dem Streben nach Objektivität sei die Hoffnung, durch die Kennt-

1 R. Rorty, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 2005, 11-37. 2 Ebd. 11. 3 Ebd. 11. 4 Vgl. ebd. 11. 5 Vgl. ebd. 13-14. 6 Vgl. ebd. ab 18. 7 Vgl. ebd. 11. 8 Vgl. ebd. 11-12.

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nis der Verschiedenheit zur Erkenntnis einer ahistorischen Gemeinsamkeit aller Menschen,

also der objektiven Erkenntnis des menschlichen Wesens zu gelangen.9 Daraus entwickelte

sich nach Rorty die platonische „Unterscheidung zwischen Wissen und Meinung.“10

Eine solche Erkenntnis sollte eine Sozialrevolution ermöglichen, eine unverbrüchliche Solida-

rität mit allen Menschen schaffen, da sie auf der ahistorischen und damit nicht wandelbaren

Natur des Menschen beruht. Die Realisten machen nach Rorty also folgende Bewegung: Ab-

wendung von der Solidarität (als Austreten aus der eigenen Gemeinschaft) – Hinwendung zur

Objektivität (als Untersuchen der Gemeinschaften im Hinblick auf „etwas sie Transzendie-

rendes“) – Entwickeln einer neuen Form der Solidarität, die nun auf der Objektivität basiert.11

Als Voraussetzungen einer solchen Vorgehensweise nennt Rorty das Aufbauen einer Meta-

physik, aufgrund derer wahre (d.h. mit der Realität übereinstimmende) und falsche Überzeu-

gungen geschieden werden können. Dazu kommt das Entwickeln eines Rechtfertigungsver-

fahrens für die wahren Überzeugungen. Damit verknüpft ist die Notwendigkeit einer univer-

salen Erkenntnistheorie, die nicht auf die eigene Gemeinschaft beschränkt sein darf.12

2.1.2 Pragmatisten

Im Gegensatz dazu haben die Pragmatisten diese Voraussetzungen nicht nötig. Wahrheit ist

nach ihnen nicht die Übereinstimmung einer Aussage mit der Realität sondern schlicht ein

Ausdruck des persönlichen Vorzugs oder der Empfehlung13 – oder in William James’ Worten:

„Das, woran zu glauben für uns gut ist.“14

Auch Objektivität versteht ein Pragmatist nach Rorty anders als der von ihm beschriebene

Realist. Anstatt die Solidarität auf der Objektivität, basiert Rorty – gerade umgekehrt – die

Objektivität auf der Solidarität, da jene für ihn der „Wunsch nach möglichst weitgehender

intersubjektiver Übereinstimmung“ oder nach „möglichst umfassender Erweiterung des An-

wendungsbereichs des Wortes ‹wir›“15 ist. Sie wird also nicht durch Austritt aus der Gesell-

schaft erlangt sondern gerade durch die Verbundenheit mit ihr und das Unterlassen der Suche

nach dem externen (Gottes-) Standpunkt. Deshalb kann man auch von ethnozentrischer Auf-

fassung sprechen, die sich auf die eigene Gesellschaft bezieht und sich nicht daran stört, dass

eine andere Gesellschaft ein anderes Wahrheitsverständnis hat. Denn diese Mehrdeutigkeit

9 Vgl. ebd. 12-13. 10 Ebd. 12. 11 Vgl. ebd. 13. 12 Vgl. ebd. 13-14. 13 Vgl. ebd. 15. 14 Ebd. 14. 15 Ebd. 15.

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lässt die Bedeutung von „wahr“ als Ausdruck der Empfehlung nur umso deutlicher zum Vor-

schein kommen.16

Natürlich heisst das nicht, dass Rorty sich nur noch um die eigene Achse drehen will. Natür-

lich sollen auch die anderen Gesellschaften und deren Verständnis wahrgenommen und mit

ihnen ein Dialog begonnen werden oder es soll – in Quines Worten – unaufhörlich das Glau-

bensnetz neu gewoben werden. Ethnozentrisch weist aber auf die Vorgehensweise in diesem

Dialog hin. Es beschreibt die Notwendigkeit, vom eigenen Standpunkt auszugehen, um die

fremden Annahmen zu überprüfen. Sie werden also nicht aufgrund von absoluten, transkultu-

rellen Normen überprüft, wie das der Realist zu tun versucht, sondern anhand des eigenen

historisch gewachsenen Verständnisses.17

Um diesen Ansatz nicht zu schnell als Selbstwiderspruch abzutun, ist es notwendig anzuer-

kennen, dass es Rorty nicht um eine neue positive Theorie geht, die den Anspruch vertritt, die

wirklich wahre Definition von Wahrheit oder Rationalität zu bieten. Es geht ihm vielmehr um

den negativen Punkt – das Ablassen von der Suche nach ahistorischer Objektivität. Da er sich

also nicht Objektivität, sondern Solidarität zur Basis macht, will er auch keine erkenntnistheo-

retische und metaphysische Aussage über den Zustand der Dinge machen, sondern eine ethi-

sche.18 Ihn beschäftigt nicht die Frage, wie unsere Gesellschaft ist, sondern wie sie sich selber

darstellen sollte.19 So ist auch der Fortschritt nicht das Hinbewegen auf einen im voraus be-

stimmten Ort, sondern „die Möglichkeit, interessantere Dinge zu tun und interessantere Per-

sonen zu sein“, oder in anderen Worten ausgedrückt: es geht nicht um das Entdecken, sondern

um das Machen.20 Die Aussage zum Beispiel, dass eine Person Rechte hat, besagt nach Rorty

nichts weiter, als dass diese Person auf bestimmte Weise behandelt werden soll. Einen Grund,

weshalb sie so behandelt werden soll, sieht Rorty darin jedoch nicht gegeben.21

Doch, wie kann man darüber eine Aussage machen, was interessanter, was erstrebenswerter

ist? Rortys Ansatz verbietet einen Rückbezug auf transkulturelle Kriterien oder ein festgesetz-

tes Ziel, das erstrebt werden soll. Für ihn besteht die Rechtfertigung seiner Wahrheit – dessen,

was er als empfehlenswert für unsere Gesellschaft erachtet – im Vergleich von Gesellschaf-

ten, die eine bestimmte Gewohnheit aufweisen, bzw. nicht aufweisen. Die praktischen Ein-

16 Vgl. ebd. 15. 17 Vgl. ebd. 20. 18 Vgl. ebd. 16-22. 19 Vgl. ebd. 24. 20 Vgl. ebd. 23. 21 Vgl. ebd. 29.

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zelvorteile, die sich aus dieser Gewohnheit ergeben, sind die einzige Form von pragmatisti-

scher Rechtfertigung, die er akzeptiert.22

Wiederum ist zu beachten, dass diese Rechtfertigung keine Rechtfertigung vor einer fremden

Person einer fremden Kultur ist, sondern lediglich eine gegenüber den Angehörigen der Ge-

meinschaft, die Rorty mit wir umfasst. Eine solche Rechtfertigung ist nur insofern relativis-

tisch, als es dem Realisten im Gegenzug möglich ist, tatsächlich von einem allgemeinen

Standpunkt aus zu urteilen,23 was Rorty bestreitet, ja sogar als ebenso leicht durchschaubaren

Trick wie die Postulierung von Göttern bezeichnet. 24

Es sind also praktische und nicht erkenntnistheoretische Gründe, die Rorty zur Bevorzugung

der pragmatistischen – ethnozentrischen, historischen, auf Solidarität gründenden – gegenüber

der realistischen – metaphysischen, ahistorischen, auf Objektivität gründenden – Vorgehens-

weise veranlasst haben. Im folgenden Essay Freud und die moralische Reflexion25 beleuchtet

Rorty seine Position nochmals von einer anderen Seite her mit dem Fokus auf der Ethik. Das

soll nun vorgestellt werden.

22 Vgl. ebd. 25. 23 Vgl. ebd. 27. 24 Vgl. ebd. 31. 25 Ebd. 38-81.

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2.2 Freud und die moralische Reflexion

Waren im letzten Essay die zwei Möglichkeiten, dem Leben durch Einordnung in ein Grösse-

res Sinn zu geben, der Ausgangspunkt der Abhandlung, so sind es in Freud und die morali-

sche Reflexion26 zwei unterschiedliche Vorstellungen von der Welt und damit auch vom Men-

schen. Für Rorty besteht die Alternative darin, den Menschen entweder als natürliche Art o-

der als Maschine zu betrachten. Ist der Mensch eine Substanz – wie Aristoteles sie beschrieb

– als eine Verbindung von einem zentralen Wesen mit einer Menge nebensächlicher Akziden-

tien oder besteht er aus homogenen Teilchen, die sich nach allgemeingültigen Gesetzen ver-

binden und wieder lösen? Hat der Mensch also ein Zentrum oder hat er – wie eine Maschine –

keines?27

Rorty interessiert sich vor allem für die letztere Variante und zeigt die Stärken und Möglich-

keiten seiner Interpretation von Freuds sogenanntem Dezentrierungsverfahren,28 das mit der

Kopernikanischen Wende und Darwins Evolutionslehre in einer Reihe der Mechanisierung

unseres Weltbildes steht.

2.2.1 Mechanisierung der Welt und Moral

Der geschichtliche Wandel vom geozentrischen Weltbild hin zur Vorstellung von einer Welt

ohne Zentrum, die sich wie eine Maschine nach Gesetzen verhält, blieb nicht ohne Folgen für

das persönliche Leben. Eine Konsequenz dieser Mechanisierung des Universums ist, dass die

Welt sinnlos erscheint. Sie verliert ihre Fähigkeit, den Menschen darüber zu belehren, wie er

leben solle.29

Freuds Einführung der unbewussten Motive, die uns dazu bringen auf bestimmte Weise zu

handeln, sein Anliegen, dem Ich nachzuweisen, „dass es nicht einmal Herr ist im eigenen

Hause,“30 könnte aufgrund seiner dezentrierenden Wirkung auf das Selbst genauso wie die

Mechanisierung des Universums und der Biologie ein weiteres Beispiel für die Irrelevanz der

Welt – diesmal der Psyche – im Hinblick auf moralische Fragen sein. Doch Rorty folgert an-

ders: Für ihn führt Freuds Tiefenpsychologie fast zu einer moralischen Pflicht,31 etwas über

die unbewussten Motive des eigenen Selbst in Erfahrung zu bringen.32

26 Ebd. 38-81. 27 Vgl. ebd. 39. 28 Vgl. ebd. 45. 29 Vgl. ebd. 40. 30 Ebd. 38. 31 Allerdings handelt es sich hierbei um die private (vs. öffentliche) Moral, wie ebd. 54 dargelegt wird. 32 Vgl. ebd. 41.

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Eine solche Folgerung ist erklärungsbedürftig. Sie ergibt sich aus der Unterscheidung von

Freud und Hume, welcher bereits vor Freud eine Form von Mechanisierung der Seele, bzw.

des Ichs, durch Postulierung von psychischen Atomen vornahm. Eine derartige Vorstellung

machte das Selbst für die Moral irrelevant.33 Anders verhält es sich mit Freud, der nach Rorty

die Seele nicht auf Atome reduzierte, sondern sie mit unbekannten Personen bevölkerte34 –

was nach ihm „kohärente und plausible Menge[n] von Überzeugungen und Wünschen“35 sind

–, die dem bewussten Selbst den Platz streitig machen. Geht man also von solchen Personen

in seinem Unbewussten aus, ist dies relevant für das eigene Verhalten. Denn um das eigene

Tun zu verstehen und zu kontrollieren, muss man alle Personen kennen lernen, die das Ver-

halten mitbestimmen.36

2.2.2 Selbsterkenntnis als Selbstbereicherung

Die Forderung nach Selbsterkenntnis gewinnt dadurch wieder an Aktualität, doch nicht in

dem Sinn, dass versucht werden soll, das wahre Zentrum des Menschen zu finden – die Vor-

stellung der Existenz eines solchen wurde ja, wie oben beschrieben, aufgegeben. Rorty ver-

steht Freud nicht so, dass das Unbewusste der Sammelbegriff für das Triebhafte der Leiden-

schaften des Menschen ist, von dem man sich zu läutern habe. Er lokalisiert im Unbewussten

„ein oder mehrere gut artikulierte Glaubens- und Wunschsysteme“,37 mit denen man in einen

Dialog kommen soll. Wenn Rationalität durch die Fähigkeit definiert wird, komplexe und

kohärente Glaubensnetze zu knüpfen,38 so handelt es sich nach Rorty beim Unbewussten um

etwas Rationales, das man anhören, und von dem man lernen kann. An die Stelle der Selbst-

läuterung tritt daher die Selbstbereicherung durch Kennenlernen der verschiedenen, in sich

kohärenten, Möglichkeiten der Verarbeitung und Deutung ein und derselben zufälligen Erleb-

nisse.39

2.2.3 Moralische Reflexion

Reife erklärt Rorty analog zum Fortschritt im vorangegangenen Essay als die Fähigkeit, die

eigene Vergangenheit in neuer Weise zu beschreiben. Es wird also nicht die eine richtige Be-

schreibung des Selbst gesucht (analog zum festgesetzten Ort, den es [nicht] zu erreichen

33 Vgl. ebd. 40-41. 34 Vgl. ebd. 45. 35 Ebd. 44. 36 Vgl. ebd. 45. 37 Ebd. 47. 38 Vgl. ebd. 48. Der Ausdruck Glaubensnetz trat bereits im vorhergehenden Essay auf, als es um den interkultu-rellen Dialog ging (vgl. weiter oben). 39 Vgl. ebd. 49-50.

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gilt),40 sondern Reife zeichnet sich durch die Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten und deren

Potential zum Wandel aus (analog zur Möglichkeit „interessantere Dinge zu tun und interes-

santere Personen zu sein“). Selbsterkenntnis wird dadurch zum Werkzeug, um an der eigenen

Maschine herumzumodeln41 - ein weiteres Beispiel dafür, dass es Rorty nicht primär um das

Entdecken, sondern um das Machen geht.

Aus der zunehmenden Selbsterkenntnis folgt die Zunahme des Vokabulars der moralischen

Reflexion, worunter Rorty eine „Reihe terminologischer Ausdrücke, mit deren Hilfe man sich

und andere Menschen miteinander vergleicht“,42 versteht. Moralische Reflexion setzt sich

nach ihm nun nicht mehr zum Ziel, die metaphysischen Prinzipien zu erkennen, nach denen

man sich zu richten hat. Viel mehr geht es ihr um das Aufdecken der Vielfalt der Möglichkei-

ten, sich selber zu schaffen aus den zufälligen Bestandteilen, aus der die eigene Maschine

zusammengesetzt ist.43

Auf diesem Hintergrund ist die pikante Aussage zu verstehen: „Um Moral zu haben, brauchen

wir kein Bild des ‹menschlichen Ichs›“44. Für Rorty basiert das moralische Handeln nicht auf

irgendwelchen Gründen, weshalb man so oder so handeln sollte – diese sind lediglich Versu-

che, den eigenen Prämissen Autorität zu verschaffen45 –, sondern es richtet sich allein nach

Fragen wie: „Welche Geschichte werde ich mir später erzählen, wenn ich nicht dies, sondern

das tue?“46

Hier muss die Vermittlung von Moral einsetzen, indem sie historische Erzählungen darbietet,

in die sich diejenige des eigenen Lebens einfügen, sich mit ihnen identifizieren kann, während

der Versuch, moralischen Institutionen durch Metaphysik oder Religion ahistorische Gültig-

keit und Autorität zu verleihen, angesichts des schnellen sozialen Wandels zum Scheitern

veruteilt ist.47 Diese grossen Erzählungen bieten ein moralisches Vokabular an, mit dem „der

Einzelne kohärente Geschichten über das eigene Leben erzählen kann.“48 Sie ermöglichen die

Verbindung des Gefühls der Kontingenz und Sterblichkeit mit dem Gefühl der Grösse. Und

das sei lohnenswert.49

40 Vgl. weiter oben. 41 Vgl. ebd. 52-53. 42 Ebd. 55-56. 43 Vgl. ebd. 57. 44 Ebd. 65. 45 Vgl. ebd. 68. 46 Ebd. 67. 47 Vgl. ebd. 69. 48 Ebd. 70. 49 Vgl. ebd. 70.

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2.3 Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie

Nachdem sich Rorty im vorangegangenen Essay auf die private Moral und ihr Ziel der Selbst-

schaffung und –bereicherung beschränkt hat, setzt er in Vorrang der Demokratie vor der Phi-

losophie50 diese ins Verhältnis zur öffentlichen Moral. Wie hängen die öffentliche Moral ei-

ner liberalen Demokratie und der Wunsch nach Selbstschaffung in der privaten Moral zu-

sammen?

2.3.1 Demokratie und Religion

Bevor sich Rorty der im Titel genannten Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Phi-

losophie widmet, behandelt er eine andere, nämlich diejenige zwischen Demokratie und Reli-

gion. Der Grund dafür scheint die Analogie zu sein, die Rorty in diesen zwei Auseinanderset-

zungen, bzw. in zwei ihrer Akteure – Jefferson und Rawls – sieht.51

Jefferson steht bei Rorty für die Trennung zwischen Staat und Religion. Wenn jener sagt:

„Wenn mein Nachbar meint, es gebe zwanzig Götter oder es gebe keinen Gott, tut er mir nicht

weh“,52 geht er einen Kompromiss ein: Er behauptet die Irrelevanz der Religion in der öffent-

lichen Politik, doch er geht nicht so weit, dass er die Religion als ganz irrelevant bezeichnet.

Denn für das private Leben kann sie ihre Bedeutung bewahren.53 Man könnte sie vielleicht als

eines der verschiedenen moralischen Vokabulare bezeichnen.54

Jeffersons Kompromiss hat zwei Seiten: Zum einen – Rorty nennt sie die absolutistische –

muss jeder Mensch unabhängig von der Religion die Fähigkeit zur bürgerlichen Tugend ha-

ben. Diese Fähigkeit – sie entspringt dem Gewissen – ist es, was den Menschen zum Men-

schen macht und ihn darum mit Würde ausstattet. Auf der anderen Seite gehört zum Kom-

promiss mit dazu – dies sei die pragmatische [sic!]55 Seite –, dass die genannte Fähigkeit in

Schranken gewiesen wird. Denn sobald das Gewissen in einer für die Öffentlichkeit relevan-

ten Angelegenheit zu einem Entscheid drängt, der nicht von der Mehrheit der Mitbürger un-

terstützt werden kann, muss sich das Gewissen der Demokratie beugen.56

Die Spannung, die sich aus dem Nebeneinander der zwei Seiten ergibt, kann durch eine philo-

sophische Theorie aufgelöst werden. Nach ihr werden die Entscheidungen, die man vor der 50 Ebd. 82-125. 51 Vgl. ebd. 89. 52 Ebd. 82. 53 Vgl. ebd. 82. 54 Diese Aussage ist eine Schlussfolgerung von mir. Sie findet sich nicht im behandelten Essay. 55 Vgl. weiter unten. Da spricht Rorty von der pragmatistischen Seite. 56 Vgl. ebd. 83.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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Mehrheit rechtfertigen kann, als wahr bezeichnet. Damit fallen sie in den Bereich der Ratio-

nalität, welche zuständig ist für die Erkenntnis der Warhheit.57 Im Gegensatz dazu werden all

die Entscheide, die nicht zu rechtfertigen sind, als irrational bezeichnet. Von solchen aber

muss man sich reinigen, da sie nicht zum moralischen Vermögen gehören, welches auf der

Rationalität beruht.58

Doch im vergangenen Jahrhundert hat nach Rorty eine Entwicklung stattgefunden, die weiter

oben bereits angeklungen ist (z.B. bei der Reihe der Dezentralisten Kopernikus, Darwin,

Freud):59 Vermehrt tritt die Geschichtlichkeit des Menschen in den Vordergrund philosophi-

scher Reflexion, die keinen ahistorischen menschlichen Kern mehr anerkennt und Rechtferti-

gung nicht mehr mit Rationalität in Verbindung bringt. Dadurch wird allerdings die Brücken-

funktion der Philosophie in der Verbindung des spannungsgeladenen Nebeneinanders der

zwei Seiten des Kompromisses verunmöglicht. Neu muss also das Verhältnis zwischen De-

mokratie und Philosophie geklärt werden.60 Dem widmet sich der folgende Abschnitt.

2.3.2 Demokratie und Philosophie

Fällt die Verbindung der zwei Seiten weg, so ist die Polarisierung die notwendige Konse-

quenz. Der absolutistische Pol proklamiert unveräusserliche Menschenrechte, ohne jedoch

dafür auf eine metaphysische Theorie zurückzugreifen. Der pragmatistische freut sich an den

Früchten der Metaphysik, ohne selber ihren Weg zu gehen. Um trotzdem unterscheiden zu

können, welche Gewissensentscheide akzeptabel und welche als fanatisch zu bezeichnen sind,

muss man sich mit Tradition und Konsens der eigenen Gemeinschaft – unabhängig von der

Frage, ob diese der Wahrheit entsprechen – zufrieden geben. Rorty bevorzugt diese zweite

Möglichkeit und beschreibt sie ausführlicher.61

Den Einstieg bietet die Frage: Wenn sich die heutige liberale Demokratie der Aufklärung ver-

dankt, aus ihrem Gedankengut heraus entsprungen ist, kann man dann das Gedankengut ver-

werfen, ihr Produkt aber beibehalten? Rorty bejaht und zeigt Konsequenzen dieser Bejahung

auf: Philosophie hat nach ihm nicht mehr die Aufgabe, die Demokratie zu rechtfertigen, wie

das zur Zeit der Aufklärung noch der Fall gewesen ist, sondern ihre Aufgabe besteht in der

Artikulation der demokratischen Anliegen.62 Hier kommt nun Rawls ins Gespräch, den Rorty

als Nachfolger Jeffersons betrachtet, weil er dessen religiöse Toleranz auf die Philosophie

57 Vgl. weiter oben. 58 Vgl. ebd. 83. 59 Vg. weiter oben. 60 Vgl. ebd. 84. 61 Vgl. ebd. 84-85. 62 Vgl. ebd. 87-88.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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ausweitet. So, wie die Religion zur Zeit Jeffersons nicht mehr als gemeinsame Basis für die

sittliche Orienterung der Gesellschaft dienen konnte, so kann nach Rawls die Philosophie, die

sich auf eine „unabhängige metaphysische und sittliche Ordnung“63 bezieht, keine solche Ba-

sis für die liberale Demokratie mehr schaffen. Stattdessen solle die Philosophie die fest ver-

ankerten Überzeugungen und deren Grundgedanken zu einem kohärenten Konzept von Ge-

rechtigkeit nach der Methode des sogenannten reflexiven Gleichgewichts vereinen.64 Damit

übernehmen Geschichte und Soziologie die Funktion der Metaphysik.65

Wieder – wie oben in Freud und die moralische Reflexion – stellt sich die Frage, ob eine sol-

che Vorgehensweise ausreiche oder ob nicht doch auch Gründe in Form von rationalen

Rechtfertigungen für das je richtige Verhalten benötig würden. Wieder ist die Antwort die,

dass die Einbindung des Einzelnen in eine grössere Geschichte – die Geschichte einer Gesell-

schaft, deren grösste Tugend die Gerechtigkeit ist66 – ausreiche und mit der positiven Erfah-

rung auch der Wunsch nach einer ahistorischen Begründung immer mehr nachlasse.67 Rawls

geht es nach Rorty in erster Linie nicht um die Begründung des Primats der Gerechtigkeit,

sondern um dessen Konsequenzen.68

Damit wird der Anspruch aufgegeben, dass durch eine vernünftige Argumentation jeder Be-

liebige von der Wahrheit überzeugt werden könne. Ganz anders Denkende – Rorty verwendet

Ignatius von Loyola und Nietzsche als Beispiele – werden nun also nicht als irrational be-

zeichnet, denen die Wahrheit noch nicht genug deutlich aufgezeigt worden ist, sondern als

unfähig, Teil unserer konstitutionellen Demokratie zu sein.69 So wird auch die Möglichkeit

einer gescheiterten Einigung, eines misslungenen Dialogs in Betracht gezogen, weil es nicht

nur ein einziges Vokabular der moralischen Reflexion gibt und sich unser historisch geprägtes

Vokabular vielleicht mit einem anderen überhaupt nicht in Verbindung bringen lässt.70

Die Schwierigkeit, die daraus erwächst, ist die, dass nun bestimmten Personen das Entgegen-

kommen, bzw. die Solidarität entzogen wird, wenn eine Einigung mit ihnen nicht möglich ist.

Denn, wenn man jegliche Theorie des menschlichen Wesens aufgegeben hat, hat man damit

auch den Autoritätsanspruch aufgegeben, jeder müsse von der Wahrheit der eigenen Meinung

63 Ebd. 91. 64 Vgl. ebd. 94. 65 Vgl. ebd. 91. 66 Hierbei handelt es sich nicht um eine fiktive Gesellschaft. Rawls, auf den sich Rorty hier bezieht, meint damit die eigene, die Gemeinschaft der „modernen Erben der Tradition der religiösen Toleranz und der konstitutionel-len Regierungsform [, die] der Freiheit Vorrang geben vor der Vollkommenheit.“ Ebd. 97. 67 Vgl. ebd. 94. 68 Vgl. ebd. 100. 69 Vgl. ebd. 98-99. 70 Vgl. ebd. 102-103.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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überzeugt werden können. Mit dieser Schwierigkeit muss man nach Rorty leben.71 Sie gehört

zur Vorrangstellung der Demokratie vor der Philosophie unabdingbar hinzu.72

2.4 Zusammenfassung

Auf wenige Sätze reduziert, könnte man Rortys Position etwa folgendermassen zusammen-

fassen: Über den Menschen lassen sich keine metaphysischen Aussagen machen, die unter-

scheiden könnten zwischen dem wahren, universalen Selbst und den persönlichen Akziden-

tien. Deshalb lassen sich auch keine Aussagen über ein Zentrum des Menschen machen. Wir

müssen also von der Einzelperson als geschichtliches Wesen ausgehen, das aufgrund zufälli-

ger Ereignisse so und nicht anders geprägt wurde. Damit verändert sich die Blickrichtung: es

wird nicht mehr danach gefragt, was der Mensch ist, sondern danach, wie der Mensch inner-

halb seines kontigenten Rahmens sein könnte. Massstab hierfür ist nicht eine postulierte

Übereinstimmung mit der Wahrheit, sondern Kohärenz mit den Grundgedanken der persönli-

chen Intuitionen. Hilfen zur Erlangung einer solchen Kohärenz bieten die grossen Geschich-

ten der eigenen Gemeinschaft, da sie bereits an der Bildung der eigenen Intuitionen beteiligt

waren. Das macht die Solidarität und den Dialog mit der eigenen Gesellschaft zur Ausgangs-

basis allen philosophischen Denkens, ohne dabei in eines der zwei Extreme – eine kolonialis-

tische Form des Ethnozentrismus oder einen sich selbst widersprechenden Relativismus – zu

verfallen.73 Denn die eigenen Intuitionen und Einstellungen werden nicht als die einzige wah-

re Form betrachtet – eine solche Bezeichnung gibt es gar nicht mehr – sondern als ein Voka-

bular unter vielen, die sich nicht zwingend decken müssen.

71 Vgl. ebd. 101- 102. 72 Vgl. ebd. 105. 73 Vgl. H.-R. Reuter, Relativistische Kritik am Menschenrechtsuniversalismus? Eine Antikritik, ders. (Hg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee I, Tübingen 1999, 87.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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3 Menschenrechte, Rationalität und Gefühl

Auf dieser Einführung zu Richard Rorty soll nun die Darstellung seines Essays Menschen-

rechte, Rationalität und Gefühl74 fussen. Darin wird aufgezeigt, wie sich seine philosophische

Vorgehensweise auf die Frage der Menschenrechte auswirkt. Verschiedene Punkte, die oben

bereits erläutert wurden, werden nicht mehr speziell ausgeführt, sondern nur noch kurz zu-

sammengefasst und zuweilen kommentiert.

Rorty beginnt den Essay mit einem Bericht über das unmenschliche Verhalten, das Serben zur

Zeit des Krieges ihren bosnischen Gefangenen gegenüber gezeigt hatten. Doch anhand Jeffer-

son, dem Gründer von Rortys Universität – er begegnete bereits im Essay Vorrang der Demo-

kratie vor der Philosophie –, und der amerikanischen Sklavenfrage integriert er sogleich das

Problem in den eigenen Geschichtshorizont seiner intendierten Leser. Das Problem ist also

kein abstraktes, das nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat, sondern es gehört zur gemein-

samen Geschichte, zum kulturellen Erbe seiner Leser. Doch nicht nur in der Geschichte ist

dieses Problem der Entmenschlichung zu verorten sondern auch in der Gegenwart: dann näm-

lich, wenn wir solches Verhalten als unmenschlich oder tierisch bezeichnen und damit Skla-

venhalter und Folterknechte zu Pseudomenschen erklären.75 Rorty macht also Ernst damit,

eine moralische Frage ausgehend von den grossen Geschichten der eigenen Gemeinschaft zu

klären.

3.1 Zwei verschiedene Vorgehensweisen

Doch es geht ihm nicht nur um den Gegenstand der angesprochenen Menschenrechts-

verletzungen, sondern auch um die Darstellung seiner Argumentationsweise und seines Lö-

sungsansatzes auf einer Metaebene,76 die beschreibt, wie und weshalb er so und nicht anders

an das Thema herangeht. Dies tut er erwartungsgemäss anhand eines Vergleichs der zwei un-

terschiedlichen Wege, die auch die oben besprochenen Essays gefüllt haben: der Realismus –

bzw. die abendländigsche Philosophie von Plato über Kant bis Nietzsche – und der Pragma-

tismus.

Provokativ leitet er diesen Vergleich ein, indem er eine Ähnlichkeit konstatiert zwischen den

Folterern und den Moralphilosophen. Diese nämlich „hoffen, die Welt von Vorurteil und 74 R. Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, S. Shute/S. Hurley (Hgg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt a. M. 1996, 144-170. 75 Vgl. ebd. 144-145. 76 Man beachte, dass es hierbei nach Rorty nicht um die klassische Metaethik geht, da sich diese mit „Fragen zum Verhältnis zwischen Tatsachen und Werten oder zwischen Vernunft und Gefühl […]“ beschäftigt (Ebd. 151).

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

15

Aberglauben reinigen zu können“,77 während jene sie von Pseudomenschen zu säubern trach-

ten. Bei beiden geht es um Reinigung und die Fähigkeit, endlich ganz Mensch zu werden.

Dabei heisst Mensch immer Mensch wie wir. Was sich zu stark von uns unterscheidet, kann

höchstens noch pseudomenschlich sein.78 Von einer solchen Fokussierung auf Reinigung hat

sich Rorty in Freud und die moralische Reflexion deutlich abgegrenzt und ihr die Selbsterwei-

terung gegenübergestellt.

Von oben her bekannte Gründe, die für den Weg des Pragmatismus sprechen, finden auch in

diesem Essay ihre Erwähnung. So hat nach Rorty das allgemeine Interesse an der Frage nach

dem Wesen der menschlichen Natur abgenommen, und an deren Stelle ist die Betonung der

enormen Form- und Wandelbarkeit des Menschen getreten.79 Diesmal ist nicht Freud, sondern

Darwin der Wegbereiter einer solchen Interessensverschiebung, der den Blick weglenkt von

der Frage, was der Mensch ist, hin zu derjenigen, „welche Welt wir für unsere Urenkel schaf-

fen können.“80 Die beste Erklärung für diese Favorisierung der Hoffnung gegenüber der Er-

kenntnis sieht Rorty im Umstand, dass Europa und Amerika während der letzten zwei Jahr-

hunderte eine Zeit der Blüte erlebten, in der Bildung, Kapital und Freizeit ausserordentlich

zugenommen haben. Dieses Wachstum habe den sittlichen Fortschritt und die mit ihm ver-

bundene Vielfalt an Zukunftsperspektiven und Hoffnungen stark gefördert.81 Auf der anderen

Seite ist nach Rorty die Ineffizienz der aufklärerischen Philosophie immer deutlicher gewor-

den, die zwar Utopien schuf, die wir dankend weiterverwenden können,82 aber in der Umset-

zung ihrer Ideale scheiterte.83 An diesem (Gegen-) Argument erkennt man deutlich die prag-

matische Ausrichtung des Autors, der keine neue metaphysische Erkenntnistheorie aufstellen

will, sondern nach einem anderen Weg sucht.

3.2 Vorrang der Kultivierung der Gefühle

Der von Rorty eingeschlagene Weg soll nun dargestellt werden. Gerade anhand der folgenden

Aussage sieht man deutlich, wie Rorty die in Solidarität oder Objektivität? betonte Notwen-

digkeit, vom Standpunkt der eigenen Gemeinschaft auszugehen, selber in die Tat umsetzt. Er

geht von der traditionellen Frage aus, was den Menschen von den anderen Tieren unterschei-

de, und beantwortet sie auch. Er scheint also ganz auf dem altbekannten Weg der sogenannten

77 Ebd. 145. 78 Vgl. ebd. 145. 79 Vgl. ebd. 147. 80 Ebd. 154. 81 Vgl. ebd. 153. 82 Vgl. ebd. 152. 83 Vgl. ebd. 150.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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Realisten zu gehen, die nach ontologischen Aussagen über den Menschen suchen. Aber das

wäre falsch beobachtet. Seine Antwort, dass die Fähigkeit, füreinander zu fühlen, eine hilfrei-

chere Antwort sei als die Fähigkeit zur Erkenntnis, deutet den Neuansatz an.84 Seine bevor-

zugte Antwort ist also nicht die wahrere als die andere sondern die hilfreichere. Sie ist Werk-

zeug und nicht Wesensaussage.

Ihre Nützlichkeit zeigt sich sogleich in der Darstellung des Problems. Beim Thema Men-

schenrechte und ihre Verletzung sieht Rorty nämlich das Hauptproblem nicht im Psychopat-

hen, der ausschliesslich auf sich selbst fokussiert alle anderen Menschen mit Füssen tritt, son-

dern im freundlichen Serben, der sich solidarisiert mit seinen Nachbarn, aber die Muslime als

beschnittene Hunde betrachtet.85 Hilfreich ist die Antwort deshalb, weil sie davor bewahrt zu

meinen, das Problem könne man lösen, indem man den Serben davon zu überzeugen sucht,

dass er und die Muslime aufgrund ihrer gemeinsamen Fähigkeit zur Erkenntnis zusammen zur

Gattung Mensch gehören und deshalb gegenseitige Achtung verdienen. Nicht Irrationalität ist

also die Ursache des Problems. Nach Rorty ist es der Umstand, dass es oft schlicht zu gefähr-

lich sei, „das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu einer sittlichen Gemeinschaft über den

Kreis der Familie, des Klans oder des Stammes hinaus auszudehnen.“86 Der Mangel an Si-

cherheit – womit Rorty Lebensbedingungen meint, „die hinreichend frei von Gefährdung

sind, sodass die Unterschiede zwischen uns und den anderen unwesentlich werden“87 – und

Sympathie – verstanden als „jene Reaktion, die die Athener stärker zeigten als zuvor, nach-

dem sie Die Perser von Aischylos gesehen hatten“88 – führt nach ihm zu dieser Form von

Identität, die sich vor allem über die Abgrenzung definiert, über das Gefühl, wer man nicht

ist.89

Wenn wir in Westeuropa und Amerika im Gegensatz zu den genannten Negativbeispielen

unsere Gefühle derart kultivieren konnten, dass wir unsere Identität nicht mehr exklusiv defi-

nieren, sondern fähig sind, uns auch in die Lage von Verachteten zu versetzen,90 wenn wir in

unserer Gemeinschaft von der Verankerung der Menschenrechte als positivem Faktum reden

können,91 dann hat das genau mit der oben beschriebenen Entwicklung – der Zunahme an

Kapital, Freizeit und Bildung, bzw. an Sicherheit und Sympathie – innerhalb der letzten zwei

84 Vgl. ebd. 154. 85 Vgl. ebd. 156. 86 Ebd. 157. 87 Ebd. 160. 88 Ebd. 160. 89 Vgl. ebd. 158. 90 Vgl. ebd. 159. 91 Vgl. ebd. 148.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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Jahrhunderte zu tun. In einem solchen Klima können wir uns darüber entsetzen, was in unse-

rer eigenen Geschichte schief gelaufen ist, können unsere Gefühle noch feiner entwickeln,

unser moralisches Vokabular noch mehr ausdehnen. Denn dies ist nur dann möglich, wenn

man genug Zeit hat, sich zu entspannen um zuzuhören. Es sind nach Rorty also die verschie-

denen kontingenten Umstände, die sowohl uns, wie auch die Serben unterschiedlich geprägt

haben.92

Mit Baier möchte er deshalb das Vertrauen anstelle der Vernunft oder der Pflicht zum Grund-

begriff der Moral machen.93 In anderen Worten geht es nicht um die Frage, weshalb wir mora-

lisch handeln sollten (eine solche Frage zielt auf Objektivität hin) sondern um die, weshalb

wir uns um den abstossenden Fremden kümmern sollten (hier ist die Solidarität im Fokus).94

Die Antwort auf diese zweite Frage sieht Rorty in der Wirkung der traurigen, sentimentalen

Geschichten: „Solche über die Jahrhunderte wiederholten und variierten Geschichten haben

uns reiche, in Sicherheit lebende, mächtige Menschen dazu gebracht, machtlose Menschen zu

tolerieren oder sogar zu schätzen.“95 Derartige Geschichten werden uns nach Rorty auch heute

noch viel leichter zum Handeln bewegen können als rationale Begründungen der Sittlich-

keit.96

92 Vgl. ebd. 161. 93 Vgl. ebd. 161. 94 Vgl. ebd. 165. 95 Ebd. 166. 96 Vgl. ebd. 166.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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4 Kritik an Rortys Position

4.1 Huber

In Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik97 greift Huber im Kapitel

Gerechtigkeit und Menschenwürde98 bei der Besprechung der Universalität der Menschen-

rechte Rortys Ansatz ganz kurz auf und stellt folgende Mängel daran fest: Nach ihm setzt

Rorty die Frage nach den Mechanismen, mittels derer die Anerkennung der Menschenrechte

erreicht werden könne, mit der Frage nach ihrer Begründung gleich. Deshalb bleit nach Huber

sowohl für denjenigen, der den Menschenrechten Anerkennung verschaffen will, als auch für

denjenigen, der davon überzeugt werden soll, die Frage offen, weshalb die Menschenrechte

anerkannt werden sollen – in anderen Worten: ob sie irgendwelche Geltungsansprüche ha-

ben.99

Diese Kritik hat selber wieder ihre Mängel. Die Geltungsansprüche – die Frage nach dem

Weshalb – werden weiter unten noch ausführlicher besprochen. Weiter ist fraglich, ob Rorty

wirklich die Mechanismen – Werkzeuge in seinem Sprachspiel – mit den Gründen gleichsetzt.

Ich verstehe ihn eher so, dass er die Frage nach den Gründen ersetzt durch diejenige nach den

Mechanismen, weil er von einer bereits verankerten Menschenrechtskultur ausgeht, die nicht

mehr begründet werden muss.

4.2 Reuter

Etwas ausführlicher geht Reuter auf Rortys Ansatz ein.100 Er beschreibt Rortys Position – er

bezeichnet sie als gemässigten Ethnozentrismus – als Mittelweg zwischen den zwei Extremen

absolute Toleranz gegenüber jeder Gruppe und grundsätzliche Privilegierung der eigenen

Gesellschaft, die den logischen Selbstwiderspruch vermeidet und allein die negative These

vertritt, dass es keinen ahistorischen Standpunkt der Beurteilung gibt.101

Eine Schwachstelle sieht er bei Rortys unvollständigem dezentralisierenden Ansatz. Nach ihm

will dieser nämlich – entgegen seiner eigenen Behauptung – doch nicht ganz mit der klassi-

schen Definitionsweise brechen, indem er mindestens eine differentia specifica des Menschen

97 W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, München 32006. 98 Ebd. 265-346. 99 Vgl. ebd. 312. 100 Reuter, Kritik, 75-102. 101 Vgl. ebd. 86-87.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

19

bewahrt – nämlich die Fähigkeit, füreinander zu fühlen.102 Dieser Punkt scheint verlockend.

Er würde die Kohärenz von Rortys System in Frage stellen, was für diesen eine ernst zu neh-

mende Kritik wäre. Doch – wie bereits dargestellt – handelt es sich bei der Aussage, auf die

sich Reuter bezieht, um eine, die nicht Wahrheit, sondern Nützlichkeit beansprucht. Die Men-

schen als fähig zu betrachten, füreinander zu fühlen, verfolgt nach Rorty nicht das Ziel einer

ontologischen Aussage, sondern das einer pragmatischen.

Gewichtiger scheint mir ein Problem, auf das Rorty selber aufmerksam macht in Vorrang der

Demokratie vor der Philosophie, wenn er von der Möglichkeit eines gescheiterten Dialogs

spricht und der damit verbundenen Notwendigkeit, die Menschheit einzuteilen in diejenigen,

vor denen man sich rechtfertigen muss und die Anderen. Nach Reuter steht das Wir, dessen

Gemeinschaftsgefühl Rorty von innen her ausweiten will, in einem prekären Kontrast zum

Anderen. Nicht Mensch und Tier werden dabei geschieden, sondern Menschen und „Men-

schen von der falschen Sorge.“103 Rorty geht es nach Reuter nicht um einen Dialog, bei dem

wir und die Anderen eine Einigung zwischen unterschiedlichen Kulturen anstreben (können),

sondern um eine Assimilierung, bei der die Andern werden wie wir. Ein solches Vorhaben ist

– entgegen Rortys Aussage – auf ein bestimmtes Ziel hin gerichtet: auf eine in aller Vielfalt

von Sprachspielen intendierte gemeinsame Welt. Dies wiederum setzt die Möglichkeit eines

Perspektivenwechsels (eines Austretens aus der eigenen Gemeinschaft) voraus, was Rorty

ebenfalls bestreitet.104

Wie Huber kritisiert auch Reuter Rortys Verzicht auf Geltungsansprüche der demokratischen

Gesellschaftsform. Für uns kann es vielleicht möglich sein, darauf zu verzichten. Aber eine

Gesellschaft, die darauf umschwenken soll, hat nach ihm ein Recht auf die Begründung, wes-

halb sie das tun sollte.105 Diese zwei Punkte möchte ich anhand der untenstehenden Darstel-

lung besprechen:

102 Vgl. ebd. 88. 103 Ebd. 88. 104 Vgl. ebd. 89. 105 Vgl. ebd. 89-90.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

20

In Freud und die moralische Reflexion stellt Rorty sein Prinzip106 der privaten Moral vor: Das

Selbst soll sich bereichern durch zunehmendes Kennenlernen der Personen, die sein Unbe-

wusstes bewohnen, statt sich von ihnen zu reinigen. Denn es gibt keine im Voraus bestimmte

Hierarchie, welche Person den grössten Anspruch auf das Selbst hat – im Gegenteil: Rorty

strebt eine möglichst grosse Fülle an kohärenten Selbstverständnissen an, die fortlaufend zu-

nehmen soll.

Auf der Ebene der Gemeinschaft – auf sie bezieht sich die öffentliche Moral – geht Rorty

parallel vor: Sie besteht aus verschiedenen Personen, von denen keine im voraus dazu be-

stimmt ist, der rechtmässige Vertreter der Gemeinschaft zu sein. Kriterium der Rechtmässig-

keit ist die Möglichkeit zur Rechtfertigung vor der Mehrheit (analog zur Kohärenz des

Selbstverständnisses). Auch hier wird die Zunahme der in einer Gesellschaft mitenander ver-

bundenen Personen angestrebt – die Ausdehnung des Wir-Begriffes.

Ginge man noch weiter auf die Ebene der ganzen Welt, gelangten wir zu verschiedenen Ge-

meinschaften, von denen keine im Voraus dazu bestimmt ist, der rechtmässige Vertreter der

Welt zu sein. Auf diesem Hintergrund ist die Ablehnung des Geltungsanspruches einer Kon-

vention von einer dieser Gemeinschaften zu sehen, die ganz auf Rortys Linie liegt und nach

ihm im Einklang mit der Kultur seiner eigenen Gemeinschaft steht.

106 Ich bin mir der Ungüngstigkeit des Begriffs Prinzip bewusst. Hier ist es im Sinn von Methode, Handlungs-, bzw. Urteilsweise gebraucht und hat mit Metaphysik nichts zu tun.

Welt

Wir-Gemeinschaft

Selbst • Person • Person • Person

Selbst • Person • Person • Person

Selbst • Person • Person • Person

Selbst • Person • Person • Person

Andere Gemeinschaft

Andere Gemeinschaft

Andere Gemeinschaft

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

21

Der Grund, weshalb Rorty aber diesen letzten Schritt auf die Ebene der Welt nicht macht, ist

die Tautologie, die dahinter steckt. Die Welt so zu betrachten, ist Ausdruck des Verständnis-

ses der liberalen Demokratie. Die so verstandene Welt stellte also keine eigene Ebene dar,

sondern bliebe unsere Wir-Gemeinschaft, die sich bis ins Extrem ausgeweitet hat. Die ande-

ren Gemeinschaften wären keine anderen Gemeinschaften mehr. Öffentliche Moral muss sich

nach Rorty also auf die eigene Gemeinschaft beschränken – auf die Menschen wie wir.

Wird aus eigener Überzeugung aber das Ziel einer universalen Menschenrechtskultur ange-

strebt, kann die Umsetzung nur darin bestehen, die Wir-Gemeinschaft auszuweiten, um am

Ende alle Gemeinschaften zu umfassen. Es ist die Hoffnung auf Dialogfähigkeit (denn der

gelungene Dialog zeichnet eine Gemeinschaft aus) zwischen allen Menschen, die Rorty von

den sogenannten Realisten unterscheidet, weil sie diese Fähigkeit voraussetzen. Die Dialogfä-

higkeit – also die Etablierung vergleichbarer Vokabulare moralischer Reflexion – würde nach

Rorty die Frage nach dem Warum der Menschenrechte sinnlos machen, weil die Menschen-

rechte empfunden würden.

Beschränkt man sich aber auf das Thema der Menschenrechte, müsste man Rortys Wir-

Gemeinschaft noch mehr ausdifferenzieren, da verschiedene Ethnien vielleicht bzgl. den

Menschenrechten dialogfähig sein können, in anderen Punkten aber nicht. Unter anderem soll

diese mangelnde Differenzierung im Folgenden korrigiert werden.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

22

5 Persönliche Stellungnahme

5.1 Ausdehnung des Wir-Gefühls

Als Zugehöriger zur christlichen Gemeinschaft in der Schweiz des 21. Jahrhunderts stellt sich

für mich nun die Frage, wie ich mich zu Rortys Position verhalten kann. Diese Frage setzt

bereits voraus, dass ich aufgrund meiner kulturellen Prägung zum Dialog mit Rorty fähig bin,

also zu seiner Wir-Gemeinschaft gehöre, obwohl ich mich eingangs zu einer Gemeinschaft

zugehörig erklärte, zu der sich Rorty nicht zählen würde. Ist diese Voraussetzung gegeben,

bedeutet das, dass verschiedene Gemeinschaften mit ihren je eigenen moralischen Vokabula-

ren in einzelnen Punkten so stark konvergieren können, dass die trennenden Punkte davon

überwogen werden und sich trotz ihnen ein gegenseitiges (zumindest partikulares) Wir-

Gefühl entwickelt. Genau dies ist die Basis der Demokratie und somit der öffentlichen Moral.

Die Übereinstimmung verschiedener moralischer Vokabulare, die in der Demokratie ihre po-

litische Ausdrucksform gefunden hat, ist das Produkt einer geschichtlichen Entwicklung der

gegenseitigen Beeinflussung und Verbindung der verschiedenen darin vertretenen Unterge-

meinschaften mit ihren je eigenen Deutungen der erfahrenen Geschichte, welche ihrerseits

den weiteren Verlauf der Geschichte prägen.

Dieses partikulare Wir-Gefühl scheint mir aber bei Rorty zu wenig bedacht. Zwar erwähnt er

in Der Vorrang der Demokratie vor der Philosophie die Möglichkeit, dass Personen, die ein

anderes moralisches Vokabular haben als die Mehrheit in einer liberalen Demokratie, trotz-

dem aus pragmatischen Gründen loyale Bürger ebendieser Demokratie sein können.107 Da

aber zur Verwirklichung einer globalen Menschenrechtskultur nicht notwendigerweise eine

gemeinsame Staatsform aller Menschen angestrebt werden muss, wird „nur“ die Dialogfähig-

keit in einem – wenn auch wesentlichen – Punkt angestrebt. Durch die heutige Globalisie-

rung, die unausweichlich zu Dialog – wie einseitig er auch immer geschieht – und zu gegen-

seitiger Beeinflussung führt, scheint mir doch die Möglichkeit einer erfolgreichen Überein-

kunft – einem partikularen Wir-Gefühl in der Menschenrechtsfrage – grösser, als es Rortys

Essays vermuten lassen.

Von diesem partikularen Wir-Gefühl als Übereinkunft beider Seiten ist weiter die einseitige

Ausdehnung des Wir-Gefühls zu unterscheiden. Rorty selber macht auch diese Unterschei-

dung nicht deutlich. Doch wenn er von den lieben Studenten spricht, die sich selbst in nicht-

107 Vgl. Rorty, Solidarität, 106.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

23

exklusiven Kategorien definieren,108 oder davon, dass eine Massenvergewaltigung bei ande-

ren Menschen heftige Reaktionen auslöst,109 ist anzunehmen, dass es hierbei um einseitige

Gefühle, also die private Moral geht, da beides unabhängig von den Menschen geschieht, auf

die man sich selber bezieht. Damit muss das Einschreiten bei Menschenrechtsverletzungen –

z.B. die Verklagung des sudanesischen Präsidenten Bashir am internationalen Strafgerichts-

hof, obwohl der Sudan den ICC nicht anerkennt – also ebenso als Reaktion der privaten Moral

betrachtet werden. Dies bietet einen grossen Handlungsvorteil: Die Diskussion um die Ver-

tretbarkeit des Eingriffs vor der betroffenen Gemeinschaft erübrigt sich, da die private Moral

sich nur innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu rechtfertigen hat. So gewagt diese Aussage ist

und vereinnahmend, ja überheblich wirken kann, scheint sie doch Ausdruck unserer gegen-

wärtigen Wirklichkeit – und damit kohärent mit unserer Praxis – zu sein.

Die Einseitigkeit des Wir-Gefühls kann sich allerdings in der Zukunft zur Gegenseitigkeit

entwickeln, nämlich dann, wenn die internationalen Eingriffe dazu dienen, Sicherheit und

Sympathie zu ermöglichen und zu fördern, woraus sich eventuell unserer Gemeinschaft ähnli-

che moralische Vokabulare entwickeln. Im Hinblick auf die Menschenrechtskultur ist dies zu

wünschen.

5.2 Sicherheit und Sympathie

Rortys Aussage, dass die Erfahrung von Sicherheit und Sympathie ein wichtiger Faktor dar-

stellt zur Kultivierung der Gefühle auf eine Menschenrechtskultur hin, scheint gerade in der

derzeitigen, wirtschaftlich prekären Situation, welche unsere Sicherheit ins Wanken bringen

kann, bestätigt zu werden. So heisst es z.B. in der NZZ vom 23.02.2009, dass Clinton – die

amerikanische Aussenministerin – im Dialog mit China „dafür bereit ist, Realpolitik höher zu

bewerten als Auseinandersetzungen um hehre Ideale“,110 womit sie sich auf Probleme um die

Einhaltung von Menschenrechten in China bezieht. Das ist ein Beispiel dafür, dass die etab-

lierte Menschenrechtskultur, die Rorty mit Rabossi als positives Fakutm in unserem kultivier-

ten Westen bezeichnet, doch nicht immer so fest steht, wie man gerne annehmen würde, son-

dern immer wieder durch „realpolitische“ Situationen herausgefordert wird. Ermöglichen von

Sicherheit und Sympathie ist demnach eine unverzichtbare Zielsetzung menschenrechtlicher

Aktionen. Doch scheint mir dies zwar notwendig, aber noch nicht hinreichend. Anhand Hil-

ters – zumindest anfänglichem – Erfolg in Deutschland wird deutlich, dass auch Sicherheit

108 Vgl. Rorty, Menschenrechte, 159. 109 Vgl. ebd. 167. 110 NZZ, 23.02.2009, Charme-Offensive Clintons in China.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

24

und eine bestimmte Art von Sympathie genausogut für das Gegenteil von Menschenrechten

missbraucht werden kann.

5.3 Begründung der Menschenrechte

Als Beispiel dafür, dass gewisse Menschenrechte nicht nur ins Wanken kommen, sondern von

sehr vielen111 Personen mit europäischen, kultivierten Gefühlen auch gänzlich nicht beachtet

werden können, mag ein Artikel der NZZ vom 26.03.2009 genügen. Er berichtet davon, dass

in Europa „zwischen 10 und 20 Prozent aller Kinder Opfer sexuellen Missbrauchs werden“,112

und die Zahl von Internetseiten mit Kinderpornographie sich in den letzten fünf Jahren ver-

vierfacht hat. Auch der Sklavenhandel ist für Europa nicht ein Phänomen der Vergangenheit.

Der Artikel spricht von jährlich mehreren hunderttausend verschleppten Personen in Euro-

pa!113

Menschenrechte bleiben offensichtlich trotz langer historischer Entwicklung und Etablierung

stets angefochten oder gar unbeachtet. Denn, wie bereits erwähnt, finden sich Personen (-

gruppen) mit einem anderen – mit der Demokratie unvereinbaren – Moralvokabular nicht nur

in anderen Gesellschaften sondern genauso innerhalb der eigenen politischen Gemeinschaft –

wenn auch nicht in der ideellen Gemeinschaft. Auf eine Begründung der Menschenrechte zu

verzichten, die nicht durch Wirtschaftskrisen oder Kriege gleich in Frage gestellt werden

kann, die Menschenrechte durch die Beschränkung der Aufgabe der Philosophen allein auf

die Deskription der Intuitionen ganz dem Flow der geschichtlichen Entwicklung preiszuge-

ben, ist meines Erachtens zu leichtfertig. Gerade das Beispiel des Aufkommens und auch des

Untergehens des Dritten Reiches zeigt, wie schnell sich die grossen Geschichten wandeln

können.

Die Suche nach immer festeren114 Säulen, die in einem immer breiter werdenden Kontext

Rückhalt finden und deshalb Normativität beanspruchen können, soll nach meiner Meinung

auch im neuen Jahrhundert neben der Erziehung der Gefühle, welche der Begründung unter-

stützend zur Seite steht, fortgesetzt werden. Die oben genannte Einseitigkeit menschenrechtli-

cher Interventionen – ohne diese Einseitigkeit leugnen zu müssen – und das stete Angefoch-

tensein der Menschenrechte auch innerhalb unserer eigenen Kultur machen eine solche Be-

gründung meines Erachtens notwendig. 111 Die Zahlen belegen, dass es sich hierbei nicht um wenige Einzelpersonen handelt, die sich in einem der bei-den Punkte vergehen. 112 NZZ, 26.03.2009, Der Menschenhandel im Visier der EU, 3. 113 Vgl. ebd. 114 Mit „fester“ meine ich ganz im rortyschen Sinn die Vertretbarkeit vor einer zunehmenden Anzahl von Perso-nen.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

25

5.4 Vielfältige Erziehung der Gefühle

Das Streben nach möglichst breiter Anerkennung und Umsetzung der Menschenrechte durch

die Ermöglichung einer persönlichen Eingliederung in die grössere Geschichte, die zu ihrer

Etablierung geführt hat, schliesst nicht aus, dass diese Geschichte unterschiedlich erzählt

werden darf. Darin stimme ich Huber zu, der sagt, dass man die Menschenrechte nicht mit

einer verbindlichen Letztbegründung ausstatten soll, um die Idee für verschiedene Begrün-

dungswege offen zu halten.115 Die Begründung einer Gemeinschaft soll ein Angebot neben

anderen im interkulturellen Dialog sein, das herausgefordert, kritisiert und in die eigene Kul-

tur integriert werden und aus dieser Auseinandersetzung eine Bereicherung für das moralische

Vokabular gewonnen werden, eine Kultivierung der Gefühle stattfinden kann.

Hier kommt nun auch das Vokabular der christlichen Gemeinschaft in der Schweiz des 21.

Jahrhunderts zum Zug. Es stellt eine Begründung zur Verfügung, indem es die traurige, aber

hoffnungsvolle Geschichte eines Menschen erzählt, der sich mit seinen Mitmenschen solidari-

sierte – vor allem mit denen, die von der sonstigen Solidarität ausgeschlossen waren. Dabei

missachtete er verschiedene kulturelle Normen und Gepflogenheiten. Deshalb führte seine

Solidarität dazu, dass er selber zum Ausgeschlossenen, ja sogar hingerichtet wurde. Doch

Gott hat ihn wieder vom Tod auferstehen lassen. Diese Geschichte hat über Jahrhunderte

Menschen und Völker geprägt und beeinflusst, hat ihnen Liebe und sicheres Angenom-

mensein vermittelt.116 Sie hat sie mit der Hoffnung erfüllt, dass das Leid nicht das letzte Wort

haben wird. Die vielen charitativen Organisationen, die daraus entstanden sind, sind Ausdruck

solcher Auferstehungshoffnung. Menschen solidarisieren sich mit Jesus und durch ihn mit

ihren Mitmenschen.

Meines Erachtens ist es eine Stärke dieser Geschichte, dass ihr Bezugspunkt in der Vergan-

genheit liegt. Sie ist deswegen nicht weniger aktuell. Doch durch ihre Abgeschlossenheit kann

sie unabhängig von derzeitigen Ereignissen fortwirken117 und weitere Menschen dazu veran-

lassen, zeitweise kulturelle Normen um der Liebe willen über Bord zu werfen. Sie ist deshalb

mehr als Zusammenfassen und Ordnen der gesellschaftlichen Intuitionen, was Rorty als Auf-

gabe der Philosophen bezeichnet, sie bleibt immer in gewisser Distanz zur Gegenwart und

stellt diese immer wieder in Frage durch ihre Solidarität mit einer geschichtlichen Person aus

der Vergangenheit.

115 Vgl. Huber, Gerechtigkeit, 311. 116 Natürlich bin ich mir der vielen Verdrehungen und Missbräuche dieser Geschichte bewusst, die eher das Gegenteil bewirkt haben. Dennoch sind die genannten positiven Wirkungen nicht zu übersehen. 117 Was natürlich nicht heisst, dass auch unser Verständnis dieser Geschichte unabhängig von unserer eigenen Zeit ist.

Menschenrechte im 21. Jahrhundert

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6 Bibliographie

W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, München 32006.

H.-R. Reuter, Relativistische Kritik am Menschenrechtsuniversalismus? Eine Antikritik, ders.

(Hg.), Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee I, Tübingen

1999, 75-102.

R. Rorty, Menschenrechte, Rationalität und Gefühl, S. Shute/S. Hurley (Hgg.), Die Idee der

Menschenrechte, Frankfurt a. M. 1996, 144-170.

R. Rorty, Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Stuttgart 2005.

Bildnachweis: Richard Rorty:

http://home.earthlink.net/~jsamuelpage/sitebuildercontent/sitebuilderpictures/rortypicture.

jpg (08.04.2009)